Weil ich an dich glaube – Great and Precious Things - Rebecca Yarros - E-Book

Weil ich an dich glaube – Great and Precious Things E-Book

Rebecca Yarros

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Beschreibung

Wie weit gehst du für diejenigen, die du liebst? Zwei Dinge hat Camden Daniels sich für seine Rückkehr in seine Heimatstadt Alba in Colorado vorgenommen: Er wird seinem kranken Vater die medizinische Behandlung ermöglichen, die dieser sich wünscht. Und er wird seine Kindheitsliebe Willow auf Abstand halten – die Frau, die er schon immer geliebt hat, die er aufgrund der Vergangenheit aber nicht lieben darf. Willow ist allerdings ganz und gar nicht gewillt, sich von Camden fernzuhalten. Als die beiden sich unwillkürlich nahekommen und Willow sich in aller Öffentlichkeit bedingungslos hinter Camden stellt, könnte das jedoch alles zerstören, was ihnen wichtig ist …

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Über das Buch

Zwei Dinge hat Camden Daniels sich für seine Rückkehr in seine Heimatstadt Alba in Colorado vorgenommen: Er wird seinem kranken Vater die medizinische Behandlung ermöglichen, die dieser sich wünscht. Und er wird seine Kindheitsliebe Willow auf Abstand halten – die Frau, die er schon immer geliebt hat, die er aufgrund der Vergangenheit aber nicht lieben darf.

 

Willow ist allerdings ganz und gar nicht gewillt, sich von Camden fernzuhalten. Als die beiden sich unwillkürlich nahekommen und Willow sich in aller Öffentlichkeit bedingungslos hinter Camden stellt, könnte das jedoch alles zerstören, was ihnen wichtig ist …

Rebecca Yarros

Weil ich an dich glaube

Great and Precious Things

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Ilse Rothfuss

 

 

 

Für meinen Vater,

dessen Arme mich nie fallen lassen.

Ich liebe dich, Daddy.

Kapitel 1Camden

Meine Lunge brannte, als ich tief Luft holte, um den Sauerstoff einzusaugen, der nicht da war, und gleichzeitig zuckten meine Finger und wollten nach der Zigarette greifen, die ich vor sechs Jahren weggeworfen hatte. Das machte die Höhe jedes Mal mit mir, zumindest, was die Atemnot betraf.

Die Gier nach einer Zigarette ging auf das Konto der Stadt Alba, Colorado, 649 Einwohner. Das stand jedenfalls auf dem Schild, das ich vor ungefähr einer Meile passiert hatte. Aber warum einem Schild vertrauen, das wahrscheinlich irgendwann vor meiner Geburt zum letzten Mal aktualisiert worden war? In meinem Heimatort gingen die Uhren langsam.

Nichts hatte sich in der langen Zeit verändert, aber das wunderte mich nicht, weil es praktisch die Daseinsberechtigung von Alba ausmachte. Direkt jenseits der Asphaltstraßen fing die besterhaltene Geisterstadt von Colorado an und die Touristen, die im Sommer die Straßen überschwemmten, hielten den winzigen Ort auch den Winter über am Leben.

Der Betrag auf der Zapfsäule kletterte in die Höhe, während ich meine Arme in die Spätnachmittagssonne und zu den schneebedeckten Gipfeln über mir ausstreckte, um wieder Leben in meine Muskeln zu bringen, die auf der Fahrt von North Carolina hierher viel zu lange angespannt gewesen waren. Der beißende Märzwind fegte meine Müdigkeit weg und ich genoss seine eisigen Finger auf meiner nackten Haut. Hier oben in dreitausend Meter Höhe herrschte definitiv kein T-Shirt-Wetter.

Ich hörte, wie jemand nach Luft schnappte, und drehte mich zu dem Minivan um, der vor einer Minute hinter meinem Jeep gehalten hatte. Eine blonde Frau mit einer für ihr Gesicht viel zu großen Sonnenbrille und einem bauschigen Wintermantel starrte mich an, einen Fuß auf dem Asphalt, den anderen in ihrem Fahrzeug, als hätte ihr jemand mitten im Aussteigen die Pausentaste reingeknallt.

Ich senkte meine Arme und mein T-Shirt fiel über meinen Bauch zurück und verdeckte den tätowierten Hautstreifen, den sie offenbar gerade in voller Pracht zu sehen bekommen hatte.

Die Frau schüttelte kurz den Kopf und ließ dann Benzin in ihren Tank laufen.

Wenigstens hatte sie nicht das Kreuzzeichen geschlagen oder war entsetzt vor mir zurückgewichen.

Das bedeutete, dass sie entweder erst in den letzten zehn Jahren nach Alba gekommen war oder dass mein Ruf sich erheblich verbessert hatte, seit ich zur Armee gegangen war. Weiß der Teufel, vielleicht hatte die Stadt mich sogar schon komplett vergessen!

Ein melodisches Gebimmel ertönte, als die Tür hinter mir zuging, und ich nickte dem älteren Mann zu, der an der Theke lehnte. Mr Williamson. Anscheinend war er immer noch der Besitzer der Tankstelle. Er hob seine buschigen Augenbrauen, lächelte mir kurz zu. Dann sah er genauer hin und seine Mundwinkel gingen sofort wieder nach unten, zusammen mit seinen Brauen. Er hatte mich endlich erkannt, so misstrauisch, wie er die Augen zusammenkniff.

Ups, mein schlechter Ruf hier ist also doch noch sehr lebendig.

Ich nahm mir schnell ein paar Wasserflaschen und trug sie zur Theke.

Die Augen des alten Mannes schnellten zwischen meinen Händen und den Flaschen hin und her, während er den Preis eintippte – als wollte ich ihn bestehlen oder was auch immer. Und okay, ich hatte mir in dieser Stadt so einiges geleistet, aber ein Dieb war ich nie gewesen.

Die Glöckchen bimmelten erneut und Williamson entspannte sich. »Guten Nachmittag, Lieutenant Hall«, begrüßte er seinen neuen Kunden.

Wahnsinn.

Hall. Ich brauchte gar nicht erst hinzusehen. Dieser sture alte Bock, der praktisch nur aus Vorurteilen bestand, hasste mich wie die Pest …

»Heilige Scheiße, Cam?«

Wow. Der Typ mit den Abzeichen auf der Uniform war gar nicht Tim Hall, sondern sein Sohn Gideon.

Gid war buchstäblich die Kinnlade heruntergefallen und seine hellbraunen Augen weiteten sich vor Überraschung. Er sah noch genauso aus wie damals im Herbst in unserem Freshman-Jahr, als Xander uns in die Mädchen-Umkleide geschubst hatte. Leider hatte ich nie die Chance bekommen, mich bei meinem Bruder für diesen Verkupplungsversuch gebührend zu bedanken – obwohl mir natürlich niemand glauben würde, dass Xander so tief sinken konnte. Er war schließlich der Gute in der Daniels-Familie.

»Wusste gar nicht, dass Polizisten in Uniform fluchen dürfen.« Ich taxierte ihn kurz ab. Im Gegensatz zu seinem Dad war er noch zu gut in Form, um einen Bauch über seinem Gürtel zu tragen.

»So wie Soldaten, meinst du wohl«, konterte er.

»Na klar, bei uns gibt’s sogar Bonuspunkte dafür. Obwohl ich gar nicht mehr in Uniform bin.« Und das schon seit siebzehn Tagen. »Weiß dein Dad, dass du ihm seine Polizeimarke geklaut hast?«

»Haha. Und weiß dein …« Er seufzte. »Mist, mir fällt gerade nichts ein.« Er lachte und ich lachte mit. »Schön, dich zu sehen!« Er zog mich in eine heftige, rückenklopfende Umarmung, wobei sich seine Polizeimarke schmerzhaft in meine Brust bohrte.

»Ganz meinerseits.« Ich grinste, als wir auseinanderwichen. »Du bist tatsächlich der Einzige hier, den ich wirklich gern sehe!«

»Ach komm schon. Und was ist mit Mr Williamson?« Gid schaute über meine Schulter und zuckte zusammen, als er Williamsons Gesicht sah, das vermutlich Bände sprach. »Okay, war wohl keine so gute Idee.«

»Der konnte mich noch nie leiden«, sagte ich schulterzuckend und es war mir egal, ob er mich hören konnte oder nicht.

»Vielleicht, weil du was durchs Fenster geschmissen hast, als du letztes Mal hier warst.« Gid deutete auf die Scheibe, die natürlich längst ersetzt worden war. »Mann, wie lange ist das her? Fünf Jahre?«

»Sechs«, verbesserte ich ihn automatisch. Ich wusste nicht mehr viel von diesem Abend, aber das hatte ich glasklar in Erinnerung.

»Sechs. Richtig.« Gideons Gesicht verdüsterte sich, wahrscheinlich, weil ihm plötzlich wieder einfiel, warum ich das letzte Mal in Alba gewesen war.

Sullivans Beerdigung.

Der Schmerz schoss in mir hoch, um mir allen Sauerstoff zu rauben, den ich noch in der Lunge hatte, aber ich drängte ihn zum millionsten Mal zurück, seit wir Sully in die Erde gebettet hatten.

Gott, ich konnte immer noch sein Lachen hören.

»Was ist, Camden? Bezahlst du jetzt das Wasser?«, knurrte Mr Williamson.

»Ja, Sir«, sagte ich dankbar für die Unterbrechung und drehte mich zur Theke zurück, um den Einkauf zu tätigen. Ein überraschter Ausdruck flackerte bei meiner höflichen Antwort in Williamsons Blick auf und dann noch einmal, als ich mich anschließend bei ihm bedankte, die Tüte nahm und beiseitetrat.

»Dieses Zeug bringt dich noch um«, sagte ich zu Gideon, der sich einen Sixpack Limonade kaufte.

»Sagt Julie auch immer«, murrte er, während er seine Kreditkarte über die Theke reichte. »Kann man nicht mehr in Ruhe was trinken, Mann?«

Komisch. So viel hatte ich im ganzen letzten Monat nicht gelächelt. »Wie geht es Julie und den Kindern?«

»Die sind schuld, dass ich zum Säufer werde.« Er hielt seine Limo in die Höhe. »Nein, echt jetzt, sie sind super. Julie arbeitet inzwischen als Krankenschwester, was du auch wüsstest, wenn du mal in den Sozialen Medien unterwegs wärst.«

»Nein danke. Wozu soll das gut sein?«

Gideon bedankte sich bei Mr Williamson und wir gingen hinaus. »Wozu das gut sein soll? Keine Ahnung. Um mit deinem besten Freund Kontakt zu halten, vielleicht?«

»Nein, dafür gibt es E-Mails. Die Sozialen Medien sind nur was für Leute, die sich dauernd mit anderen vergleichen müssen. Ihre Häuser, ihre Urlaube, ihre Erfolge und Fähigkeiten. Ich meine, ich stell mich ja auch nicht auf meine Haustreppe und verkünde der ganzen Stadt über Lautsprecher, was es bei mir zum Abendessen gegeben hat!«

»Apropos Abendessen, wie lange bist du in der Stadt?«, fragte er, als wir zwischen meinem Jeep und seinem ausgeblichenen Streifenwagen anhielten. »Julie wäre begeistert, wenn du mal zu uns zum Abendessen kommst, da bin ich mir sicher.«

»Für immer«, sagte ich schnell, bevor ich an den Worten ersticken konnte.

Er blinzelte mich an.

»Ja, ehrlich, ich kann’s selber noch nicht glauben.« Ich schaute zu den Bergen hinauf, in die Alba eingebettet war. Berge, von denen ich mir geschworen hatte, dass ich sie nie wiedersehen wollte.

»Heißt das, du bist raus? Ich dachte, du bleibst dort und machst Karriere.«

Hatte ich auch. Noch was zu bereuen.

»Officer Malone?«, rief eine krächzende Frauenstimme über das Funkgerät.

»Ist das Marilyn Lakewood? Und sie gibt immer noch die Notrufe durch? Wie alt wird sie jetzt sein, siebzig?«

»Siebenundsiebzig«, verbesserte Gideon mich. »Und bevor du nachfragst, Scott Malone ist erst fünfundzwanzig und geht mir tierisch auf den Sack.«

»Was erwartest du auch vom Sohn des Bürgermeisters?«

»Bürgermeister? Wann hast du zuletzt mit deinem …«

»Officer Malone?«, wiederholte Marilyn, diesmal entschieden gereizter.

»Musst du das nicht annehmen?« Ich deutete auf das Funkgerät an seiner Schulter.

»Ist für Malone«, murrte er kopfschüttelnd. »Wahrscheinlich nur Genevieve Dawson. Die regt sich immer auf, weil die Katze der Livingstons in ihrem Garten rumstreunt. Bei was Ernstem ruft Marilyn mich. Aber jetzt erzähl mal: Seit wann bist du hier? Und für immer, sagst du? Ich meine, echt jetzt, ziehst du wirklich nach Alba zurück? In dieses Höllenloch, wie du es immer genannt hast?«

»Xander hat mich gerufen.« Ich wimmelte ihn schnell mit dieser Halbwahrheit ab, bevor er mir noch einen weiteren Grund unter die Nase reiben konnte, warum ich nie wieder hierher zurückkommen wollte. »Und weil es schon sechs Jahre her ist, bin ich darauf eingegangen.«

»Dein Dad«, sagte Gideon leise.

»Mein Dad.«

Einen Augenblick standen wir schweigend da, es brauchte keine Worte zwischen uns.

»Gideon Hall!«, fauchte Marilyn ins Funkgerät.

»Lieutenant«, wisperte er zum Himmel hinauf, bevor er antwortete. »Ja, Marilyn?«

»Da unser Wonder Boy sich nicht meldet, trifft es jetzt dich: Dorothy Powers hat anscheinend mal wieder Arthur Daniels verloren. Als sie heute Mittag von ihrem Nickerchen aufgewacht ist, war er weg.«

Mir sackte der Magen in die Hose und mein Blick wanderte zu den Bergen hinauf. Laut Xander entwischte Dad seiner Betreuerin mehrmals pro Woche, aber er bewegte sich nie allzu weit von zu Hause weg. Dorothy Powers war älter als Dad und brauchte wahrscheinlich selber Betreuung, was die Sache nicht einfacher machte.

»Bin schon unterwegs. Ruf den üblichen Suchtrupp zusammen.« Gid fing meinen Blick auf und ließ seine Hand vom Funkgerät herunterfallen.

»Mein Dad.« Wie weit konnte er gekommen sein?

»Zweites Mal in diesem Monat.« Gids Lippen wurden dünn. »Ich fahre am Revier vorbei und nehme mir den SUV. Im Streifenwagen schaffe ich es nicht bis zu eurem Haus rauf.«

»Spring einfach rein. Ich bring dich hoch.« Es war kein Angebot, sondern ein Befehl, weil ich keine Sekunde länger warten wollte. Mein Jeep war hochgelegt und hatte massive Reifen, einen V8-Motor und mehr als genug Allrad-Leistung, um die Apokalypse zu überstehen.

Gid war einverstanden und eine Minute später bogen wir in den Gold Creed Drive ein, der »Hauptverkehrsader« von Alba – keine Ampeln, aber dafür im Winter Schneemobile.

»Wie lange warst du fort?«

»Sechs Jahre.« Ich warf ihm einen scharfen Blick zu. Hatte ich das nicht gerade schon gesagt?

»Nein, ich meine heute. Wann hast du das Haus verlassen? War Dorothy wach? Und dein Dad?« Er scrollte bereits sein Handy durch.

»Tut mir leid, aber da kann ich dir nicht weiterhelfen, weil ich noch gar nicht zu Hause war.« Ich deutete auf den Rücksitz des viertürigen Rubicon.

»Du bist also buchstäblich eben erst in der Stadt aufgelaufen?« Er warf einen Blick auf meine Taschen und Kisten, meine einzigen Begleiter auf dieser 2000-Meilen-Fahrt.

»Ja«, sagte ich, als wir das letzte Fünfzigerjahre-Gebäude von Alba passiert hatten. Wir überquerten die Brücke, die sich über die kompletten zehn Meter des Rowan Creed spannte, und hier endete der schneebepackte Asphalt und markierte den Übergang zu der Zeitkapsel, die Alba am Leben erhielt. »Ich wollte vorsichtshalber erst noch meinen Tank auffüllen. Mit ’nem vollen Tank entkommt man den Bullen leichter, hat mir mal jemand gesagt.«

Links von uns öffnete sich die Main Street. Holzhäuser mit Metalldächern säumten zu beiden Seiten die Erdstraße, die sich in den nächsten Monaten mit Touristen füllen würde – Touristen, die alle ganz wild darauf waren, eine echte, gut erhaltene Goldgräberstadt aus den 1880er-Jahren zu erkunden.

»Da ist aber jemand erwachsen geworden, was? Und zwing mich bloß nicht zu einer Verfolgungsjagd. Das Ding hier ist eine Bestie. Ich fürchte, ich muss Julie beichten, dass ich das perfekte Geburtstagsgeschenk gefunden habe.«

»Klar, wenn du eine Leiter dazu kriegen kannst.« Wir wendeten am Hamilton-Gebäude, dem der Kredit zur Erhaltung der Bausubstanz ausgegangen war. Schnee türmte sich im Schatten von Gemäuern, die längst ihre Dächer, Fenster oder sogar Wände eingebüßt hatten.

»Ach, halt die Klappe. Nicht jeder hier ist über eins neunzig.«

»Sind alles die Gene. So gesehen müsste Dad wenigstens leichter aufzuspüren sein.«

»Wir haben ihn immer schnell gefunden, aber Cam … es ist ziemlich schlimm geworden«, sagte Gideon, während wir in die Rose Rowan Road einbogen und von da an bergauf fuhren. »Wenn ich ihn in letzter Zeit gesehen habe, wusste er entweder nicht, wer ich bin, oder er hat mich für meinen Dad gehalten.«

Meine Hände verkrampften sich um das Lenkrad. »Xander ist an seine Grenzen gekommen. Er hat mir praktisch gedroht, dass er Dad in ein Heim in Buena Vista verfrachtet, wenn ich nicht nach Hause komme. Und dabei hat Dad immer darauf bestanden, dass er in seinem eigenen Haus sterben will, so wie unsere Mutter.«

»Merk dir, wo wir stehen geblieben sind.« Gideon hielt sich das Handy ans Gesicht. »Hey, Mrs Powers. Ja, ich bin’s, Gideon.« Er verstummte und rieb sich die Haut über der Nasenwurzel. »Ja, weiß ich doch. Ich weiß, dass Sie aufpassen. Wir finden ihn schon, wir haben einen Suchtrupp losge… Ach wirklich? Hat sie das? Gut. Das wird helfen. Wir sind in vier Minuten da.«

Ich nahm die letzte Biegung zu Dads Anwesen und verfluchte die miserablen Bedingungen. Die Frühjahrs-Schneeschmelze setzte der Einfahrt immer zu, aber jetzt sah es so aus, als wäre hier seit Jahren nichts mehr ausgebessert worden. Die kleinen Waschbrettwellen, die sich, wie ich wusste, unter dem festgebackenen Schnee verbargen, ließen sich leicht beheben. Ganz anders als die tiefen Furchen, eine Hinterlassenschaft des Minibachs, der gegenwärtig die rechte Seite der Einfahrt verschlang – das würde einigen Aufwand erfordern.

Okay, ich hatte schlimmere Straßen in Afghanistan und in anderen Weltgegenden erlebt, die ich normalerweise nie zu Gesicht bekommen hätte, aber das hier war meine verdammte Einfahrt!

Gideon legte auf, während ich zum Stehen kam und den Allradmodus zuschaltete.

»Wie schafft es Dorothy bloß jeden Tag hier rauf?«, fragte ich und startete den Wagen. Der Jeep schaukelte stark genug, dass die Kisten auf der Rückbank wild herumgeschubst und durchgerüttelt wurden, und Gideon stemmte sich gegen den Überrollbügel, während wir es um eine schattige, vereiste Biegung schafften. Diese spezielle Stelle hier schmolz immer als Letztes.

»Sie fährt durch das Bradley-Grundstück. Du weißt doch, der Richter hält seine Einfahrt immer perfekt asphaltiert und schneefrei.«

Sein Land grenzte an unseres, aber wir hätten zehn Minuten länger gebraucht und ich war nicht in der Stimmung für eine Sightseeingtour … geschweige denn für die Bradleys.

Gott, wenn jemand auf der Welt das Recht hatte, mich noch mehr zu hassen als ich mich selbst, dann waren es …

Ein blauer Blitz in meinem Rückspiegel riss mich aus meinen Gedanken.

Gideon schaute nach hinten. »Xander«, sagte er als Antwort auf meine unausgesprochene Frage. »Das ist sein Truck.«

»Na, das kann ja lustig werden.«

»Willkommen zu Hause?«, frotzelte Gid.

Ich ignorierte ihn eisern, während wir die letzte Kehre nahmen und auf die Lichtung kamen. In den vergangenen zehn Jahren war ich nur einmal zurückgekommen, aber dieses Bild hatte mich jede Nacht in meinen Träumen verfolgt.

Die untergehende Sonne spiegelte sich in den Fenstern des zweistöckigen Gebäudes, in dem ich aufgewachsen war, und tauchte es in ein malerisches Licht, passend zu dem majestätischen, kahlen Gipfel, der direkt dahinter aufragte.

Dad hatte immer gefrotzelt, dass es sicherer für uns sei, an der Baumgrenze aufzuwachsen, weil es dort zumindest keine Waldbrände gäbe.

Ich dagegen war überzeugt, dass es ihm ein diebisches Vergnügen bereitete, dort oben am äußersten Rand zu leben, wo es kaum genug Sauerstoff gab, damit dort auch nur irgendwas gedeihen konnte.

Ich parkte den Wagen, stellte den Motor ab und schnappte meine Jacke, die hinter mir auf den Boden gefallen war.

Bis Xander neben mir anhielt, war ich bereits aus dem Jeep und hatte die schwarze North Face übergestreift und zugezogen, aber ich bereute es, dass ich nicht meine Kevlar-Schutzweste anhatte. Eine Gewehrsalve wäre mir fast lieber gewesen, als ihm gegenüberzutreten – und erst recht meinem Dad.

»Ich bin dann mal lieber … nicht da«, sagte Gideon verlegen, bevor er sich abwandte und mich allein im Hof zurückließ. Ich hörte die Haustür auf- und zugehen, im selben Moment wie Xanders Autotür.

Er kam um die Vorderseite seines blitzblank polierten, brandneuen Trucks herum und blieb abrupt stehen, die Hände mitten in der Bewegung erstarrt, sodass sein Reißverschluss halb offen blieb.

Die Erinnerungen eines ganzen Lebens drohten mich zu überrollen – die guten, die schlechten und die ganz schlimmen. So ziemlich in dieser Reihenfolge.

Xander fuhr sich mit der Hand durch seine blonde Ken-Mähne und sog die Luft ein. »Camden.«

»Alexander.« Ich knetete den Rand meines Basecap.

Wir hatten offenbar beide mit unserer Nervosität zu kämpfen.

Mein Bruder hatte sich kaum verändert. Dieselben blauen Augen. Dieselbe schlanke Gestalt. Immer noch Dads unbestreitbar bestes Geschenk an die Welt. Und in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von mir.

Er schüttelte den Kopf, als müsste er nach Worten suchen, und statt mir alles vor den Latz zu knallen, was ich meiner Familie angetan hatte, kam er über den rissigen Granitboden der Einfahrt und schlang seine Arme um mich.

»Ich bin so froh, dass du wieder da bist.«

Seine Worte trafen mich tiefer, als es jede noch so schlimme Beleidigung vermocht hätte. Mit Vorwürfen hätte ich umgehen können – darauf war ich gefasst gewesen.

Aber die Art, wie er zurücktrat, wie er meine schlaff herunterhängenden Arme packte und mich anlächelte – während ich mit dünnen Lippen und grimmiger Miene dastand und gegen Gefühle ankämpfte, die ich mir gar nicht zugetraut hätte –, nein, dagegen hätte ich mich niemals wappnen können.

Er lachte, ein Lachen kontaminiert von meiner sechsjährigen Abwesenheit. »Mann, bist du riesig! Was geben die euch Delta Boys bloß zu essen? Und was ist das?« Er deutete auf meinen leichten Bart und trat noch einen Schritt weiter zurück.

»Green Berets, nicht Delta Boys«, verbesserte ich ihn, mit einem Witz, der ganze zehn Jahre auf dem Buckel hatte, und zwang mich zu einem Lächeln, auch wenn mein Magen sich zusammenzog.

»Na klar doch. Aber Typen wie ich, die nie im Einsatz waren, werden den Unterschied nie kapieren.« Er taxierte mein Gesicht ab, als wollte er sich jeden einzelnen meiner Züge einprägen, bevor ich mich in Luft auflöste – wieder einmal. »Gott, Cam, ich bin bloß …«

Übelkeit stieg in mir auf und der Knoten in meinem Magen weitete sich zu einem Abgrund aus Schuld und Reue aus.

Xander lächelte, zeigte seine weißen Zähne und sah so glücklich aus, wie ich es ganz sicher nie gewesen war. »Ich bin nur froh, dass du wieder zu Hause bist.«

»Das hast du schon gesagt.« Wenn es so weiterging, würde ich kotzen. Wie konnte er bloß so nett zu mir sein?

»Aber es stimmt ja auch.« Er schlug mir auf die Schulter. »Lass uns jetzt auf die Suche nach Dad gehen, okay?«

»Du klingst nicht sehr besorgt.«

»Doch, natürlich mach ich mir Sorgen, aber er hat sich in der Gegend noch nie verirrt, obwohl er ständig meinen Namen vergisst. Wir müssen ihn nur finden, bevor die Temperaturen abfallen.«

Ich nickte und er drehte sich um und ging zum Haus hoch. Im Augenblick war es noch kaum unter null, aber sobald die Sonne unterging, also innerhalb der nächsten Stunde, würden wir zweistellige Minusgrade bekommen.

»Guter Jeep, übrigens. Passt zu dir«, rief er über die Schulter zurück.

Ich kniff die Augen zu, sog mehrmals tief Luft durch die Nase ein und zwang die Galle, die in mir hochwollte, wieder in meine Kehle hinunter. Meine Gefühle waren offenbar so stark, dass mein Körper nicht mehr damit fertigwurde.

Natürlich verzieh er mir. Natürlich nahm er mich mit offenen Armen auf. Und natürlich lag kein Fünkchen Bosheit in seinem Blick, nur große, unverstellte Liebe. Xander hatte es einfach nicht nötig, mir mein Versagen unter die Nase zu reiben. Er war immer makellos gewesen, hatte mir auf jede erdenkliche Art gezeigt, dass ich nie an ihn heranreichen würde, und dazu brauchte er einfach nur er selbst zu sein.

Als ich mich gerade wieder so einigermaßen im Griff hatte, kam er noch einmal zurück.

»Alles okay mit dir?«, fragte er leise und besorgt.

»Ja«, log ich, denn diese Fähigkeit beherrschte ich wie kein anderer.

»Höhe?«

»Ja, so was in der Art.«

»Denk dran, genug Wasser zu trinken«, ermahnte er mich und zog eine Augenbraue hoch, bis ich zustimmend nickte. Erst dann ging er die Treppe zum Hauseingang hinauf.

Eine Augenbraue mit einer Narbe darin, der erste Makel, den ich je an Xander gesehen hatte, und die bei unserer letzten Begegnung noch nicht da gewesen war. Ein dünner, kurzer Schnitt, der mich fast dazu brachte, mein ganzes Mittagessen über die Einfahrt zu spucken.

Weil ich ihm diese Narbe zugefügt hatte, als ich ihn damals durch Mr Williamsons Fenster schmiss.

Xander war schon halb die Treppe hinauf, als die Haustür aufflog und Gideon herausstürzte.

»Er hat ein Gewehr!«, brüllte er.

Xander erstarrte und wirbelte zu Gideon herum, der die Treppe herunter auf mich zustürmte.

»Wie bitte?« Ich durchbohrte Gid mit meinem Blick, in der Hoffnung, dass er diese idiotische Behauptung zurücknehmen würde.

»Er hat das Gewehr! Dorothy hat’s mir gerade gesagt. Wir haben ein paar Suchtrupps zusammengestellt, die durch das Bradley-Grundstück rüberkommen.« Gid stapfte an mir vorbei und redete bereits in das Funkgerät an seiner Schulter.

»Wie zum Teufel kommt Dad an ein Gewehr?«, fauchte ich Xander an.

»Ich …« Er schüttelte frustriert den Kopf. »Ich dachte, ich hätte sie alle im Safe eingeschlossen. Den Schlüssel hab ich versteckt.«

»In der Wäschekammer?«, fragte Dorothy von der Veranda aus, in der Hand eine vertraute, ausgebleichte Weichspülerflasche. Die Zeit hatte Mrs Powers offenbar vergessen, weil sie sich in den zehn Jahren seit meiner Einberufung kein bisschen verändert hatte. Ihr Haar schimmerte immer noch im selben Silbergrau und auch ihr kinnlanger Bob war gleich geblieben. Sie trug sogar noch ihren alten grünen Wintermantel.

»Ja, direkt über …« Xander seufzte und kniff die Augen zu. »Direkt über dem Weichspüler, den er nie verwenden wollte.«

»Du meinst den hier, den ich in der Diele gefunden habe?«, fragte Dorothy und warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

»Also ja, das wird er dann wohl sein.« Ein Muskel zuckte in Xanders Kiefer.

»Aber die Munition hast du doch getrennt aufbewahrt?« Wenigstens das müsste er in seiner dreijährigen Militärzeit gelernt haben.

Xander wurde bleich. Unglaublich!

»Wir müssen ihn finden, bevor er jemanden umbringt.« Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging zu meinem Jeep zurück. Mit dieser Situation konnte ich absurderweise viel besser umgehen als mit der kitschigen Wiedersehensszene vorhin.

Ich streifte meine Jacke ab und stieg auf den Jeep, um das Schloss des Gepäckträgers zu öffnen, den ich für die Fahrt hierher aufs Dach montiert hatte. Ich hatte praktisch alle meine Habseligkeiten verkauft, was mir in dem Moment nur logisch erschien, aber es gab ein paar Dinge, an denen ich hing, aus Gründen, die ich mir lieber nicht so genau vor Augen führte.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Xander, der ratlos zu mir hochschaute.

»Wieso? Was meinst du?« Ich hatte inzwischen gefunden, was ich gesucht hatte, und verschloss den Gepäckträger wieder. Dann sprang ich auf den Boden, direkt vor Xander, dessen Augen fast noch größer waren als meine Scheinwerfer.

Zwei weitere Trucks und die Polizei von Alba hielten in der Einfahrt.

»Ich meine …« Xander starrte die Männer an, die mit Gideon redeten, dann drehte er sich wieder zu mir und sagte mit gesenkter Stimme: »Was machen wir jetzt? Er hat das Gewehr und weiß die meiste Zeit nicht, wer ich bin.«

Ein tröstliches Gewicht legte sich auf meine Brust, als ich mich für die Suchaktion umkleidete, meine Jacke zuzog und meine Stiefel schnürte. »Na, Dad suchen, dachte ich.« Dann kramte ich in meinem Handschuhfach, schnappte mir meine Stirnlampe und eine Taschenlampe und steckte beides in meine Taschen. Ich nahm mir sogar noch die Zeit, den kleinen weißen Onyx-Läufer neben meinem Fahrerhandbuch zu verstauen, damit die Figur nicht verloren ging. Wir hatten noch ungefähr eine Stunde gutes Tageslicht, aber wir würden sicher länger brauchen, um die hundert Hektar, die Dad besaß, zu durchkämmen. Falls er überhaupt auf seinem Grundstück geblieben war.

»Wollen wir das nicht lieber Gideon und seinem Team überlassen?«, fragte Xander leise.

Ich schaute zu Gideon und den vier Polizisten zurück, die die Polizeistation von Alba bemannten. Alle vier hatten ihre Schusswaffen umgeschnallt und ich kassierte ein paar bitterböse Blicke. Was ich ihnen nicht mal übelnehmen konnte. Mindestens drei von ihnen hatten mir irgendwann Handschellen angelegt.

»Im Ernst jetzt? Du glaubst doch nicht, ich lasse diese schwer bewaffneten Typen unseren Dad suchen, der noch dazu selber mit ’ner Knarre unterwegs ist?« Ich wartete Xanders Antwort nicht ab, sondern drehte mich zum nördlichen Teil unseres Anwesens um.

»Warte!« Xander packte mich am Ellbogen und ich erstarrte, musste mich beherrschen, um nicht auf ihn loszugehen, so wie immer, wenn mich jemand ohne Vorwarnung berührte.

»Lass mich los.«

Mein schroffer Ton drang offenbar zu ihm durch, denn er ließ seine Hand sinken.

»Es gibt Regeln, Cam. Vorschriften. Die wissen, wie man so was managt. Ich will nicht, dass du total übers Ziel schießt – das können wir jetzt wirklich nicht gebrauchen.«

Ah, da war sie wieder, diese butterweiche und doch so schneidende Herablassung, die Xander an den Tag legte, wenn er glaubte, er könnte mich herumkommandieren, nur weil er fünfundzwanzig Monate älter war als ich. Mein Bruder zog nie einen schnellen, klaren Schlussstrich, um seinen Kopf durchzusetzen. Nein, er sägte mit einer schartigen Klinge an einem herum, bis man so fertig war, dass man sich nicht länger wehren konnte.

Die direkte Konfrontation mit einem Schlachtermesser wäre mir lieber gewesen.

»Du und deine Regeln. Glaubst du, die würden nicht sofort abdrücken, wenn Dad auf sie zielt?«

Xander schnaubte. »Das sind unsere Jungs, Cam!«

»Echt jetzt? Du willst dich auf diesen fünfundzwanzig-jährigen Schläger verlassen, der nicht mal auf seine Funkrufe reagiert und gerade zum vierten Mal sein Pistolenhalfter aufklicken lässt, seit die hier rumstehen und miteinander reden? Also ich nicht. Es geht hier um Dads Leben. Ich weiß, wo er ist, und ich werde vor ihnen dort sein.«

Xanders Kopf schnellte zu Gideon und seiner Truppe herum und ich marschierte los, ohne auf das Ergebnis ihrer Lagebesprechung zu warten. Ich folgte einer Spur aus undeutlichen Fußabdrücken, die, wie ich wusste, verschwinden würde, sobald wir auf Berggras trafen. Zumindest verriet sie uns, wohin Dad gegangen war. Ich fluchte leise über die anstrengende Höhe. In ein paar Tagen würde ich mich daran gewöhnt haben, aber diese Zeit hatte ich nun mal nicht.

»Wo wollt ihr hin?«, rief Gid uns nach.

»Unseren Dad suchen«, verkündete Xander mit strahlender Zuversicht in der Stimme.

Ich verdrehte die Augen über sein publikumswirksames Getue, ging aber weiter.

Er holte mich rasch ein, dann ging er neben mir, und wir hielten uns an die Stellen, wo der Schnee bereits geschmolzen war. Unsere Schrittlänge war dieselbe, so wie früher schon. Wir waren gleich groß, aber ich hatte ihm gute zwanzig Kilo Muskelmasse voraus.

»Hoffentlich weißt du, was du tust«, sagte er, als die Spuren verschwanden.

»Jepp.« Mein Blick durchkämmte das Terrain auf der Suche nach irgendeinem Hinweis, dass Dad hier entlanggekommen war.

»Im Ernst jetzt, weißt du wirklich, wo er ist?«

»Wie lange hat er diesen Weichspüler schon?«, fragte ich, während ich auf den knirschenden Kies unter meinen Füßen lauschte. Wenigstens schneite es nicht.

»Seit Jahren.« Xander zuckte mit den Schultern.

»Ja genau, mindestens zehn. Paula Bradley hat ihn rübergebracht, in dem Jahr, als er krank war, erinnerst du dich? Wollte ihm bei der Wäsche helfen.«

»Warum zum Teufel weißt du das noch?«

»Ich bin mit einem hervorragenden Gedächtnis geschlagen.« Ich drehte mich zu dem Teil des Grundstücks um, auf dem Sullivan begraben war. »Und glaub mir, es gibt verdammt viel Shit, den ich gern vergessen würde. Weißt du noch, warum er den Weichspüler nicht nehmen wollte?« Wir querten einen Grat und gingen wieder in Richtung Baumgrenze hinunter, stapften über eine verschneite Stelle, den Gipfel zu unserer Rechten.

»Nein. Ich kann mich ja kaum erinnern, dass Mrs Bradley ihn rübergebracht hat.«

»Er wollte nicht, dass sie ihn benutzte, aber die Flasche hat er behalten«, versuchte ich ihm auf die Sprünge zu helfen.

Xander warf mir einen ratlosen Blick zu.

»Das Zeug riecht nach Lavendel«, fügte ich hinzu, wie als Antwort auf meine eigene Frage.

Xander sog die Luft ein. »Mom.«

»Mom«, bestätigte ich, als wir die Baumgrenze erreichten und durch die Kiefern weiterstapften. Im Schatten fiel die Temperatur bereits auf einen ungemütlichen Level ab.

»Aber sie ist doch am anderen Ende des Grundstücks begraben, zusammen mit …«

»Da geht er nicht hin, wenn er sie vermisst. Obwohl er das nie zugeben würde – dass er sie vermisst, meine ich.« Dieses Eingeständnis wäre für ihn, als würde er vor aller Welt eine unverzeihliche Schwäche zugeben. Und Arthur Daniels war nicht schwach. Er doch nicht!

»Die Schlucht.«

»Ja.«

Wir zwängten uns durch das schmale Waldstück in diesem Bereich des Anwesens und kamen auf eine Lichtung, die ich nur allzu gut kannte.

Ich fluchte unterdrückt, als sie in Sicht kam.

»Oh nein«, flüsterte Xander.

Oh nein war die Untertreibung des Jahrhunderts. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, dann pumpte es wie verrückt Adrenalin durch meine Adern.

Dad stand ungefähr fünfzig Meter links von uns mitten in der Lichtung, das Gewehr gegen die einzige Person erhoben, von der ich gehofft hatte, dass ich sie niemals wiedersehen würde.

Ich hätte ihre Gestalt, ihren dicken kastanienbraunen Zopf, ihr Profil mit dem leichten Höcker auf der Nase überall wiedererkannt. Ich war schließlich dabei gewesen, als sie sich die Nase gebrochen hatte – damals, als wir noch Kinder waren. Und nicht nur das, ich hatte sie danach auch aus der Mine getragen.

Sie stand etwa fünfzehn Meter von uns entfernt, die Hände offen ausgebreitet, ohne jedoch vor der doppelläufigen Tötungsmaschine zurückzuweichen. Klein beigeben war nie ihre Art gewesen und während ich sie sonst immer für ihre Standhaftigkeit bewundert hatte, verfluchte ich jetzt diesen idiotischen Charakterzug.

Willow Bradley legte es offenbar darauf an, umgebracht zu werden. Sullivans Willow.

Ich brauche deine Hilfe, Sully, flehte ich stumm, denn Xander hätte es garantiert nicht verstanden, wenn ich dieses Stoßgebet laut hinausgeschrien hätte.

»Pass auf, Xander, du gehst jetzt zwischen den Bäumen durch, bis du hinter ihm rauskommst. Und sobald ich dir das Zeichen dazu gebe, nimmst du ihm das Gewehr ab«, flüsterte ich Xander zu, in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

»Was für ein Zeichen?«

»Das merkst du dann schon, verlass dich drauf.«

»Er erkennt dich nicht, Cam. Er knallt dich ab«, zischte er.

»Besser mich als sie.« Der Tod hatte mir nie Angst gemacht. Wir standen auf vertrautem Fuß, hatten oft genug Katz und Maus miteinander gespielt. Und eines Tages würde ich verlieren. So einfach war das.

Wenn ich heute sterben würde, dann sollte es so sein.

Ich setzte mich in Bewegung.

Kapitel 2Willow

Denk nach, Willow. Denk nach!

Das hier war Mr Daniels. Ich kannte ihn, seit ich denken konnte. Alzheimer hin oder her, es war völlig unmöglich, dass er mich erschießen würde, oder?

Das Problem war nur, dass er keine Ahnung hatte, wer ich war. Ein ungemütlicher Gedanke. Ach ja, und das Gewehr zielte direkt auf meine Brust. Was auch nicht gerade tröstlich war.

»Mr Daniels«, versuchte ich es erneut und redete so leise und ruhig wie möglich. »Ich bin’s, Willow. Ich wohne gleich nebenan, schon vergessen?« Falls man eine Entfernung von einer Meile als nebenan bezeichnen konnte.

Der Wind blies mir eine lose Haarsträhne über mein Gesicht, aber ich wagte es nicht, sie mir hinters Ohr zu streichen. Die Sonne war vor kostbaren Minuten untergegangen und es wurde bereits dunkel. Was, wenn er mich einfach gar nicht sehen konnte?

»Sei still«, brüllte er und fuchtelte mit seinem Gewehr herum. Seine Augen waren weit aufgerissen und wild, aber nicht böse. Er erkannte mich einfach nicht oder er wusste nicht mehr, warum er hier war.

Ich schnappte entsetzt nach Luft, das Herz schlug mir bis zum Hals. Was, wenn er abdrückte? Oder sich versehentlich ein Schuss löste? Wir waren eine halbe Meile vom Daniels-Haus entfernt, und eine Dreiviertelmeile oberhalb des Grundstücks meiner Eltern. Ich hatte mein Handy in der Tasche, aber wenn ich danach griff, geriet er vielleicht in Panik und drückte ab. Bei diesem Abstand wäre ich tot, bevor sie mich ins Krankenhaus bringen könnten … falls mich überhaupt jemand finden würde.

Aber zumindest waren jetzt auch andere Suchtrupps unterwegs. Sie würden kommen, wenn sie den Schuss hörten.

»Es gibt Pumas hier draußen oder wissen Sie das nicht?«, fauchte er.

Pumas. Vor fünfzehn Jahren hatte ein Puma seine Frau angefallen, genau hier auf diesem Feld.

»Was haben Sie hier zu suchen? Das ist Hausfriedensbruch!«

Ich versuchte gar nicht erst, ihm zu widersprechen, denn streng genommen hatte er recht. Aber Dorothy hatte mich in heller Panik angerufen und ich war sofort losgerannt, um Mr Daniels zu suchen, so wie ich es schon mehrmals in diesem Monat gemacht hatte. Das Gewehr … Also darauf war ich nicht gefasst gewesen.

»Ich weiß, dass es hier Pumas gibt«, sagte ich mit einem leichten Beben in der Stimme. »Und Sie haben mir erklärt, was ich tun muss, falls mir mal einer in die Quere kommt.« Ich war damals sieben gewesen und Mr Daniels hatte Sullivan und mich beiseitegenommen, um uns zu erklären, wie wir uns verhalten mussten. Cam hatte natürlich den Puma gespielt und Alexander hatte schweigend, aber kritisch zugeschaut.

Cam. Meine Brust zog sich zusammen, wie immer, wenn ich an ihn dachte, selbst jetzt in dieser verzweifelten Lage. Oder nein, vielleicht gerade deshalb.

»Ich kenne Sie nicht! Hören Sie auf mit Ihren Lügen! Was wollen Sie hier? Warum sind Sie auf meinem Land? Weg hier!« Er stieß mit dem Gewehr nach mir.

»Okay.« Ich nickte und wich einen Schritt zurück.

»Nicht bewegen!«, schrie er und seine Stimme wurde schrill vor Panik. »Und nicht sprechen!«

Ich blieb abrupt stehen. Mr Daniels versank immer tiefer in seinem Wahn und mein Geist kapitulierte allmählich vor der Möglichkeit, dass er mich vielleicht doch erschießen würde. Alle meine Muskeln blockierten, ich stand da wie gelähmt.

Eine Bewegung links von mir erregte meine Aufmerksamkeit und ich drehte ganz leicht den Kopf, bis ich aus dem Augenwinkel eine Gestalt wahrnahm – einen Mann, der nur wenige Armlängen von mir entfernt war. Er kam mit erhobenen Armen näher, die Handflächen geöffnet. Wer war das? Und woher kam er?

Ich konnte sein Gesicht unter dem Basecap nicht erkennen, aber er war riesig, verglichen mit meinen eins zweiundsechzig. Ich kam mir jedenfalls wie ein Zwerg vor, als er sich zwischen Mr Daniels und mich schob. Sein breiter Rücken versperrte mir komplett die Sicht.

Komisch, dass ich ihn nicht kannte, weil immer nur dieselben Leute – ungefähr ein Dutzend von uns – nach Mr Daniels suchten. Aber irgendwie hatte seine Haltung etwas Vertrautes, die Art und Weise, wie er vor Mr Daniels praktisch die weiße Flagge hisste und dabei vor Angriffslust geradezu vibrierte. Mir schoss einen Augenblick der ziemlich absurde Gedanke durch den Kopf, dass dieser Typ gefährlicher war als das geladene Gewehr, das auf ihn zielte.

Zumindest ging ich davon aus, dass es geladen war. Wenn nicht, hätte ich auf jeden Fall ein echtes Abenteuer erlebt – wenn auch kein besonders witziges –, das ich später Charity erzählen konnte.

Meine Schwester, die in Dads Augen immer so wild und wagemutig war – aber in einen Gewehrlauf hatte sie garantiert noch nie geblickt.

»Was soll das? Wer zum Teufel sind Sie nun wieder? Wie viele von euch treiben sich denn noch hier rum?«, rief Mr Daniels mit wachsender Panik. Die breiten Schultern vor mir hoben sich, als wollte der Typ etwas … »Nein, nichts sagen! Alles nur Lügen! Ihr Claim-Räuber seid doch alle nichts als ein Haufen Lügner!«

Wow, und schon waren wir mitten in einer völlig anderen Geschichte.

Der Unbekannte griff nach hinten, fasste mich mit der Hand um die Taille und zog mich näher an sich heran. Ich versteifte mich, aber was war schon die Verletzung meiner Privatsphäre gegen den Gewehrlauf, der auf uns zeigte? Ich steckte im Griff dieses Typen wie in einem Schraubstock – er hielt mich mühelos fest … So wie damals in meinem Freshman-Jahr, als ich … ich erstarrte mitten in meinen Gedanken. Nein, unmöglich – das kann nicht sein!

»Sei vorsichtig«, warnte ich den Fremden. »Er hat Alzheimer. Er weiß nicht, was er tut.«

Daraufhin zog er mich noch enger an seinen Rücken und ein Geruch nach Minze und Kiefernnadeln drang mir in die Nase, während ich anfing, mich kaum merklich zu bewegen, bis ich mit dem Rücken zu den Bäumen und nicht zur Schlucht stand. Gott, dieser Geruch … ich kannte ihn nur zu gut!

»Wir sind nur zwei Wanderer«, sagte der Typ ganz langsam und leise zu Mr Daniels.

In diesem Moment überrollte mich die Gewissheit wie eine Lawine, sodass mir kurz die Luft wegblieb. Meine Augen gingen zu und eine Flut von Erinnerungen schwappte über mich hinweg, während ich verzweifelt hoffte, dass ich nicht auch noch unter Halluzinationen litt.

»Cam«, flüsterte ich und ließ meine Stirn an seinen Rücken sinken, während ich eine Handvoll Stoff von seiner Jacke mit den Fingern umklammerte.

»Alles gut, Willow?«, fragte er so leise, dass ich ihn beinahe wirklich für eine Halluzination hielt, aber ich konnte zum Glück spüren, wie seine Stimme in seiner Brust vibrierte.

Ich nickte, genoss den weichen Stoff seiner Jacke an meiner Haut. Vielleicht hatte Mr Daniels bereits abgedrückt. Vielleicht hatte ich den Einschlag der Kugel gar nicht gespürt. Vielleicht war ich sofort tot gewesen. Das war die einzig logische Erklärung für Cams Anwesenheit.

Weil Camden Daniels Stein und Bein geschworen hatte, dass er nie wieder nach Alba zurückkommen würde, außer um hier begraben zu werden. Aber sein Körper fühlte sich so fest an. So wirklich. Und er roch genau so, wie ich es in Erinnerung hatte. Und außerdem – wenn ich wirklich tot gewesen wäre, hätte ich dann nicht Sullivans Arme um meine Schultern spüren müssen? Statt Cams? Das konnte nicht Cam sein. Nicht für mich.

Ich folgte meinem Retter, der sich Zentimeter für Zentimeter von seinem Vater fortbewegte.

Cam konnte unmöglich hier sein. War seit Jahren nicht mehr in Alba aufgetaucht. Und er konnte definitiv keine Gewehrkugel stoppen. Trotzdem fühlte ich mich jetzt sicher. Die restliche Welt mochte Cam als Bedrohung sehen – für mich war er immer meine unwahrscheinliche Zuflucht gewesen, selbst in der Zeit, als er seinen schlechten Ruf noch voll und ganz verdiente. Cam hatte mich immer beschützt, aus dem einfachen Grund, weil ich mit ihnen aufgewachsen war. Ich gehörte zu ihnen.

Das kleine Mädchen, das mit den Daniels-Jungs herumzog. Der naive Teenager, der zurückblieb, als die drei Brüder in den Krieg gingen.

Die erwachsene Frau, die zerbrach, weil nur zwei von ihnen zurückkehrten.

Cam war jetzt hier, okay, aber ein falscher Schritt und wir würden bald beide neben Sullivan liegen.

»Keine Bewegung mehr oder ich schieße!«, brüllte Mr Daniels und Cam gehorchte. »Leeren Sie Ihre Taschen! Wagen Sie es nicht, mich zu bestehlen!«

»Ich lass dich jetzt los und du weichst ganz langsam in den Wald zurück und dann rennst du wie der Teufel!«, befahl Cam mir leise.

Ich nahm undeutlich wahr, wie Mr Daniels, jetzt schon etwas ferner, vor sich hin murrte.

»Ich kann dich doch nicht mit ihm allein lassen!«, protestierte ich.

»Kannst du nicht einmal im Leben auf mich hören, Pika? Ich versuche nämlich gerade, deinen Hals zu retten. Alexander wird sich gleich von hinten an Dad anschleichen und es ist auch schon Hilfe unterwegs, aber du musst jetzt los.«

Pika! Mein alter Spitzname, bei dem sich mir die Kehle zuschnürte, sodass ich kaum schlucken konnte. »Er erkennt dich nicht, Cam. Er wird abdrücken. Es ist sechs Jahre her, seit er dich zuletzt gesehen hat! Er erkennt ja nicht mal mich und ich besuche ihn fast jeden Tag.«

»Er wird sich an mich erinnern.«

»Ja, das dachte ich auch, bis er mit dem Gewehr auf mich gezielt hat, du sturer Blödmann.«

»Hey, was war das?«, flüsterte er. »Ich glaube, da hat was gepiepst, aber meine Jacke muss wohl das Geräusch gedämpft haben.«

Unter anderen Umständen hätte ich ihn statt einer Antwort in den Arm gezwickt.

»Er erkennt dich nicht«, protestierte ich stattdessen erneut, »und du regst ihn nur noch mehr auf, wenn du ihn daran zu erinnern versuchst, wer du bist.«

Mr Daniels’ Murren wurde lauter, dann brüllte er wieder. »Ihr verdammten Einbrecher, ihr wollt doch nur stehlen, was mir gehört! Aber ihr kriegt es nicht … kriegt es nicht.«

Cams Herzschlag blieb tröstlich regelmäßig und sein Atem war tief und stetig. Wenn ich Arthur Daniels nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, hätte ich nie geglaubt, dass ein Gewehr auf uns zielte.

»Ihr kriegt es nicht, habt ihr verstanden?«

Dann knallte ein Schuss und hinter mir stoben die Vögel aus den Bäumen auf. Ich erstarrte, packte Cams Jacke noch fester.

Seine Hand spreizte sich weit über meinen Rücken.

»Cam«, flüsterte ich, so laut ich es wagen konnte. Was, wenn er verletzt war? Wenn er zurückgekommen war, nur um hier zu sterben? Wie sollte ich es jemals überleben, wenn ich einen zweiten Daniels-Jungen begraben musste? Ich beugte mich vor, versuchte um ihn herumzuspähen, aber Cam verstärkte seinen Griff, hielt mich eisern hinter seinem Rücken fest.

»Ich bin okay«, flüsterte er genauso leise zurück. »Er hat in die Luft geschossen.«

»Jedenfalls wissen wir jetzt, dass die Waffe geladen ist.« Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen und die Angst hinterließ einen bitteren, metallischen Geschmack auf meiner Zunge.

»Ja. Nicht gerade der Silberstreifen am Horizont.«

Meine Mundwinkel zuckten leicht.

»Er hat noch eine Kugel im Lauf. Also vergiss nicht, was ich gesagt habe: Du weichst ganz langsam in den Wald zurück.«

»Nein«, protestierte ich.

»Doch«, beharrte er und seine Hand verschwand von meinem Rücken. »Los jetzt, Willow. Lauf!«

Mir gefror das Blut in den Adern.

Cam bewegte sich vorwärts und ich ließ seinen Jackenstoff durch meine geschlossene Hand gleiten, sodass ich eine Schrittlänge hinter ihm zurückblieb.

»Dad«, rief Cam. »Hast du mir nicht beigebracht, niemals mit einem Gewehr auf ein Mädchen zu zielen?«

Ich stand da wie angewurzelt, sah, wie Cam sich weiter vorwärtsbewegte, als würde kein geladenes Gewehr auf seine Brust zielen.

»Was?«, rief Mr Daniels zurück. »Ich bin nicht Ihr … Wer sind Sie? Was wollen Sie?«

Aber da … etwas in seiner Stimme hatte sich verändert, war weicher geworden.

Wenn Cam zu ihm durchdrang, würden wir das hier vielleicht beide überleben. Nur leider waren die Chancen, dass das passieren könnte, kaum der Rede wert.

»Ich bin’s, Dad. Camden. Und du zielst auf Willow, deshalb bin ich dazwischengegangen. Du willst sie doch nicht verletzen, oder? Die kleine Willow? Unsere Nachbarin?«

»Willow … Wer ist …«

Je weiter Camden sich von mir entfernte, desto deutlicher kam Mr Daniels in Sicht. Ich musste jetzt in die Gänge kommen, musste in den Wald zurück, damit das alles hier nicht umsonst gewesen war. Aber der Gedanke, Camden allein zurückzulassen, mit dem Gewehrlauf seines Dads auf seine Brust gerichtet, war einfach unerträglich.

Sullivan war auch allein gewesen. Ich hatte ihn nicht erreichen können. Ihn nicht festhalten, ihm kein letztes Mal die Haare aus der Stirn streichen können.

Aber diesmal war es anders. Cam würde ich nicht im Stich lassen.

»Komm schon, Dad. Leg das Gewehr weg. Dann gehen wir nach Hause und ich brate dir ein leckeres Hähnchen, so wie Mom es immer gemacht hat, okay?« Cam breitete seine Arme aus, die Handflächen seinem Dad zugewandt.

»Runter von meinem Land! Du kriegst es nicht!«

Wieder knallte ein Schuss und ich schrie auf, als Camden zurückflog und mit einem grässlichen, dumpfen Aufprall auf dem Boden landete.

»Nein!«, brach es aus mir hervor und ich rannte über den holprigen Grund zu Cam, der auf einem Fleck mit braunem Wintergras lag.

»Willow!« Xander tauchte hinter seinem Vater auf und griff nach dem Gewehr.

»Ruf 911 an!« Ich warf nur einen flüchtigen Blick zurück, bevor ich neben Cam auf die Knie ging. Wie zum Teufel sollten wir ihn den Berg hinunterbringen? Konnte hier oben ein Hubschrauber landen?

Seine Jacke war zerfetzt, winzige Flaumfederchen quollen überall auf seiner Brust hervor und wehten mit dem Wind davon.

Aber zumindest waren sie nicht rot. Noch nicht. Ebenso wenig wie das Gras um ihn herum, oder? Obwohl … es war doch schon so dunkel.

Ich griff nach seiner Jacke, aber er bog seinen Rücken durch und ich schaute in sein schmerzverzerrtes Gesicht – Gott, wie hatte ich dieses Gesicht vermisst! –, und ohne nachzudenken, nahm ich es in die Hände. Eine Bewegung im Augenwinkel verriet mir, dass der andere Suchtrupp eingetroffen war. Zu spät. Immer zu spät.

»Ich bin da«, sagte ich zu Cam und schaute ihm in die Augen, die so dunkel waren, dass sie mich ganz zu verschlingen drohten. »Wir kriegen das hin«, versprach ich, obwohl ich kein Recht dazu hatte. Aber egal, ich zwang mich optimistisch zu klingen, nickte übertrieben und schenkte ihm ein zittriges Lächeln. »Hilfe ist unterwegs.«

Seine Augen weiteten sich und er rang vergeblich nach Atem. Ich konnte seine Angst spüren, als sein Blick an mir herunterglitt, über meine weiße Jacke, verzweifelt suchend.

»Keine Sorge, ich bin nicht getroffen. Sondern du«, versicherte ich ihm. Ich Idiotin. Als könnte ihn das trösten! »Lass mich nachsehen, wie schlimm es ist.«

Wortlos griff er zwischen uns, fummelte an seiner Jacke herum.

Ich zuckte zurück und schob sanft seine Hände aus dem Weg. »Lass mich.«

Er ist okay. Er ist okay. Er ist okay.Du kannst nicht auch noch ihn nehmen, verstehst du mich? Du hast Sullivan genommen. Cam kriegst du nicht.

Cams Lunge pfiff, als der erste Luftstrom sich seinen Weg hinein bahnte. Meine Augen flogen zu seinen auf, die bereits auf mich gerichtet waren, und er runzelte leicht die Stirn, während er weiter nach Luft rang.

Ich zog seine Jacke auf, vorsichtig, aber mit einer einzigen Bewegung, und stählte mich für das, was darunter zum Vorschein kommen würde.

»Um Gottes willen, Cam!«, fluchte Gideon, der auf Cams anderer Seite in die Knie ging.

»Arthur hat auf ihn geschossen.« Mit zitternden Händen öffnete ich Cams Jacke und legte das dunkle Material darunter frei. Das Gewebe wies mehrere Löcher auf, dort, wo die Schrotkugeln eingedrungen waren. Aber wo war das Blut? »Es ist zu dunkel! Ich kann nichts sehen!«

»Mir geht’s … gut«, brachte Cam keuchend hervor.

Mit einem Klick sprang Gideons Taschenlampe an.

»Sei still«, befahl ich ihm. »Der dumme Kerl merkt es noch nicht mal, wenn er erschoss …« Der Lichtstrahl der Taschenlampe fiel auf Cams Brust und spiegelte sich in lauter winzigen Metallsplitterchen wider, wie ein einsames Sternbild an einem ansonsten tiefschwarzen Himmel. »Warte. Was?«

»Bastard!« Gideon lachte und schwenkte keuchend die Taschenlampe herum. Mit einem Blick über die Schulter sagte er zu mir: »Er ist in Ordnung.«

»Sag. Ich. Doch. Alles gut«, knurrte Cam.

»Was? Wieso denn? Du bist getroffen worden …« Ich konnte die Löcher doch sehen – es mussten Schrotkugeln gewesen sein. Obwohl es gegen jede Logik war, hielt ich meinen Finger in eines der Löcher und traf auf kühles Metall. Dann ließ ich meine Hand an Cams hartem – viel zu hartem – Brustkorb heruntergleiten.

»Pika, hör auf.« Cam fing meine Hand ab, drückte sie herunter und presste meine Handfläche auf die unnatürlich harte Oberfläche seiner Brust. »Ich bin okay. Mir ist nur durch den Aufprall die Luft weggeblieben.« Er ließ meine Hand los und öffnete einen Clip an seiner Schulter, dann auf der anderen Seite. Ein Klettverschluss riss auf und ein riesiges Stück … Was zum Teufel war das denn?

»Nett. Was ist das für ’ne Schutzklasse?«, fragte Gideon interessiert und nickte zu der kugelsicheren Weste, die seitlich herunterfiel und den Blick auf Cams Black-Flag-T-Shirt freigab.

Ein sehr sauberes, sehr weißes, völlig unversehrtes T-Shirt.

Ich blinzelte. Blinzelte noch einmal, um mein Gehirn davon zu überzeugen, dass meine Augen mir keinen Streich spielten, dass Cam wirklich nicht verletzt war und ich mir nicht in meiner Verzweiflung einfach was zusammengeträumt hatte.

Da war keine Schusswunde. Kein Blut. Keine Verletzung.

»Typ vier«, sagte Cam, jetzt wieder mit seiner normalen Stimme. Er ließ seine Hand über Brust und Bauch gleiten, seufzte erleichtert und legte seinen Kopf auf den Boden zurück.

»Nett. Und so was schleppst du mit dir rum?«

»Was ist so komisch daran, dass ich alle meine Besitztümer im Auto habe?«, sagte Cam mit einem verschmitzten Grinsen.

»Sag bloß, du hast damit gerechnet, dass dein Dad dich einfach mal so abknallt?« Gid schnaubte.

»So ungefähr.« Cam zuckte zusammen, als er sich aufrichtete.

»Du bist okay.« Mein Hintern knallte auf ein Paar rachsüchtige Wanderstiefel, als ich zurückschaukelte und mich auf die Fersen setzte. Die Stimmen hinter mir drangen nur als weißes Rauschen in meine Ohren, auch als sie lauter wurden. In meinem Kopf flog alles wild durcheinander, ich konnte keinen klaren Gedanken fassen, außer dass Cam nicht getroffen war, dass er nicht blutete, nicht im Sterben lag.

»Ich hab doch gesagt, dass ich nicht verletzt bin.« Cam zog sein T-Shirt hoch und tastete nach seinem Schlüsselbein. »Das gibt einen schönen Bluterguss, Mann.«

»Auf jeden Fall war es gut, dass du hier warst«, sagte eine Stimme links von mir. »Wie du ihm das Gewehr abgenommen hast, Xander … ehrlich, das war … eine Heldentat.«

Sergeant Acosta kam in Sicht und tätschelte Xanders Rücken. Die beiden waren im selben Alter, aber jeder konnte sehen, dass Acosta sich mit der Pistole in seinem Holster bei Weitem wohler fühlte als Xander mit Arthurs Gewehr, das er immer noch in der Hand hielt.

»Nein, nein, ich hab nichts gemacht«, wehrte Xander ab und ließ sich auf die Knie fallen, um auf Augenhöhe mit Cam zu sein. »Das war Cam, er hat das ganz allein hingekriegt. Bist du okay?«, fragte er nach einem Blick auf die Schutzweste.

Cam nickte und kam auf die Füße.

»Ja genau, er hat es ganz allein geschafft, deinen Dad auf hundertachtzig zu bringen, bis er mit der Knarre auf ihn gezielt hat.« Acosta lachte und meine Fingernägel gruben sich schmerzhaft in meine Handflächen.

Ich öffnete den Mund, um Acosta zu sagen, dass Cam mir höchstwahrscheinlich das Leben gerettet hatte, aber ein rasches Kopfschütteln von Cam ließ mich verstummen und ich schluckte meine Worte hinunter. Er hatte sich immer damit abgefunden, dass andere schlecht von ihm dachten, und wahrscheinlich hatte sich daran nichts geändert.

»Wir bringen ihn jetzt am besten nach Hause«, sagte Cam, ohne sich an jemand Bestimmten zu wenden, während er die Schutzweste wieder zuklickte und geradeaus starrte. Diesen Tonfall kannte ich nur allzu gut aus unserer gemeinsamen Zeit hier – so hatte er immer mit mir geredet, wenn er ein Gespräch abwürgen oder mir klarmachen wollte, dass er sich von allem distanzierte, was auch nur entfernt irgendwelche Gefühle bei ihm auslösen könnte.

Jetzt, nachdem die Gefahr gebannt war, nahm ich gierig seinen Anblick in mich auf. Er war natürlich nicht größer als früher, aber muskulöser und härter, was auch für seine Ausstrahlung galt. Ich spürte eine Schärfe in ihm, die vor zehn Jahren, als er Alba den Rücken kehrte, noch nicht da war. Die undurchdringlichen Mauern, die er schon immer um sich aufgerichtet hatte, ließen sich jetzt noch schwerer durchbrechen, so viel konnte ich sehen. Aber seine Augen … in ihnen erkannte ich denselben Schmerz, der sich in meinen widerspiegelte, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte.

Cam und Xander gingen los, blieben dann kurz stehen, wahrscheinlich um über den Zustand ihres Vaters zu sprechen, während Art bei Captain Hall stand, der sich vor Ort ein Bild von den Ereignissen zu machen versuchte.

Mrs Daniels’ Tod war eine Tragödie gewesen. Und dass wir neun Jahre später Sullivan begraben mussten, hatte uns allen das Herz gebrochen. Aber jetzt auch noch mit anzusehen, wie Arthur Daniels langsam von seiner Krankheit zerstört wurde – die sich schon vor fast zwei Jahren angekündigt hatte –, war fast noch schlimmer. So als müsste man ihn Stück für Stück begraben.

»Man sieht dich gar nicht mehr in der Stadt, Willow. Was ist los, spielst du immer noch mit deinen Farben rum?«, fragte Robbie Acosta und grinste zu mir herunter, während Gideon sich zu den Daniels-Brüdern gesellte.

»Und du? Glaubst du immer noch, es gäbe genügend Verbrechen in der Stadt, um deinen Job hier zu rechtfertigen?«, konterte ich zuckersüß. Mein Grafikdesign-Studio brachte genug ein, dass ich bequem davon leben konnte, aber niemand hier nahm das zur Kenntnis. Stattdessen zogen mich alle wegen meiner Bilder auf – oder deren Nichtvorhandensein.

Vielleicht, weil sie lieber in meinen Wunden herumstocherten als in ihren eigenen.

»Oha.« Robbie hielt beschwichtigend seine Hände hoch, so wie Cam es gemacht hatte, als er auf dem Feld vor mir aufgetaucht war. »Du kannst deine Krallen wieder einfahren, Willow. War nur ein Scherz.«

»Ja. Bin aber nicht in der Stimmung dafür.« Ich konzentrierte mich ganz auf Cams Rücken. Ein nur allzu vertrauter Schmerz breitete sich in meiner Brust aus. Wann war er nach Hause gekommen? Und für wie lange? Was – oder eher wen – würde er diesmal zerbrechen?

»Du musst mehr ausgehen, Willow. Besonders nachdem sich deine Sozialkontakte hauptsächlich auf einen alten Mann mit Demenz und eine geladene Knarre beschränken«, fing Robbie wieder an. Er rieb sich den Nacken und seine Stimme ging noch mehr in die Höhe als damals in der Highschool. »Ich könnte dich zum Beispiel mal zum Essen ausführen, was meinst du?«

»Wie bitte?«, fragte ich, den Kopf verwirrt zur Seite geneigt. »Du willst mich zum Essen ausführen?«

»Ja.« Er zuckte die Schultern, ein verlegenes Lächeln im Gesicht.

»Du … du magst mich doch nicht mal«, sagte ich langsam und schüttelte den Kopf.

Robbie war immer auf die Prom Queens abgefahren – Mädchen, die sich schon in der Middleschool perfekt geschminkt hatten. Die aus Buena Vista, wo wir in die Schule gingen – die immer tadellos gestylt und auf Instagram waren. Ich hatte jetzt, mit fünfundzwanzig, noch nicht mal einen persönlichen Instagram-Account … und erst recht kein Interesse an Robbie.

»Ich meine, du bist Single, ich auch – also warum nicht?«

»Klar, wenn die Menschheit eine gefährdete Art wäre oder so.« Ich bereute meine harten Worte sofort, als er wegschaute. »Es gibt auch noch ein Leben außerhalb von Alba, verstehst du, Robbie? Du musst dir deine Dates nicht innerhalb der Stadtgrenzen suchen.«

»Stimmt genau«, seufzte er mit einer Grimasse. »Oh Mann, ich wette, du bist noch nicht bereit dafür, was? Shit, das war echt eine miese Nummer. Tut mir leid.«

»Was, dass du mich zum Essen eingeladen hast, direkt nachdem Art Daniels mit einem geladenen Gewehr auf mich gezielt hat?«

Er blinzelte. »Nein. Ich meine, vielleicht bist du noch nicht bereit für ein Date …« Seine Augenbrauen gingen in die Höhe.

Also wirklich.

»Oh, mach dir deshalb keine Sorgen. Ich bin okay, ehrlich. Klar vermisse ich Sullivan, aber das ist jetzt sechs Jahre her.« Die Zeit verging langsamer in einer Kleinstadt. Mein Herz war wohl in meiner College-Zeit nach und nach verheilt, aber die Leute hier redeten immer noch so, als hätten wir Sullivan erst letzte Woche begraben.

Wahrscheinlich müsste ich in ihren Augen immer noch traumatisiert sein.

»Richtig. Gut für dich, dass du so stark bist«, sagte er mit einem Nicken. Dann tätschelte er mir noch flüchtig den Rücken, bevor er den Rufen der Gruppe an der Waldgrenze folgte.

Ich konnte sie nicht erkennen – dazu war es bereits zu dunkel –, aber ich tippte auf die üblichen Verdächtigen, ohne Dad natürlich. Wenn Dad hier gewesen wäre, wäre er ausgerastet.

Xander steuerte auf Mr Daniels zu und mich zog es magisch an Cams Seite, wie so viele Millionen Male zuvor.

»Ich kann es immer noch nicht glauben, dass du hier bist«, sagte ich, ehe ich mich bremsen konnte. Mund, bau dir einen Filter ein!

»Ich auch nicht.« Seine Augen waren auf Xander und seinen Dad gerichtet. »Was machst du überhaupt hier draußen?«, fauchte er mich plötzlich an.

»Deinen Vater suchen.« Sein Ton machte mich rebellisch.

»Und du hast ihn auch verdammt noch mal gefunden.«

»Ich helfe immer bei der Suche. Ist keine große Sache.«

Ein Muskel in seinem Kiefer zuckte.

»Ach ja? Und wie oft hat er dich schon mit einer Waffe bedroht?« Sein Blick wanderte langsam zu mir herum und in diesem Moment war die Dunkelheit mehr denn je ein Segen. Ich sah jedenfalls genug in seinen Augen, um zu wissen, dass er sauer war.

»Noch nie. Und Xander schließt die Waffen jetzt ein, da bin ich mir sicher. Dann kommt es auch nicht mehr vor.«

Cam schnaubte. »Ja, klar. Er hätte dich erschießen können.«

»Aber er hat auf dich geschossen.« Ich bohrte einen Finger in seine Schutzweste.

Ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen und ich krähte beinahe vor Genugtuung.

»Sieht aus, als ob er jetzt nach Hause will«, bemerkte Cam, als Mr Daniels den Arm abschüttelte, den Gideon ihm hinhielt, um ihm über das holprige Gelände zu helfen. »Stur wie eh und je«, murrte Cam weiter, seinen Dad, der jetzt auf ihn zukam, noch immer im Blick.

»Das muss in der Familie liegen. Ich meine, ich hab dich gewarnt, dass er dich nicht erkennt, oder?«, zog ich ihn auf, um seine Stimmung ein bisschen aufzuhellen. Cam ging es immer besser, wenn er über einen Kummer lachen konnte. Komisch war das hier allerdings nicht.

»Wer erkennt ihn nicht?«, fragte stattdessen Mr Daniels, der direkt vor Cam stehen blieb. Er war nur wenige Zentimeter kleiner als sein Sohn, aber er besaß eine Ausstrahlung, die ihn überlebensgroß erscheinen ließ. »Ich habe auf dich geschossen.«

»Das hast du.« Abgesehen von seiner rechten Hand, die sich zur Faust ballte, zeigte Cam keinerlei Gefühlsregung. Das hatte sich offenbar auch nicht verändert.

»Art«, sagte Captain Hall und schlug Mr Daniels auf die Schulter. »Ich weiß nicht, wie viel du in dieser Dunkelheit sehen kannst, aber das ist …«

»Ich weiß genau, wer das ist«, zischte Mr Daniels.

Ich wappnete mich in Gedanken dagegen, was dieser Demenzschub uns noch alles bescheren würde.

Cam zog eine Augenbraue hoch, als Mr Daniels ihn anfunkelte.

»Das ist der Hurensohn, der meinen Sullivan getötet hat.«

Ich schnappte erschrocken nach Luft und stellte mich instinktiv näher zu Cam, sodass mein Arm seinen streifte. Aber er hätte genauso gut eine Statue sein können, so wenig Reaktion zeigte er. »Mr Daniels …«

»Ich habe keine Ahnung, warum zur Hölle du da bist, aber du kannst auch direkt wieder von hier verschwinden.« Er ließ mich gar nicht erst zu Wort kommen, sondern jagte seinen Sohn zum Teufel – den Sohn, den er sechs Jahre lang nicht gesehen hatte.

Dann drehte er Cam den Rücken zu und ging Richtung Wald, mit Captain Hall an seiner Seite.

»Cam«, sagte Xander leise. Doch was immer er in Cams Augen sehen mochte, er schüttelte den Kopf und ging weg, folgte seinem Vater.

»Es tut mir so leid. Er weiß nicht, was er sagt«, flüsterte ich, obwohl ich kaum sprechen konnte, so dick war der Kloß in meiner Kehle.

»Und ob er das weiß. Und er hat recht.« Cam schaute zu mir herunter, ein verlorenes Lächeln im Gesicht, das mich sofort in unsere gemeinsame Highschool-Zeit zurückversetzte. Cam hatte es immer geschafft, mit einem einzigen Blick Tausende Meilen Distanz zwischen uns zu bringen – und nicht nur zu mir, sondern auch zu allen anderen. »Hab dir doch gesagt, dass er sich an mich erinnert.«

Dann ging er mit seiner Familie davon.

»Cam!«, rief ich, in dem verzweifelten Versuch, ihn noch ein bisschen länger festzuhalten – den Camden, der sich vor das geladene Gewehr seines Vaters gestellt hatte, um mich zu beschützen. Aber seine Verwandlung in den eiskalten »Ich scheiß auf dich«-Camden war bereits in vollem Gang.

»Geh heim, Willow.«

Oder vielmehr abgeschlossen.

Ich schaute ihm nach, bis er zwischen den Bäumen verschwunden war, und kämpfte gegen den unwiderstehlichen Drang an, ihm zu folgen. So viel zu Cams romantischer Heimkehr, von der ich jahrelang geträumt hatte.

Aber er war da. Er war zu Hause.

Und ich musste herausfinden, warum.

Kapitel 3Camden

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