Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten - Christopher Germer - E-Book

Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten E-Book

Christopher Germer

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Beschreibung

Achtsames Selbstmitgefühl ist eine wertvolle Ressource, um mit uns selbst freundlich und mitfühlend umzugehen, besonders dann, wenn das Leben uns herausfordert. In dem von Christopher Germer und Kristin Neff entwickelten 8-Wochen-Programm (MSC – Mindful Self-Compassion) lässt sich nicht nur diese innere Haltung der Freundlichkeit und des Mitgefühls erlernen. Es bietet auch wirkungsvolle Methoden, um Resilienz und emotionales Wohlbefinden zu stärken. Dieses Handbuch gibt Ihnen einen Überblick über die Absicht, die Inhalte sowie die Theorie und Forschung des MSC-­Programms. Schritt für Schritt werden die einzelnen Kurseinheiten vorgestellt: Ablauf, Übungen, Meditationen sowie Didaktik und wichtiges Hintergrundwissen. ­Fallvignetten illustrieren, wie Sie Selbstmitgefühl erfahrungsorientiert vermitteln, Gruppenprozesse steuern und mit möglichen Hindernissen umgehen können. In weiteren Kapiteln erfahren Sie, wie Selbstmitgefühl in die Psychotherapie integriert werden kann. Stimmen zum Buch: "… eine Schatztruhe, reich gefüllt mit praktischem Wissen – berührend, weise und visionär. Was Chris Germer und Kristin Neff geschaffen haben, ist ein kostbares Geschenk für unsere Zeit."

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Christopher GermerKristin Neff

Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten

Das Handbuch für die professionelle Arbeit

Aus dem amerikanischen Englisch von Christine Bender

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel: Teaching the Mindful Self-Compassion Program. A Guide for Professionals bei The Guilford Press, a division of Guilford Publications, Inc., New York, USA.

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage 2021

Copyright der deutschen Ausgabe © 2021 Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Copyright der Originalausgabe © 2019 The Guilford Press

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

Published by arrangement with The Guilford Press

Lektorat: Ralf Lay. Fachlektorat: Hilde Steinhauser

Titelfoto: © Rob Pumphrey/unsplash.com

Umschlaggestaltung und Satz: mediengenossen.de

Druck und Bindung: Kösel, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-324-2

Wichtiger Hinweis

Die Ratschläge und Übungen in diesem Buch sind von der Autorin sowie dem Verlag sorgfältig geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Bei Beschwerden sollten Sie auf jeden Fall eine Ärztin, Psychotherapeutin, Psychologin oder Heilpraktikerin Ihres Vertrauens zu Rate ziehen. Eine Haftung der Autorin oder des Verlages für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Im Bemühen um einen Beitrag zu achtsamer Gendergerechtigkeit wechseln generisches Maskulinum und generisches Femininum im folgenden Text ab, stets beginnend mit dem Femininum. Ist dies sprachlich nicht möglich oder inhaltlich nicht präzise, werden auch bloßes Femininum, Alternativauszeichnungen oder ein Binnen-I verwendet. Ist nicht inhaltlich explizit auf eine Geschlechtsidentität hingewiesen, stehen beide Formen stets für Personen beliebiger, im jeweiligen Kontext irrelevanter Geschlechtsidentität.

Inhalt

Impressum

Vorbemerkung der Autoren

Vorwort: Unser Weg zum Selbstmitgefühl

Teil 1: Selbstmitgefühl: Theorie, Forschung, Training

1 Eine Einführung in Achtsames Selbstmitgefühl

2 Was ist Selbstmitgefühl?

3 Die Wissenschaft vom Selbstmitgefühl

4 Selbstmitgefühl lehren

Teil II: Wie man Achtsames Selbstmitgefühl lehrt

5 Das Curriculum verstehen

6 Themen vermitteln und Übungen anleiten

7 Als Lehrende mitfühlend sein

8 Den Gruppenprozess fördern

9 Der Inquiry-Prozess

Teil III: Sitzung für Sitzung

10 Sitzung 1

Achtsames Selbstmitgefühl entdecken

11 Sitzung 2

Achtsamkeit praktizieren

12 Sitzung 3

Liebevolle Güte praktizieren

13 Sitzung 4

Die eigene mitfühlende Stimme entdecken

14 Sitzung 5 Innig leben

15 Sitzung R

Retreat

16 Sitzung 6

Umgang mit schwierigen Gefühlen

17 Sitzung 7

Herausfordernde Beziehungen erforschen

18 Sitzung 8

Das eigene Leben annehmen

Teil IV: Selbstmitgefühl in die Psychotherapie integrieren

19 Achtsames Selbstmitgefühl und Psychotherapie

20 Spezielle Fragestellungen in der Psychotherapie

Anhang

Dank

Ethische Leitlinien

Begleitliteratur

Ressourcen – Literatur, Links, Quellen

Die Übungen und Meditationen

Das Audio-Begleitmaterial

Zu den Autoren

Vorbemerkung der Autoren

Dieses Buch beschreibt die Theorie, Didaktik und das Curriculum des Mindful-Self-Compassion-Programms (MSC) sowie die Forschung zu diesem Thema. Es möchte den Leserinnen und Lesern die Grundprinzipien und Praktiken von MSC vermitteln und sie befähigen, diese im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit anzuwenden. Bevor Sie jedoch anderen Selbstmitgefühl vermitteln, in welcher Form auch immer, ist es unbedingt erforderlich, selbst Achtsamkeit und Selbstmitgefühl praktiziert und an einem MSC-Kurs teilgenommen zu haben, um auf einer tieferen Ebene zu verstehen, wie man Selbstmitgefühl lernt. Alle, die das in diesem Buch beschriebene achtwöchige MSC-Programm lehren möchten, müssen das formale MSC-Teachertraining erfolgreich abgeschlossen haben. Weitere Informationen finden Sie dazu auf: www.arbor-seminare.de/msc-teacher-training.

Vorwort

Unser Weg zum Selbstmitgefühl

Das Mindful-Self-Compassion-Programm (MSC) war in Arbeit, als wir uns 2008 in der Insight Meditation Society in Barre, Massachusetts, beim ersten Meditations-Retreat für Wissenschaftler*innen begegnet sind, das unter anderem vom Mind and Life Institute gesponsert wurde. Kristin ist Entwicklungspsychologin, die Anfang der 2000er-Jahre im Rahmen ihrer Arbeit erstmals Selbstmitgefühl definierte (Neff, 2003b). Sie entwickelte die Selbstmitgefühlsskala (Neff, 2003a), die heute bei den meisten Forschungsprojekten auf diesem Gebiet verwendet wird. Chris ist klinischer Psychologe und integriert seit Mitte der 1980er-Jahre Achtsamkeit in seine psychotherapeutische Arbeit.

Als wir damals vom Retreat zurück zum Flughafen fuhren, schlug ich (Chris) Kristin vor, sie solle ein Programm entwickeln, mithilfe dessen man Selbstmitgefühl lehren könne. »Was, ich?«, erwiderte sie. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Workshop geleitet. Du hast schon überall auf der Welt Seminare gehalten und lehrst seit Jahren Achtsamkeit. Du solltest das tun.« In diesem Moment machte es klick: Wir würden es gemeinsam machen!

Ich (Kristin) kam erstmals im Jahre 1997 mit der Vorstellung von Selbstmitgefühl in Berührung, und zwar während meines letzten Studienjahres im Graduiertenprogramm für Human Development an der University of California in Berkeley. Ich strengte mich an, um meinen Doktorgrad zu erlangen, und erlebte den ganzen Stress, der gewöhnlich mit dem Dissertationsprozess einhergeht. Zudem war kurz zuvor meine erste Ehe gescheitert; und obwohl ich in einer neuen Beziehung lebte, kämpfte ich weiterhin gegen Scham und Selbstzweifel an. Schon als kleines Kind hatte ich begonnen, mich für östliche Spiritualität zu interessieren, was sicher auch damit zu tun hatte, dass ich bei einer sehr aufgeschlossenen Mutter nahe Los Angeles aufgewachsen war. Aber ich hatte Meditation nie wirklich ernst genommen und mich auch nicht näher mit der buddhistischen Philosophie beschäftigt.

Wie dem auch sei, in diesem letzten Studienjahr begann ich amerikanische buddhistische Klassiker zu lesen, beispielsweise Sharon Salzbergs Buch Metta-Meditation – Buddhas revolutionärer Weg zum Glück und von Jack Kornfield Frag den Buddha – und geh den Weg des Herzens. Damit nahm mein Leben eine neue Wendung und war nie mehr dasselbe wie früher.

Obwohl mir bekannt war, dass Buddhisten viel über die Bedeutung von Mitgefühl sprachen, kam ich nie auf die Idee, dass es genauso wichtig sein könnte, Mitgefühl mit sich selbst zu haben. Bei meinem ersten Abend in einer örtlichen Meditationsgruppe sprach die Meditationsleiterin darüber, wie wesentlich es sei, mit sich selbst und anderen Mitgefühl zu haben – dass wir uns selbst genauso viel Freundlichkeit und Verständnis entgegenbringen müssten wie den Menschen, die uns am Herzen liegen. Meine erste Reaktion war: »Wie bitte? Soll das etwa heißen, es ist uns erlaubt, nett zu uns selbst zu sein? Ist das nicht egoistisch?« Doch schon bald wurde mir klar, dass man sich selbst lieben muss, um wirklich mit anderen verbunden zu sein. Wenn man sich ständig verurteilt und kritisiert, während man versucht, liebevoll mit anderen umzugehen, zieht man künstliche Grenzen und macht Unterschiede, die letztendlich nur zu Gefühlen des Getrenntseins und der Isolation führen. Das ist das Gegenteil von Einssein, Verbundenheit, universaler Liebe – den höchsten Zielen der meisten spirituellen Wege, ganz gleich, welcher Tradition sie entspringen. Also versuchte ich es, und meine neu entdeckte Praxis des Selbstmitgefühls half mir, den Widrigkeiten meines Lebens kraftvoller und anmutiger zu begegnen.

Im Anschluss an meine Promotion arbeitete ich zwei Jahre als Postdoktorandin bei Susan Harter, einer herausragenden Wissenschaftlerin, die an der University of Denver über Selbstwertgefühl forschte. Ich wollte mehr darüber wissen, wie Menschen ihr Selbstbild und ein Selbstwertgefühl entwickeln. Bald erfuhr ich, dass die Psychologie allmählich davon abkam, ein hohes Selbstwertgefühl als ultimatives Merkmal für geistige Gesundheit zu betrachten. Obwohl Tausende von Artikeln über die große Bedeutung des Selbstwertgefühls geschrieben worden waren, begannen die Forscher nun auf die Fallen hinzuweisen, in die Menschen tappen können, wenn sie versuchen, ein hohes Selbstwertgefühl zu erreichen und aufrechtzuerhalten: Narzissmus, ständige Vergleiche mit anderen, Wut als Abwehrhaltung des Egos, Vorurteile und so weiter. Ich erkannte, dass Selbstmitgefühl die perfekte Alternative zum gnadenlosen Streben nach einem hohen Selbstwertgefühl ist. Warum? Weil Selbstmitgefühl denselben Schutz gegen Selbsthass bietet wie ein hohes Selbstwertgefühl – aber ohne das Bedürfnis, sich selbst als perfekt oder überlegen zu betrachten.

Im Jahr 1999 bekam ich eine Stelle als Assistenzprofessorin für Entwicklungspsychologie an der University of Texas in Austin und traf bald die Entscheidung, über Selbstmitgefühl zu forschen. Zu diesem Zeitpunkt hatte noch niemand einen wissenschaftlichen Artikel veröffentlicht, in dem Selbstmitgefühl definiert wurde, geschweige denn darüber geforscht. Also entschloss ich mich, unbekanntes Gebiet zu betreten, und begann mit der Arbeit, die inzwischen zu meiner Lebensaufgabe geworden ist.

Welche Kraft im Selbstmitgefühl steckt, dämmerte mir allerdings erst einige Jahre später, als mein Sohn Rowan 2007 die Diagnose Autismus bekam; und ich glaube, es ist der Praxis des Selbstmitgefühls zu ­verdanken, dass ich während Rowans früher Kindheit geistig gesund blieb. Aufgrund ihrer intensiven sensorischen Erfahrungen neigen autistische Kinder zu heftigen Wutanfällen. Das Einzige, was die Eltern eines solchen Kindes in diesen Momenten tun können, ist, dafür zu sorgen, dass das Kind sicher ist, und ansonsten abzuwarten, bis der Sturm vorüber ist. Wenn mein Sohn im Supermarkt ohne ersichtlichen Grund anfing, zu schreien und um sich zu schlagen, und fremde Menschen mir unweigerlich vorwurfsvolle Blicke zuwarfen, blieb mir nichts anderes mehr übrig, als Selbstmitgefühl zu praktizieren.

Inmitten meiner Verwirrung, Scham und Hilflosigkeit konnte ich nichts anderes tun, als mich selbst zu beruhigen und zu trösten und mir selbst die emotionale Unterstützung zu geben, die ich so dringend brauchte. Selbstmitgefühl half mir allmählich, über Selbstmitleid und Wut hinauszugehen, und es ermöglichte mir auch, einigermaßen ruhig zu bleiben und weiterhin liebevoll mit Rowan umzugehen – trotz des intensiven Stresses und der Verzweiflung, die unweigerlich immer wieder aufkamen. Natürlich war ich manchmal trotzdem frustriert oder überfordert, aber ich stellte fest, dass Rowan jedes Mal, wenn ich mich über ihn aufregte, unweigerlich selbst noch aufgeregter wurde. Andererseits beruhigte er sich jedes Mal, wenn ich präsent und bewusst genug war, mir für das, was ich durchmachte, Selbstmitgefühl entgegenzubringen. Ich stellte außerdem fest, dass ich, wenn ich freundlich mit mir umging, mehr emotionale Ressourcen zu Verfügung hatte, um geduldig und mitfühlend mit Rowan umzugehen. Schnell entdeckte ich, dass das Praktizieren von Selbstmitgefühl eine der effektivsten Möglichkeiten war, meinem Sohn und mir selbst in stressigen und belastenden Situationen zu helfen.

Auf dem Gebiet der Psychologie ist es nicht ungewöhnlich, dass sich neues Wissen auftut, wenn Psychologen Lösungen für ihre eigenen Probleme finden. Auf diese Weise kam auch Chris mit Selbstmitgefühl in Berührung.

Ich (Chris) hatte bereits seit den späten 1970er-Jahren Meditation praktiziert, als ich beschloss, mir eine einjährige Auszeit zu nehmen, um kreuz und quer durch Indien zu reisen, Heilige, Weise, eingeborene Heiler und Meditationsmeister zu besuchen. Ich erlernte auch die Achtsamkeitsmeditation in einer Einsiedelei in Sri Lanka. Danach besuchte ich die Graduate School, promovierte in klinischer Psychologie und schloss mich einer Studiengruppe über Achtsamkeit und Psychotherapie in Cambridge, Massachusetts, an. Aus dieser Studiengruppe ging das Institute for Meditation and Psychotherapy hervor, und wir veröffentlichten schließlich ein populärwissenschaftliches Buch Achtsamkeit in der Psychotherapie (Germer, Siegel und Fulton, 2013), in dem dieses neue Therapiemodell vorgestellt wurde.

Die Veröffentlichung des Buches und das große allgemeine Interesse an Achtsamkeit in der Psychotherapie führten dazu, dass man mich öfter aufforderte, öffentliche Vorträge zu halten – seit jeher eine Quelle der Angst und Panik für mich. Obwohl ich als Erwachsener seit Langem regelmäßig meditierte und hin und wieder in Therapie war, wurde ich weiterhin durch meine lähmende Angst vor öffentlichen Auftritten als Redner beeinträchtigt. Kurz vor jedem Vortrag begann mein Herz zu rasen, meine Hände wurden feucht, und es fiel mir zunehmend schwer, klar zu denken. Ich versuchte wirklich alles, um dieser Angst Herr zu werden: Exposition, Meditation, achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Strategien, Zwerchfellatmung, anstrengende sportliche Betätigung, Betablocker – was Sie wollen –, aber nichts funktionierte.

Als ich einmal bei einem Vortrag in Santa Fe ein paar einleitende Worte sagen wollte, steigerten sich meine Angst und Anspannung derart, dass ein wohlmeinender Zuhörer von einer hinteren Reihe im Vortragssaal rief: »Atmen Sie mal tief durch!« Ich sollte über die positiven Auswirkungen von Achtsamkeit sprechen und brachte kaum ein Wort heraus.

Kurze Zeit später stand ich auf der Liste der Vortragsredner bei einer Konferenz an der Harvard Medical School. Jahrelang hatte ich mich als klinischer Ausbilder in der Fakultät der Medical School im Hintergrund halten können, aber diese Konferenz bedeutete, dass ich vor einer Gruppe von Kollegen stehen und mein peinliches Geheimnis einmal mehr ­offenbaren musste. Vier Monate vor der Konferenz nahm ich an einem Schweige-­Meditationsretreat teil, in dem es keine Möglichkeit gab, meinen Ängsten zu entfliehen. Immer wenn meine Gedanken zu der bevorstehenden Konferenz wanderten, konnte ich spüren, wie mich bei der Vorstellung, mich dort zum Narren zu machen, eine Welle der Angst erfasste. Wie sehr ich mich auch bemühte, die Angst in der Weite des Gewahrseins zu halten – Achtsamkeit –, es half nichts gegen meine inneren Qualen.

Schließlich hatte ich ein Gespräch mit einer sehr erfahrenen Medi­tationslehrerin, die dieses Retreat gemeinsam mit anderen leitete. Verlegen berichtete ich ihr von meiner Unfähigkeit zu meditieren, aber es war mir immer noch zu peinlich, die ganze Wahrheit über meine innere Not zu offenbaren. Ein freundliches, wissendes Lächeln huschte über ihr Gesicht, und dann machte sie mir einen Vorschlag, der so simpel war, dass es mich fast kränkte, noch nicht selbst darauf gekommen zu sein. Ich erinnere mich nicht mehr genau an ihre Worte, aber sie sagte in etwa Folgendes: »Liebe dich einfach selbst. Wiederhole einfach Sätze der liebe­vollen Güte wie: ›Möge ich sicher sein. Möge ich glücklich sein. Möge ich gesund sein. Möge ich gelassen sein.‹« Das war’s.

Inzwischen bereit, alles zu versuchen, kehrte ich auf mein Kissen im Meditationsraum zurück und fing sofort an, die Sätze zu wiederholen. Obwohl ich schon so viele Jahre meditierte und als Psychologe über mein Innenleben reflektierte, hatte ich noch nie auf eine so liebevolle, tröstliche Weise mit mir selbst gesprochen. Sofort fühlte ich mich beruhigt. Ich fragte mich sogar, ob ich vielleicht schummelte – Retreats müssen doch hart sein, oder? –, bis ich merkte, dass sich etwas in mir gelöst hatte und ich meinen Atem wieder spüren konnte. Während der Pausen wurde die Welt auf eine ganz neue Weise lebendig. Ich konnte tatsächlich die Menschen um mich herum wahrnehmen und die schöne Umgebung des Retreat-Centers genießen. Es war, als hätte jemand die Tür zu einer anderen Art des Seins geöffnet.

Wieder zu Hause, machte ich liebevolle Güte zu meiner hauptsächlichen Meditationspraxis. Jedes Mal, wenn Angst über die bevorstehende Konferenz aufkam, sagte ich mir einfach diese Sätze der liebevollen Güte – Tag für Tag, Woche für Woche. Ich tat das nicht vorrangig, um mich zu beruhigen, sondern weil ich etwas Trost brauchte (ich hatte schon vor langer Zeit festgestellt, dass der Versuch, mich zu beruhigen, mich nur noch angespannter werden ließ).

Irgendwann aber kam der Tag der Konferenz. Als ich aufs Podium gerufen wurde, um zu sprechen, kam die vertraute Angst in der üblichen Weise hoch. Aber diesmal gab es etwas Neues: ein leises Flüstern im Hintergrund, das sagte: »Mögest du sicher sein, mögest du glücklich sein …« Und als mein Blick über die Menge schweifte, dachte ich: »Oh, mögen alle sicher sein. Mögen alle glücklich sein …« In diesem Moment traten zum ersten Mal Freude und Begeisterung an die Stelle der Angst.

Was geschah in diesem bedeutsamen Augenblick? Vielleicht konnte ich meine Angst vorher nicht akzeptieren und durch mich fließen lassen, weil in Wahrheit ein tieferes Problem dahintersteckte. Vielleicht war meine Angst, vor Publikum zu sprechen, doch keine Angststörung, sondern eine Schamstörung – und die Scham war einfach zu überwältigend, um sie zu ertragen. Immer wenn ich mich in meiner Vorstellung auf dem Podium sah, zitternd und unfähig zu sprechen, war ich grundsätzlich nicht bereit, die Erfahrung der Angst zu akzeptieren, weil die Möglichkeit, von meinen geschätzten Kollegen und Kolleginnen als inkompetent oder als Hochstapler wahrgenommen zu werden, für mich einfach unerträglich war: »Natürlich bin ich ein Schwindler, wenn ich über Achtsamkeit spreche, denn ich habe zu viel Angst zu sprechen!« Aber als ich weiterhin die Liebevolle-Güte-Meditation (LKM; Loving-Kindness Meditation) praktizierte, war es, als sei nun ein guter Freund an meiner Seite, um mich in diesen dunklen Momenten zu unterstützen, ein Freund, der mich auch noch unterstützen würde, wenn alle im Publikum dachten, ich sei ein Narr. Ich hatte angefangen, Selbstmitgefühl zu lernen.

Ich erkannte, dass wir alle manchmal zuerst uns selbst in liebevollem Gewahrsein halten müssen, bevor wir unsere Erfahrung mit der gleichen Einstellung halten können. Hier kommt Mitgefühl in die ­Achtsamkeitspraxis hinein. Wenn wir von intensiven und verwirrenden Gefühlen überwältigt werden, brauchen wir zusätzliche Unterstützung, um klarsehen und positiv handeln zu können. Als Therapeut wusste ich außerdem intuitiv, wie wichtig Mitgefühl ist. Wenn ein neuer Klient oder eine Klientin zu uns kommt, bieten wir Therapeuten instinktiv Mitgefühl als Basis für das Erforschen des Lebens dieser Person an, und zwar insbesondere der schambesetzten Bereiche. Es ist jedoch eine ganz andere Sache, uns selbst gegenüber mitfühlend zu sein, wenn wir es am dringendsten brauchen. Irgendwie geht diese Einsicht und Fähigkeit oft sogar höchst introspektiven Menschen wie Praktizierenden der Achtsamkeitsmeditation oder Psychotherapeuten und anderen Fachleuten ab.

Nach meiner erhellenden Erkenntnis begann ich das Potenzial eines Selbstmitgefühlstrainings für meine Klienten und Klientinnen auszuloten, insbesondere für diejenigen, die unter Störungen litten, bei denen Scham eine Rolle spielt (»Mit mir stimmt etwas nicht«, »Ich bin ein schlechter Mensch«), wie beispielsweise Sozialphobie, komplexen Traumata, Süchten und Depressionen. Ich schrieb das Buch Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl (Germer, 2009), um das, was ich gelernt hatte, mit anderen zu teilen – vor allem im Hinblick darauf, wie Selbstmitgefühl Klientinnen und Klienten half, die zu mir in die Psychotherapie kamen. Bald darauf veröffentlichte Kristin ihr Buch Selbstmitgefühl (Neff, 2011a), in dem sie die Theorie und Forschung über Selbstmitgefühl beleuchtete, viele Techniken zur Stärkung des Selbstmitgefühls präsentierte und beschrieb, wie sich Selbstmitgefühl in ihrem eigenen Leben auswirkte.

Im Jahr 2010 starteten wir mit unserem ersten MSC-Programm im Fritz-Perls-Haus des Esalen-Instituts in Big Sur, Kalifornien. Wir erinnern uns schmunzelnd daran, dass von den zwölf Gruppenmitgliedern bereits drei am zweiten Tag unseres »Jungfernkurses« abreisten. Vielleicht konnten sie unsere Unsicherheit spüren, vielleicht hatte der Kurs ihnen aber auch emotional zu viel abverlangt. Aber wir blieben dran. Nach einem holprigen Start investierten wir eine Menge Zeit und Energie, um unseren Acht-Wochen-MSC-Kurs zu entwickeln und für ein breite Teilnehmerschaft aus unterschiedlichen Kulturkreisen sicher, angenehm und effektiv zu gestalten. Wir führten eine kontrollierte randomisierte MSC-Studie durch (Germer und Neff, 2013; Neff und Germer, 2013), gründeten im selben Jahr eine gemeinnützige Organisation namens Center for Mindful Self-Compassion, um der Nachfrage nach der Verbreitung des Programms gerecht zu werden, und initiierten im Jahr 2014 ein MSC-Lehrerausbildungsprogramm am Center for Mindfulness der University of California, San Diego, unter der fachkundigen Leitung von Steve Hickman und Michelle Becker.

Inzwischen haben über 50 000 Menschen das MSC-Programm absolviert, das von über tausend Lehrern und Lehrerinnen in aller Welt gelehrt wurde. Da MSC-Lehrer und -Lehrerinnen während ihres ersten MSC-Kurses Online-Beratung erhalten, konnten wir das MSC-Curriculum auf der Basis ihrer Rückmeldungen noch weiter verfeinern. Das Buch, das Sie nun in den Händen halten, könnte man wohl am besten als Gemeinschaftsprojekt der gesamten MSC-Lehrer-Community beschreiben; und wir hoffen, dass es ein lebendiges Dokument bleibt und sich im Rahmen unseres weiteren gemeinsamen Praktizierens und Lernens immer weiterentwickelt.

Für wen ist dieses Buch gedacht?

Wir haben dieses Buch über MSC für Fachleute geschrieben, die daran interessiert sind, Selbstmitgefühl für psychisches Wohlbefinden zu praktizieren und zu lehren. Die meisten Leserinnen und Leser werden Selbstmitgefühl wahrscheinlich in ihre beruflichen Aktivitäten in Bereichen wie Psychotherapie, Medizin, Wirtschaft und Bildung einbringen wollen. Andere sind bereits ausgebildete MSC-Lehrer und Lehrerinnen oder wollen solche werden und möchten die theoretischen, empirischen und pädagogischen Grundlagen von MSC genauer erforschen. Manche werden in erster Linie ein wissenschaftliches Interesse an Selbstmitgefühl haben (Professoren, Wissenschaftler), und andere interessieren sich aus rein persönlichen Gründen für Selbstmitgefühl. Dieses Buch wurde geschrieben, um all diese Bemühungen zu unterstützen.

Wenn es Ihr Ziel ist, das achtwöchige MSC-Programm zu lehren, müssen Sie auf jeden Fall zuerst das formelle MSC-Lehrertraining absolvieren, bevor Sie mit dem Unterrichten beginnen können. Informationen darüber, wie Sie MSC-Lehrer oder -Lehrerin werden können, finden Sie unter: www.arbor-seminare.de/msc-teacher-training.

Ein formelles Lehrertraining ist notwendig, denn wie MSC gelehrt wird, ist genauso wichtig, wie was gelehrt wird, und die in diesem Buch enthaltenen Informationen über die Didaktik von MSC müssen durch die Arbeit mit qualifizierten Ausbilderinnen und Ausbildern innerhalb einer Community von Lehrenden vertieft werden. Darüber hinaus spielt die persönliche Praxis eine Rolle, wenn man anderen die Essenz der Achtsamkeit und des Selbstmitgefühls vermitteln will. Deshalb hoffen wir, dass dieses Buch Ihnen zu einem tieferen Verständnis von Selbstmitgefühl verhilft, Sie dazu inspiriert, Selbstmitgefühl für sich selbst zu praktizieren und, wenn es sich für Sie richtig anfühlt, mit Kolleginnen und Kollegen in Verbindung zu treten, die an Selbstmitgefühl interessiert sind und dieses Geschenk gern mit anderen teilen möchten.

Teil I

Selbstmitgefühl: Theorie, Forschung, Training

Vor langer Zeit lernte ich: Das Weiseste, was ich tun kann, ist, auf meiner Seite zu sein.

Maya Angelou (zitiert in Anderson, 2012)

Die meisten Menschen würden wohl behaupten, dass sie bis zu einem gewissen Grad verstehen, was Selbstmitgefühl bedeutet. Schließlich ist Mitgefühl mit anderen ein zentrales Prinzip der meisten Weltreligionen, das in der goldenen Regel »Alles, was ihr wollt, das euch die Menschen tun, das tut auch ihnen« verankert ist (Mt 7:12; siehe auch Armstrong, 2010). Selbstmitgefühl impliziert einfach das umgekehrte Prinzip, nämlich zu lernen, mit uns selbst so umzugehen, wie wir vielleicht spontan mit anderen umgehen würden, wenn sie leiden, scheitern oder sich unzulänglich fühlen. Das ist jedoch leichter gesagt als getan. Was passiert, wenn wir die Augen schließen und darauf achten, uns selbst Freundlichkeit und Mitgefühl entgegenzubringen? Normalerweise werden uns die ungeliebten Anteile unserer selbst bewusst – und auch die alten Wunden, die in den Tiefen unseres Herzens und Geistes verborgen waren. Es erfordert ein spezielles Training, um Licht an diese dunklen Orte bringen und lange genug dort verweilen zu können, um das, was wir vorfinden, zu transformieren.

Die folgenden vier Kapitel sind dem Versuch gewidmet, das Selbstmitgefühlstraining in einen Kontext zu stellen. Es ist gut, eine Landkarte zu haben, bevor wir uns auf dieses Terrain begeben.

In Kapitel 1 erfahren Sie etwas über die Beziehung zwischen Achtsamkeit und Mitgefühl sowie über einige praktische Unterschiede zwischen dem Mindful-Self-Compassion-(MSC-)Programm und anderen empirisch unterstützten achtsamkeitsbasierten Trainingsprogrammen.

Kapitel 2 definiert die Grundidee des Selbstmitgefühls, vergleicht Selbstmitgefühl mit dem Mitgefühl für andere, vertieft die Diskussion über die Beziehung zwischen Achtsamkeit und Selbstmitgefühl, beleuchtet die Yin- und Yang-Aspekte des Selbstmitgefühls und weist auf Unterschiede zwischen Selbstwertgefühl und Selbstmitgefühl hin. In Kapitel 2 werden auch häufige Bedenken gegenüber dem Selbstmitgefühl aufgedeckt.

Kapitel 3 bietet einen umfassenden Überblick über die Forschungsliteratur zum Thema Selbstmitgefühl, die darauf hinweist, dass die meisten Bedenken im Hinblick auf Selbstmitgefühl unbegründet sind. Diskutiert werden Forschungsergebnisse in den Kategorien emotionales Wohlbefinden, Gesundheit, Alltagsbewältigung, Körperbild, Beziehungen, Pflege, Populationen in klinischen Studien, Neurophysiologie und weiteren.

Kapitel 4 konzentriert sich schließlich auf die Wissenschaft des Selbstmitgefühlstrainings. Es beleuchtet die Forschungsergebnisse hinsichtlich des MSC-Programms sowie anderer Mitgefühlstrainingsprogramme, die die Vorteile und positiven Wirkungen von mitgefühlsbasierten Interventionen stützen.

Wir, die Mitentwickler des MSC-Programms, sind sowohl Praktizierende als auch Sozialwissenschaftlerinnen. Wir glauben, dass die positiven Auswirkungen von mehr Selbstmitgefühl so alt sind wie die ­menschliche Natur und dass das Erlernen von Selbstmitgefühl keine bestimmten Glaubensvorstellungen voraussetzt. Unser Verständnis beruht auf persönlicher Erfahrung und wird durch Forschungsergebnisse gestützt. Das Wissen um die starke empirische Basis von Selbstmitgefühl hat den Vorteil, dass es die persönliche Praxis inspirieren und durch Zuversicht stärken kann. Die Forschung liefert Hinweise darauf, wie und für wen Selbstmitgefühl am besten funktioniert, bietet Einblicke in die grundlegenden Wirkmechanismen des Selbstmitgefühls und weist auf neue Trainingsinitiativen hin.

Letztendlich ist es jedoch die Erfahrung des Selbstmitgefühls – die direkte Wahrnehmung dessen, was geschieht, wenn wir mit uns selbst warmherzig und unterstützend umgehen –, die es uns ermöglicht, unseren Weg mit Zuversicht und Leichtigkeit zu gehen.

1

Eine Einführung in Achtsames Selbstmitgefühl

Möge Freundlichkeit in deinem Blick sein, wenn du nach innen schaust.

John O’Donohue (2008)

Das Leben ist für uns alle schwierig. Wenn wir unser Erleben in jedem beliebigen Moment genauer betrachten, stellen wir fest, dass wir vom Augenblick des Aufwachens am Morgen (»Oh, ich bin spät dran!«) bis zum Einschlafen am Abend (»Das hätte ich wirklich noch tun sollen …«) mehr oder weniger unter Stress stehen. Das ist uns normalerweise nicht bewusst. Spüren Sie beispielsweise in diesem Moment ein körperliches Unbehagen? Machen Sie sich über irgendetwas Sorgen? Sind Sie hungrig? Und sollten Sie nicht endlich Ihr E-Mail-Postfach »aufräumen«, bevor Sie anfangen, ein neues Buch zu lesen? Paradoxerweise kann das bewusste Wahrnehmen und Annehmen unserer kleinen und großen Herausforderungen unser Leben wesentlich bereichern. Das ist Achtsamkeit. Und uns selbst inmitten unserer Schwierigkeiten liebevoll und ­fürsorglich zu umarmen kann unser Leben noch mehr bereichern.Zusammen sind sie eine Ressource, die wir »Achtsames Selbstmitgefühl« nennen.

Achtsamkeit und Mitgefühl

In den vergangenen zwei Jahrzehnten hatte die Erforschung der positiven Effekte der Achtsamkeit Hochkonjunktur. Achtsamkeit wurde grob definiert als »ein Gewahrsein, das entsteht, wenn man der eigenen Erfahrung im gegenwärtigen Moment unvoreingenommen, so wie sie sich von einem Augenblick zum nächsten entfaltet, bewusst Aufmerksamkeit schenkt« (Kabat-Zinn, 2003). Achtsamkeit fördert das geistige und körperliche Wohlbefinden auf vielfältige Weise und bildet somit die Grundlage für ein Leben, in dem wir weise und mitfühlend handeln. Das Gegenteil von Achtsamkeit ist jener Zustand, in dem wir uns im Autopilot-Modus befinden, Tagträumen über die Vergangenheit und Zukunft nachhängen und kaum dessen gewahr sind, was in uns oder um uns herum passiert. Geistiges Abschweifen, obgleich natürliche Veranlagung unseres Gehirns, kann uns an dunkle Orte des Bedauerns und der Sorge führen, aus denen wir uns vielleicht erst nach Tagen, Wochen oder Monaten wieder befreien können.

Bei unseren gegenwärtigen Definitionen von Achtsamkeit gibt es die Tendenz, Aufmerksamkeit und bewusste Wahrnehmung über die Qualitäten des achtsamen Gewahrseins wie Akzeptanz, liebevolle Güte und Mitgefühl zu stellen. Das ist bedauerlich, und unsere Sprache trägt sicherlich zu dieser einseitigen Sichtweise der Achtsamkeit bei. So ist beispielsweise das Wort »Achtsamkeit« eine Übersetzung des alten Pali-Wortes sati, das sich auf Gewahrsein bezieht, und es wird mit dem Pali-Wort citta assoziiert, das wörtlich »Herz-Geist« bedeutet. Wir haben kein Wort für »Geist« oder »Gewahrsein«, das gleichzeitig die mentalen und emotionalen Aspekte des achtsamen Gewahrseins einschließt.

Um die Dinge noch ein bisschen komplizierter zu machen: Wenn jemand sagt: »Ich praktiziere Achtsamkeitsmeditation«, bezieht er oder sie sich wahrscheinlich auf einen oder mehrere der drei folgenden Arten von Meditation: 1) fokussierte Aufmerksamkeit, 2) offenes Gewahrsein oder 3) liebevolle Güte und Mitgefühl (Salzberg, 2011b). Fokussierte Aufmerksamkeit (oder Konzentration) ist eine Praxis, bei der man mit der Aufmerksamkeit immer wieder zu einem bestimmten Objekt zurückkehrt, beispielsweise zum Atem. Konzentration hilft, den Geist zu beruhigen. Offenes Gewahrsein (oder ungerichtete [wahlfreie] Aufmerksamkeit) bedeutet, dass wir den Dingen Aufmerksamkeit schenken, die in unserem Bewusstseinsfeld Augenblick für Augenblick in den Vordergrund treten und am lebendigsten sind. Offenes Gewahrsein verhilft Praktizierenden zu einem erweiterten Bewusstsein und einem Verständnis der Natur des Geistes. Liebevolle-Güte- und Mitgefühls-Meditation helfen, sich selbst und anderen gegenüber jene Qualitäten der Warmherzigkeit und des Wohlwollens zu entwickeln, die unerlässlich für die Akzeptanz und Transformation schwieriger innerer Zustände sind.

Die Achtsamkeitsforschung hat sich größtenteils auf die Praxis der fokussierten Aufmerksamkeit und auf offenes Gewahrsein konzentriert. Seit einigen Jahren wird aber auch zunehmend über Liebevolle-Güte- und Mitgefühlsmeditation geforscht (Hofmann, Grossman und ­Hinton, 2011). Neurologische Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass alle drei Meditationsformen sich überschneidende, aber dennoch unterscheidbare Gehirnmuster erzeugen (Brewer et al., 2011; Desbordes et al., 2012; Lee et al., 2012; Leung et al., 2013; Lutz, Slagter, Dunne und Davidson, 2008). Für die Zwecke dieses Buches ist es am einfachsten, achtsames Gewahrsein, das die Herzqualitäten einschließt, als liebevolles Gewahrsein oder mitfühlendes Gewahrsein zu beschreiben.

Im Zustand vollständiger Achtsamkeit – wenn wir uns inmitten der vollen Bandbreite unserer Gedanken, Gefühle und Empfindungen innerlich ruhig und wach fühlen – ist unser Gewahrsein von einer Haltung der liebevollen Güte und des Mitgefühls durchdrungen. Volle ­Achtsamkeit fühlt sich an wie die Liebe selbst. Leider ist unsere Achtsamkeit selten vollständig, sondern den Umständen entsprechend mit Angst, Anspannung, Sehnsucht oder Verwirrung gemischt. Das ist besonders dann der Fall, wenn die Dinge in unserem Leben schwierig werden – wenn wir leiden, scheitern oder uns unzulänglich fühlen. Nicht nur, dass unser Gewahrsein durch unsere Stimmungen gefärbt wird, auch unsere Selbstwahrnehmung wird dann oft »in Geiselhaft genommen«, und wir verstricken uns in Selbstkritik und Selbstzweifeln. Das kann von »Ich fühle mich schlecht«, über »Ich mag dieses Gefühl nicht«, »Ich will dieses Gefühl nicht«, »Ich sollte dieses Gefühl nicht haben«, »Mit mir stimmt etwas nicht« bis hin zu »Ich bin schlecht!« gehen. Im Handumdrehen wird also aus »Ich fühle mich schlecht« »Ich bin schlecht«. Hier ist Selbstmitgefühl gefragt. Manchmal müssen wir zunächst uns selbst – den Erfahrenden – trösten und beruhigen, bevor wir auf achtsamere Weise mit unserer Erfahrung umgehen können.

Selbstmitgefühl kann als das Herz der Achtsamkeit betrachtet werden, wenn wir persönlichem Leiden begegnen. Achtsamkeit lädt uns ein, uns dem Leiden im weiten Gewahrsein zu öffnen. Selbstmitgefühl sagt: »Sei freundlich zu dir mitten im Leiden.« Achtsamkeit fragt: »Was erlebe ich?« Selbstmitgefühl fügt hinzu: »Was brauche ich?« Gemeinsam führen Achtsamkeit und Selbstmitgefühl in einen Zustand warmherziger, akzeptierender Präsenz in schwierigen Momenten unseres Lebens. Sie sind wie beste Freunde.

Die Forschung zeigt, dass Selbstmitgefühl mit psychischem Wohlbefinden verbunden ist, das heißt, psychopathologische Zustände (wie Besorgtheit, Depressionen und Stress) nehmen ab, während positive innere Zustände (wie Glücksempfinden, Optimismus und Lebenszufriedenheit) zunehmen (Barnard und Curry, 2011; MacBeth und Gumley, 2012; Neff, Long et al., 2018; Zessin, Dickhauser und Garbade, 2015). Selbstmitgefühl wird auch mit Motivationssteigerung, gesunden Verhaltensweisen, verbesserter Immunfunktion, einem positiven Körperbild und erhöhter Resilienz assoziiert (Allen und Leary, 2010; Braun, Park und Gorin, 2016; Breines und Chen, 2012; Friis, Johnson, Cutfield und Consedine, 2016; Terry und Leary, 2011) sowie mit einer Zunahme an fürsorglichem und mitfühlendem Beziehungsverhalten (Neff und ­Beretvas, 2013; Yarnell und Neff, 2013). Mit anderen Worten: Selbstmitgefühl hat viele Vorteile und ist es wert, kultiviert zu werden (siehe Kapitel 3).

Mindful Self-Compassion (MSC)

Das Mindful-Self-Compassion-(MSC-)Programm war das erste Trainingsprogramm, das für ein breites Publikum speziell zur Kultivierung von Selbstmitgefühl entwickelt wurde. Achtsamkeitsbasierte Trainingsprogramme wie Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (MBSR, Kabat-Zinn, 1990) und Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie (MBCT, Segal, ­Williams und Teasdale, 2013) fördern ebenfalls das Selbstmitgefühl (siehe Kapitel 4), aber sie tun dies implizit, es ist dabei sozusagen willkommenes Nebenprodukt. Wir fragten uns: »Was würde passieren, wenn die Fähigkeit zum Selbstmitgefühl explizit als Hauptschwerpunkt des Trainings gelehrt würde?«

MSC ist lose an das MBSR-Programm angelehnt, und zwar sowohl durch seinen Fokus auf erfahrungsbasiertem und introspektivem Lehren als auch durch seine Struktur (acht wöchentliche Sitzungen zu je zwei Stunden plus ein Retreat-Tag). Einige Hauptpraktiken von MBSR wurden für MSC modifiziert, indem die Qualität des Gewahrseins – nämlich Warmherzigkeit, und Freundlichkeit – in diesen Übungen hervorgehoben wird. Die meisten MSC-Praktiken wurden speziell entwickelt, um Mitgefühl und Selbstmitgefühl zu kultivieren.

Die akkurate Bezeichnung für MSC wäre also »Achtsamkeitsbasiertes Selbstmitgefühlstraining«. Es ist eine Verbindung aus Achtsamkeit und Mitgefühl mit dem Fokus auf Selbstmitgefühl. Achtsamkeit ist das Fundament des Selbstmitgefühls, denn wenn wir leiden, müssen wir dies achtsam wahrnehmen (keine geringe Leistung!), um mitfühlend darauf antworten zu können. Obwohl Achtsamkeit bereits Teil des Selbstmitgefühls ist, haben wir dieses Programm »Achtsames Selbstmitgefühl« (»Mindful Self-Compassion«) genannt, um die Schlüsselrolle der Achtsamkeit im Selbstmitgefühlstraining hervorzuheben. Weitere Informationen zur Integration von Achtsamkeit in MSC finden Sie in Kapitel 11 (Sitzung 2).

MSC wurde für die breite Öffentlichkeit entwickelt. Es wirkt therapeutisch, aber es ist keine Psychotherapie. Der Schwerpunkt von MSC liegt auf dem Aufbauen der Ressourcen der Achtsamkeit und des Selbstmitgefühls. Im Gegensatz dazu fokussiert sich die Psychotherapie mehr auf das Heilen alter Verletzungen. Da MSC ein strukturiertes Schulungsprogramm ist, das über einen begrenzten Zeitraum stattfindet, können wir uns dabei nicht auf die Einzelheiten des Lebens einer jeden Person fokussieren, wie wir es in einer Einzel- oder Gruppentherapie tun könnten. Dennoch berichten viele MSC-Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer, dass MSC einen tiefgreifenden Einfluss auf ihr psychisches Wohlbefinden hat – insbesondere durch die Heilung alter Wunden. Der therapeutische Effekt von MSC kann als Nebenprodukt der Entwicklung der Ressourcen der Achtsamkeit und des Selbstmitgefühls betrachtet werden (siehe Teil IV über die Beziehung zwischen Selbstmitgefühl und Psychotherapie).

Das MSC-Curriculum

Das vollständige MSC-Curriculum wird in Teil III des Buches vorgestellt. MSC soll die Teilnehmenden von einem konzeptionellen, theoretischen Verständnis von Achtsamkeit und Selbstmitgefühl zu einer gefühlten Erfahrung dieser Konzepte hinführen und ihnen Werkzeuge an die Hand geben, um Achtsamkeit und Selbstmitgefühl im Alltag entwickeln und zur Gewohnheit machen zu können. Die Sitzungen wurden sorgfältig so konzipiert, dass sie aufeinander aufbauen. Jede Sitzung umfasst einen kurzen didaktischen Teil, gefolgt von Übungen, die den Teilnehmenden das Thema fühlbar vermitteln. Darauf folgt eine Exploration der direkten Erfahrungen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen.

Die Bedürfnisse der Teilnehmenden sind in der Regel sehr unterschiedlich. Deshalb ermutigen wir sie, bei der Auswahl der Übungen zu experimentieren, diese an ihre persönlichen Bedürfnisse anzupassen und so zu ihrem eigenen Lehrer, ihrer eigenen Lehrerin zu werden. MSC-Lehrende bemühen sich, eine sichere Atmosphäre zu schaffen, in der die Erfahrungen, welche die Teilnehmenden mit den Praktiken machen, geschätzt und gewürdigt werden.

Die Lehrenden werden darin bestärkt, ihren eigenen Stil zu entwickeln, sich das Programm beim Lehren zu eigen zu machen. Die Botschaft lautet aber: »Entwickle deinen eigenen Stil, nicht dein eigenes Curriculum.« Das ist besonders in der Anfangsphase des Lehrens wichtig, weil die strukturelle Integrität des Programms erst offensichtlich wird, wenn man es mehrmals unterrichtet hat. Es gibt im Curriculum einen gewissen Spielraum für kleinere Änderungen, beispielsweise was man bei der Präsentation von Konzepten für unterschiedliche Gruppen hervorhebt, aber die Lehrenden sollten keine neuen Hauptpraktiken entwickeln und den Programminhalt maximal um 15 Prozent modifizieren, wenn sie es noch MSC nennen wollen. Und um es noch einmal zu betonen: Niemand sollte MSC ohne formelles MSC-Lehrertraining unterrichten.

Das effizienteste Werkzeug eines MSC-Lehrenden ist die Verkörperung Achtsamen Mitgefühls. Es heißt doch: »Die Leute wollen wissen, was du weißt, wenn sie wissen, dass es dir am Herzen liegt.« Wenn Sie einmal einen Moment an die Lehrerinnen und Lehrer zurückdenken, die den größten Einfluss auf Ihr Leben hatten, dann waren das wahrscheinlich diejenigen, die angesichts der Herausforderungen, denen Sie beim Lernprozess begegnet sind, mitfühlend waren und wussten, wie sie Ihnen hindurchhelfen konnten. Daher ist der effizienteste Weg, um Selbstmitgefühl zu lehren, mitfühlend zu sein.

Von MSC-Lehrenden wird erwartet, dass sie selbst kontinuierlich etwa 30 Minuten täglich Achtsamkeit und Selbstmitgefühl praktizieren, insbesondere während eines Kurses (und zwar besonders die Praktiken, die jede Woche gelehrt werden). Durch die persönliche Praxis bleiben den Lehrenden die mit dem Erlernen von Achtsamkeit und Selbstmitgefühl verbundenen Herausforderungen präsent. Und sie verleiht ihren Worten Autorität und Kraft. MSC ist eine Vermittlung von Herz zu Herz, das durch die emotionale Resonanz zwischen Lehrenden und Kursteilnehmenden geschieht. Diese werden in der Gegenwart von Lehrenden, die Achtsamkeit und Selbstmitgefühl verkörpern, viele Qualitäten wahrnehmen – Respekt, Demut, Selbstgewahrsein, Zärtlichkeit –, die ihre individuelle Praxis unterstützen.

Zu MSC gehört eine bestimmte Form der Interaktion mit Gruppenmitgliedern, die als »Inquiry« bezeichnet wird und denjenigen Lesern und Leserinnen, die bereits an einem Lehrertraining teilgenommen haben, vertraut sein dürfte. Es ist dies eine Interaktion zwischen dem Selbst und dem oder der anderen, die dem Schüler oder der Schülerin eine achtsame oder mitfühlende Interaktion mit sich selbst spiegelt. Sie folgt in der Regel auf eine individuelle Übung oder eine Gruppenübung und beginnt mit Fragen wie »Was hast du wahrgenommen?« und »Was hast du gefühlt?«. Die Lehrenden helfen, die direkte Erfahrung der Gruppenmitglieder durch freundliches, urteilsfreies Befragen zu beleuchten. Wenn eine Erfahrung schwer zu ertragen ist, wird dem Gruppenmitglied aufgezeigt, wie man Achtsamkeit und Mitgefühl in diese spezielle Erfahrung einfließen lassen kann. Eine Lehrerin könnte beispielsweise fragen: »Kannst du ein bisschen Freundlichkeit in diese Erfahrung hineinbringen?« Vielleicht auch: »Was würdest du deiner Meinung nach jetzt brauchen?« Oder: »Was könntest du einem Freund sagen, der sich so fühlt, wie du jetzt?« Bei MSC wird eine eigene, charakteristische Form des Fragens angewandt, die der Schlüssel zum Lehren des Programms ist. Deshalb ist die Hälfte der Sitzungen beim MSC-Lehrertraining dem Einüben der Kunst der Inquiry gewidmet. Auf nahezu jede in Teil III dieses Buches beschriebene Meditation, informelle oder formelle Übung, folgen Beispiele eines solchen Inquiry-Prozesses.

Andere MSC-Unterrichtsmodalitäten schließen didaktische Themen, geführte Mediationen, das Anleiten von Gruppenübungen und das Lesen von Gedichten ein. Alle diese Aspekte des Lehrens haben einen gemeinsamen Nenner – das Lehren von innen heraus. Zum Beispiel sollten didaktische Themen in der eigenen, authentischen Sprache des Lehrenden vermittelt werden, und Lehrende sollten auf ihre eigenen Anweisungen vertrauen, wenn sie Meditationen anleiten. Es fällt ihnen leichter, den richtigen Ton in Gruppenübungen zu finden, wenn sie fühlen, dass ihre Worte von innen kommen. Gedichte können ebenfalls subtile Bewusstseinszustände vermitteln, wenn Lehrende zulassen, dass die Worte sie innerlich berühren.

MSC und Achtsamkeitstraining

MSC soll helfen, Achtsamkeit und Selbstmitgefühl zu kultivieren, weil wir ohne Achtsamkeit nicht wirklich mitfühlend sein können und umgekehrt Mitgefühl brauchen, um ganz achtsam sein zu können. In MSC kommen der Achtsamkeit vier wichtige Rollen zu: 1) den Schülern und Schülerinnen zu helfen, bewusst wahrzunehmen, wenn sie leiden; 2) sie zu befähigen, das Gewahrsein im gegenwärtigen Moment zu verankern, wenn Emotionen aktiviert werden; 3) das Wahrnehmen von Emotionen im Körper zu üben, um sie regulieren zu können, und 4) eine Haltung der Gelassenheit zu entwickeln, die Raum für mitfühlendes Handeln lässt.

Nun mag man sich fragen: »Worin ähnelt oder unterscheidet sich MSC von etablierten Achtsamkeitstrainings?«

Das bekannteste Achtsamkeitstraining ist heute MBSR, das ursprünglich von Jon Kabat-Zinn (1990) entwickelt wurde, um Patientinnen und Patienten einer Universitätsklinik, die unter chronischen Schmerzen und anderen schwer zu behandelnden Erkrankungen litten, Linderung zu verschaffen. Die drei Kernelemente von MBSR sind Atemmeditation, Bodyscan und achtsame Bewegung. MBSR-Lehrende vermitteln implizit liebevolle Güte und Mitgefühl, indem sie diese Qualitäten in der Interaktion mit ihren Gruppenmitgliedern verkörpern und zu einer freundlichen Haltung gegenüber allen Erfahrungen ermutigen. Während des einen Retreat-Tages wird auch die Liebevolle-Güte-Meditation gelehrt, aber der Hauptzweck von MBSR ist das Entwickeln von innerer Gelassenheit inmitten stressiger Lebensumstände durch urteilsloses Gewahrsein im gegenwärtigen Moment.

MBCT (Mindfulness-based Cognitive Therapy) ist eine verhaltenstherapeutische Adaption von MBSR zur Behandlung von wiederkehrenden Depressionen, die von Zindal Segal und Kollegen (2013) entwickelt wurde. Sowohl bei MBSR als auch MBCT hat sich gezeigt, dass die Praktizierenden mehr Selbstmitgefühl entwickelten (siehe Kapitel 4). Die Liebevolle-Güte-Meditation ist nicht Teil des MBCT-Protokolls, weil man vermeiden wollte, innerhalb dieser vulnerablen Population bestimmte Emotionen zu aktivieren: MBCT konzentriert sich mehr auf das Entwickeln eines dezentrierten achtsamen Gewahrseins depressiver Gedankengänge.

Drei Kernelemente von MBSR und MBCT wurden für das MSC-Programm adaptiert, wobei besonders Herzenswärme und Wohlwollen im Mittelpunkt stehen. Die Meditation Liebevolles Atmen ist bei MSC beispielsweise eine Form der Atemmeditation, die die Teilnehmenden dazu einlädt, den sanften Rhythmus des Atems zu genießen – insbesondere die Erfahrung, innerlich vom Atem gewiegt und liebkost zu werden.

Bei dieser Meditation steht nicht die Konzentration im Vordergrund, sondern das Gefühl, vom Atem gehalten und genährt zu werden – was unweigerlich zu einer erhöhten Konzentration beiträgt. Der »Bodyscan mit Mitgefühl« des Achtsamen-Selbstmitgefühl-Programms ähnelt dem MBSR-Bodyscan, konzentriert sich aber stärker darauf, zu würdigen, wie hart jeder Teil des Körpers für uns arbeitet, jedem Körperteil Gutes zu wünschen und dem Herzen zu erlauben, dass es weich und mitfühlend wird, wenn emotionales oder körperliches Leiden zutage treten. MSC enthält auch eine Bewegungspraxis – Compassionate Movement oder mitfühlende Bewegung –, bei der die Aufmerksamkeit bewusst auf gestresste Bereiche des Körpers gelenkt wird und die Teilnehmenden ermutigt werden, ihren Körper spontan frei zu bewegen, um den Stress abzubauen.

Während die Liebevolle-Güte-Meditation bei MBSR in der Regel nur am Retreat-Tag praktiziert wird, wurde sie in MSC zu einem Kern­element. (MSC enthält eine zusätzliche Praxis, die den Teilnehmenden hilft, ihre eigenen Sätze der liebevollen Güte und des Selbstmitgefühls zu entdecken.) Andererseits ist der Bodyscan eine Hauptpraxis von MBSR und wird in MSC nur beim Retreat-Tag gelehrt. Diese Unterschiede zwischen MSC und MBSR spiegeln die jeweiligen Schwerpunkte der beiden Programme wider: ein weites Gewahrsein im gegenwärtigen Moment bei MBSR und Herzenswärme und Wohlwollen gegenüber sich selbst bei MSC. MBSR und MSC vermitteln Qualitäten, die einander ergänzen.

Nach unserer Erfahrung können erfahrene MBSR- und MBCT-Lehrerinnen und Lehrer relativ einfach lernen, MSC zu lehren, wenn sie die Prinzipien und Praktiken von MSC verstehen. Zu den Skills, die sie in der Regel bereits erworben haben, zählen eine stabile persönliche Meditationspraxis, das Wissen um den Unterschied zwischen »Fixierung« auf das Leiden und »Sein mit« dem Leiden, das Wissen um die zentrale Bedeutung der Güte und Freundlichkeit in Lehre und Praxis sowie die Fähigkeit, eine Gruppe so anzuleiten, dass ein offener, urteilsfreier Raum entsteht.

Wir haben festgestellt, dass unsere besten Mitgefühlstrainer und -Trainerinnen oft voller Achtsamkeit sind und unsere besten Achtsamkeitslehrer und Lehrerinnen voller Mitgefühl. Das Selbstmitgefühlstraining bringt allerdings eine neue Perspektive ins Achtsamkeitstraining. Wenn ein Praktizierender Probleme hat, könnte eine Achtsamkeitslehrerin fragen: »Kannst du in dir etwas Raum für diese Erfahrung schaffen?« Oder: »Kannst du diese Erfahrung freundlich im Gewahrsein halten?« Ein Selbstmitgefühlslehrer könnte hinzufügen: »Kannst du dir selbst in diesem Moment etwas Freundlichkeit entgegenbringen?« Oder: »Was würdest du deiner Meinung nach jetzt brauchen?« Achtsamkeit konzentriert sich auf die Erfahrung des Augenblicks, während sich Mitgefühl auf die leidende Person oder das »Selbst« fokussiert.

Achtsamkeitslehrer und -lehrerinnen mögen Fragen oder Bedenken hinsichtlich MSC haben, die die Unterschiede zwischen diesen beiden Ansätzen widerspiegeln. Einige dieser Fragen wollen wir im Folgenden aufgreifen und klären:

Ist es nicht eine subtile Art des Widerstands gegen die Erfahrung des Augenblicks, wenn man Gewahrsein mit liebevoller Güte und Mitgefühl »anwärmt«?

Das ist tatsächlich eine inhärente Gefahr in der Praxis des Selbstmitgefühls. Anfangs versuchen Schülerinnen und Schüler oft, Mitgefühl wie eine Decke über das Leiden zu breiten, um es zum Verschwinden zu bringen, wodurch ein subtiles Element des Strebens und des Widerstands in die Erfahrung des Augenblicks hineinkommt. Im Lauf der Zeit entdecken sie aber die eigentliche Bedeutung von Selbstmitgefühl, nämlich zuzulassen, dass das Herz in der Hitze des Leidens weich wird, indem man Streben und Widerstand aufgibt. Während man beim Selbstmitgefühl bewusst Herzenswärme in die Achtsamkeit hineinbringt, ist das nicht mit mehr Mühe oder Streben verbunden. Achtsamkeit und Selbstmitgefühl sind beides Qualitäten, die es den Praktizierenden ermöglichen, ihren instinktiven Widerstand gegen das Leiden loszulassen.

Wozu brauchen wir überhaupt Mitgefühlstraining? Sind Mitgefühl und Selbstmitgefühl nicht schon im Achtsamkeitstraining enthalten?

Wenn volle Achtsamkeit da ist, ist sie von Güte und Mitgefühl durchdrungen. Es ist jedoch sehr schwierig, vollkommen achtsam zu bleiben, wenn man mit intensiven und belastenden Gefühlen wie beispielsweise Scham konfrontiert ist. Wenn wir Scham empfinden, verengt sich unser Bewusstseinsfeld vor Angst, und unsere Aufmerksamkeit wendet sich ­angewidert ab. Scham bewirkt auch eine Abspaltung vom Körper und untergräbt das beobachtende Selbst. Dann müssen wir das beobachtende Selbst durch Mitgefühl explizit wiederaufbauen. Wenn wir uns in der Umarmung des Mitgefühls sicherer fühlen, können wir wieder achtsam sein.

Umgehen wir, indem wir uns trösten, wenn wir leiden, nicht wichtige Lebenslektionen wie Vergänglichkeit, Leiden und Selbstlosigkeit?

Es ist wahr, dass Selbstmitgefühl dazu benutzt werden kann, schwierige Erfahrungen mit Zuckerguss zu überziehen, was uns am Lernen hindern kann. Jede Praxis kann missbraucht werden. Deshalb müssen wir uns zuerst achtsam für das Leiden öffnen, bevor wir uns mitfühlend trösten. Mit wie viel Leiden wir uns konfrontieren, bevor wir Mitgefühl hineinbringen, hängt teilweise davon ab, was wir als Praktizierende suchen: Weisheit oder Mitgefühl? Praktizierende, die Weisheit suchen, werden sich vielleicht länger mit dem Leiden beschäftigen wollen, um Einsichten – beispielsweise in die Vergänglichkeit des Leidens - zu gewinnen, während jemand, der Mitgefühl praktiziert, es vielleicht vorzieht, Herzensqualitäten wie Freundlichkeit und Spontaneität zu entwickeln, um sich unmittelbar und spontan der Linderung des Leidens zu widmen.

Selbstmitgefühl aktiviert alte Verletzungen, die aus Beziehungen herrühren. Ist es nicht gefährlich, dies in einem Acht-Wochen-Programm zu tun?

Ein Gefühl der Sicherheit ist die Basis des Selbstmitgefühlstrainings (siehe Kapitel 8). MSC-Schüler und -Schülerinnen werden angehalten, auf ihre emotionale Sicherheit zu achten, und ihnen wird während des gesamten Programms gezeigt, wie sie das tun können. Das kann bedeuten, dass sie an einer Übung nicht teilnehmen, wenn sie sich zu verletzlich fühlen, oder einfach Selbstmitgefühl praktizieren, indem sie eine Tasse Tee trinken oder einen Spaziergang machen. Wir alle öffnen oder verschließen uns den ganzen Tag über für unsere Erfahrungen, und wenn Gruppenmitglieder das Gefühl haben, sich verschließen zu müssen, dann ermutigen wir sie dazu. Wenn wir uns zwingen, uns in ­Situationen zu öffnen, in denen es besser wäre, sich zu verschließen, kann uns das emotional schaden und ist sicher kein Ausdruck von Selbstmitgefühl. Zu lernen, über einen längeren Zeitraum formelle Meditation zu praktizieren (was manche Teilnehmende emotional überfordern kann), ist daher bei MSC weniger wichtig, als bewusst wahrzunehmen, wenn wir leiden (Achtsamkeit), und mit Freundlichkeit darauf zu antworten (Selbstmitgefühl).

Womit beginnen?

Viele fragen sich, ob sie zuerst Achtsamkeit lernen oder mit Selbstmitgefühlstraining beginnen sollten. Das ist eine wichtige empirische Frage, mit der wir uns in den kommenden Jahren beschäftigen werden. Bisher gibt es einige vorläufige Leitlinien:

Präzise Informationen: Potenzielle Teilnehmerinnen und Teilnehmer kennen ihre eigenen Bedürfnisse normalerweise sehr gut, und wenn sie präzise Informationen erhalten, können sie in der Regel selbst entscheiden, welches Training für sie am besten ist. Eine Orientierungssitzung kann diesen Prozess erleichtern.Selbstkritik: Achtsamkeitspraktizierende, die selbstkritisch sind, können es als schwierig empfinden, konsequent Achtsamkeit zu praktizieren, solange sie nicht ihren inneren Kritiker bemühen. Daher könnte es für selbstkritische Menschen von Vorteil sein, zunächst mit der Praxis des Selbstmitgefühls zu beginnen, bevor sie am Achtsamkeitstraining teilnehmen. Umgekehrt haben Menschen, die wenig Selbstkritik üben, vielleicht ein geringeres Bedürfnis nach Selbstmitgefühl und profitieren eher davon, sich eine solide Grundlage in Achtsamkeit zu schaffen, bevor sie Selbstmitgefühl einfließen lassen.Commitment: Zweifellos ist für jeden Menschen die beste Praxis diejenige, die ihm oder ihr am meisten am Herzen liegt. Nachdem die Schüler und Schülerinnen verschiedene Achtsamkeits- und Selbstmitgefühlsübungen ausprobiert haben, liegt es daher in ihrer Verantwortung, selbst ihr bester Lehrer, ihre beste Lehrerin zu werden. Das bedeutet zu wissen, welche Praktiken für sie am wohltuendsten, wichtigsten und effektivsten sind, und diese regelmäßig zu praktizieren.

Selbstmitgefühl und Mitgefühl für andere

Manch einem ist es unangenehm, dass der Schwerpunkt bei MSC auf Selbstmitgefühl und nicht auf dem Mitgefühl für andere liegt. Es folgen ein paar Fragen, die häufig zu diesem Thema gestellt werden, und unsere Antworten darauf:

Schafft die Fokussierung auf das »Selbst« beim Selbstmitgefühl nicht mehr Leiden, als sie lindert?

Wir stimmen völlig darin überein, dass ein rigides, getrenntes »Selbst« die Hauptquelle von unnötigem emotionalen Leiden in unserem Leben ist, insbesondere hinsichtlich unserer Bemühungen, unser Ego ständig vor realen oder eingebildeten Bedrohungen zu schützen. Wenden wir uns aber mitfühlend uns selbst zu, wenn wir leiden, beginnt sich unser Gefühl des Getrenntseins paradoxerweise aufzulösen. Was geschieht beispielsweise, wenn es uns schlecht geht und wir uns die Hände auf den Herzbereich legen, um uns selbst zu trösten und zu unterstützen? Dieser Akt der Freundlichkeit ermöglicht es uns normalerweise, uns vom egozentrierten, grüblerischen Denken zu lösen und die Welt mit neuen Augen zu sehen.

Gibt es kein besseres Wort als »Selbstmitgefühl«?

Unsere Sprache tendiert dazu, Vorstellungen zu verfestigen. Ein gleichwertiger Ausdruck für »Selbstmitgefühl« ist »inneres Mitgefühl«. Wir verwenden den Ausdruck »Selbstmitgefühl«, weil er Anfängern einleuchtet, die vielleicht Probleme mit sich selbst haben. Wenn Praktizierende durch meditatives inneres Forschen entdecken, dass es kein festes »Selbst« gibt, wird »inneres Mitgefühl« zu einem passenderen Ausdruck.

Kann ein Selbstmitgefühlstraining nicht zur Aktivierung von Emotionen beitragen?

Wir alle haben problematische Erinnerungen, die beim Selbstmitgefühlstraining wieder ins Bewusstsein treten können. MSC wurde ­entwickelt, um alten Verletzungen auf eine gesunde, neue Art und Weise begegnen zu können: mit Achtsamkeit und Mitgefühl. Emotionale Aktivierung ist ein wesentlicher und unvermeidbarer Teil des Transformationsprozesses. Die Stabilisierung des Gewahrseins inmitten heftiger Emotionen ist einer der Hauptgründe, weshalb neben dem Selbstmitgefühl gleichzeitig Achtsamkeit gelehrt wird. Die Unterstützung durch die Gruppe ist ein weiterer wichtiger Teil des Selbstmitgefühlstrainings: das Leiden in einem freundlichen Umfeld da sein lassen.

Sollte sich MSC nicht darauf konzentrieren, neben Selbstmitgefühl auch Mitgefühl für andere zu vermitteln?

MSC war nie als komplettes Mitgefühlstraining konzipiert. Wenn Mitgefühl umfassend und vollständig sein soll, sollte es nach unserem Verständnis sowohl nach innen als auch nach außen gerichtet sein. Leider kann man überall auf der Welt die Tendenz beobachten, Mitgefühl für andere über das Mitgefühl für sich selbst zu stellen. Deshalb soll unsere besondere Betonung des Selbstmitgefühls helfen, dieses Ungleichgewicht zu korrigieren. Unser Anspruch ist eigentlich sehr bescheiden: Wir wollen uns selbst in den Kreis derer aufnehmen, denen Mitgefühl entgegengebracht wird. MSC lehrt auch Mitgefühl für andere, verknüpft es aber mit Selbstmitgefühl, weil das unser Hauptfokus ist. Diverse Studien zeigen, dass MSC-Training hilft, Mitgefühl für andere zu entwickeln (Neff und Germer, 2013), dass aber auch die Zunahme des Mitgefühls für andere uns hilft, zunehmend Selbstmitgefühl zu entwickeln (Breines und Chen, 2013).

Können wir beginnen?

Sie werden nun durch das MSC-Programm geführt. Der weitere Text von Teil I widmet sich den theoretischen und wissenschaftlichen Grundlagen des Selbstmitgefühls und des Selbstmitgefühlstrainings (Kapitel 2 bis 4). Teil II beschreibt die Didaktik des Selbstmitgefühlstrainings. Kapitel 5 befasst sich mit der Struktur und dem Curriculum von MSC. Kapitel 6 fasst zusammen, wie didaktische Themen vermittelt und Meditationen und Gruppenübungen angeleitet werden. In Kapitel 7 geht es darum, Selbstmitgefühl zu verkörpern und mitfühlende Lehrende zu werden. Kapitel 8 bietet Einblicke in und Vorschläge für den Umgang mit Gruppenprozessen, und in Kapitel 9 wird der Weg des Lernens und Lehrens auf der Basis des Inquiry-Prozesses beschrieben.

Teil III bietet einen detaillierten Einblick in jede der acht Sitzungen des MSC-Programms (ein Kapitel pro Sitzung) sowie ein separates Kapitel über das halbtägige Retreat. Jedes Kapitel beginnt mit einem Überblick über die Sitzung (oder das Retreat), gefolgt von der Beschreibung eines didaktischen Themas, vollständigen Anleitungen für jede Meditation, informelle Übung und Gruppenübung sowie Beispielen des Inquiry-Prozesses, der im Anschluss an die bei den Übungen gemachten Erfahrungen stattfindet. (In den Anhängen des Buchs finden Sie zusätzliche Quellen und Ressourcen für Studium, Praxis und Lehre.)

Teil IV befasst sich speziell mit der Integration von Selbstmitgefühl in die Psychotherapie, zeigt Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen MSC und Therapie auf und beschäftigt sich ausführlicher mit besonderen Themen wie »Trauma« und »Scham«.

Wir nennen meist weibliche und männliche Form, wechseln manchmal aber zwischen beiden, wenn wir uns auf eine einzelne Person beziehen, oder nennen beide. Eine hundertprozentig genderneutrale respektive inkludierende Wortwahl ist aus Gründen der besseren Lesbarkeit in diesem Buch nicht realisiert. Obwohl wir die grammatisch maskuline und/oder feminine Form gewählt haben, sind jeweils beide und alle, die sich nicht in das gesellschaftlich hegemoniale Zweigeschlechtersystem einordnen lassen (möchten), selbstverständlich mitgemeint. Wir hoffen aufrichtig, dass sich so auch alle einbezogen fühlen.

Wir sind dankbar, dass Sie sich auf die innere Reise des Selbstmitgefühls begeben, und hoffen, dass Sie das in diesem Buch enthaltene ­Material in Ihren persönlichen und beruflichen Bemühungen unterstützen wird. Wenn Sie nach der Lektüre des Buches das achtwöchige MSC-Programm selbst unterrichten möchten, finden Sie weitere Informationen über das Lehrertraining auf www.arbor-seminare.de/msc-teacher-training.

Unabhängig von bisher erworbenen Qualifikationen oder Erfahrungen ist es notwendig, eine formelle MSC-Lehrerausbildung zu absolvieren, um ausreichend darauf vorbereitet zu sein, das Programm zu unterrichten. Da MSC Emotionen aktivieren kann, sind persönliches Training und Anleitung im Hinblick auf das Lehren des Programms unverzichtbar – insbesondere wenn Schwierigkeiten auftauchen –, um die Sicherheit der Teilnehmenden zu gewährleisten.

Wichtige Punkte, an die wir uns erinnern sollten

Wenn Achtsamkeit vollständig ist, ist sie von den Herzensqualitäten der liebevollen Güte und des Mitgefühls durchdrungen. Herzensqualitäten sind besonders inmitten schwieriger Emotionen wichtig für achtsames Gewahrsein, und sie können durch regelmäßige Praxis kultiviert werden.MSC ist Achtsamkeitsbasiertes Selbstmitgefühlstraining.MSC ist ein Programm zum Aufbau innerer Ressourcen, das für die breite Öffentlichkeit entwickelt wurde. Der Schwerpunkt des Programms liegt mehr auf der Entwicklung einer achtsamen und mitfühlenden Beziehung zu emotionalem Schmerz – und zu uns selbst – als auf der Heilung alter Verletzungen. Alte Verletzungen neigen jedoch dazu, im Laufe des Selbstmitgefühlstrainings an die Oberfläche zu kommen und sich zu transformieren.Das Curriculum enthält eine Vielzahl von formellen Meditationen sowie informellen Praktiken und Übungen und liefert Erläuterungen zu allen Praktiken. Mit diesen Skills und diesem Verständnis werden die Teilnehmenden ermutigt, ihre eigenen Lehrer und Lehrerinnen zu werden. MSC hat die achtwöchige Trainingsstruktur und den auf Inquiry basierenden Ansatz von MBSR entlehnt. Darüber hinaus wurden drei weitere Praktiken von MBSR übernommen: die Atemmeditation, der Bodyscan und die achtsame Bewegung.MSC ist das erste strukturierte Programm, das speziell entwickelt wurde, um Selbstmitgefühl zu kultivieren.Die formale MSC-Lehrerausbildung ist erforderlich, um das in diesem Buch beschriebene Programm sicher und effektiv unterrichten zu können.

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Was ist Selbstmitgefühl?

Wenn ich aber nun entdecken sollte, dass …ich selber des Almosens meiner Güte bedarf –dass ich mir selbst der zu liebende Feind bin, was dann?

C. G. Jung (1971)

Selbstmitgefühl unterscheidet sich nicht wirklich vom Mitgefühl für andere. Die Gefühle sind die gleichen, die Erfahrung ist die gleiche. Der Unterschied besteht darin, dass Menschen in der Regel sich selbst ausschließen aus dem Kreis derer, denen ihr Mitgefühl gilt – sie sind viel eher bereit, anderen Mitgefühl entgegenzubringen als sich selbst (Knox, Neff und Davidson, 2016). Aus diesem Grund kann es uns helfen, zunächst allgemeiner zu untersuchen, was Mitgefühl ist, um zu verstehen, was es bedeutet, Mitgefühl mit sich selbst zu haben.

Mitgefühl wird definiert als »mitfühlendes Wahrnehmen der Not anderer, gepaart mit dem Wunsch, sie zu lindern«. Goetz, Keltner und Simon-Thomas (2010) definieren Mitgefühl als »das Gefühl, das entsteht, wenn man das Leiden eines anderen miterlebt und dies daraufhin den Wunsch zu helfen auslöst«. Ein zentraler Aspekt der Definition von Mitgefühl ist auch ein Gefühl der Verbundenheit mit der leidenden Person (Cassell, 2002). Blum (1980) schreibt: »Mitgefühl impliziert ein Bewusstsein der gemeinsamen menschlichen Daseinserfahrung; das heißt, man betrachtet den anderen als Mit-Menschen.« Wenn wir Mitgefühl empfinden, sind wir also bereit, beim Leiden anderer präsent zu sein und eine menschliche Verbundenheit zu spüren. Ihr Leiden löst bei uns auch fürsorgliche Gefühle und den Wunsch zu helfen aus.

Nehmen wir beispielsweise an, Sie begegnen auf Ihrem Weg zur Arbeit einem Obdachlosen, der um Geld bettelt. Anstatt an ihm vorbeizueilen oder ihn als wertlosen Trunkenbold zu verurteilen, könnten Sie innehalten und überlegen, wie schwierig das Leben dieses Menschen wohl sein muss. Was ist seine Geschichte? Bekommt er die psychosoziale Versorgung und Unterstützung, die er braucht? In dem Moment, in dem Sie diesen Mann tatsächlich als leidendes menschliches Wesen sehen, wird sich Ihr Herz mit ihm verbinden. Anstatt ihn zu ignorieren, stellen Sie fest, dass Sie von seinem Schmerz berührt werden, und verspüren den Wunsch, auf irgendeine Weise zu helfen. Wichtig ist: Wenn Sie Mitgefühl empfinden, anstatt bloß Mitleid zu haben, sagen Sie sich: »Er ist genau wie ich ein Mensch. Wäre ich in andere Umstände hineingeboren worden oder hätte ich einfach nur Pech gehabt, müsste ich vielleicht auch so ums Überleben kämpfen. Wir sind alle verwundbar.«

Es könnte natürlich auch ein Moment sein, in dem Sie Ihr Herz völlig verschließen. Ihre Angst, vielleicht selbst einmal auf der Straße zu landen, kann dazu führen, dass Sie sich distanzieren und den Mann »entmenschlichen«. Doch diese Verhärtung des Herzens, die oft mit einem Überlegenheitsgefühl gegenüber dem Obdachlosen einhergeht, führt wahrscheinlich nur dazu, dass man sich isoliert und abgeschnitten fühlt. Nehmen wir aber einmal an, Sie empfinden wirklich Mitgefühl mit dem Mann. Wie fühlt es sich an? Eigentlich fühlt es sich ziemlich gut an. Es ist wunderbar, wenn sich das Herz öffnet – man fühlt sich sofort verbundener, lebendiger, gegenwärtiger.

Was wäre jedoch, wenn er nur um Geld bettelte, um sich etwas Alkoholisches zu kaufen? Sollten Sie ihm trotzdem Mitgefühl ­entgegenbringen? Ja. Sie müssen ihm sicherlich kein Geld geben, wenn Sie das für unverantwortlich halten, aber er hat dennoch Mitgefühl verdient – wie wir alle. Mitgefühl ist nicht nur für diejenigen, die schuldlose Opfer sind, sondern auch für die, deren Leiden auf persönliches Versagen, Schwächen oder schlechte Entscheidungen zurückzuführen ist – solche, die wir alle jeden Tag fällen. Allein die Tatsache, dass wir bewusste, menschliche Wesen sind, die das Leben auf diesem Planeten erfahren, bedeutet, dass wir grundsätzlich wertvoll sind und Fürsorge verdienen. Dem Dalai Lama (1984/2012a) zufolge »wollen die Menschen von Natur aus glücklich sein und nicht leiden. Mit diesem Grundgefühl versucht jeder Mensch, Glück zu erreichen und das Leiden hinter sich zu lassen, und alle haben das Recht, danach zu streben … grundsätzlich sind wir, wenn wir den wahren Wert des Menschen betrachten, alle gleich.«

Ein Recht auf Mitgefühl müssen wir uns nicht verdienen; es ist unser Geburtsrecht. Wir sind Menschen, und unsere Fähigkeit, zu denken und zu fühlen – gepaart mit unserem Wunsch, glücklich zu sein und nicht zu leiden –, rechtfertigt Mitgefühl um seiner selbst willen.

Die Elemente des Selbstmitgefühls

Selbstmitgefühl hat die gleiche Qualität wie Mitgefühl für andere – mit dem einzigen Unterschied, dass es nach innen gerichtet ist. Es geht um das klare Erkennen unseres eigenen Leidens, um eine fürsorgliche Antwort auf unser Leiden, die den Wunsch zu helfen sowie die Erkenntnis einschließt, dass Leiden Teil der gemeinsamen Erfahrung des Menschseins ist (Neff, 2003b). Die Elemente des Selbstmitgefühls unterscheiden sich, je nachdem, wie Individuen emotional auf Leiden antworten (mit Freundlichkeit anstatt mit Urteilen), wie sie ihr Leiden kognitiv einordnen (als Teil des menschlichen Daseins oder als isolierend) und Schmerz wahrnehmen (auf achtsame Weise anstatt übermäßig identifiziert; Neff, 2016b). Beachten Sie, dass wir den Begriff »Leiden« umfassend verwenden, um jeden Moment des Schmerzes oder Unbehagens, sei er groß oder geringfügig, zu bezeichnen. Selbstmitgefühl ist sowohl im Hinblick auf persönliche Unzulänglichkeiten, Fehler und Misserfolge relevant als auch in der Konfrontation mit schmerzlichen Lebenssituationen, die unserer Kontrolle entzogen sind (Germer, 2009).

Freundlichkeit gegenüber sich selbst versus Selbstverurteilung

Die meisten von uns versuchen, freundlich und rücksichtsvoll gegenüber Freunden und Angehörigen zu sein, wenn diese einen Fehler machen, sich unzulänglich fühlen oder ein Unglück erleben. Wir bieten vielleicht Unterstützung an und äußern Verständnis, um sie wissen zu lassen, dass wir Anteil nehmen – auch eine körperliche Geste der Zuneigung wie eine Umarmung kommt in Betracht. Wir fragen sie vielleicht: »Was brauchst du jetzt, in diesem Moment?« Und wir überlegen, was wir tun können, um zu helfen.

Seltsamerweise behandeln wir uns selbst oft ganz anders. Wir sagen uns harte und grausame Dinge, die wir niemals zu einer Freundin sagen würden. Tatsächlich sind wir oft härter gegen uns selbst als gegenüber Menschen, die wir nicht einmal besonders mögen. Die Freundlichkeit, die mit Selbstmitgefühl verbunden ist, beendet jedoch die ständige Selbstverurteilung und abwertenden inneren Kommentare, die die meisten von uns als normal ansehen. Unsere inneren Dialoge werden wohlwollend und ermutigend anstatt strafend oder herabwürdigend, was eine freundlichere und eher unterstützende Haltung uns selbst gegenüber widerspiegelt.

Wir beginnen unsere Schwächen und unser Versagen zu verstehen, statt sie zu verurteilen. Wir erkennen unsere Unzulänglichkeiten an, während wir uns bedingungslos als fehlerhafte und unvollkommene Menschen akzeptieren. Und vor allem erkennen wir, in welchem Maße wir uns durch unerbittliche Selbstkritik schaden, und wählen einen anderen Weg.

Zur Freundlichkeit gegenüber uns selbst gehört jedoch mehr, als die Selbstkritik zu beenden. Es geht darum, bewusst unser Herz für uns selbst zu öffnen und auf unser Leiden zu antworten, wie wir es bei einem lieben Freund in Not tun würden. Wir können uns urteilslos akzeptieren und darüber hinaus inmitten emotionaler Turbulenzen auch trösten und gut für uns sorgen. Wir wollen versuchen, uns selbst zu helfen, wollen unseren Schmerz lindern, wenn wir können. Normalerweise konzentrieren wir uns sogar bei unvermeidbaren Problemen wie einem unvorhergesehenen Unfall mehr darauf, das Problem zu lösen, als auf den fürsorglichen Umgang mit uns selbst. Wir behandeln uns mit kaltem Stoizismus anstatt mit liebevoller Fürsorge und wechseln direkt in den Problemlösungsmodus. Aber wenn wir freundlich mit uns umgehen, lernen wir, uns in schwierigen Lebensphasen zu nähren, und können uns unterstützen und ermutigen. Wir lassen uns von unserem eigenen Schmerz berühren. Wir halten inne und sagen uns: »Das ist jetzt wirklich schwierig. Wie kann ich in diesem Moment für mich selbst sorgen?« Wenn wir in irgendeiner Weise bedroht sind, versuchen wir, uns aktiv zu schützen.

Wir können nicht perfekt sein, und es wird immer Konflikte und Probleme in unserem Leben geben. Wenn wir unsere Unzulänglichkeiten leugnen oder ablehnen, vergrößern wir unser Leiden durch Stress, Frustration und Selbstkritik. Bringen wir uns aber Güte und Wohlwollen entgegen, rufen wir positive Gefühle der Liebe und Fürsorge wach, die uns helfen, mit den Schwierigkeiten umzugehen.

Erfahrung gemeinsamen Menschseins versus Isolation