Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie - Christopher Germer - E-Book

Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie E-Book

Christopher Germer

0,0

Beschreibung

Obwohl Achtsamkeit, Weisheit und Mitgefühl in der psychotherapeutischen und psychiatrischen Literatur selten behandelt werden, wird man kaum widersprechen können, dass diese Qualitäten wichtige Elemente einer jeden guten Behandlung sind. Dieses Buch erläutert das Wesen von Weisheit und Mitgefühl, sowohl für Therapeuten, die noch nicht mit achtsamkeits- und akzeptanzbasierten Ansätzen gearbeitet haben, als auch für jene, die damit schon vertraut sind. Untersucht wird, ob und wie diese Qualitäten objektiv gemessen und wie sie in die therapeutische Behandlung integriert werden können. Die Autoren beschreiben wirksame Strategien, mit denen bei bestimmten Symptomen und Störungen (zum Beispiel bei Angst, Depression, Trauma, Substanzmissbrauch, suizidalem Verhalten, Paarkonflikten und Elternstress) mit Achtsamkeit und Mitgefühl gearbeitet werden kann. Innovative therapeutische Techniken werden vorgestellt sowie die Theorie und die Forschung, die sie stützen, zusammengefasst. Das Buch beschreibt auch neurobiologische Grundlagen von Weisheit und Mitgefühl, etwa die bedeutenden Entdeckungen über die Wirkung von Achtsamkeitsmeditation auf das Gehirn. Inspirierend und spannend geschrieben, ist Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie eine wahre Fundgrube für Therapeuten und ein Meilenstein in der Weiterentwicklung therapeutischer Kompetenz.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 820

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christopher Germer & Ronald Siegel

Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie

Weisheit und Mitgefühlin der Psychotherapie

Achtsame Wege zur Vertiefungder therapeutischen Praxis

Herausgegeben von

Christopher Germer & Ronald Siegel

Mit einem Vorwort von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama

Aus dem Amerikanischen von Peter Brandenburg

Zum Andenken an G. Alan Marlatt

© 2012 The Guilford Press

A Division of Guilford Publications, Inc

© 2014 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH Freiburg

by arrangement with The Guilford Press. A Division of Guilford Publications, Inc

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:

Wisdom and Compassion in Psychotherapy: Deepening Mindfulness in Clinical Practice

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2018

Titelfoto: © 2014 plainpicture/Bildhuset

Lektorat: Lothar Scholl-Röse

Hergestellt von mediengenossen.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-231-3

Wichtiger Hinweis

Die Ratschläge zur Selbstbehandlung in diesem Buch sind von den Autoren und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Bei ernsthafteren oder länger anhaltenden Beschwerden sollten Sie auf jeden Fall einen Arzt oder einen Heilpraktiker Ihres Vertrauens zu Rate ziehen. Eine Haftung der Autoren oder des Verlages für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Inhalt

Vorwort

Danksagung

Einleitung

1Was sind Weisheit und Mitgefühl?Warum sollten wir uns um sie kümmern?

KAPITEL 1 Weisheit und Mitgefühl

RONALD SIEGEL, CHRISTOPHER GERMER

KAPITEL 2 Achtsame Präsenz

TARA BRACH

KAPITEL 3 Leben mit Mitgefühl und Weisheit aufbauen

BARBARA FREDRICKSON

2Die Bedeutung von Mitgefühl

KAPITEL 4 Mitgefühl in der buddhistischen Psychologie

JOHN MAKRANSKY

KAPITEL 5 Der mitfühlende Therapeut

ELISSA ELY

KAPITEL 6 Die Wissenschaft vom Selbstmitgefühl

KRISTIN NEFF

KAPITEL 7 Mitgefühl in der Psychotherapie

CHRISTOPHER GERMER

KAPITEL 8 Neurobiologische Grundlagen von Mitgefühl

RICHARD DAVIDSON

3Die Bedeutung von Weisheit

KAPITEL 9 Weisheit in der buddhistischen Psychologie

ANDREW OLENDZKI

KAPITEL 10 Der weise Psychotherapeut

RONALD SIEGEL

KAPITEL 11 Die Wissenschaft von der Weisheit

ROBERT STERNBERG

KAPITEL 12 Die Weisheit in Beziehung

JANET SURREY, JUDITH JORDAN

KAPITEL 13 Selbst und Nicht-Selbst in der Psychotherapie

JACK ENGLER, PAUL FULTON

KAPITEL 14 Neurobiologische Grundlagen von Weisheit

THOMAS MEEKS, RAEL CAHN, DILIP JESTE

4Therapeutische Anwendungen

KAPITEL 15 Mitgefühl, Weisheit und suizidale Klienten

MARSHA LINEHAN, ANITA LUNGU

KAPITEL 16 Drogenabhängigkeit und Rückfallprävention

ALAN MARLATT, SARAH BOWEN, KATHLEEN LUSTYK

KAPITEL 17 Angststörungen

LIZABETH ROEMER, SUSAN ORSILLO

KAPITEL 18 Depression

PAUL GILBERT

KAPITEL 19 Arbeit mit Trauma

JOHN BRIERE

KAPITEL 20 Das Herz der Paartherapie

RICHARD BOROFSKY, ANTRA BOROFSKY

5Bemerkungen zur therapeutischen Praxis

KAPITEL 21 Achtsame Kindererziehung als ein Weg zu Weisheit und Mitgefühl

TRUDY GOODMAN, SUSAN KAISER GREENLAND, DANIEL SIEGEL

KAPITEL 22 Quellen der Weisheit religiöser Traditionen in der Psychotherapie

KENNETH PARGAMENT, CAROLL ANN FAIGIN

KAPITEL 23 Mitgefühl und Weisheit

STEPHANIE MORGAN

Literaturverzeichnis

Die Herausgeber

Die Autoren

Vorwort

Alle Menschen möchten glücklich sein. Ökonomischer Fortschritt und technische Entwicklung sind notwendig, damit sich die Menschheit weiterentwickeln kann. Daher kann man leicht zu der Vorstellung gelangen, dass sich dauerndes Glück allein mit materiellem Erfolg oder physischem Komfort einstellt, aber das ist ein Irrtum. Sowohl die buddhistische Tradition des Geistestrainings als auch die westliche Tradition der Psychotherapie lehren uns, dass unsere innere Haltung gegenüber unserer Erfahrung für unser Glück und das Glück der Menschen um uns herum oft weit wichtiger ist als unser flüchtiges äußeres Schicksal, sei es gut oder schlecht.

In den letzten Jahren haben Forscher und Psychotherapeuten im Westen entdeckt, dass Prinzipien und Praktiken, die der buddhistischen Psychologie entlehnt sind, sehr nützlich sein können, um den Stress des modernen Lebens zu mindern. Therapieformen, die Achtsamkeit und Akzeptanz einbeziehen, werden mit Erfolg angewendet, um ein breites Spektrum an körperlichen und psychischen Beschwerden zu behandeln. In dem Maß, in dem das Interesse am buddhistischen Verständnis des Geistes und der Psyche unter Medizinern und Psychologen zunimmt, studieren viele Wissenschaftler und Therapeuten buddhistische Lehren und kultivieren die Praxis der Meditation. Sie lernen, dass diese Lehren und Praktiken das Potential besitzen, unser Verständnis von uns selbst und voneinander radikal zu verändern, und dass sie uns helfen können, unsere Arbeit effektiver zu tun.

In der buddhistischen Tradition gibt es zwei Qualitäten, die als essenziell für unser eigenes Wohlbefinden und das anderer Menschen betrachtet werden: Mitgefühl und Weisheit. Man sagt von ihnen, dass sie wie die zwei Flügel eines Vogels oder die zwei Räder eines Wagens sind, denn ein Vogel kann mit einem Flügel nicht fliegen und ein Wagen nur mit zwei Rädern rollen. Zu Mitgefühl gehört, dass man anderen wünscht, frei von Leiden zu sein, denn jeder möchte glücklich sein und Stress und Elend vermeiden so wie man selbst. Weisheit besteht darin, dass man die Dinge mit klaren, offenen Augen so sieht, wie sie sind, und die wechselseitige Abhängigkeit und Verbundenheit und die sich ständig verändernde Natur von Menschen, Dingen und Ereignissen berücksichtigt und anerkennt.

Im Mai 2009 habe ich an einer Tagung an der Harvard Medical School teilgenommen, bei der es um die Rolle von Mitgefühl und Weisheit in der Psychotherapie ging. Wir haben diskutiert, wie Mitgefühl und Weisheit entwickelt werden können, wie Therapeuten bei ihrer Arbeit von ihnen profitieren und wie sie Patienten helfen könnten, ihre Probleme zu überwinden, wenn man ihnen hilft, diese Qualitäten bei sich zu entwickeln. Dieses Buch entstand als Ergebnis dieser Tagung und vertieft viele der Ideen und Vorstellungen, die wir da zu untersuchen begannen. Neben den Beiträgen vieler Teilnehmer an dieser Tagung enthält es interessante Beiträge von anderen innovativen Forschern und Therapeuten.

Ich bin sehr glücklich zu sehen, dass uralte Lehren und Praktiken aus der buddhistischen Tradition heute oft von Nutzen sein können, wenn sie von westlichen Wissenschaftlern und Therapeuten angewendet werden. In der heutigen Welt wenden sich viele Menschen an die Psychotherapie, um zu verstehen, was sie unglücklich macht, und um herauszufinden, wie sie ein sinnvolleres Leben leben können. Ich glaube, dass Psychotherapeuten, wenn sie Mitgefühl und Weisheit tiefer verstehen, ihren Patienten besser helfen und so zu mehr Frieden und Glück beitragen können.

SEINE HEILIGKEIT DER DALAI LAMA

Danksagung

Mit den Augen von Weisheit und Mitgefühl betrachtet könnte dieser Abschnitt des Buches leicht der umfangreichste sein. So wie das Universum in einem einzigen Blatt Papier enthalten ist – die Erde und die Sonne, die den Baum genährt haben, der den Rohstoff für das Papier geliefert hat, das Öl, das die Elektrizität erzeugt hat, die wiederum die Druckerpresse angetrieben hat, der Lastwagenfahrer und der Lastwagen, die das Buch geliefert haben –, so hatte jeder einzelne Autor eines Beitrages zu diesem Buch ein Universum an Unterstützung. Wir danken daher diesen vielen helfenden Händen, den sichtbaren und den unsichtbaren.

Die Herausgeber möchten besonders Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama für sein unermüdliches Bemühen danken, Mitgefühl und Weisheit in unsere globale Gemeinschaft zu bringen. Seine Anwesenheit bei der Tagung zum Thema Meditation und Psychotherapie an der Harvard Medical School im Jahr 2009 war der Hauptkatalysator für dieses Buch. Auch ohne die beachtlichen Fähigkeiten von Judy Reiner Platt, der Mitorganisatorin dieses Ereignisses, und Lobsang Sangay von der Harvard Law School, der zurzeit Premierminister der tibetischen Exilregierung ist, hätte diese Tagung nicht stattfinden können.

Wir leben in Kreisen innerhalb von Kreisen von Unterstützern. Jeder Herausgeber braucht einen Lektor, und wir verdanken Jim Nageotte seine Vision, sein tiefes Gefühl und seine erfahrene Führung durch dieses ganze Projekt. Ferner danken wir auch seinen so vertrauenswürdigen Mitarbeitern in The Guilford Press. Viele der Autoren, die Beiträge zu diesem Buch geliefert haben, hatten bei der Arbeit an ihren Kapiteln in einem gewissen Umfang eine unterstützende Begleitung. In dem Zusammenhang möchten wir besonders Christa Smith, klinische Psychologin, erwähnen, die Richard Davidsons Tagungsbeitrag für dieses Buch kompetent in eine schriftliche Form gebracht hat. Und dann gibt es unsere Freunde und Kollegen am Institute for Meditation and Psychotherapy; einige von ihnen haben Kapitel zu diesem Buch beigetragen und alle haben unser Projekt unterstützt. Sie alle leben in einem Teil unseres Herzens und sie lächeln.

Wenn man ein Buch wie dieses herausgibt, ist das ein lehrreiches Abenteuer, und wir sind unseren Autoren dankbar, die unser Verständnis von Mitgefühl und Weisheit unermesslich darüber hinaus erweitert haben, wo es begann. Besonders würdigen möchten wir Alan Marlatt, der verstarb, kurz nachdem er und seine Kollegen ihr Kapitel beendet hatten. Alan war ein Pionier der Integration buddhistischer Psychologie und empirisch gestützter Psychotherapie und setzte sich für Meditationsretreats und tiefere Praxis zur Transformation unserer Sicht der Welt ein. Daher ist dieses Buch seinem Andenken gewidmet.

Wir möchten auch unseren formalen Lehrern danken – neben anderen Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama, Thich Nhat Hanh, Sharon Salzberg, Joseph Goldstein, Jack Kornfield und Jon Kabat-Zinn. Sie verkörpern die Weisheit und das Mitgefühl, die in diesem Buch überall anwesend sind. Ferner möchten wir unsere vielen therapeutischen Kollegen, Trainer und Supervisoren erwähnen, die uns geholfen haben, die Kunst und die Wissenschaft der Psychotherapie zu verstehen. Unsere vielleicht wichtigsten Lehrer sind aber unsere Patienten, die uns jeden Tag ihr verborgenes Leben in der Hoffnung anvertrauen, wirklich verstanden und so angenommen zu werden, wie sie sind, und durch schwierige Zeiten geführt zu werden. Sie sind der Grund, weshalb dieses Buch konzipiert und verwirklicht wurde, und sie sind die Quelle erneuerbarer Energie hinter diesem Unternehmen. Obwohl unsere Patienten das Rampenlicht verdienen, wurde ihre Identität unkenntlich gemacht, um Vertraulichkeit zu wahren.

Schließlich gelten herzliche Umarmungen und Küsse unseren Familien, die so viel gegeben und so viel ertragen haben, damit wir das Buch verwirklichen konnten. Wir suchen immer nach Möglichkeiten, wie wir ihre zahllosen Freundlichkeiten, die sie uns Tag für Tag entgegengebracht haben, erwidern können.

RONALD SIEGEL UND CHRISTOPHER GERMER

Einleitung

CHRISTOPHER GERMER

RONALD SIEGEL

Welche persönlichen Eigenschaften und Qualifikationen sollte ein Psychotherapeut haben? Wenn jemand emotional leidet, wird es ihm wahrscheinlich nicht um akademisches Wissen, Ausbildung in einer bestimmten Methode und nicht einmal um Lebenserfahrung gehen. Vielmehr wird man einen Begleiter wollen, der mitfühlend (fähig ist, sich Leiden gegenüber empathisch zu verhalten, und sich Mühe gibt) und weise ist (ein tiefes Verständnis davon besitzt, wie man gut lebt). Man kann sich nur schwer vorstellen, dass man von einem Therapeuten profitieren kann, der nicht weise oder nicht mitfühlend ist. Obwohl Angehörige heilender Berufe auf dem Gebiet psychischer Gesundheit Mitgefühl und Weisheit im Allgemeinen nicht thematisieren und diese Qualitäten auch nicht ausdrücklich in sich oder ihren Patienten zu entwickeln versuchen, gehen wir dennoch von der Annahme aus, dass sie wichtige Elemente jeder guten Behandlung sind.

Aber was genau ist Mitgefühl? Was ist Weisheit? Im Mai 2009 fand an der Harvard Medical School eine bahnbrechende Tagung – Cultivating Compassion and Wisdom in Psychotherapy – mit dem Dalai Lama und prominenten Therapeuten, Wissenschaftlern und Gelehrten aus den ganzen USA statt. Es war ein faszinierender Austausch, der von Momenten der Verwirrung und tiefen Einsichten, wie man mit Leiden leben kann, wie auch gelegentlich von herzhaftem Lachen gekennzeichnet war. Bei diesem Treffen wurden viel mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Einige Beispiele:

• Sind Mitgefühl und Weisheit wirklich wertvolle Attribute eines Psychotherapeuten?

• Kann man Mitgefühl und Weisheit wirklich bewusst entwickeln und kultivieren? Wenn ja, wie?

• Haben uralte Traditionen, die behaupten, Mitgefühl und Weisheit zu entwickeln, modernen Therapeuten etwas zu sagen?

• Sind Mitgefühl und Weisheit wichtig für seelisches Wohlsein? Sollten sie, wenn das so ist, in die Planung der Behandlung integriert und bei der Formulierung der Therapieziele berücksichtigt werden?

• Ist es möglich, dass Patienten im Verlauf der Therapie Mitgefühl und Weisheit lernen?

• Wie ist der Stand der Forschung über Mitgefühl und Weisheit und was können Therapeuten aus ihr lernen?

• Gibt es erkennbare neurobiologische Grundlagen von Mitgefühl und Weisheit?

• Ist es möglich, Mitgefühl und Weisheit objektiv zu messen oder diese Qualitäten im Behandlungszimmer zu erkennen?

• Sind Mitgefühl und Weisheit Wirkmechanismen therapeutischer Veränderung? Und wie geschieht das, falls das so ist?

• Was hindert Therapeuten daran, bei ihrer Arbeit Mitgefühl und Weisheit auszudrücken oder mit Mitgefühl und Weisheit zu handeln? Was hindert Patienten daran, diese Qualitäten in ihrem Leben zu kultivieren?

• In welcher Beziehung stehen Mitgefühl und Weisheit zu bestimmten Störungen wie Depression, Angst, Trauma, Substanzmissbrauch oder Beziehungskonflikten?

Diesen Fragen ist dieses Buch gewidmet. Die Autoren, kompetent und führend auf ihren jeweiligen Gebieten, standen vor der Aufgabe, ihre Einsichten über Mitgefühl oder Weisheit in einem relativ kurzen Kapitel darzustellen. Viele haben sich bemüht, ihre Ideen und Vorstellungen zu vermitteln, ohne als „Experten“ für Mitgefühl oder Weisheit aufzutreten – wofür sich im Geist des Themas niemand qualifiziert fühlte. Als Herausgeber hoffen wir, dass Sie auch der Meinung sein werden, dass die Autoren ihre Ziele auf bewundernswerte Weise erreicht haben.

Mitgefühl und Weisheit sind seit mindestens 2500 Jahren für die buddhistische Psychologie und andere introspektive Traditionen zentral, sowohl als wesentliche Konzepte als auch als praktische Wege zur Befreiung von Leiden. Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte konvergiert besonders die buddhistische Psychologie in einem beachtlichen Ausmaß mit der modernen Psychologie, vor allem in Form empirisch unterstützter achtsamkeits- und akzeptanzbasierter Behandlungsformen. In dem Maß, in dem die persönliche und professionelle Praxis von Achtsamkeit für viele Therapeuten an Bedeutung gewinnt und reift, wächst auch das Interesse daran, neue Möglichkeiten zu finden, unseren Weg durch komplexe und komplizierte Lebensumstände zu verstehen und zu sehen (Weisheit) und unser Herz für Leiden zu öffnen (Mitgefühl).

Der Dalai Lama hat sowohl die Tagung in Harvard als auch dieses Buch inspiriert. Er ist nicht nur ein brillanter Lehrer von Weisheit und Mitgefühl, sondern er verkörpert diese Qualitäten auch in seinem Leben. Dieser Satz fiel während der Tagung: „Seine Heiligkeit macht uns stolz, Menschen zu sein.“ Und der Dalai Lama arbeitet unermüdlich mit Wissenschaftlern aus aller Welt an der Erforschung der Möglichkeiten, wie Weisheit und Mitgefühl dabei mitwirken können, individuelles und kollektives Leiden in der modernen Zeit zu verringern. Sein Ansatz ist für einen religiösen Führer unkonventionell, wie eine Bemerkung in einem Vortrag im Jahr 2005 verrät:

… empirische Beweise sollten über die Autorität von Schriften triumphieren, gleich, wie sehr eine Schrift verehrt wird. Auch wenn Wissen durch Vernunft oder auf dem Weg von Schlussfolgerungen erlangt wurde, muss seine Gültigkeit letztlich von beobachteten Erfahrungstatsachen abgeleitet sein.

Dieses Buch ist von den Einsichten der buddhistischen Psychologie und Praxis sowie von psychotherapeutischen und wissenschaftlichen Entdeckungen geprägt. Wie wir auf der Tagung erlebt haben, kann der Austausch zwischen diesen unterschiedlichen Weltsichten zugleich aufregend, verwirrend und fruchtbar sein.

Psychotherapie und buddhistische Ausbildung des Geistes haben ein gemeinsames Ziel: emotionales Leiden überwinden. Mitgefühl und Weisheit sind Qualitäten des Geistes, die möglich machen, Leiden zu ertragen und anzunehmen und sogar durch Leiden zu wachsen. Wenn man zum Beispiel Empathie mit dem Schmerz eines Patienten empfindet, aber nicht zugleich die positive innere Haltung von Mitgefühl nährt, oder wenn man sich selbst aus dem Kreis derjenigen, mit denen man Mitgefühl hat, ausschließt, kann es leicht dahin kommen, dass man in das gerät, was wir Erschöpfung des Mitgefühls (compassion fatigue) nennen.

Und auch Weisheit hilft. Sie erlaubt uns, Probleme aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, zu erkennen, dass die Umstände sich ständig verändern, und zu verstehen, dass sich auf unser Gefühl von Wohlsein noch mehr als unsere Lebensbedingungen auswirkt, wie wir uns zu unserer Erfahrung verhalten (zum Beispiel empfindsam und zart oder gleichgültig, annehmend oder mit Widerstand, neugierig oder vermeidend). Mit Mitgefühl und Weisheit gibt es immer Hoffnung.

Weisheit und Mitgefühl sind auch nicht zu trennen, das eine kann einfach nicht ohne das andere sein. Die meisten nehmen wahr, dass sich ihr Herz öffnet, wenn sie das Problem eines Patienten auf mehreren Ebenen verstehen. Umgekehrt sieht man mehr Behandlungsmöglichkeiten, wenn man gegenüber einem Klienten warme Gefühle empfindet. In diesem Buch wird beschrieben, wie sich Weisheit und Mitgefühl auf der relativen Ebene – Tag für Tag in der Erfahrung der Psychotherapie – wie auf der absoluten Ebene – in unserer fundamentalen, nicht konditionierten Natur – mischen. Je nach unserer Perspektive können wir sagen, dass Mitgefühl aus Weisheit oder dass Weisheit aus Mitgefühl entsteht. In jedem Fall aber sind diese zwei Qualitäten auf der tiefsten Ebene der Erfahrung und des Verstehens nicht zu unterscheiden.

Die überraschendste Entdeckung besteht für viele Menschen darin, dass Weisheit und Mitgefühl eigentlich Qualitäten sind, die man bewusst entwickeln und kultivieren kann. Wenn wir bei der Achtsamkeitsmeditation still in unser inneres Leben schauen, können wir Weisheit und Einsicht entwickeln: Wie unser Geist und unsere Psyche und unsere Abneigungen und Empfindlichkeiten funktionieren und arbeiten. Wir nehmen wahr, wie bestimmte Gedanken und Emotionen unser Bewusstsein vereinnahmen und uns zu unbewusstem, häufig mit Stress verbundenem Grübeln verleiten. Wir können auch Mitgefühl entwickeln – das innere Gespräch von entwertender Selbstkritik zu Selbstermutigung verändern –, und zwar mithilfe bestimmter Übungen, von denen viele in diesem Buch beschrieben werden. Interessanterweise entstehen in der intimen therapeutischen Beziehung Weisheit und Mitgefühl oft zugleich im Geist und im Herzen des Therapeuten und des Klienten, wenn sie empathisch aufeinander eingestimmt sind. Wenn wir das Wesen dieser Qualitäten erforschen und erkennen, wie sie sich entwickeln, können wir lernen, sie in unserem persönlichen und professionellen Leben weiter zu kultivieren.

Ein besonderer Zug buddhistischer Ausbildung des Geistes ist das Bodhisattva-Ideal. Ein Bodhisattva ist eine Person, die sich dem Wohlergehen anderer widmet. Die meisten Psychotherapeuten fallen in diese Kategorie, wenigstens zeitweise. Das traditionelle „Gelöbnis“ eines Bodhisattva ist eine Verpflichtung, Erleuchtung nicht nur für sich selbst anzustreben, sondern die Bemühungen darum so lange fortzusetzen, bis alle Wesen von Leiden befreit sind – denn wie kann man frei von Leiden sein, wenn man jemandem begegnet, der noch damit ringt? Der Weg von Mitgefühl und Weisheit ist daher eine gemeinschaftliche Anstrengung. In diesem Geist übergeben wir unseren Freunden und Kollegen in der ganzen Welt dieses Buch.

Mögen wir mit Mitgefühl und Weisheit offen für Leiden sein.

Mögen wir uns selbst und andere annehmen, wie sie sind.

Mögen wir unsere tiefste Natur erkennen.

Mögen wir frei sein.

1

Was sind Weisheit und Mitgefühl?Warum sollten wir uns um sie kümmern?

 

Viele Therapeuten haben mittlerweile ein gewisses Verständnis von Achtsamkeit. Obwohl Achtsamkeit ihrem Wesen nach eine vorbegriffliche Erfahrung ist, haben die Bemühungen, sie zu definieren und zu messen, dazu beigetragen, dass über diagnostische und theoretische Aspekte hinaus ein anhaltendes Forschungsinteresse entstanden ist. Mit der Zeit und mit mehr Praxis und Übung führt die unmittelbare Erfahrung von Achtsamkeit zu den verwandten Erfahrungen von Mitgefühl und Weisheit. Was Mitgefühl und Weisheit eigentlich sind, wird bisher weniger gut verstanden, auch wenn es Bemühungen, sie zu beschreiben, schon so lange gibt wie schriftliche Aufzeichnungen der Geschichte. Auch diese Begriffe und Konzepte können sich auf die therapeutische Forschung und die Praxis der Psychotherapie auswirken.

In Kapitel 1 wird die Bedeutung von Mitgefühl und Weisheit in Ost und West sowie ihre enge Beziehung miteinander und mit Achtsamkeit untersucht. In Kapitel 2 wird modellhaft beschrieben, wie Therapeuten achtsame Präsenz herstellen können – ein Schatz an Weisheit und Mitgefühl –, auch wenn sie in ihrem Leben mit Schwierigkeiten konfrontiert sind. In Kapitel 3 sehen wir dann, wie positive Emotionen wie Liebe und Mitgefühl zu einer Basis dafür werden können, wie man sich innerlich öffnen und Bewusstheit erweitern und vertiefen kann. Das kann dazu führen, dass sich Weisheit und Mitgefühl als Züge der Persönlichkeit ausbilden.

Wir laden Sie ein, die Übungen in diesen drei Kapiteln und im ganzen Buch auszuprobieren und die Ideen, denen Sie begegnen, vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Erfahrung zu prüfen.

KAPITEL 1

Weisheit und Mitgefühl

Zwei Flügel eines Vogels

RONALD SIEGEL

CHRISTOPHER GERMER

Letztlich liegt der Grund, weshalb Liebe und Mitgefühl zum größten Glück führen können, einfach darin, dass wir sie von Natur aus über alles wertschätzen. Das Bedürfnis nach Liebe gehört zum Fundament menschlicher Existenz. Es ergibt sich aus der tiefen wechselseitigen Abhängigkeit, die uns allen gemeinsam ist.

TENZIN GYATSO, DER 14. DALAI LAMA (2011)

Carmen hatte an Angst gelitten, seit sie neun Jahre alt war. Als sie in der Schule einmal ein Referat in Physik halten musste, bekam sie Panik, und bald danach wurde ihr allein bei dem Gedanken schlecht, vor vielen Menschen zu stehen. Als Carmen im Alter von 27 Jahren ihre Therapie begann, hatten sie und ihre gut informierten Eltern (die beide auch an Angst litten) schon alle möglichen Medikamente und Formen von Psychotherapie ausprobiert. Aufgrund ihrer Angst, sich erbrechen zu müssen, war sie praktisch an das Haus gebunden und sehr deprimiert, wenn sie sah, wie ihre Freundinnen auf ihrem beruflichen und persönlichen Weg weitergingen, während sie nicht einmal zum Friseur gehen konnte.

In der Psychotherapie bei einem achtsamkeitsorientierten Therapeuten entdeckte Carmen, dass sie die Wahrscheinlichkeit, sich in der Öffentlichkeit übergeben zu müssen, nur erhöhte, wenn sie gegen die Übelkeit ankämpfte. In der Therapie lernte sie auch die Technik, ihre Aufmerksamkeit in den Fußsohlen zu verankern, wenn ihr eine Begegnung mit mehreren Menschen bevorstand, und quasi auf den Wellen der Angst zu surfen, die ihren Körper durchliefen. Aber praktisch funktionierte das alles nicht, wenn die Situation da war. Carmen wurde von jeder Empfindung von Übelkeit überwältigt und erschöpft. Die von den Eltern übernommene Veranlagung und eine lebenslange Konditionierung konnten so nicht überwunden werden. Carmen und ihr Therapeut stimmten darin überein, dass ihre Situation hoffnungslos war – beinah.

Carmen begann, aufrichtig über ihren Kampf mit sozialer Phobie und Panikstörung zu sprechen: „Ich bin gebrochen, ich leide!“ Sie und ihr Therapeut fragten sich offen, ob sie die Scham über ihren Zustand verlieren könnte, wenn sie mit jemandem über ihre Angst spräche, erbrechen zu müssen. In ihrer Verzweiflung nutzte Carmen einmal eine Chance und sprach mit ihrer Friseuse. Sie war erstaunt, wie schnell ihre Angst verschwand. Einen Monat später aber kehrten Angst und Übelkeit in voller Stärke zurück, weil sie sich zu sehr schämte, ihrer Friseuse zu erzählen, dass sie immer noch unter Panik litt. Deprimiert unterbrach Carmen ihre Therapie ein paar Monate lang.

Als sie ihre Behandlung wieder aufnahm, brachte sie einen handgeschriebenen Zettel mit, auf dem sie beschrieben hatte, was sie in der Therapie machen wollte. Sie beschrieb einen dreifachen Ansatz: (1) Exposition, das heißt, sie wollte sich ihrer Angst bewusst aussetzen, (2) Achtsamkeit und Akzeptieren und (3) Selbstmitgefühl. Mit Tagestouren, die sie zwangen, ihre Wohnung zu verlassen, wollte sie die Konditionierung ihrer Ängste unterbrechen. Verankern ihrer Aufmerksamkeit in der sinnlichen Wahrnehmung im gegenwärtigen Moment, wie beim Kontakt ihrer Fußsohlen mit dem Boden, würde ihr helfen, die Empfindung der Übelkeit zu ertragen und sie kommen und gehen zu lassen. Und wenn sie Leuten von ihren Problemen erzählte, würde ihr das helfen, ihre Scham aufzulösen. Sie nannte den ganzen Plan „innere Akzeptanz“ – Lernen, ihr Erleben und sich selbst zu akzeptieren, wo immer sie hinging. Ihr Therapeut freute sich darüber, dass ein Teil von Carmen während des vergangenen Jahres, in dem es scheinbar keinen Fortschritt gegeben hatte, sehr anwesend gewesen war und zugehört hatte.

In der folgenden Woche kam Carmen stolz zu ihrer Stunde: Sie hatte sich ihrer Angst im Alltag noch mehr ausgesetzt (beim Einkaufen, mit Besuchen von Freunden und Joggen) als je zuvor. Im Laufe der nächsten zwei Jahre konnte sie ihre vielen Ängste allmählich überwinden. Es war ein steiniger Weg, aber wenn es so aussah, als würde sie nicht schaffen, was sie sich vorgenommen hatte, erinnerte Carmen sich daran, dass ihr „kein Vorwurf zu machen“ war. Wenn sie merkte, dass ihr wieder übel wurde, nahm sie sicherheitshalber eine alte Plastiktasche und wartete darauf, dass dieses Gefühl vorüberging. Schließlich meldete sie sich freiwillig zur Arbeit in der Suppenküche ihrer Kirche – der erste von vielen Schritten auf dem Weg zu einem neuen Leben.

Was passierte hier? Dieser Fall illustriert die Macht von Mitgefühl und Weisheit in der Psychotherapie. Carmen konnte nicht aufhören, gegen ihre Angst zu kämpfen, sich erbrechen zu müssen. Aber das machte es nur noch schlimmer, bis sie schließlich die ganze Fülle ihrer Verzweiflung über ihre Situation empfand und mit Wärme und Ermutigung auf ihr Elend reagierte statt mit selbstentwertender Kritik, Scham oder Rückzug. Carmen musste wie viele andere Patienten, die sich sehr schwach oder mangelhaft fühlen, erst anfangen, sich in ihrer Gebrochenheit zu akzeptieren, bevor sie sich dem stellen konnte, wovor sie Angst hatte – in diesem Fall Panik und Erbrechen, wenn sie unter Menschen war. Mitgefühl war das, was ihr gefehlt hatte. Inmitten ihrer Frustration und Verzweiflung konnte Carmen die mitfühlende Haltung ihres Therapeuten fühlen. Dies gab ihr den Mut, ihrer Friseuse von ihrer Panik zu erzählen, die dann auch mit Mitgefühl reagiert hatte. Schließlich war Carmen in der Lage, sich selbst mit Freundlichkeit und Verständnis zu begegnen.

Weisheit spielte ebenfalls eine sehr wichtige Rolle. Weisheit erlaubte ihrem Therapeuten, Carmens Verzweiflung zu fühlen, ohne sich selbst für einen schlechten Therapeuten zu halten. Er konnte mit Carmens Schmerz in Resonanz bleiben, während er zugleich an der Aussicht und Hoffnung auf Veränderung festhielt. Weisheit erlaubte ihm auch, Carmen in seiner Arbeit den angemessenen Raum und sie die Expertin für ihr eigenes Leben sein zu lassen. Er half ihr, eine Atmosphäre der Neugier, von Unbeschwertheit mit Ungewissheit und gegenseitiger Wertschätzung herzustellen. Carmens eigene Weisheit entfaltete sich in vielerlei Weise: Sie begann, ihre Probleme aus einer neuen und weiteren Perspektive zu betrachten als bisher. Sie erkannte die katastrophenartige, unrealistische Bedeutung, die das Erbrechen für sie angenommen hatte. Sie nahm ihre angstvollen, selbstentwertenden Gedanken weniger ernst und sie tolerierte Unangenehmes als etwas, was „nicht sie“ selbst, womit sie nicht identisch war. Sie konnte gelegentliche Rückschläge und Versagen als Teil des Lebens sehen und sich sinnvollen Aktivitäten mit anderen widmen.

Aber was genau sind Weisheit und Mitgefühl? Warum sind sie in der Psychotherapie wichtig? In diesem Kapitel versuchen wir, diese so schwer zu fassenden Begriffe zu definieren und ihren begrifflichen, wissenschaftlichen und historischen Kontext in den westlichen und in buddhistischen Traditionen kurz zu umreißen. Wir beginnen auch, die Relevanz dieser Qualitäten für die therapeutische Arbeit, die das Thema des Buches ist, zu untersuchen.

Achtsamkeit, die Grundlage vonWeisheit und Mitgefühl

Das Interesse daran, Achtsamkeit in die Praxis von Psychotherapie aufzunehmen, ist in den letzten 25 Jahren stetig angewachsen. Achtsamkeit- und akzeptanzbasierte Behandlung gilt als die „dritte Welle“ der Verhaltenstherapie (Baer, 2006; Hayes, Follette & Linehan, 2012; Hayes, Villatte, Levin & Hildebrandt, 2011; Hoffman & Asmundson, 2008), nach verhaltensorientierten Ansätzen im engeren Sinn und der kognitiven Verhaltenstherapie. Und Achtsamkeit beeinflusst eine Reihe anderer Behandlungsmodelle wie psychodynamische (Epstein, 2011; Hick & Bien, 2010; Safran, 2003), humanistische (Johanson, 2009; Khong & Mruk, 2009) und familientherapeutische Ansätze (Carson, Carson, Gil & Baucom, 2004; Gambrel & Keeling, 2010; Gehart & McCollum, 2007). In der achtsamkeitsorientierten Therapie ist man viel weniger daran interessiert, den Inhalt persönlicher Erfahrungen zu verändern als viel mehr die momentane Beziehung zu Empfindungen, Gedanken, Emotionen und zum Verhalten. Diese neue Beziehung ist durch Achtsamkeit charakterisiert: „(1) Bewusstheit (2) des gegenwärtigen Moments (3) mit Akzeptanz“ (Germer, 2009) oder durch „die Bewusstheit, die dadurch entsteht, dass man mit Absicht und ohne zu werten mit der Aufmerksamkeit bei der Entfaltung der Erfahrung von Moment zu Moment“ ist (Kabat-Zinn, 2003, S. 145). Sie betont besonders die Akzeptanz: „aktives, nicht wertendes Annehmen von Erfahrung im Hier und Jetzt“ (Hayes, 2012). Das Gegenteil von Achtsamkeit und Annehmen ist Widerstand gegen oder Vermeiden von Erfahrung – die Abwehr unangenehmer Erfahrungen dadurch, dass man den Körper anspannt, in Gedanken stecken bleibt, schwierige Situationen meidet oder mit psychischen Abwehrmechanismen Gefühle blockiert. Obwohl solche Reaktionen auf kurze Sicht emotionale Unannehmlichkeiten reduzieren können, tendieren sie dazu, Leiden auf lange Sicht zu verstärken (Fledderus, Bohlmeijer & Pieterse, 2010; Kingston, Clarke & Remington, 2010).

Die Forschung über Achtsamkeit wächst exponentiell. Im Dezember 2011 verzeichnete PsycINFO über 1760 von Experten begutachtete Fachzeitschriftenartikel, in denen das Wort Achtsamkeit verwendet wurde, während es im Jahr 2005 nur 364, im Jahr 2000 125 und im Jahr 1985 nur 24 waren. Das am häufigsten erforschte Trainingsprogramm für Achtsamkeit ist die Achtsamkeitsbasierte Stressbewältigung (MBSR; Kabat-Zinn, 2011; Stahl & Goldstein, 2010). Andere empirisch unterstützte, breit angenommene Programme sind die auf MBSR beruhende Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie (Mindfulness-based cognitive therapy, MBCT; Segal, Williams und Teasdale, 2002; Williams, Teasdale, Segal und Kabat-Zinn, 2009), die Dialektische Verhaltenstherapie (DBT; Linehan, 1996, 1996; siehe auch Kapitel 15) und die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT; Harris, 2011; Hayes, Strosahl & Wilson, 2011). Während immer mehr empirische Belege für die Wirksamkeit von achtsamkeits- und akzeptanzbasierten Behandlungsmethoden zu ihrer Popularität beitragen, wird Achtsamkeit jetzt auch als ein transtheoretischer und transdiagnostischer Veränderungsprozess anerkannt – als ein Wirkmechanismus, der verschiedenen Behandlungsformen für ein weites Spektrum von Erkrankungen zugrunde liegt (Baer, 2010a; Hölzel, Lazar et al., 2011). Achtsamkeit hat das Potential, nicht nur verschiedene Therapieschulen miteinander zu verbinden, sondern auch klinische Forschung und Praxis und das persönliche und professionelle Leben von Therapeuten zu integrieren (Germer, Siegel und Fulton, 2009).

Das Kultivieren einer freundlicheren, mitfühlenderen Beziehung zu sich selbst und zu anderen gehört, explizit oder implizit, zu den meisten oben erwähnten Trainingsprogrammen von Achtsamkeit, und die Forschung hat gezeigt, dass Achtsamkeitstraining das Selbstmitgefühl steigert (Birnie, Speca & Carlson, 2010; Krüger, 2010; Shapiro, Astin, Bishop & Cordova, 2005; Shapiro, Brown & Biegal, 2007). Der Einfluss von Achtsamkeitspraxis auf die Entwicklung von Weisheit wurde noch nicht experimentell untersucht, aber in der buddhistischen Tradition hat sie vor allem den Sinn, umfassende und tiefe Einsicht in das Wesen des Geistes und darüber hinaus in das Leben selbst zu entwickeln (siehe Kapitel 9). In den buddhistischen Traditionen ist das, was westliche Therapeuten „Achtsamkeitsmeditation“ nennen, als „Einsichtsmeditation“ (vipassanā) bekannt, die ausdrücklich dazu bestimmt ist, jene Einsichten zu kultivieren, die zu Weisheit führen und damit uns selbst und andere von Leiden befreien. Der griechische Philosoph Heraklit schrieb: „Anwender von Weisheit tun das, was ich getan habe: im Inneren forschen“ (Hillman, 2003, S. XIII). Der Buddha sagte: „Komm und sieh selbst“ (ehipassiko). Damit sich diese Weisheit einstellen kann, brauchen wir eine innere Haltung tiefer Akzeptanz gegenüber unserer Erfahrung von Moment zu Moment und Mitgefühl mit uns als leidenden Menschen. Wenn wir Achtsamkeitsübungen verwenden, um so nach innen zu schauen, entwickeln wir Qualitäten von Geist und Herz – Weisheit und Mitgefühl –, die uns erlauben, klar zu sehen und uns auf alles, was wir fühlen, mit Zartheit, Sanftmut und Unbeschwertheit einzulassen und auf die Lebensumstände, die sich einstellen, wirksam zu reagieren.

Drei praktische Qualitäten der Achtsamkeit

Obwohl Achtsamkeit, Weisheit und Mitgefühl in der Erfahrung verwandt sind und durch Methoden kultiviert werden, die etwas miteinander gemeinsam haben, unterscheiden sie sich konzeptuell deutlich und nutzen verschiedene psychische Prozesse oder Fähigkeiten.

Die drei Hauptqualitäten, die von den meisten Trainingsprogrammen für Achtsamkeit vermittelt werden, sind: (1) Konzentration (Bewusstheit mit einem einzigen Fokus), (2) Achtsamkeit an sich (offene Bewusstheit) und (3) Liebende Güte und Mitgefühl (Salzberg, 2011). Bis vor Kurzem wurden die ersten zwei psychischen Prozesse in achtsamkeits- und akzeptanzbasierter Psychotherapie betont. Diese Qualitäten sind auch die wichtigsten Hilfsmittel für das Kultivieren von Weisheit, die man in buddhistischer Psychologie als durchdringende Einsicht in das Wesen unseres Geistes und des „Selbst“ versteht. Die dritte Qualität – Liebende Güte und Mitgefühl – hilft dabei, eine liebevolle, anteilnehmende innere Haltung gegenüber uns selbst und gegenüber anderen zu kultivieren, besonders im Leiden, was uns dann erlaubt, unsere Erfahrungen von Moment zu Moment mit mehr Achtsamkeit und weniger Widerstand zu halten.

Aufmerksamkeit und Emotionen regulieren

William James (1890/2007) schrieb: „Die Fähigkeit, eine schweifende Aufmerksamkeit wieder und wieder zurückzubringen, ist die wahre Wurzel von Urteilskraft, Charakter und Willen“ (S. 424). In der Meditation haben Übungen mit einem einzigen Fokus – wie das Zurückbringen der Aufmerksamkeit zur Atmung oder Richten der Aufmerksamkeit zu den Fußsohlen, wenn man in Not ist – die Funktion, den Geist zu beruhigen (R. Siegel, 2011). Techniken der offenen Bewusstheit – alles wahrnehmen, was in unserem Wahrnehmungsfeld auftaucht – trainieren das Bewusstsein, die Widrigkeiten des Lebens mit Gleichmut und Einsicht anzunehmen. Alles in allem hilft Lernen, unsere Aufmerksamkeit mit diesen Übungen zu regulieren, unsere Emotionen zu regulieren.

Es gibt jedoch andere Meditationstechniken wie die Meditation Liebender Güte (mettā) und die Meditation von Geben und Nehmen (tong-len), die über Tausende von Jahren besonders dafür entwickelt wurden, mit schwierigen Emotionen umzugehen (siehe Kapitel 4 und 7).

Der Dalai Lama sagt:

Der Buddhismus tritt seit Langem für das ungeheure Potential für Transformation ein, das von Natur aus im menschlichen Geist existiert. Zu diesem Ziel hat die Tradition eine Vielfalt kontemplativer Techniken oder Meditationsübungen entwickelt, die besonders zwei Hauptziele haben: die Kultivierung eines mitfühlenden Herzens und die Kultivierung tiefer Einsichten in das Wesen der Realität, die als die Vereinigung von Mitgefühl und Weisheit bezeichnet werden. Das Herz dieser Meditationsübungen bilden zwei Haupttechniken: die Verfeinerung der Aufmerksamkeit und ihre ausdauernde Anwendung auf der einen Seite und die Regulierung und Transformation von Emotionen auf der anderen (Society for Neuroscience, 12. November 2005).

In diesem Buch untersuchen wir, wie sich die Theorie und die Praxis von Achtsamkeit und Mitgefühl zu Weisheit und Mitgefühl in der Psychotherapie und darüber hinaus entfalten können. Wir beginnen mit der Untersuchung von Mitgefühl, das Therapeuten ein wenig vertrauter ist und gründlicher erforscht wurde als der eher weniger greifbare und ein wenig rätselhafte Begriff der Weisheit.

Was ist Mitgefühl?

Das englische Wort für Mitgefühl, compassion, hat lateinische und griechische Wurzeln: Es geht auf die griechische Wurzel pati und pathein („leiden“) und die lateinische Wurzel com („mit“) zurück; compassion bedeutet also „Leiden mit“ einer anderen Person. Das Oxford English Dictionary definiert Mitgefühl (compassion) als „mitfühlendes Mitleid und Sorge um Leiden und Unglück anderer“ (S. 291). Im Jahr 2009 verfassten Tausende religiöser Führer aus der ganzen Welt die Charter for Compassion (Charta für Mitgefühl), in der sie Mitgefühl als einen inneren Aufruf definierten, „alle anderen Wesen so zu behandeln, wie wir selbst behandelt werden möchten“ (Armstrong, 2012). Im Bereich der Psychologie wird die Frage nach dem Verständnis und der Bedeutung von Mitgefühl besonders interessant.

Eine knappe, praktische Definition von Mitgefühl könnte lauten: Mitgefühl ist die Erfahrung von Leiden in Verbindung mit dem Wunsch, es zu lindern. Ähnliche Definitionen sind zum Beispiel:

• „Grundlegende Freundlichkeit mit einem tiefen Bewusstsein von eigenem Leiden und dem Leiden anderer Lebewesen in Verbindung mit dem Wunsch und dem Bemühen, es zu lindern“ (Gilbert, 2009c, S. XIII).

• „Das Gefühl, das entsteht, wenn man Zeuge von Leiden eines anderen Menschen ist, und das dann ein Verlangen hervorruft, helfen zu wollen“ (Götz, Keltner & Simon-Thomas, 2010, S. 351).

• „Der Wunsch, alle Lebewesen mögen frei von Leiden sein“ (Dalai Lama, 2006).

• Ein dreiteiliger Prozess: (1) „Ich fühle mit dir mit“ (affektiver Teil), (2) „Ich verstehe dich“ (kognitiver Teil) und (3) „Ich möchte dir helfen“ (motivierender Teil) (Hangartner, 2011).

Bis zum letzten Jahrzehnt wurde Mitgefühl als eine bestimmte Emotion oder eine innere Haltung von Experimentalpsychologen (Davidson & Harrington, 2001; Götz et al., 2010; Goleman, 2005; Pommier, 2010) und von Psychotherapeuten (Gilbert, 2005, 2011; Glaser, 2005; Ladner, 2005; Lewin, 1996) relativ vernachlässigt. Diese Vernachlässigung kann zum Teil an der Überschneidung von Mitgefühl mit ähnlichen Konstrukten wie Empathie (Batson, 1991; Hoffman, 1981), Sympathie (Shaver, Schwartz, Kirson & O‘Connor, 1987; Trivers, 1971), Liebe (Fehr, Sprecher & Underwood, 2009; Post, 2002), Mitleid (Ben Ze‘ev, 2000; Fiske, Cuddy, Glick & Xu, 2002) und Altruismus (Monroe, 2002; Oliner, 2002) liegen. Wie verhält sich Mitgefühl zu diesen Begriffen? Ein genaues Verständnis von Mitgefühl ist nicht nur nützlich, wenn man eine Theorie, Hilfsmittel zur Beurteilung und Anwendungen in der Therapie entwickeln will, sondern auch, um Mitgefühl in sich selbst erkennen und kultivieren zu können. (Weitere Analysen siehe Eisenberg & Miller, 1987; Goetz et al., 2010.)

Empathie

Carl Rogers (2002) definierte Empathie als ein „genaues Verständnis der Welt [des Klienten], wie sie von innen aussieht. Um die Welt [des Klienten] so zu sehen, als wäre sie die eigene“. Sie besteht darin, dass man „eine emotionale Antwort hat, die der Antwort eines anderen Menschen ähnlich ist“ (Bohart & Greenberg, 1997, S. 23). Empathie geht über kognitive Einschätzung hinaus, denn zu ihr gehört ein Felt Sense (gefühlte Wahrnehmung) dessen, was der andere Mensch erlebt oder wahrnimmt (Feshbach, 1997; Lazarus, 1991). Empathie gilt in der Psychotherapie als allgemeiner Faktor, der „für ebenso viel oder möglicherweise noch mehr Varianz eines Ergebnisses verantwortlich ist wie spezifische Interventionen“ (Bohart, Elliott, Greenberg & Watson, 2002, S. 96).

Man kann mit praktisch jeder menschlichen Emotion Empathie empfinden – mit Freude, Kummer, Begeisterung, Langeweile. Mitgefühl aber ist eine spezielle Form von Empathie, insofern es Empathie mit Leiden ist (in Verbindung mit dem Wunsch, es zu mildern). Leiden ist eine Vorbedingung für Mitgefühl. Da der Sinn von Therapie darin besteht, emotionales Leiden zu mildern, scheint es so zu sein, dass Mitgefühl in der Geschichte der Psychotherapie wahrscheinlich von Empathie verdeckt war. Systematische Bemühungen, Empathie zu kultivieren, sind auf dem Gebiet der Psychotherapie immer noch relativ selten (Shapiro & Izett, 2008), aber das kann sich in dem Maß ändern, wie alte buddhistische Praktiken und Übungen von Mitgefühl in die moderne Psychotherapie integriert werden.

Sympathie

Sympathie ist „eine emotionale Reaktion, die auf der Wahrnehmung des emotionalen Zustandes eines anderen Menschen beruht und zu der Gefühle von Anteilnahme und Sorge für den anderen Menschen gehören“ (Eisenberg et al., 1994, S. 776). Zu Sympathie gehört ein reaktives, antwortendes Element, das auf früherer Erfahrung beruht, während Empathie ein Spiegel des inneren Zustandes eines anderen Menschen ist. Es scheint bei Empathie mehr achtsame Bewusstheit zu geben als bei Sympathie.

Liebe

Therapeuten tendieren dazu, den Begriff Liebe zu vermeiden, besonders bei ihren Patienten, denn er hat mehrere Bedeutungen – es gibt Elternliebe, universelle Liebe und romantische Liebe –, und das kann leicht zu Missverständnissen führen. Aber das Wort Liebe behält immer noch eine sinnliche Fülle, die helfen kann, die Bedeutung von Mitgefühl zu erhellen. Lynne Underwood (2009) zieht den Begriff mitfühlende Liebe dem einfachen Mitgefühl vor, weil er mehr emotionales Engagement enthält.

Mitgefühl im buddhistischen Kontext kann auf einen Beobachter von außen eher distanziert als lebendig erfüllt wirken (Götz, 2010). Diese Wahrnehmung liegt an der Qualität von Gleichmut – die Fähigkeit, die Höhen und Tiefen unseres emotionalen Lebens in offenherzigem Bewusstsein zu halten. Zum Beispiel kann es sein, dass eine Tochter im Teenageralter ihre Mutter vorübergehend ablehnen muss, um Unabhängigkeit zu entwickeln, bevor sie in die Welt hinaus geht. Wenn eine Mutter diesen Prozess wirklich versteht, wird sie ihren Schmerz, ihre Angst oder vielleicht auch ihren Ärger empfinden können, ohne zu stark zu reagieren. Gleichmut hindert uns nicht daran, vor Freude zu hüpfen oder uns in Tränen aufzulösen, aber er gibt uns die Freiheit, Emotionen in verschiedenen Situationen auf eine wirksame Weise auszudrücken, während wir dabei mit anderen emotional verbunden bleiben.

Liebende Güte (mettā) ist ein „innerer Zustand, in dem es darum geht, dass alle Lebewesen glücklich sein mögen“, und Mitgefühl (karunā) ist „der Wunsch, dass alle Lebewesen frei von Leiden sein mögen“ (Dalai Lama, 2006). In der buddhistischen Tradition werden Übungen Liebender Güte gewöhnlich vor Übungen von Mitgefühl gelehrt, weil Mitgefühl schwieriger ist. Es kann ziemlich schwierig sein, sein Herz angesichts von Leiden offen zu halten – nicht dem Opfer Schuld zu geben oder den leidenden Menschen wegzuwünschen, um nicht mehr belastet zu sein.

Mitleid

Mitleid ist ein Gefühl der Betroffenheit von der Not anderer, das ein leichtes Gefühl der Überlegenheit enthält (Fiske et al., 2002), während Mitgefühl eine Emotion zwischen Gleichen ist. Da alle Menschen leiden, ist Leiden etwas, was uns miteinander verbindet. Wenn wir für Leiden auf eine mitfühlende Weise offen sind, fühlen wir uns weniger allein. Wenn man selbst Leiden ausblendet, kann es sein, dass man sich von anderen ein wenig entfernt fühlt, die Leiden zu bewältigen versuchen – d. h., man empfindet Mitleid. Man kann Mitleid als einen Vorläufer von Mitgefühl betrachten – als eine erste Öffnung –, aber es kann auch die ganz verbundene Erfahrung von Mitgefühl behindern, wenn Mitgefühl nicht anerkannt wird.

Altruismus

Mitgefühl bedeutet nicht nur, dass man mit jemandem mitfühlt, sondern auch, dass man versucht, die Situation zu verändern. Häufig meint man, Mitgefühl und Liebe seien nur Gefühle. Nein! Sie sind sehr anspruchsvoll und verlangen etwas. Wenn Sie Mitgefühl haben möchten, stellen Sie sich darauf ein, dass sie handeln müssen!

DESMOND TUTU (BARASCH, 2005)

Altruismus ist eine Qualität von Mitgefühl und unterscheidet sich sowohl von Empathie als auch von Sympathie. Altruismus kann man entweder als eine Motivation betrachten (Batson, 2002) oder als eine Aktivität (Monroe, 2002), zu der „gehört, dass man einander ohne Rücksicht auf persönlichen Gewinn hilft“ (Kristeller & Johnson, 2005, S. 394). Empathie und Sympathie können zu Altruismus führen, aber das geschieht nicht notwendigerweise. Mitgefühl schließt immer Altruismus mit ein.

Selbstmitgefühl

Obwohl Mitgefühl allgemein als eine Emotion oder als eine innere Haltung gegenüber anderen betrachtet wird, schließt die buddhistische Definition von Mitgefühl alle Lebewesen ein, auch einen selbst (siehe Kapitel 6 und 7). Der Dalai Lama (2000) sagt:

… Damit man echtes Mitgefühl gegenüber anderen entwickeln kann, muss man zuerst eine Grundlage haben, auf der Mitgefühl kultiviert werden kann. Diese Grundlage besteht in der Fähigkeit, Kontakt mit den eigenen Gefühlen zu haben und am eigenen Wohlsein Anteil zu nehmen … Bedingung für Sorgen für andere ist, dass man für sich selbst sorgen kann.

Viele Menschen finden es leichter, Mitgefühl mit bestimmten Wesen – mit Haustieren, Kindern, Menschen, die ihnen nahestehen – zu empfinden als mit sich selbst. Deshalb sieht die gegenwärtige Forschung keine klare, lineare Beziehung zwischen Selbstmitgefühl und Mitgefühl für andere (Neff, Yarnell & Pommier, 2011). Es macht aber Sinn, dass wir die vielen verschiedenen Teile von uns selbst, auch die weniger wünschenswerten Qualitäten, akzeptieren und annehmen müssen, um Mitgefühl mit allen Menschen haben zu können (siehe Kapitel 13). Sonst werden wir dazu neigen, in anderen abzulehnen, was wir in uns selbst nicht mögen oder ablehnen.

Mitgefühl ist eine innere Angelegenheit. Mitgefühl kann zu Ärger werden, wenn man meint, dass das leidende Individuum keine Hilfe verdient. Es kann zu Leiden werden, wenn man nicht die entsprechenden Ressourcen hat, um helfen zu können, und es kann zu Schadenfreude (Lust am Leiden anderer) werden, wenn der Mensch, der leidet, als ein Hindernis zum eigenen Glück gesehen wird. Und manchmal kann es sogar zu Wut oder Scham werden, wenn man selbst derjenige ist, der leidet (Goetz et al., 2010). Daher braucht man ein ausgewogenes (achtsames) Bewusstsein von der eigenen inneren Welt und eine innere Haltung der Freundlichkeit gegenüber sich selbst, um Mitgefühl mit anderen zu entwickeln.

Eine kurze Geschichte des Mitgefühls

Mitgefühl gehört zum Kern aller Religionen dieser Welt. Zum Beispiel war Konfuzius der erste wichtige Lehrer, der die goldene Regel formuliert hat: „Füge niemals anderen etwas zu, wovon du nicht willst, dass man es dir zufügt“ (Armstrong, 2010, S. 9). Der hinduistische Avatār Krishna sagte: „Aus reinem Mitgefühl für sie bleibe ich in ihrem Selbst, zerstöre die Dunkelheit, die aus Unwissenheit geboren wurde“ (Shankarācārya, 2004, S. 264). Jesus hat gelehrt: „Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Markus 12, 31). Und der Prophet Mohammed: „Niemand ist ein Gläubiger, wenn sein Nachbar sich nicht vor Schaden von seiner Seite sicher fühlt“ (Taymiyyah, 1999). Im Judentum heißt es: „Die Guttaten des Herrn sind noch nicht aus, ja, sie sind noch nicht zu Ende. Jeden Morgen neu ist sein Erbarmen, und groß ist seine Treue“ (Klagelieder, 3, 22–23; siehe auch Berlin, Brettler & Fishbane, 2004, S. 1596). Unsere religiösen Traditionen beschäftigen sich alle mit dem Problem menschlichen Leidens. In der Lehre des Buddhas ist Leiden „die erste Edle Wahrheit“, und er lehrte Mitgefühl als ein Mittel, persönlichen Schmerz zu lindern und friedliches Zusammenleben zu fördern.

In der westlichen philosophischen Tradition war Aristoteles der Erste, der Mitgefühl untersucht hat (als „Mitleid“) (Cassell, 2005). Andere Philosophen nach ihm waren im Hinblick auf Emotionen zurückhaltend, wie zum Beispiel Kant und Nietzsche. Sie warnten, Gefühle wie Mitgefühl könnten eine Gefahr für die Vernunft sein und sollten unterdrückt werden (Nussbaum, 1996, 2001). Andere westliche Denker aber wie Hobbes (1651/2012), Hume (1888/2007) und Schopenhauer (1844/2009) erkannten den Wert, der darin liegt, sich mit anderen zu identifizieren oder sich an ihre Stelle zu versetzen (siehe Pommier, 2010).

Vielleicht entmutigte die enge Assoziation von Mitgefühl mit Religion die junge Wissenschaft der Psychologie, es gründlicher zu erforschen. Nichtsdestoweniger findet sich Mitgefühl eingebettet in die vertrauten therapeutischen Konzepte der Empathie, des therapeutischen Bündnisses, der bedingungslosen positiven Wertschätzung und der Akzeptanz.

In ihrem historischen Überblick über „Akzeptanz“ in der Psychologie sehen John Williams und Steven Lynn (2010) den historischen Buddha als den Ersten, der sich mit Bedacht über den Begriff geäußert hat. Der Buddha war der Überzeugung, dass menschliches Leiden vor allem aus dem Wunsch und dem Verlangen entsteht, die Erfahrung von Moment zu Moment sei anders als sie ist (d. h. Nichtakzeptanz). Er meinte, um dieser Tendenz entgegenzuwirken, sollte man Gierlosigkeit, Hasslosigkeit, Achtsamkeit, Mitgefühl, Weisheit und eine Menge anderer mentaler Faktoren kultivieren, um Leiden zu mindern bzw. zu überwinden (siehe Kapitel 4 und 9).

Ein Interesse an Akzeptanz, besonders an Akzeptanz des eigenen „Selbst“ und des „anderen“ gibt es auf dem Gebiet der Psychotherapie seit über einem Jahrhundert. William James, Sigmund Freud und B. F. Skinner betrachteten Akzeptanz als psychologisch nützlich. Carl Rogers (1951) und andere humanistische und existenzialistische Therapeuten erhoben Akzeptanz in den Status eines zentralen Veränderungsprozesses. Interessanterweise betrachteten sowohl Freud (1913/1957) als auch Rogers Selbstakzeptanz als einen Vorläufer von Akzeptanz von anderen, und diese Sicht wurde bis weit in die 1980er Jahre des letzten Jahrhunderts zu einem Fokus empirischer Untersuchungen. In den 1990er Jahren verschob die Forschung ihren Schwerpunkt dann mit der Einführung achtsamkeits- und akzeptanzbasierter Behandlungsformen, die vom Buddhismus inspiriert waren, zu der Akzeptanz von Erfahrung von Moment zu Moment (Kabat-Zinn, 2011; Linehan, 1996; Segal et al., 2002).

Die Erforschung von Mitgefühl und Weisheit scheint der nächste Schritt in der Konvergenz buddhistischer Psychologie und moderner Psychotherapie zu sein. Bekannte Themen werden neu untersucht und neue Gebiete eröffnet:

• Selbstmitgefühl erscheint als eine neue Form von Selbstakzeptanz.

• Mitgefühl wird als eine Form der Empathie erforscht, die Regulierung von Leiden mit gutem Willen betont.

• Erschöpfung von Mitgefühl (compassion fatigue) wird als das verstanden, was passiert, wenn man Empathie ohne Selbstmitgefühl und Gleichmut hat.

• Mitgefühlsorientierte Therapie wird als ein expliziter Versuch entwickelt, die Fähigkeit zu Mitgefühl zu wecken und zu üben, um emotionales Leiden zu bewältigen.

• Studien des Gehirns zeigen, dass innere Zustände des Mitgefühls eine verbesserte tiefe Empfindsamkeit für den Schmerz anderer einschließen.

Diese Themen und viele andere werden in diesem Buch besprochen.

Ist Mitgefühl angeboren?

Man kann sagen, dass wir physisch nicht nur für Kampf oder Flucht, sondern auch für Mitgefühl ausgestattet sind. Unsere primitiven, der Selbsterhaltung dienenden Instinkte werden sehr schnell und automatisch angesprochen, aber wir sind von Natur aus auch kooperativ und altruistisch (Keltner, 2009; Sussman & Cloninger, 2011). Und wie alle mentalen Gewohnheiten kann auch unser Instinkt für Mitgefühl durch Übung gestärkt werden. Hinweise darauf, dass Mitgefühl angeboren ist, liefern die Evolutionsforschung und die neurobiologische Forschung.

Evolution

Im Gegensatz zur populären Überzeugung betrachtete Charles Darwin Sympathie als den stärksten unserer Instinkte, wie seine Bemerkung verrät, dass „jene Gemeinschaften, die die größte Anzahl von Mitgliedern mit viel Sympathie umfassten, am besten gediehen und die größte Zahl von Nachkommen aufzogen“ (1871/2009; Ekman, 2010). Eltern brauchen Mitgefühl, um Kinder bis zum Alter ihrer Fortpflanzungsfähigkeit aufzuziehen, und es gibt sogar Hinweise, dass Freundlichkeit das Hauptkriterium bei der Partnerwahl bei Männern wie bei Frauen ist (vor finanziellen Erwartungen und dem Aussehen) (Keltner, 2009). Die natürliche Auslese scheint unsere Fähigkeit zu begünstigen, mit anderen zu kooperieren, auch wenn wir einen bestimmten anderen Menschen vielleicht nie wiedersehen (Delton, Krasnow, Cosmides & Tody, im Druck).

Neurobiologie

Neuroanatomisch aktivieren soziale Emotionen wie Mitgefühl Regionen im Gehirn, die deutlich unterhalb des Kortex liegen, wie Hypothalamus und Stammhirn, und die mit grundlegenden Stoffwechselprozessen und evolutionär alten Emotionen wie Angst assoziiert sind (Immordino-Yang, McColl, Damasio & Damasio, 2009; siehe auch Kapitel 8). Die mit Mitgefühl assoziierten Hirnzustände scheinen auch das mesolimbische neurale System zu aktivieren, was erklären könnte, warum Mitgefühl an sich schon eine gute Wirkung hat (Kim et al., 2011).

Den Subsystemen im Gehirn für Kampf-Erstarren-Flucht und für Konkurrenz-Belohnung steht ergänzend ein Subsystem für „Geborgenheit“ gegenüber, das für Ausgewogenheit sorgen kann (Depue & Morrone-Strupinsky, 2005; Gilbert, 2009b; siehe Kapitel 18). Das Beruhigungssystem hat mit Mitgefühl zu tun – mit Fürsorge und Trösten – und scheint mit den Neurotransmittern Oxytocin und Vasopressin reguliert zu werden. Innere Zustände des Mitgefühls sind immer beruhigend und durch eine verlangsamte Herzfrequenz (Eisenberg et al., 1988), eine niedrigere Leitfähigkeit der Haut (Eisenberg, Fabes, Schaller, Carlo & Miller, 1991) und die Aktivierung des Vagus (Oveis, Horberg & Keltner, 2009; Porges, 1995, 2001) charakterisiert – das ist das Gegenteil dessen, was bei Traurigkeit und Not passiert (Goetz et al., 2010).

Wir haben auch Spiegelneuronen, die ständig aufnehmen, was andere denken und fühlen (Rizzolatti & Craighero, 2004; Rizzolatti & Sinigaglia, 2010; Siegel, 2007), und was uns dann dazu anhält, das Leiden anderer zu mildern, damit wir uns selbst besser fühlen. Schließlich scheint es so zu sein, dass viele Menschen, besonders Frauen, eine Reaktion auf Stress kennen, die in „Sichkümmern und Befreunden“ besteht, statt in Kampf und Flucht (Taylor et al., 2000). Zusammenfassend können wir sagen, dass zahlreiche Elemente unseres Nervensystems uns dafür prädisponieren, Mitgefühl zu empfinden.

Kultivieren

Die Anstrengungen zahlloser Menschen, die während der vergangenen Jahrtausende Meditation und Gebet praktiziert haben, lassen den Schluss zu, dass es möglich ist, Mitgefühl zu einer Grundhaltung zu machen. Die Langzeitwirkungen von Mitgefühlsmeditation auf das Gehirn werden gegenwärtig mithilfe von bildgebenden Verfahren und anderen Methoden erforscht (siehe Kapitel 8). Man kann belegen, dass es möglich ist, schrittweise zu lernen, den Neokortex zu verwenden, um von einer automatischen Aktivierung der Angst durch die Amygdala und des „Selbsterhaltungssystems“ zu inneren Zuständen des Mitgefühls und dem „System zur Selbsterhaltung der Spezies“ überzugehen (Wang, 2005). Schon acht Wochen Achtsamkeitsmeditation von im Durchschnitt 27 Minuten pro Tag kann Veränderungen in der Struktur des Gehirns bewirken, die mit Selbst-Bewusstheit, Mitgefühl und Introspektion verbunden sind (Hölzel, Carmody et al., 2011).

Zu einem Training des Geistes kommt es nicht nur bewusst mit geschlossenen Augen bei der Meditation, sondern auch von Geburt an bei unseren Interaktionen mit anderen (Siegel, 2007). Bindungsstile in der frühen Kindheit können sich auf die spätere Fähigkeit von Erwachsenen auswirken, Mitgefühl zu empfinden (Gillath, Shaver & und Mukilincer, 2005), aber sogar Menschen, die von einem ängstlichen oder vermeidenden Bindungsstil geprägt sind, können diese Fähigkeit verbessern, wenn sie mit Worten, Erinnerungen oder Geschichten versorgt werden, die sie sichere Bindung erfahren lassen (Carnelley & Rowe, 2007, 2010). Trainingsprogramme, die besonders zur Kultivierung von Mitgefühl (Miller, 2009) und Selbstmitgefühl (siehe Kapitel 6 und 18) bestimmt sind, werden zurzeit entwickelt.

Mitgefühl und Wohlbefinden

In der buddhistischen Tradition werden Liebende Güte, Mitgefühl, Freude und Gleichmut (mettā, karunā, muditā, upekkhā) als „die vier Unermesslichen“ oder als „die vier Göttlichen Verweilungszustände“ betrachtet (siehe Kapitel 4). Impliziert ist, dass Leiden verschwindet, wenn man diese Qualitäten verkörpert.

Man hat begonnen, die positiven Wirkungen von Mitgefühl auf geistige und körperliche Gesundheit zu erforschen (Hofmann, Grossmann & Hinton 2011; Wachholz & Pearce, 2007). Zum Beispiel nehmen Individuen mit viel Mitgefühl mit größerer Wahrscheinlichkeit Mitgefühl von anderen an und neigen deshalb weniger dazu, auf Stress zu reagieren (Cosley, McCoy, Saslow & Epel, 2010). Praktizieren von Mitgefühl kann also zu bleibenden Verbesserungen von Glück und Selbstwertgefühl führen (Mongrain, Chin & Shapira, 2011). Die Forschung über Mitgefühl wurde zum größten Teil an Korrelaten von Mitgefühl wie Altruismus, Empathie, Versöhnlichkeit und anderen positiven Emotionen sowie den erschwerenden Bedingungen von Mitgefühl wie Wut und Ärger, Stress, Einsamkeit und Erschöpfung von Mitgefühl durchgeführt. Zum Beispiel kann Altruismus dadurch eine positive Wirkung auf körperliche und emotionale Gesundheit haben, dass Stress reduziert und die Immunreaktion verbessert werden (Sternberg, 2011). Altruismus scheint auch Langlebigkeit zu fördern (Brown, Nesse, Vinokur & Smith, 2003).

Die Forschung über Selbstmitgefühl belegt klare Korrelationen mit psychischem Wohlbefinden (siehe Kapitel 6). Während dies geschrieben wird, scheint es immer noch keine publizierten, randomisierten und kontrollierten Studien über die Wirkung von Ausbildung in Selbstmitgefühl auf die psychische Gesundheit zu geben. Vorläufiges Belegmaterial weist aber auf mehrfache positive Wirkungen hin (Adams & Leary, 2007; Gilbert & Irons, 2005a; Kuyken et al., 2010; Raque-Bogdan, Ericson, Jackson, Martin & Nielsen, im Druck; Shapira & Mongrain, 2010; Thompson & Waltz, 2008; Van Dam, Sheppard, Forsyth & Earleywine, 2011). Zum Beispiel zeigten Individuen, die hohe Werte an Selbstmitgefühl aufwiesen und die zugleich auch depressiv waren, nach fünf Monaten beträchtlich weniger depressive Symptome als andere mit niedrigen Werten an Selbstmitgefühl. Das lässt darauf schließen, dass Selbstmitgefühl für einen natürlichen Schutz vor emotionalen Problemen sorgt (Raes, 2011).

Es stellt sich unvermeidlich die Frage: „Kann ein innerer Zustand, in dem Leiden akzeptiert und angenommen wird, wirklich eine positive Wirkung auf die psychische Gesundheit haben?“ In der Praxis bleibt unser Fokus der Aufmerksamkeit nicht sehr lange bei Leiden. Man braucht Leiden, damit Mitgefühl entsteht, aber man braucht nur sehr kurz mit Leiden in Kontakt sein, bevor man dann zu einem liebevollen Gefühl für den Leidenden und den Wunsch, zu helfen, übergeht. Positive Emotionen überwiegen Leiden in der Erfahrung von Mitgefühl. Dies ist der Grund, weshalb Erschöpfung von Mitgefühl in Wirklichkeit „Erschöpfung von Empathie“ sein kann (Ricard, 2010; siehe auch Kapitel 7 und 19). Ein mitfühlender Mensch empfindet Zärtlichkeit, Hoffnung und guten Willen – alles Faktoren, die die psychische und physische Gesundheit unterstützen.

Was ist Weisheit?

In fast jeder Sprache gibt es ein Wort für „Weisheit“. Quer durch die verschiedenen Kulturen hat man sie als höchste menschliche Tugend beschrieben, und seit alter Zeit spielt sie in schriftlichen und mündlichen Traditionen eine hervorragende Rolle. Sie ist auch sicher eine Eigenschaft, die die meisten Menschen gern bei einem Therapeuten antreffen würden. Und doch haben bis vor Kurzem moderne Psychologen (und auch Philosophen) dieses Thema kaum berührt. Es ist ihnen sogar sehr schwergefallen, zu einem Konsens darüber zu gelangen, was Weisheit ist. Es ist ganz so, wie der amerikanische Richter des Supreme Court Potter Stewart (1964) bemerkt hat: „Hardcore-Pornografie ist schwer zu definieren, aber ich weiß, wenn ich mit ihr zu tun habe.“ Es gibt keinen Konsens über eine Definition von Weisheit, auch wenn wir sie erkennen, wenn sie da ist, und sie vermissen, wenn sie fehlt.

Das englische Wort für Weisheit, wisdom, stammt von dem indoeuropäischen Wort wede ab, das „sehen“ oder „wissen“ bedeutet (Holliday & Chandler, 1986). In Wörterbüchern der englischen Sprache wird Weisheit verschieden definiert: als die „Fähigkeit, in Dingen, die das Leben und die Lebensführung betreffen, richtig zu urteilen; als gesunde Urteilskraft bei der Wahl von Mitteln und Zielen; als … Aufgeklärtheit, Gelehrsamkeit und Wissen (Oxford English Dictionary, 2010) oder als „Wissen … die intelligente Anwendung von Gelehrsamkeit und Wissen; als die Fähigkeit, innere Qualitäten und wesentliche Beziehungen zu erkennen; als Einsicht, Scharfsinn … Urteilskraft, Klugheit … geistige Gesundheit“ (Merriam-Webster, 2011). [Der Duden definiert: auf Lebenserfahrung, Reife (Gelehrsamkeit) und Distanz gegenüber den Dingen beruhende, einsichtsvolle Klugheit (Anm. des Lektors).] Diese sich teilweise überschneidenden Definitionen sind vieldimensional und werfen die Frage auf, ob uns nicht besser gedient wäre, wenn wir Weisheit als eine Gruppe verschiedener menschlicher Fähigkeiten statt als eine einzelne Tugend betrachten würden. Nichtsdestoweniger lässt die Tatsache, dass man „Weisheit“ in allen Zeiten und Kulturen hoch geschätzt hat, den Schluss zu, dass etwas an diesem Konstrukt sinnvoll ist. Die verschiedenen Qualitäten, die Weisheit umfasst, sind wahrscheinlich wechselseitig miteinander verbunden und bilden ein Ganzes, das größer ist als die Summe seiner Bestandteile. Wie wir in diesem ganzen Buch sehen werden, handelt niemand sehr klug oder weise, wenn er nur einige Bestandteile von Weisheit nutzt oder anwendet und andere vernachlässigt.

Weil dieses Konstrukt so vieldimensional ist, ist es vielleicht nicht möglich, zu einer handlichen, praktisch anwendbaren Definition von Weisheit zu gelangen. Stattdessen müssen wir uns wohl mit einer Definition zufrieden geben, die ihre Essenz erfasst, auch wenn sie nicht leicht im Experiment zu überprüfen ist. Im Zusammenhang mit Psychotherapie könnte man Weisheit einfach als tiefes Wissen davon verstehen, wie man lebt. Was dies praktisch bedeutet, ist aber nicht so einfach zu beschreiben.

Besonders schwer zu definierende Konstrukte sind dadurch gekennzeichnet, dass es konkurrierende Methoden gibt, zu ihrer Definition zu gelangen (Staudinger & Glück, 2011). Einige Psychologen sind um die Welt gereist und haben gewöhnliche Menschen aufgefordert, „weise“ Menschen zu beschreiben. In ihren Antworten haben sie nach Mustern gesucht, um implizite Modelle von Weisheit zu erkennen (zum Beispiel Bluck & Glück, 2005). Andere Forscher haben die philosophischen und religiösen Schriften der Welt nach wiederkehrenden Aspekten von Weisheit durchforstet (z. B. Birren & Svensson, 2005; Osbeck & Robinson, 2005). Wieder andere haben versucht, durch Nachdenken über ihre eigene Erfahrung von Weisheit weiterzukommen, was zu einer Vielfalt expliziter Theorien geführt hat – zu „Konstruktionen von (angeblichen) Experten als Theoretiker und Forscher“ (Sternberg, 1998, S. 349). Zu einem Konsens ist man aber nicht gelangt. Die zwei psychologischen Haupttexte über Weisheit, die von Robert Sternberg herausgegeben wurden (Sternberg, 1990a; Sternberg & Jordan, 2005), enthalten so viele Definitionen von Weisheit wie Kapitel. Glücklicherweise jedoch beginnen diese Versuche, Weisheit zu definieren, ihr Wesen wirklich zu erhellen. Indem wir ihre vielen Bestandteile benennen und beschreiben, bekommen wir Hinweise darauf, wie wir vielleicht Weisheit kultivieren und in der Psychotherapie verwenden könnten. Aber wie Sie bald sehen werden, hat sich die Aufmerksamkeit der Therapeuten weniger auf Weisheit als auf Mitgefühl gerichtet.

Ein Top-down-prozess

Moderne Neurowissenschaftler unterscheiden zwischen Bottom-up- und Top-down-Prozessen. Erstere beschreiben, wie das Gehirn sensorische Basisinformationen aufnimmt, zu Wahrnehmungen organisiert und aus diesen Grundbausteinen Erfahrungen der Realität konstruiert – wie zum Beispiel, wenn man den Duft einer Rose genießt. Zu Top-down-Prozessen gehört, dass man die Daten, die ständig von unseren Sinnessystemen in unser Gehirn strömen, interpretiert und auf sie reagiert und dabei höhere kortikale Fähigkeiten wie Rationalität, Urteilsvermögen und konzeptuelle Rahmenwerke benutzt, die auf vergangener Erfahrung beruhen. Nachdenken, bevor man handelt, und Treffen ausgewogener Entscheidungen, wie wir das vielleicht tun, wenn wir mit einem Patienten über ein sensibles Thema sprechen, sind Top-down-Prozesse. Weisheit könnte deshalb der höchste mögliche Top-down-Prozess sein. Dieser Prozess hat viele Bestandteile, zu denen Abwägen, emotionale Regulierung und die Betrachtung aus einem gewissen Abstand gehören. Wie viele andere Top-down-Prozesse ist Weisheit integrativ – Kommunikation zwischen Körper, Kopf und Herz gehört zu ihr. Obwohl Theoretiker, was ihre Einzelheiten angeht, verschiedener Meinung sind, stimmen fast alle darin überein, dass Weisheit das Gegenteil von impulsivem Handeln aus Instinkt, Gewohnheit oder ungezügelter Leidenschaft ist (Sternberg, 2005a; siehe auch Kapitel 11).

Ein Grund, weshalb Weisheit bis vor Kurzem sowohl vonseiten der akademischen Psychologie wie auch von der Psychotherapie so wenig Beachtung gefunden hat, besteht darin, dass sie so ein komplexer Top-down-Prozess ist. Seit ihren Anfängen in den späten Jahren des 19. Jahrhunderts hat sich die akademische Psychologie mehr den elementaren psychischen Prozessen zugewendet wie der Wahrnehmung oder der Konditionierung von Verhalten – Phänomene, die leicht operational definiert werden konnten und mit denen man leicht experimentieren konnte (Birren & Svensson, 2005). Psychotherapeuten sind vielleicht auch deshalb davor zurückgeschreckt, Weisheit zu untersuchen, weil sie der Auffassung waren, dass sie mit mehr Recht als Bereich der Philosophie und der Religion zu sehen ist. Auch moderne Philosophen haben sie ignoriert, zwar festgestellt, dass sie von historischem Interesse ist, aber sich nicht tiefer mit einem Konstrukt befassen wollen, das so vieldimensional ist (Smith, 1998). Aber bei den tiefsten Denkern der Welt war dies nicht immer der Fall.

Eine kurze Geschichte der Weisheitim Westen und im Osten

Einige der frühesten existierenden Weisheitsschriften finden sich auf Fragmenten von Tontafeln in Mesopotamien, die 5000 Jahre alt sind. Hier begegnet man so weisem Rat wie: „Wenn wir zu sterben verurteilt sind – lasst uns ausgeben, was wir haben“ und: „Derjenige, der viel Silber besitzt, mag glücklich sein; der viel Gerste besitzt, mag glücklich sein; aber derjenige, der überhaupt nichts besitzt, kann ruhig schlafen“ (Hooker & Hooker, 2004), neben Ermahnungen zu „gutem“ und „effektivem“ Verhalten (Baltes, 2004, S. 45). Altägyptische Weisheitsschriften von 2000 v. Chr. nehmen viele spätere Auffassungen von Weisheit vorweg, zum Beispiel, dass es nicht ratsam ist, sich selbst für weise zu halten: „Sei nicht aufgeblasen mit deinem Wissen, und sei nicht stolz, weil du weise bist“ (Readers Digest Association, 1973).

Doch es waren die griechischen Philosophen der Antike, „Liebhaber der Weisheit“, die den intellektuellen Rahmen für diese Qualität schufen, die das westliche Denken in den folgenden Jahrhunderten beherrschte. Von Sokrates (470–395 v. Chr.) bis Platon (428–322 v. Chr.) und Aristoteles (384–322 v. Chr.) entwickelte sich die Idee der Weisheit, sophia, und wurde schließlich von Wissen, Handwerkskunst und anderen Fähigkeiten unterschieden. Sokrates beschrieb „die enge Intelligenz, die aus dem kühnen Auge eines gerissenen Verbrechers blitzt“, als etwas anderes als Weisheit und betonte wiederholt, wie wichtig es sei, die eigenen Grenzen zu kennen (Osbeck & Robinson, 2005, S. 65). Sein Schüler Platon lehrte, dass die Kultivierung von Weisheit eine „tägliche Disziplin“ ist, die wir „mit allem Ernst“ auf uns nehmen sollten, indem wir „Vernunft“ entwickeln, um unseren Geist und unsere Begierden zu kontrollieren. Aristoteles verwendet den Begriff der „goldenen Mitte“ – ein Bild für die Ausgewogenheit der Art und Weise, wie wir verschiedene Aspekte unseres Charakters ausdrücken (Center for Ethical Deliberation, 2011). Alle diese alten Themen sind in moderne Definitionen von Weisheit eingegangen.

In späteren hebräischen und christlichen Texten wurde Weisheit zur Enthüllung von Wahrheit durch Gott (Birren & Svensson, 2005). Treue im Glauben war der Weg zur Weisheit. Wie man in Hiobs Ringen im Alten Testament erkennen kann, gehörte zu Weisheit, dass man seinen Platz in der Welt kennt, dass man akzeptiert, dass Vieles unser Verstehen übersteigt und dass man Gott treu bleibt (von Rad, 1972). Für Augustinus (354–430 n. Chr.) wurde Weisheit zu moralischer Perfektion ohne Sünde (Birren & Svensson, 2005). Es ist nicht überraschend, dass diese eher theologischen Vorstellungen von modernen Psychologen, die Weisheit untersuchten, nicht übernommen wurden.