Weissbuch Heilung - Kurt Langbein - E-Book

Weissbuch Heilung E-Book

Kurt Langbein

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Beschreibung

Wie ist es möglich, dass unheilbar kranke Menschen wieder gesund werden? Wenn Patienten ohne therapeutische Behandlung vollkommen genesen, stehen Ärzte vor einem Rätsel: Der Körper selbst lässt eine Erkrankung verschwinden. Die moderne Medizin leistet dazu keinen erkennbaren Beitrag. Solche Spontanheilungen gibt es immer wieder, verfügt doch unser Körper über eigene Organismen, um Krankheit und Verletzung zu überstehen. Alternative Heilmethoden können diese Selbstheilungskräfte unterstützen. Kurt Langbein, einer der renommiertesten Medizinjournalisten und selbst ehemaliger Krebspatient, stellt sich die Frage: Wie funktioniert Heilung – und was trägt unsere Psyche dazu bei? Einfühlsam und offen für die Wunder des Lebens, aber wissenschaftlich fundiert sucht er Antworten auf die Fragen, wie man seinen Körper dazu bringen kann, sich selbst zu heilen und welche Rolle Schulmediziner und Heiler dabei einnehmen.

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Seitenzahl: 297

Veröffentlichungsjahr: 2014

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WEISSBUCHHEILUNG

 

WENN DIE MODERNE MEDIZIN NICHTS MEHR TUN KANN

 

© 2014 Ecowin, Salzburg

 

bei Benevento Publishing

Eine Marke der Red Bull Media House GmbH

 

Lektorat: Joe Rabl

Layout und Satz: Conny Laue für www.peterfeierabend.de

Covergestaltung: s-stern.com

Fotos: © Langbein & Partner Media

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN: 978-3-7110-5096-0

 

www.ecowin.at

 

Printed in Europe

KURT LANGBEIN

WEISSBUCHHEILUNG

 

WENN DIE MODERNE MEDIZIN NICHTS MEHR TUN KANN

 

 

 

„Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.“

 Walter Gallmeier, Mediziner

Inhalt

Weissbuch Heilung

Eine persönliche Entdeckungsreise

Das Leben wird länger

Wunderwerk Mensch

Da war ich wieder gesund

Heilung ist natürlich

Der besondere Blick

Das Gehirn: Dirigent und Apotheker

Erwartung heilt oder kränkt

Gesunder Stress, vernünftige Angst

Medizin, die Angst macht

Dauerstress und Lähmung

Heilsames aus der Klinik

Dem Hirn heilen helfen

Beziehung als Lebenselixier

Beziehung als Risiko

Beziehung als Heilmittel

Unser Vor-Leben

Kränkungen am Arbeitsplatz

„Immunologisches Burn-out“

Empathie hilft heilen

Die Rebellion der Abwehr

Körperliche Belastungen

Hände, die behandeln

Spukhafte Fernwirkung

Lebens-Rhythmen

Widerstandskraft und Resilienz

Heilsames in anderen Kulturen

Die Rückkehr der Heilkunde

Was Wissen schafft

Eine persönliche Entdeckungsreise

 

 

Wien-Döbling, eigentlich ein nobler Bezirk, aber an dieser Ecke sieht es eher traditionell-proletarisch aus. Eines jener Häuser, welche die sozialdemokratische Gemeinde in den legendären 1920er Jahren errichtet hat, irgendwie kleinteilig trotz der Größe, irgendwie heimelig trotz der vielen Stockwerke, damals hat Architektur noch Gefühl für menschliche Dimensionen gehabt. Barbara Gabler öffnet die Tür und begrüßt mich mit Zurückhaltung, aber spürbarem Interesse. Sie lässt mich zunächst auf einem Sessel vis-à-vis von ihrem Stuhl Platz nehmen. Eine winzige, aber klug angelegte Wohnung, sparsam eingerichtet, ein wenig der studentische Ikea-Look der 1980er Jahre.

Ich beantworte die Fragen danach, was mich hierher gebracht hat. Zuerst ein früh erkannter Darmkrebs, dann ein Melanom und schließlich die Diagnose Prostatakrebs mit nicht sehr günstiger Prognose. Strahlentherapie, Brachytherapie, alles ganz gut überstanden. Jetzt der Wille und die Sehnsucht, das Leben anders anzugehen, weil ich seine Begrenztheit erfahren habe und jeden Tag, jede Stunde, jede Minute spüre – freudig, aber auch ungeduldig, wenn sich wichtige Dinge mühsam entwickeln, statt zügig voranzugehen. Und der Wunsch, mehr innere Balance zu gewinnen und damit die Kraft, die nötig ist, um jenen Teil von mir, der sich immer wieder als wuchernde Zellhaufen gegen mich gerichtet hat, wieder zu besänftigen. Und um den anderen Teil in mir wieder in die Lage zu versetzen, mit Krebszellen fertigzuwerden, wenn sie wieder im Übermaß auftreten.

Barbara Gabler macht sich Notizen. Dann hält sie kurz inne, als würde sie konzentriert nachdenken, sich an etwas erinnern. Was war 1953 im Früherbst, fragt sie, sie sehe da dunkle Seiten an mir. Da war ich noch im Bauch meiner Mutter, sage ich, und ein eigenartiger Schwindel packt mich.

 

Psychoanalytikerin Bettina Reiter bei Heilerin Barbara Gabler: „Sie hat eine Gabe, meinen Körper von innen zu lesen.“

 

Frau Gabler meint, meine Meridiane laufen verkehrt, und will mir erklären, was sie meint. Sie lässt mich den Arm ausstrecken, sagt, ich solle ihn mit Kraft waagrecht halten, und drückt auf den Unterarm. Ich leiste kraftvoll Widerstand. Dann lässt sie mich im Raum einen kleinen Kreis gehen und wiederholt den Vorgang. Nun kann sie meinen Arm ohne Mühe nach unten drücken, ich bin erstaunt über die Schwäche meiner Muskeln. Jetzt soll ich einen kleinen Kreis rückwärts gehen, sagt sie, und sie wiederholt danach das Prozedere erneut. Mein Arm ist wieder kräftig.

Mit Klopfen auf diverse Akupunkturpunkte bei den Schlüsselbeinen, den untersten Rippen, dem Brustbein, sagt sie nun, während sie gleichzeitig die Klopftechnik vormacht, kann ich selbst die Energieflüsse der Meridiane beeinflussen. Ich mache das nach und wundere mich nur noch ein wenig, als danach die Armmuskeln stark bleiben, auch nachdem ich einen Kreis vorwärts gegangen bin.

Dann lässt sie mich auf der Liege Platz nehmen. Ihre Hände gleiten in zirka zehn Zentimeter Abstand über meinen Körper. Ich spüre trotz dieser physischen Distanz deutlich die Wärme der Hände – oder ist es eine andere Wärme? – und bin beeindruckt. Alles in mir scheint sich zu entspannen und als die Frau mich nach den Farben fragt, die ich bei geschlossenen Augen sehe, merke ich die Unterschiede: um den Brustkorb herum Gelb, weiter unten Rot, weiter außen Grün.

Barbara Gabler erzählt mir ein wenig von der Bedeutung der Farben – etwas von Kraft, Erdverbundenheit, genau nehme ich das gar nicht wahr. Sie spricht ruhig weiter und fordert mich auf, jetzt meine Organe zu spüren, zuerst die Nieren, dann die Leber, dann die Bauchspeicheldrüse, während ihre Hände langsam wieder über meinen Körper gleiten – und schließlich auch die Prostata, die das Zerstörungswerk der radioaktiven Strahlen ganz passabel überstanden hat. Ich habe tatsächlich plastische Empfindungen von den Organen.

Was macht diese Frau mit mir? Macht sie überhaupt etwas? Oder bringt sie mich „nur“ in Bewegung, meine Selbstwahrnehmung, meine verborgenen Gefühle? Kann es sie geben, diese geheimnisvolle Energie, die hier fließen soll? Worin besteht die?

Eines ist sicher: Mir tut es gut, die Wärme zu empfinden, und mich beeindruckt, wie plastisch ich nun meine Organe spüre.

Barbara Gabler gehört zu den schätzungsweise 50.000 Menschen im deutschen Sprachraum, die behaupten, dass sie mit der Kraft ihrer Hände oder Gedanken andere Menschen in ihrer Gesundheit beeinflussen können. Früher hätte man die Heilerin wohl als Hexe bezeichnet, noch früher wäre sie wegen ihrer Eigenart auf dem Scheiterhaufen gelandet.

Sie habe schon als Kind bestimmte Menschen als transparent wahrgenommen, kranke Organe dunkel umrandet gesehen, erzählt die Tochter eines Chirurgen. Der Vater habe dann die Anatomie-Atlanten versteckt, weil er vermutete, die kleine Barbara habe ihr Wissen aus diesen bunten Büchern entnommen. Doch sie habe die Bücher nie angesehen.

Sie widerstand dem Wunsch des Vaters, Medizin zu studieren, und inskribierte in Anthropologie.

Barbara Gabler hat dann als Lehrerin gearbeitet, aber ihre Wahrnehmungen hätten ihr schließlich den Weg gewiesen: „Ich kann sehen, was den Menschen fehlt.“ Sie heiratete einen Künstler und pendelt seit Jahren zwischen dem Hauptwohnsitz in Neuseeland, Deutschland und Österreich. Überall warten Patienten auf ihre Beratung, zwischendurch hält sie via Skype Kontakt zu ihren Klienten. Von den vier Dutzend Krebspatienten, die sie betreut, sei bisher noch keiner gestorben, erzählt sie.

Ich bin immer noch etwas in mich versunken, als ich nach den ersten eineinhalb Stunden bei einer „Heilerin“ wieder zu meinem Motorroller gehe und nach Hause fahre. Während der Fahrt rattern die Gedanken. Bettina Reiter, Ärztin und Psychoanalytikerin, hatte mir von Barbara Gabler erzählt. „Sie hat mir ein unglaubliches Vertrauen eingeflößt“, erzählte Bettina, die selbst schwer an Krebs erkrankt war, „weil sie mir – ohne dass es wie vom hohen Ross oder überheblich oder auch verblendet rübergekommen ist –, gesagt hat: Ich kann schauen, wie es dir geht. Sie hat eine Gabe, eine Fähigkeit, meinen Körper sozusagen von innen zu lesen.“ Bettina, deren Bauchhöhle von Metastasen übersät gewesen ist, wurde wieder ganz gesund.

 

Befundbesprechung bei Prof. Ferdinand Frauscher: Der Krebs ist weg, jetzt beginnt die Arbeit daran, dass er nicht mehr wiederkommt.

 

Aber Bettina hat auch Operation und Chemotherapie hinter sich – freilich war danach die Prognose sehr schlecht. Dann hat sich die Patienten, die als Ärztin selbst zur Expertin in „CAM“ – Complementary and Alternative Medicine – wurde, noch mit Fiebertherapie und dendritischer Zelltherapie behandeln lassen.

Was hat sie, der die konventionelle Medizin nur noch wenig Lebenschancen gegeben hat, wieder gesund gemacht? War es die Fiebertherapie? Die Immuntherapie? Die Heilerin? Sie selbst?

Und was bedeutet das für mich? Ich möchte nicht nur weiterleben, ich will gesund bleiben, hoffe darauf, dass der Krebs nicht wiederkommt, zumindest eine Zeit lang.

Ich habe mich über Jahrzehnte überwiegend mit dem Teil der Medizin beschäftigt, der sich als Teil der Naturwissenschaften betrachtet. Ich habe über Geschäfte berichtet, die den Zweck der Medizin, dem Patienten Heilung zu bringen, in Frage stellen oder sogar ins Gegenteil verkehren. Ich habe über grässliche Qualitätsmängel geschrieben und in Filmen von den Betroffenen dieser Missstände erzählt, aber auch über Therapieerfolge und Zukunftsvisionen. Die Methodik der „Evidence-Based Medicine“, die mit den mir noch vom Soziologiestudium vertrauten Methoden der statistischen Evidenz Therapiemethoden überprüft, wurde über viele Jahre zum Raster, mit dem ich die Flut der Publikationen im Medizinbetrieb durchsiebte.

Soll ich mich nun auf eine Entdeckungsreise in Sphären machen, die mir stets fremd waren, die von jenem merkwürdigen, aus fernöstlichen Heilmethoden und alter Naturkunde geprägten Sammelsurium moderner Esoterik-Strömungen dominiert sind?

Aber ich weiß auch: Es gibt inzwischen viele, auch wissenschaftlich abgesicherte, Erkenntnisse darüber, dass das, was die konventionelle Medizin als Wissen bezeichnet, nur ein Bruchteil dessen ist, was Gesundheit und Krankheit ausmacht.

Also wird die Entdeckungsreise zur Notwendigkeit – für meine weitere Arbeit als Wissenschaftsjournalist und für mich selbst. Was hält uns länger gesund, was macht uns krank? Und wie können wir vermeiden, krank zu bleiben oder an einer Krankheit zu sterben? Wie kommt Heilung zustande? Welche Rolle spielen dabei die Mediziner, welche andere Heiler? Wie heilen Heiler überhaupt? Gibt es Erklärungen für Heilungen, welche die Medizin unerklärlich findet? Welche Rolle spielen traditionelle, von der Schulmedizin abgelehnte Therapieformen tatsächlich?

Ich werde versuchen, Antworten auf diese Fragen zu finden.

Das Leben wird länger

 

 

Wer sich mit den Möglichkeiten beschäftigt, wie Krankheiten geheilt werden können, sollte sich zunächst einmal ansehen, wie es um die andere Seite der Medaille bestellt ist: die Gesundheit. Wer regelmäßig seriösere Medien konsumiert, wird wohl den Eindruck haben, recht gut darüber Bescheid zu wissen, was gesund erhält und welche Risikofaktoren es wahrscheinlicher machen, krank zu werden. Aber dieses Wissen muss relativiert werden. Denn das Konzept der Risikofaktoren ist gedanklich sehr eng gefasst und vor allem vom Interesse geprägt, möglichst viele Pillen zur Beeinflussung des Risikos zu verkaufen. Und getrieben vom Bestreben, noch mehr Pharmaka unter die Leute zu bringen, prägt es das Bild von immer mehr Überschreitung relativ willkürlich gezogener Grenzwerte und Belastungen. Seriöse, unabhängig finanzierte und auf die gesamte Bevölkerung einer Region bezogene Daten zeigen ein anderes Bild. Denn wir werden nicht immer kränker, sondern immer gesünder, wenngleich das für verschiedene Menschengruppen sehr unterschiedlich gilt.

Der Mensch ist ein Erfolgsmodell. Er hat sich Lebensumfelder geschaffen, die ihn in die Lage versetzen, weit älter zu werden, als es in der Natur sonst üblich ist. Die heute jüngeren Erwachsenen können damit rechnen, so an die 90 Jahre alt zu werden, wenn nichts Ungewöhnliches dazwischenkommt, heute werden die Europäer bereits über 80 Jahre alt. Dass drei bis vier Generationen eines Lebewesens gleichzeitig am Leben sind, ist sehr selten. Wir Menschen haben das geschafft.

Im Naturkundeunterricht haben wir gelernt, dass die Weitergabe der eigenen Gene der Grundtrieb aller Lebewesen sei, und in vielen der inhaltlich flachen Naturdokumentationen, die fast täglich im TV zu sehen sind, wird dieser Vulgärdarwinismus nachgebetet. Und auch, dass die Tiere, wenn sie ihre evolutionäre Aufgabe, Nachkommen in die Welt zu setzen und damit die eigenen Erbanlagen zu hinterlassen, erledigt haben, keine Funktion mehr haben und bald sterben.

Wie ist es dann möglich, dass Menschen heute nicht selten in vier Generationen an einem Tisch sitzen? Warum leben Frauen häufig noch 40 Jahre, nachdem sie in der Menopause ihre Fortpflanzungsfähigkeit verloren haben?

Als ich mich auf einen TV-Film vorbereitete, der sich mit der Frage beschäftigte, ob Altruismus oder Gier die zentrale Eigenschaft des Menschen ist, habe ich Joachim Bauer kennengelernt. Der Neurobiologe, Mediziner und Psychiater publiziert seit einem Jahrzehnt bedeutsame Bücher zu den Grundfragen der Menschheit. In seine Analysen fließen seine eigenen Erkenntnisse als Hirnforscher ebenso ein wie die seiner Kollegen und die relevanten Erkenntnisse der Anthropologie, Medizin und Geisteswissenschaften. Sein Blick überwindet die Gräben zwischen den einzelnen Wissenschaftssparten. Er hat die seltene Fähigkeit, Fragen mit einem Überblick über das ganze Spektrum der Denkansätze anzugehen.

Das Erfolgsprinzip des Menschen ist Kooperation, Zusammenhalt und Intelligenz, erzählte mir Bauer, und er kann das gut begründen.[1] Mit dem längeren Überleben kann auch der komplizierte Vorgang der Weitergabe von Erfahrung und damit Kultur wesentlich besser gelingen. Die helfenden Großeltern verbessern die Voraussetzungen, zu lernen und Erfahrung zu gewinnen. So konnten die Menschen eine immer komplexer organisierte Gesellschaft bilden, die Arbeit aufteilen und immer diffizilere Techniken entwickeln. Es gelang schließlich in einem mühevollen und widerspruchsreichen Prozess, in den vergangenen 1000 Jahren auch die Lebensbedingungen vieler Menschen auf engem Raum so zu verbessern, dass nicht wie bis dahin die Mehrheit schon als Kinder oder junge Erwachsene krank wurden und starben. Ein hohes Alter zu erreichen, ist nun nicht mehr das Privileg einiger weniger.

Das Credo Joachim Bauers, mit dem ich inzwischen befreundet bin, deckt sich mit meiner Überzeugung: Das Grundprinzip der Evolution ist eben nicht Egoismus, das Grundprinzip der Evolution höherer Lebewesen ist Kooperation. Bauer sagt: „Das evolutionäre Erfolgsticket des Menschen war nicht ,catch as catch can‘, nicht ,Kampf jeder gegen jeden‘, sondern das evolutionäre Erfolgsticket des Menschen war Kooperation, Zusammenhalt und Intelligenz.“

Dementsprechend ist das menschliche Gehirn auf Zusammenarbeit und Fairness ausgerichtet. Das hat auch die relativ neue Sparte der „Experimentellen Wirtschaftsforschung“ rund um den aus Österreich stammenden Züricher Wirtschaftsprofessor Ernst Fehr in vielen Versuchsreihen beweisen können. Die zentrale Maxime der Ideologen des Finanzkapitalismus, Gier und das Streben nach Erfolg des Einzelnen seien die zentrale Triebfeder menschlichen Handelns, hat sich als unhaltbar erwiesen. Wir teilen gerne und ohne Zwang, und wir reagieren verletzt, wenn andere als Trittbrettfahrer die Regeln verletzen. Und wirkliche Schmerzen bereitet es unserem Hirn, wenn wir ausgegrenzt, entwürdigt, gedemütigt werden. Dann reagiert es mit Aggression und – wo diese nicht ausgelebt werden kann – mit Dauerstress. Dieser negative Stress wiederum macht krank.

Eine Beobachtung illustriert die Auswirkungen des Zustandes einer Gesellschaft auf die Gesundheit ihrer Mitglieder deutlich: Die Zahl der Jahre, die wir gesund verbringen dürfen, steigt sogar noch schneller an als jene der Lebensjahre. Zurzeit verbringt in Europa der Durchschnitts-Mensch 63 Jahre seines Lebens bei voller Gesundheit.

Auffallend dabei sind die enormen regionalen Unterschiede: Die Bürger in den skandinavischen Staaten können mit 66 bis 67 gesunden Lebensjahren ohne Beeinträchtigung durch Krankheit rechnen, im deutschen Sprachraum darf sich der Durchschnitts-Mensch dagegen nur auf 59 gesunde Jahre freuen.[2] Anders gesagt: Bei uns müssen Menschen damit rechnen, an die 20 Jahre ihres Lebens durch Krankheiten eingeschränkt zu verbringen, in Skandinavien sind die Menschen dagegen ihr Leben lang durchschnittlich nur ein Dutzend Jahre krank.

Gesundheit und Krankheit sind sehr individuelle Angelegenheiten. Selten sind es defekte Gene, sehr oft persönliche Lebensumstände und der Lebensstil, manchmal Schicksal, die darüber entscheiden, auf welcher Seite der Statistik der Einzelne landet. Aber es gibt auch allgemeine Faktoren, die wesentlich dazu beitragen.

Wer oder was verursacht also die großen Unterschiede zwischen Skandinavien und dem deutschen Sprachraum? Die Versorgung durch Ärzte wohl nicht. In Österreich gibt es mit 4,6 und in Deutschland mit 3,7 Ärzten je 1000 Einwohner deutlich mehr Mediziner als im Europa-Schnitt, wo 3,4 Mediziner für 1000 Bürger zur Verfügung stehen.[3] In Skandinavien sind es etwas weniger als der Durchschnitt. Wenn Ärzte tatsächlich mehr Gesundheit produzieren, müsste es in Österreich und Deutschland mehr von diesem wertvollen Gut und damit mehr Lebensjahre ohne Krankheit geben als in Skandinavien.

 

Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut Joachim Bauer: Dauerstress belastet die Gesundheit.

 

Aber es ist umgekehrt.

Es könnte am Lebensstil liegen. Rauchen, Bewegungsmangel und Übergewicht gelten wohl zu Recht als bedeutsame Faktoren für das Risiko, an einem der großen chronischen Gesundheitsprobleme zu erkranken, gegen welche die Medizin immer noch so wenig ausrichten kann. Aber Österreich, Schweden und Dänemark haben mit jeweils 13 Prozent an stark übergewichtigen Menschen ein ganz ähnliches Risiko auf diesem Gebiet, Deutschland mit 15 und Norwegen mit zehn Prozent pendeln ein wenig in entgegengesetzte Richtung, aber die fast zehn Jahre längere Gesundheit im Leben der Skandinavier wird durch diese Zahlen nicht erklärbar.[4]

Auch bei der Anzahl der Raucher und dem Alkoholgenuss, weiteren gut untersuchten Risikofaktoren, sind die Unterschiede zwischen Skandinavien und dem deutschen Sprachraum nicht groß.

 

Epidemiologe Michael Marmot: „Effort-Reward Balance“ als zentraler Schlüssel zur Gesundheit

 

Aber es gibt einen Unterschied: Die Ungleichheit von Einkommen und Besitz ist in den skandinavischen Ländern vergleichsweise gering, in Deutschland und Österreich dagegen relativ hoch. Und die Kluft zwischen Arm und Reich ist gerade bei uns in den vergangenen zwei Jahrzehnten besonders rasant gewachsen.[5]

Und seit den großen britischen „Whitehall“-Studien wissen wir, welche Faktoren Krankheitsrisiko und Lebenserwartung noch viel stärker bestimmen als Körpergewicht und ungesunder Lebensstil: der Einfluss, den wir auf die Umstände unseres Lebens haben – und die Chancen, uns als vollwertige, anerkannte Mitglieder unserer Gesellschaft zu fühlen. Michael Marmot, der große britische Epidemiologe und Sozialmediziner, hat diese Umstände genau herausgerechnet und nennt sie „Effort-Reward Balance“, also die Balance zwischen den Bemühungen des Menschen und der dafür erhaltenen Anerkennung als dem entscheidenden Faktor fürs Gesundbleiben, bedeutsamer als alle klassischen Risikofaktoren.[6]

Was nun belastet und krank macht – und was eher nicht –, wurde schon vor vielen Jahren im Londoner Regierungsviertel Whitehall auch empirisch penibel ermittelt. Dort hatten Marmot und sein Team 1968 begonnen, fast 20.000 Beamte einem permanenten Gesundheitsmonitoring zu unterziehen.[7] Viele Untersuchungen liefen über Jahrzehnte, andere kamen mit dem Start der Whitehall-II-Studie dazu, die immer noch läuft.[8]

Schon im ersten Teil hatten die Studien-Teile, die sich mit Stress und seinen Auswirkungen befassten, einige der damals noch weitverbreiteten Mythen entkräftet. Es stellte sich heraus, dass mangelnde Befriedigung bei der Arbeit für die Gesundheit viel riskanter ist als eine auf den ersten Blick stressigere, aber dafür eher sinnstiftende Tätigkeit. Der Leiter der Studie, Sir Michael Marmot, bringt auf den Punkt, was im Licht der Studienergebnisse das Leben länger macht: „Die gesellschaftliche Position eines Menschen entscheidet nicht nur über Einkommen und Ansehen, sondern auch über Leben und Tod. Denn der entscheidende Faktor heißt soziale Lage und vor allem Anerkennung für das, was man tut.“ Dieses Status-Syndrom, wie Marmot es nennt, betrifft uns alle: Wo immer wir uns auch in einer sozialen Hierarchie befinden, ist unsere Gesundheit im Schnitt besser als jene der Menschen, die in der sozialen Hierarchie unter uns sind – und schlechter als die derjenigen über uns. Es zeigt sich hier, wie ungerecht, ja unmenschlich die Verteilung von Anerkennung, Bestätigung und Zuwendung in der Arbeitswelt immer noch ist. „Je weiter unten Sie stehen, umso eher werden Sie krank – und umso eher sterben Sie“, sagt der Forscher. „Wenn wir beide jetzt durch London oder auch durch Wien fahren, würden wir im Radius von 20 Fahrradminuten Menschen treffen, deren durchschnittliche Lebenserwartung zehn Jahre auseinander liegt.“[9]

Es ist also auch die Hierarchie, die der Gesundheit abträglich ist, weil sie menschliche Rückkoppelungen nur eingeschränkt zulässt.

„Mit den klassischen Risikofaktoren wie Lebensstil, Rauchen, Übergewicht konnten wir nur ein Drittel der Unterschiede an Lebenserwartung und gesunden Lebensjahren erklären“, erläutert Marmot, warum das Forscherteam in der zweiten großen Whitehall-Studie rund 8.300 Teilnehmer inzwischen auch schon ein Dutzend Jahre begleitet. Unter den seit 2007 veröffentlichten Zwischenergebnissen finden sich deutliche Zahlen zu den Auswirkungen mangelnder positiver Rückkoppelungen durch Kollegen oder Vorgesetzte. Denn nun wurde genau erhoben, wie oft sich die Menschen am Arbeitsplatz und im Leben allgemein ungerecht behandelt fühlten. Der vom deutschen Kollegen Marmots Johannes Siegrist entwickelte Fragebogen ergab bei den Menschen mit einer „Effort-Reward Imbalance“ bei den efforts, den Bemühungen, häufig Antworten wie: „Ich habe permanenten Zeitdruck; Ich trage viel Verantwortung; Ich werde bei der Arbeit häufig gestört; In den letzten Jahren wurde meine Aufgabe immer anspruchsvoller.“ In der Kategorie rewards, den Belohnungen, fanden sich markant häufig Antworten wie: „Ich werde von meinen Vorgesetzten nicht mit dem nötigen Respekt behandelt; Bei Schwierigkeiten bekomme ich keine adäquate Unterstützung; Ich werde oft unfair behandelt; Meine berufliche Zukunft ist unsicher.“[10]

Die parallel erhobenen Gesundheitsdaten lassen keinen Zweifel über die Auswirkungen von mangelnder Gerechtigkeit und Wertschätzung aufkommen: In den elf Jahren der Beobachtung traten etwa insgesamt 528 neue Fälle von Herzinfarkt und koronarer Herzerkrankung bei Teilnehmern auf, die vor Beginn der Untersuchungen noch keine Zeichen einer Herzerkrankung aufgewiesen hatten. Im Vergleich zu denen, die sich gerecht behandelt fühlten, waren jene, die sich besonders oft oder stark unfair behandelt fühlten, um 55 Prozent häufiger von Herzkrankheiten betroffen.

Manchmal ist es besser, den ursprünglichen Begriff unübersetzt zu lassen: „Effort-Reward Balance“, erzählt Marmot immer noch enthusiastisch und mit der tiefen Überzeugung eines Menschen, der weiß, Wichtiges herausgefunden zu haben, „ist ein zentraler Schlüssel zur Gesundheit. Oder umgekehrt ausgedrückt: Wer häufig erleben muss, dass seine Initiativen und Aktivitäten missachtet, gering geschätzt oder ignoriert werden, wird deutlich früher krank und lebt kürzer.“ Das haben Sir Marmot und sein Team nun in 35 Jahren Arbeit mit 20.000 Menschen zweifelsfrei bewiesen. Wir können alle zu „Heilern“ werden, wenn wir diese Umstände im Umgang mit Kollegen und Mitarbeitern berücksichtigen und für gerechtere Verhältnisse streiten.

Große Vergleichsstudien versuchen in den letzten Jahren, Kriterien für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu entwickeln. Die Qualität der sozialen Beziehungen ist da ganz wesentlich – dazu zählen die Forscher die Qualität der sozialen Netze, das Vertrauen in die Mitmenschen, aber auch die Akzeptanz von Diversität, also unterschiedlichen Kulturen und Ethnien. Die Verbundenheit mit der jeweiligen Gesellschaft ist ein weiteres zentrales Kriterium – dazu gehören Gerechtigkeitsempfinden, Vertrauen in die Institutionen und die Identifikation mit ihnen. Für ebenso bedeutsam halten die Forscher das Ausmaß der Gemeinwohlorientierung, erkennbar an Solidarität und Hilfsbereitschaft, Anerkennung der sozialen Regeln und die Möglichkeiten zur Teilhabe an der Gesellschaft. Die deutsche Bertelsmann-Stiftung hat 2013 alle verfügbaren Daten über die letzten zwei Jahrzehnte dazu zusammengetragen und ausgewertet. Ergebnis: Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist in Dänemark am stärksten, es folgen Norwegen, Finnland und Schweden. Deutschland und Österreich liegen da nur im Mittelfeld.[11]

Der Mensch ist auf Kooperation und Gemeinschaft angelegt. Vertrauen und Zusammenarbeit aktivieren Botenstoffe im Gehirn, die uns zufrieden machen und das Immunsystem positiv beeinflussen. Wenn Menschen unfair behandelt, gedemütigt, ausgegrenzt oder missachtet werden, reagiert ihr Gehirn mit Stressreaktionen, welche die körpereigenen Reparatursysteme schwächen und Erkrankungen aller Art begünstigen. Ohnmacht wirkt noch stärker in die gleiche Richtung.

Und eine Medizin, die das nicht berücksichtigt, sondern den Körper wie eine Maschine begreift, hat wenig Chancen, Nachhaltiges zu leisten. Organe lassen sich zurechtschneiden oder austauschen. Bestandteile des Blutes können beeinflusst, Hormone und andere Botenstoffe nachgefüllt werden. Aber sehr oft entsteht nach diesen Eingriffen wieder Krankheit.

Krankheit entsteht primär, wenn das System Mensch nicht mehr in Balance ist. Und Heilung wird dann möglich, wenn Therapeuten den Patienten helfen, die ungünstige Konstellation in ihnen und um sie herum zu verändern und die Selbstheilungskräfte wieder zu aktivieren.

Dieser Vorgang ist höchst individuell. Aber ich habe gerade in den letzten Jahren bei meinen Recherchereisen zu speziellen Kliniken, Immunologen, Zellforschern und Neurobiologen gelernt, dass es neben vielen Faktoren, die lange Zeit zu Unrecht als Risiko für alle galten, tatsächlich Verallgemeinerbares gibt. Und dass sich ein Großteil der Bilder und Vorstellungen vom Funktionieren unseres Körpers in den letzten zwei, drei Jahrzehnten grundlegend geändert hat.

Ich lade Sie ein zu einem Streifzug durch die Erkenntnisse, die in den letzten zwei Jahrzehnten zum zentralen Thema gewonnen werden konnten: Was hält Menschen länger gesund und was macht sie krank? Dieses Wissen ist die Voraussetzung für die Beantwortung der nächsten großen Frage: Was macht es möglich, dass schwer kranke Menschen auch wieder gesund werden können?

Wunderwerk Mensch

 

 

Zunächst finde ich es einmal bemerkenswert, wie lange ein so komplexes Wesen wie der Mensch gesund bleibt und welche Belastungen es unversehrt übersteht. Der Mensch ist ein Gesamtkunstwerk, an dem täglich milliardenfach weitergebaut wird. Das Prinzip Kooperation, mit dem die Menschen auf dem Pfad der Evolution so weit gekommen sind, ist auch im Inneren des Organismus bedeutsam. Es ist eine fast unvorstellbare Vernetzung von miteinander kommunizierenden Zellen und Vorgängen, die unser Leben ausmacht. Und alle diese Vorgänge reagieren auf das, was gerade war: Alles in uns lernt permanent und ist damit auch fähig, sich weiterzuentwickeln.

Doch das immer noch vorherrschende Naturverständnis versperrt den Blick auf diese Vorgänge. Es seien Gene, die alles in uns steuern, meinen manche Forscher, und quasi zum Zweck der eigenen maximalen Vermehrung um sich herum „Überlebensmaschinen“ bauen – so nannte der Zoologe Richard Dawkins, Autor von „Das egoistische Gen“, den Menschen tatsächlich. Demnach sei Krankheit überwiegend durch Gendefekte verursacht, die schicksalhaft auftreten, über Viren oder andere Mikrolebewesen in den Körper gelangen oder vererbt werden. Und man müsse nur die Gene reparieren, um wieder Gesundheit zu schaffen.

Inzwischen ist das menschliche Genom längst komplett entschlüsselt. Aber tausendfache Versuche, mit diesen Ansätzen die großen Volkskrankheiten zu bekämpfen, sind gescheitert. Je genauer die Forscher das Genom beschreiben können, desto genauer wissen sie, wie wenig sie eigentlich wissen.

So viel ist klar: Gene steuern nicht nur, sie werden auch von anderen Bestandteilen der Zellen gesteuert. Und seit einem guten Jahrzehnt wissen wir auch, dass Gene die Möglichkeit haben, Erfahrungen des Organismus zu speichern und damit ihre Arbeitsweise zu ändern.

Die „Bausteine“ unseres Lebens sind die Zellen. Und die arbeiten auf unglaublich komplexe Art zusammen, um das Gesamtkunstwerk am Leben zu erhalten. Sie erneuern sich ständig und erhalten uns damit gesund. Sie haben beeindruckende Fähigkeiten, Defekte zu reparieren und aus dem Ruder gelaufene Funktionen wieder stimmig zu machen. Eine Zellart, die ursprünglichste aller menschlichen Zellen, spielt dabei eine Hauptrolle. Embryonale Stammzellen haben den Körper im Mutterleib aufgebaut, und adulte, also erwachsene Stammzellen halten ihn in Schuss – bis ins hohe Alter. Stammzellen sind jene Bausteine unseres Lebens, die noch nicht für Spezialaufgaben ausgeformt sind. Sie haben die Fähigkeit, sich ein Menschenleben lang zu teilen und unterschiedliche Zellen zu erzeugen. Aus den embryonalen Stammzellen kann je nach Bedarf eine Muskelzelle, eine Nervenzelle oder auch eine Immunzelle werden. Erwachsene Stammzellen dagegen können nur Zellen eines einzigen Gewebes nachbilden – also entweder Blut oder Haut oder Darm. Täglich produzieren diese Stammzellen unzählige spezialisierte Zellen und erneuern schwer beanspruchte Organe, ersetzen alte Blutzellen und heilen verletzte Gewebe. Im Knochenmark produzieren die Stammzellen jeden Tag mehrere Milliarden Blutzellen und Zellen des Immunsystems. Die Muskelzellen werden – wenn sie ordentlich beansprucht werden – fast im Wochenrhythmus abgebaut und erneuert. Unsere Grenze zur Außenwelt, die Haut, wird einmal im Monat komplett erneuert, die gleiche Grenze im Körperinneren, der Darm, sogar noch häufiger.

In der Leber werden die Zellen etwa alle sechs Wochen komplett erneuert. Dabei kann auch mehr als die Hälfte des gesamten Organes nachgebildet werden, wenn es operiert werden musste. Das funktioniert bei den Hautzellen in eingeschränktem Umfang auch, aber die meisten Organe können sich nicht komplett regenerieren, wenn große Teile davon defekt waren.

Doch zur Erneuerung im laufenden Betrieb sind alle Organe fähig. Auch das Gehirn. Lange herrschte die Lehrmeinung, dass die Anzahl der Nervenzellen von Geburt an festgelegt sei und ab dem Alter von etwa 20 Jahren keinerlei Nervenzellen mehr nachwachsen. Auch das war ein Irrglaube – inzwischen sind Stammzellennischen auch im Gehirn entdeckt worden, und es ist erwiesen, dass – wenn auch in eingeschränktem Umfang – ein Leben lang neue Nervenzellen gebildet werden.[12]

Entgegen bisherigen Annahmen bildet der Mensch im Laufe seines Lebens auch neue Herzzellen, allerdings nur in begrenztem Maß. Das könne nach einer neuen Untersuchung als „endgültig geklärt“ angesehen werden, schreiben Forscher des Karolinska-Instituts in Stockholm.[13] Im Alter von 25 Jahren beträgt die jährliche Regeneration demnach ein Prozent, bis zum 75. Lebensjahr fällt sie auf 0,45 Prozent ab. Insgesamt werden innerhalb eines menschlichen Lebens etwas weniger als die Hälfte aller Herzzellen erneuert.

Um diese wunderbare Arbeit zustande zu bringen, brauchen diese Zellen ein besonderes Umfeld – von den Forschern Stammzellennischen genannt. Die Nachbarzellen in diesen Nischen setzen Wachstumsfaktoren und andere Substanzen frei, mit denen die Fähigkeiten der Stammzellen aufrechterhalten werden können.

Das Wissen über diese kleinen Kraftwerke des Lebens ist sehr jung, noch vor 20 Jahren wusste man kaum etwas darüber. Und bis vor kurzem hielt sich in der konventionellen Medizin der Irrglaube, nur einige Organe im Körper hätten Stammzellen und seien dadurch zur Regeneration fähig. Inzwischen sind aber Stammzellen in fast allen der 220 unterschiedlichen Gewebearten des menschlichen Körpers gefunden worden.

Im Laufe der Evolution war offenbar besonders die Sicherung der körperlichen Außengrenzen überlebenswichtig. Die Selbstheilung funktioniert bei den Organen besonders gut, die der Umwelt ausgesetzt sind. Haut, Schleimhäute, Bronchienoberfläche und Darm bleiben durch ständige Regeneration intakt.

Die Erneuerung wird also von den Stammzellen besorgt. Aber wie entsteht die Fähigkeit des Körpers, Verletzungen zu heilen, Wunden zu schließen, fehlende Gewebeteile zu ersetzen? Schon bei Verletzungen, einer eher einfachen Form der Schädigung, zeigt sich ein bis bis heute undurchschaubarer hochkomplexer Kommunikationsprozess innerhalb des Körpers: Woher weiß der Körper, wie viele Zellen welcher Art an der Wunde nötig sind? Die Zellen selbst tragen dieses Wissen nicht in sich. Isolierten Zellen im Reagenzglas fehlt dieses „Körperwissen“. Außerhalb des Körpers wachsen verschiedene Zelltypen unterschiedlich schnell – die Gewebe kennen außerhalb des Körpers keine natürlichen Grenzen. Sie vermehren sich unkoordiniert, manche entarten sogar.

Neben der Fähigkeit der Erneuerung verfügt der Körper auch über ein ausgeklügeltes System der Abwehr von Erkrankungen. Das Immunsystem des Menschen hat über Hunderttausende Jahre gelernt, mit allerlei Attacken fertigzuwerden, auch mit Krebszellen, die sich unkontrolliert vermehren. Schädliche Bakterien und Viren müssen erkannt und entfernt werden, aber auch körpereigene Zellen werden von den sogenannten Makrophagen gefressen oder dem Zelltod preisgegeben, wenn sie nicht mehr so funktionieren, wie sie es sollen. Die ständige Unterscheidung zwischen eigen und fremd, erhaltenswert und gefährlich ist eine enorme Leistung.

Die Komplexität der körpereigenen Abwehr stellt moderne Großrechner in den Schatten, die komplexe Zusammenarbeit Hunderter Zellarten lässt jeden Wirtschaftstheoretiker vor Neid erblassen: Um den menschlichen Körper vor ungebetenen Gästen zu schützen, bietet das Immunsystem eine Milliardenschaft an Abwehrzellen auf, von denen eine einzelne oft nicht größer ist als einen Tausendstelmillimeter. Sie sind für mehr als 100.000 verschiedene Aufgaben ausgebildet und kooperieren derart ausgeklügelt miteinander, dass Tausende aggressive Bakterien, Viren und andere Kleinlebewesen einem gesunden, wohlernährten Körper kaum langfristig schaden können – und dass die vielen kleinen Baufehler, die sich millionenfach bei Zellteilungen im Körper ereignen, dem Organismus nichts antun.

Die „Ausbildungszentrale“ befindet sich im Rückenmark, wo die Abkömmlinge der Knochenmark-Stammzellen zu Immunzellen ausgebildet werden. Während die einen im Knochenmark bleiben und dort ihre Spezialisierung zu sogenannten B-Zellen erfahren, wandern die anderen in die Thymusdrüse ab, wo sie sich zu unterschiedlichen T-Zellen ausdifferenzieren. Die B-Lymphozyten sind zunächst „naiv“ und nicht aktiv, aber sie können die Fremdlinge oder gestörte Zellen erkennen, eine andere Gruppe von Immunzellen, die sogenannten T-Zellen, wiederum produzieren daraufhin Zellgifte und töten die Angreifer. Die Lymphozyten verlassen erst als hochspezialisierte Mitarbeiter die „Schulungszentren“ und treten in die Blutbahn ein, von wo aus sie sich über das Netzwerk haarfeiner Lymphgefäße verteilen.

Auf ihren unermüdlichen Streifzügen durch den Organismus stehen den Schwadronen weitere Milliarden an Helfern zur Seite. Während sich Fresszellen bevorzugt um Eindringlinge in Blut und Lungenbläschen kümmern, legen sich im Darm die Antikörper und in den Mandeln Lymphozyten auf die Lauer.

Was den Forschern lange Rätsel aufgab: Alle diese Schritte sind offenbar penibel aufeinander abgestimmt und koordiniert, von den T-Zellen überwacht und von einer Unzahl weiterer molekularer Gehilfen unterstützt – aber wer dirigiert das Mega-Orchester, und wie?

Wir wissen inzwischen, dass eine Vielzahl von Botenstoffen bei der Kommunikation der Zellen eine wichtige Rolle spielt. Aber allen Versuchen der Medizin, einzelne Substanzen aus diesem heilsamen Orchester isoliert anzuwenden, waren bisher nur mäßige Erfolge beschieden. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass es weitere Mechanismen geben muss: Allein schon die Geschwindigkeit der Reaktionen im Körper legt nahe, dass es mehr gibt als das, was wir mit unserem Verständnis von Chemie und Physik analysieren können.

Entdeckungen, wie die Kommunikation funktioniert, wurden immer wieder ignoriert. Der kanadische Immunologe Ralph Steinman hatte schon 1973 spezielle Immunzellen entdeckt, die im Elektronenmikroskop mehr den fein verästelten Kristallen einer Schneeflocke oder einem Baum ähnelten als einer herkömmlichen Zelle. Er nannte sie „dendritische Zellen“, im Altgriechischen bedeutet „déndron“ Baum. Steinman fand diese Zellen vermehrt in den Gewebeteilen, die den Körper begrenzen, in der Haut und den Schleimhäuten. Und er beobachtete, dass sie ihre Äste wie Fühler in andere Zellen stecken, offenbar ohne die natürliche Funktion der Zellen zu beeinträchtigen. Sie strecken ihre Fühler überallhin in alle Gewebeteile aus, die auf irgendeine Weise Kontakt mit der Außenwelt haben – in die Zellen von Haut und Schleimhäuten ebenso wie in die von Speiseröhre, Darm und Lunge. Steinman fand heraus, dass die Zellen offenbar körperfremdes (antigenes) Material erkennen und Teile davon in sich aufnehmen, um damit zu den Lymphknoten zu wandern. Dort werden die wartenden Abwehrzellen, die T-Zellen, auf diese Stoffe aufmerksam gemacht. Das wiederum ruft eine Abwehrreaktion der T-Zellen hervor. Die so aktivierten Zellen begeben sich durch Blut- und Lymphbahnen zu dem erkrankten Gewebe und zerstören die Fremdkörper.

Steinman hatte die Zellen bereits 1973 entdeckt, aber viele Jahre glaubten die Mainstream-Forscher, dass diese Zellen entweder gar nicht existierten oder nicht besonders wichtig waren. Seine Kollegen konnten die Ergebnisse nicht wiederholen – aus mangelnden Kenntnissen, wie sich später herausstellte. Aber sie nahmen das als Argument, um dem kanadischen Forscher mit offener Skepsis und Feindseligkeit zu begegnen, er galt als Außenseiter. Steinman aber war felsenfest davon überzeugt, dass das Immunsystem ohne diese Zellen gar nicht funktionieren kann.

Gut eineinhalb Jahrzehnte lang arbeiteten Steinman und eine kleine Gruppe seiner Jünger gegen den Hohn der Kollegen verbissen weiter, wiederholten Experiment um Experiment. Erst nach der Jahrtausendwende konnte er sich durchsetzen, die Medizin war damit um wichtige Erkenntnisse und auch eine seriöse Hoffnung gegen Krebs reicher.[14]

Ralph Steinman erhielt 2011 den Nobelpreis für Medizin. Und konnte ihn nicht mehr entgegennehmen, weil er drei Tage vor der Verkündung gestorben war. Er war schon 2007 an einem besonders aggressiven Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt. Der Immunologe ließ nichts unversucht und setzte auf seine Erkenntnisse: Kollegen entnahmen Gewebe aus dem Tumor. Ein Mitarbeiter vermehrte die Zellen im Labor und schickte sie in ein halbes Dutzend Labore der Welt. Steinman erhielt seine maßgeschneiderten dendritischen Zellen zurück – und trotzte seinem Krebsleiden immerhin um einiges länger, als bei Patienten mit diesem Bauchspeicheldrüsenkrebs üblicherweise zu erwarten ist. Aber er erlag dem Krebsleiden einige Stunden, bevor das Nobelpreisgremium ihm die höchste Anerkennung zusprach.

Die Lernfähigkeit der körpereigenen Abwehr könnte auch damit zusammenhängen, dass es eine Art Bündnis auch mit zahlreichen Mikroben gibt, die uns umgeben und auch in großer Zahl in uns leben. Das Immunsystem kann nur funktionieren, wenn es die Krankheitserreger sofort wiedererkennt, die ihm schon einmal zu schaffen gemacht haben, und wenn es weiß, wie es dann gegen sie vorgehen muss. Das heißt, nach der Erstinfektion speichert das Immunsystem Wissen über den Erreger, damit es ihn bei einer erneuten Infektion noch schneller und effizienter bekämpfen kann.

Und das geschieht von Geburt an, wenn das Baby beginnt, das eigene Immunsystem zu entwickeln. Mit jedem Kontakt zu einem „Fremdling“ trainiert das System sich weitere Fähigkeiten an. Viren, Bakterien, Würmer und andere Krankheitserreger haben so mit dem Immunsystem der Menschen eine gemeinsame evolutionäre Vergangenheit. Der Kontakt mit ihnen ist die Voraussetzung dafür, dass bestimmte Funktionen der Entwicklung und Reifung des Immunsystems unterstützt werden. Der Kontakt mit bestimmten Bakterien ist notwendig, um dem Immunsystem Signale zu wichtigen Entwicklungsschritten zu geben. Die „Krankheitserreger“ trainieren also zunächst einmal die Toleranz und die Fähigkeit des Immunsystems, gefährliche von ungefährlichen Keimen, fremde von körpereigenen Proteinen zuverlässig zu unterscheiden.

Unser Gehirn, also unser Ich – oder auch wir selbst, nimmt eine Schlüsselrolle ein beim Gesundbleiben oder Krankwerden, aber auch beim Wieder-gesund-Werden. Seine Erfahrungen und Fähigkeiten prägen den Zustand aller Körperregionen – im Positiven wie im Negativen. Deshalb lohnt sich ein Streifzug durch das Wissen, das Hirnforscher in den letzten Jahren über die Empfindlichkeit, aber auch die Fähigkeiten unseres Gehirns zusammengetragen haben. Es unterscheidet sich grundlegend von dem mechanischen Bild, das wir und auch viele unserer Ärzte noch gelernt haben. Mit diesen Erkenntnissen können wir besser verstehen, was uns krank macht und was wichtig für die Heilung ist.

Anders als sonst wo im Körper sind in gesundem Gewebe von Gehirn oder Rückenmark nur selten dem Blut entstammende Immunzellen zu finden. Das leuchtet auch ein: Diese Armada zur Bekämpfung von Infektionen und Krebs operiert mit chemischen Waffen, die für Zellen tödlich sein können; zerstörte Nervenzellen aber kann der Organismus nur teilweise ersetzen. Normalerweise werden die zu den weißen Blutkörperchen gehörenden Immunzellen daran gehindert, aus der Blutbahn ins Zentralnervensystem zu wandern. Die Überwindung der „Blut-Hirn-Schranke“ gelingt ihnen eigentlich nur, wenn die Gefäßwände verletzt oder durch Krankheit geschädigt sind.