Weiße Wölfe am Salmon River - Lutz Hatop - E-Book

Weiße Wölfe am Salmon River E-Book

Lutz Hatop

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Beschreibung

Marc Mezger, deutscher Polizeikommissar, steht an einem entscheidenden Punkt seines Lebens: Endlich Erfolg im Beruf und die große Liebe! Aber innerhalb weniger Augenblicke gerät sein Leben aus den Fugen – und er verliert alles. Seine beiden Freunde stehen weiter zu ihm; er überwindet seine Depressionen. Sie entschließen sich zu einer Kajak-Expedition auf dem South Nahanni River in British Columbia, Kanada. Kaum angekommen, bewahrt er eine junge Frau der First Nations - die indianischen Ureinwohner - vor dem Tod. Shonessi und ihr Volk kämpfen gegen einen internationalen Konzern, der die Wälder rücksichtslos abholzen lässt. Marc und Shonessi verlieben sich, ein Kind kommt. Dann geschieht es: Shonessi steht vor einer furchtbaren Entscheidung, Unvorstellbares muss sie zulassen ... Eine packende Geschichte um den Raubbau an der Ressource Holz, den Widerstand der First Nations in Kanada. Eine Geschichte um Freundschaften, die scheitern und um Freundschaften, die bestehen. Eine Geschichte um das diskutierte „Stockholm Syndrom“, um einen indianischen Wolfsmythos und um eine große Liebe.

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Lutz Hatop

WEIßE WÖLFE AM SALMON RIVER

Roman

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelfoto Arctic Wolf © josefpittner – Fotolia

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Kapitel 1 – Als alles begann

Freunde

Das Abenteuer beginnt

Shonessi

Reißende Wasser

Ein heißes Bad

In letzter Minute

Freund oder Feind

Weiße Wasser

Ein riesiger Kochtopf

Wehrlos

Kapitel 2 – Gewonnen und verloren

Littlefoot

Das rote Haus

Begegnung in Yellowknife

Die Hütte im Wald

Eisige Zeiten

Die Fährte der Wölfe

Das Zerwürfnis

Der Rückzug

Kanutour mit Folgen

Glückliche Zeiten

Salmon River

Der heilige Wald

Das Ende?

Alles verloren

Kapitel 3 – Ein neues Leben

Heimkehr

Madlen

Tom Baxter, im Zentrum der Macht

Besuch aus Kanada

Entscheidung in der Schorfheide

Die verlassene Ranch

Erstes Lebenszeichen

Langersehntes Wiedersehen

In Sicherheit

Wayra King

Mittelalter versus High Tech

Kapitel 4 – Erlösung

Auf Burg Falkenberg

Traufgang Felsenmeer

Anruf aus Vancouver

Wieder in Kanada

Insel ohne Namen

Ohne Ausweg

Jäger und Gejagte

Nanuk

Die Geisel

Den Tod vor Augen

Der Schrei der weißen Wölfe

Eine schwere Entscheidung

Preisgegeben

Hochzeit in Iskut

Der Prozess

Gefangen im goldenen Käfig

Endlich angekommen

KAPITEL 1 – ALS ALLES BEGANN

Freunde

Blaubeuren, März 2002. Eine Kleinstadt am Rande der Schwäbischen Alb, unweit Ulm. Marc Mezger, 28 Jahre alt, stand vor den zwei wichtigsten Entscheidungen seines bisherigen Lebens. Lehrzeit, Ausbildung, das Beamtenverhältnis auf Probe endete in zwei Tagen. Endlich war es soweit, die Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit bei der Kriminalpolizei in Ulm. Ein lang gehegter Traum sollte wahr werden.

Die Feier war für Freitag angesetzt, zuvor musste er noch eine zweite Entscheidung treffen. Er stand fast in der Mitte des weiten Platzes, mit sich und der Welt zufrieden, seine Augen erfassten den riesigen 161m hohen gotischen Westturm des Ulmer Münsters, ein Gebirge aus Stein. Die Spätnachmittagssonne tauchte den hellen Muschelkalkstein in ein gelbliches Licht. Filigran war die Schauseite mit seinen Fialen, Streben, Spitzen und figürlichen Darstellungen. Licht und Schatten machten die Fassade noch lebendiger. Ja, das war der richtige Ort.

Er griff in seine rechte Jackentasche, holte eine kleine Schachtel heraus, hob das Oberteil ab und begutachtete glücklich den Inhalt. Er dachte an sie, an Ella. Sie wusste nichts von seinem heutigen Vorhaben. Gedankenverloren erinnerte er sich. An den Kajakkurs auf der Donau, er der Trainer. Sie, eine Schülerin, die nur widerwillig ihrem Freund zuliebe an dem Kurs teilnahm. Schnell entdeckten beide ihre Zuneigung füreinander. Noch größer dann die Überraschung, als er feststellte, dass ihre Eltern in der großen Villa gegenüber seinem Elternhaus lebten. Wie konnte er sie nur so lange übersehen.

Ella, ein Energiebündel ohnegleichen. Lange glatte schokoladenbraune Haare umrahmten ein ebenmäßiges ovales Gesicht. Lachte sie, lachten auch ihre braungrünen Augen, verzauberten fast jeden. Insbesondere Marc. Nachdenklich machte er sich auf den Weg zu seinem Auto, ob sie wohl ja sagt?

Während der Fahrt spielte er hundert Varianten durch, passierte immer wieder kleinere Schneefelder, die sich im Schatten vor der Sonne retten konnten. Der Schnee war nicht mehr leuchtend weiß, sondern grau und schmutzig. Es war Mittag, als er sein Elternhaus erreichte, einen Winkelbungalow inmitten eines recht großen Grundstückes aus den 60er Jahren. Er parkte direkt an der Straße vor dem Haus, überquerte sie, lief den Plattenweg zur Villa. Er fasste in die Jackentasche, die Schachtel war noch da, drückte die Klingel. Die Tür öffnete sich, Sandra, die jüngere Schwester von Ella stand in der Tür.

„Hallo Marc, kommst du zu mir?“ Sie lachte.

„Nein, Sandra, leider nicht. Ist Ella da?“

„Klar, komm rein, sie ist in ihrem Zimmer.“

Ella wohnte noch immer bei ihren Eltern, studierte in Ulm Medizin.

Marc nahm die Treppe hinauf zwei Stufen auf einmal, blieb vor der Tür stehen, klopfte leise an. Eine helle Stimme antwortete: „Ja, bitte?“

Als er in das Zimmer trat, war Ella bereits von ihrem Stuhl aufgestanden. Er hatte sie überrascht, sie stellte sich so vor den Bildschirm ihres PCs, dass er nichts sehen konnte. Irritiert und unsicher kam die Frage: „Komme ich ungelegen, soll ich wieder gehen?“

Ella hatte sich bereits wieder gefangen, lief auf ihn zu.

„Hallo Marc, du hier? Um diese Zeit. Hast du keinen Dienst? Grüß Gott erst mal.“ Sie lachte ihn an. „Nein, du kommst nicht ungelegen, komm, lass uns runtergehen, da sitzen wir besser“, fasste ihn unter den Arm und zog ihn aus dem Zimmer. Im Wohnzimmer setzte sie sich auf das Sofa. „Setzt du dich zu mir?“

Marc hatte immer noch seine Jacke an. „Zieh doch mal deine Jacke aus, so kalt ist es bei uns auch nicht. … Hallo, redest du nicht mehr mit mir? Warum bist du gekommen?“

Marc zog seine Jacke aus, nicht ohne sich vorher das kleine Schächtelchen zu nehmen. Endlich konnte er sie begrüßen, mit einem Kuss. Seine Neugier war geweckt. Warum hatte sie ihn aus dem Zimmer komplimentiert? Was versteckte sie vor ihm? Er wollte Bescheid wissen.

„Hast du Geheimnisse vor mir?“

„Ja…aa, habe ich. Stopp. Keine weiteren Fragen mehr, du erfährst es schon noch. Nur nicht jetzt.“ Sie legten ihren Finger auf seinen Mund, flüsterte unwiderstehlich: „Bitte, habe Geduld. Du erfährst es früh genug.“

Marc nickte, gab nach. Erfahren sollte er das Geheimnis jedoch nie!

Der Zeitpunkt war gekommen, er holte die Schachtel hervor, drückte sie Ella in die Hand. „Für dich, mach auf.“

Sie hatte eine Ahnung, riss das Geschenkpapier ab, hob den Schachteldeckel, tat völlig überrascht. „Oh, ein Ring?“

„Ella, was soll das? Ich meine es ernst?“

Auch Ella blickte ihn eindringlich an. Der Schalk in ihren Augen war nicht mehr vorhanden. „Gut Marc, was möchtest du mit dem Ring?“

„Das weißt du doch?“ Alles, was er sich im Auto überlegt hatte, war nicht mehr vorhanden. Ella schaute ihn an, nickte.

„Herr Mezger, so nicht. Wenn, dann bitte richtig.“

„Du meinst, mit Antrag? So richtig?“

Sie sagte kein Wort, reagierte nicht. Marc räusperte sich, rutschte aus dem Sofa, ging mit einem Knie auf den Boden, nahm den Ring, griff ihre linke Hand und schob den Ring auf ihren Finger.

„Ella?“

„Ja?“

„Ich liebe dich. Ich möchte mit dir für immer zusammen sein. Willst du meine Frau werden?“

Sie rutschte aus dem Sofa, umarmte, küsste, hauchte ihn an: „Ja, Marc ich will. Bis zum Ende meines Lebens. Ich liebe dich.“

Sie lagen sich in den Armen, auch er flüsterte nur noch: „Du machst mich zum glücklichsten Menschen der Welt.“

„Ich weiß.“

Ella wollte eine Verlobungsfeier, schon am nächsten Abend. Schnell waren die Aufgaben verteilt. Freunde und Bekannte wurden angerufen und eingeladen. Wichtig für Marc waren seine besten Freunde, Gerhard Huber und Hartmut von Halden. Gerhard sagte sofort für sich und seine Frau Susanne zu. Hartmut druckste herum, suchte nach Ausflüchten. Marc wollte das überhaupt nicht einsehen, gab ihm schließlich zu verstehen, dass er beider Freundschaft auf das Spiel setzt, wenn er nicht sofort mit der Wahrheit herausrückt.

Hartmut fiel es schwer, gestand Marc schließlich, dass er sich in Ella verliebt hatte, sie ihn deutlich und scharf zurückwies wegen eines anderen. Dieser andere war Marc. Marc, obwohl geschockt, beschwor Hartmut, die Freundschaft nicht einfach wegzuwerfen. Es dämmerte ihm, dass der damalige Freund, der sie zum Paddelkurs überredet hatte, wohl Hartmut war. Beide einigten sich auf ein gemeinsames Bier, sie wollten sich aussprechen.

Marc teilte seinen Eltern das freudige Ereignis noch am frühen Abend mit, bevor sie ins Ulmer Stadttheater fuhren. Ella wartete mit einer Überraschung auf, sie schloss sich seinen Eltern an, wollte unbedingt in Ulm vor dem nächsten Abend noch etwas erledigen. Marc, enttäuscht, den Abend allein zu verbringen, rief kurzfristig Hartmut an, so konnten sich beide auf das vereinbarte Bier treffen und reden. Einen Tag vor der Verlobungsfeier.

Sie trafen sich im Ulmer Fischerviertel, in einer rustikalen Szenekneipe, setzten sich an die Bar in die Ecke, waren so einigermaßen ungestört.

„Hartmut, habe ich dich richtig verstanden, du warst mit Ella zusammen, als sie sich bei dem Paddelkurs angemeldet hat?“

Hartmut nickte, „wir sind schon sechs Monate miteinander gegangen, war eine tolle Zeit. Ich hatte noch niemals so eine Frau gekannt“, er blickte Marc an, „ich wollte, dass sie mit uns mal eine Flusstour macht. Einfach nur tatenlos teilnehmen ging bei ihr nicht, immer wollte sie aktiv dabei sein. Du kennst sie. Dann passierte es. Sie kam am Abend vom Kurs zurück, wir haben uns zum Essen getroffen. Sie war anders als sonst. Knallhart hat sie mir zu verstehen gegeben, dass es aus sei und sie sich in einen anderen verliebt hätte. Zu dem Zeitpunkt hatte ich allerdings noch keine Ahnung in wen.“

Marc konnte Hartmut nicht folgen. „Ein halbes Jahr? Warum hast du mir nie von ihr erzählt? Wusste Gerhard davon?“

Hartmut verneinte, wollte beide Freunde mit Ella überraschen, nach Beendigung des Paddelkurses. Eine Frage trieb Marc um, „weißt du noch, welcher Kurstag das war?“

Hartmut lachte gequält auf, „wie könnte ich das vergessen. Der dritte, … von sechs Tagen. Schon am dritten Tag hat sie es gewusst. Verstehst du? Sie wusste, dass sie dich liebte.“

Marc lehnte sich zurück, atmete tief durch. Sein Blick verklärte sich.

„Diesen Tag werde ich allerdings auch nicht vergessen. Ha! …, Ella. Immer musste sie das letzte Wort haben, egal was ich ihr als Trainer sagte. Das hat mich schließlich so genervt, dass ich sie einfach im Kehrwasser ins Wasser drückte.“ Er lächelte dabei. „Klar, sie ist dann reingefallen. Als sie prustend wieder auftauchte und sich am Boot festhielt, hab ich ihr zu verstehen gegeben, dass ich hier auf dem Wasser das Sagen habe und sie sich danach richten muss, sonst sei der Kurs für sie zu Ende.“

Ungläubig schaute Hartmut seinen Freund an. „Das verstehe ich nicht, klingt nicht wie eine Liebeserklärung.“

„Ich bin noch nicht fertig. Was glaubst du, was sie dann gemacht hat?“ Hartmut zuckte die Schultern. „Sie hat sich an meinem Kajak mit ganzer Kraft hochgezogen, ehe ich´s kapiert hatte, lag ich im Wasser… und dann hat sie mich noch an der Eskimorolle gehindert. So ein Biest.“

Hartmut musste lachen. „Und das dir, einem der besten. Ähm, wo ist denn da bitteschön die Liebe?“

„Wir sind aufgetaucht, haben beide unsere Boote an Land gezogen. Ich wollte sie schon rausschmeißen, da reichte sie mir ihre Hand und meinte: 'Unentschieden? Lass uns das Kriegsbeil begraben.' Sie hat mich dabei angeguckt, wie es noch nie zuvor eine Frau getan hat, hat mir gesagt 'Ich mag dich' … und mir dann einen Kuss gegeben.“

„Wie, einen richtigen?“

„Nein, nur einen flüchtigen, aber auf den Mund.“

„Oh verstehe. Was hast du dann gemacht?“

„Erstmal gar nichts. Ich habe den Kurs für den Tag abgebrochen, alle Schüler reingeholt, bin dann ins Vereinsheim gegangen. Sie kam natürlich auch, hat sich zu uns gesetzt. Irgendwann bin ich dann mit ihr an die Donau gegangen, haben uns unterhalten“, seine Stimme bekam einen sehnlichen Unterton. „Dann ist es passiert.“

Hartmut hatte ein Auge zusammen gekniffen, seine Fäuste ballten sich. Marc nahm das wohl wahr.

„Was ist passiert, bist du mit ihr gleich in…“

Marc fasste ihn am Unterarm, „nein, ich habe mich einfach verliebt. Was du meinst, kam erst viel später. Sie sagte zu mir, ich müsste das verstehen, sie wollte zuerst mit ihrem Freund reinen Tisch machen. Ella ist keine, die mit jedem in die Kiste steigt, das hat mir imponiert.“

Hartmut entspannte sich: „So war das. Sie hat dir nie gesagt, dass ich ihr Freund war?“

„Nein, nie. Wahrscheinlich wollte sie unsere Freundschaft nicht gefährden. Ich werde sie aber morgen darauf ansprechen. Diese Geheimnistuerei ist viel schlimmer.“ In diesem Augenblick musste er daran denken wie was auch immer sie vor ihm zu verbergen suchte. „Hartmut, ich bitte dich, komm morgen zu meiner Verlobungsfeier, du bist mein bester Freund.“

„Und Gerhard? Er nicht mehr?“

Marc verdrehte die Augen, er musste sich beherrschen.

„Ihr beide natürlich. Er kommt, hat zugesagt.“

„Alleine?“

„Nein, natürlich nicht. Mit Susanne. Nun hör aber auf!“

Hartmut legte seine Stirn in Falten, rutschte von seinem Barhocker, warf einen 10 Euro-Schein auf den Tisch, drohend klang seine Stimme.

„Du hast mir sie ausgespannt. Du hast gewusst, dass sie einen Freund hat. Sie war liiert, das hat dich wohl nicht gestört. Vergiss es, ich komme nicht. Wir sprechen uns noch. Habt ihr schon einen Termin für die Hochzeit?“

„Nein …“

Kein Tschüss, Wiedersehen oder Ade kam von ihm, als Hartmut die Kneipe verließ.

Marc dagegen blieb sitzen, bestellte sich noch ein Kellerpils, dachte nach. Die Bardame, eine üppige Blondine stellte ihm das Bier hin.

„Na, Probleme?“

Marc überlegte, ob er antworten sollte. Warum nicht.

„Kann man so sagen. Ich habe meinem besten und ältesten Freund die Frau ausgespannt.“

Sie blickte Marc durchdringend an, „nicht die feine Art, weder bei einem Freund noch bei jemand anderem. Ihr Kerle denkt dabei nie weiter, immer nur an das eine. Und regelmäßig fallen wir Frauen immer wieder auf euch rein. Das ist eine richtige Sauerei. Ich habe da null Verständnis. … Ich dachte zuerst, du seist anders, bist eigentlich der sympathischere Typ.“

Er nickte, lächelte dabei.

„Ganz meine Meinung. Hätte ich das gewusst, wäre auch nichts dergleichen passiert. Okay, ich gebe zu. Sie hat gesagt, sie hätte einen Freund, wollte auch mit ihm Schluss machen, bevor sie was Neues anfängt.“

„Oh, das ist etwas anderes. Du hast es nicht gewusst?“

Marc schüttelte vehement den Kopf, „nein, ich habe es erst heute erfahren, einen Tag vor meiner Verlobung.“

Sie pfiff durch die Zähne, schaute ihn sich genau an.

Sieht gut aus, der Typ. Scheint auch ehrlich zu sein.

Lockige kurze dunkelblonde Haare und blaue Augen machten ihn interessant. Sie schätzte ihn auf 1,80m, eher ein bisschen weniger. Er wirkte durchtrainiert, war schlank. Ein kleiner Bauchansatz störte nicht.

„Ein Dreitagebart könnte nicht schaden, der stünde dir gut an, dann wär das Bubenhafte weg.“

„Wie bitte, was?“

Das kam unvermittelt und für ihn überraschend.

„Du hast mich schon verstanden. Übrigens, ich heiße Katrin. Und du?“

„Marc.“

„Freut mich, dich kennen zu lernen. Das mit dem Dreitagebart war ernst gemeint.“ Dann kam sie zur Sache, unvermittelt stellte sie die Frage. „Liebst du sie?“

Er nickte, zeigte ihr Bild. Sie lachte.

„Oh, das Gegenteil von mir, dann bin ich wohl nicht dein Typ. Schade. Du könntest mir gefallen.“

Er lächelte nur gequält, fand die Bemerkung nicht gut, ließ sie kommentarlos stehen. Sie redete ohne Unterbrechung weiter, „dann ist die Entscheidung gefallen. Dein Kumpel muss sich wieder einkriegen, sonst steht er am Ende mit leeren Händen da, hat seinen Freund auch noch verloren. Marc mach´s gut. Viel Glück mit deiner Freundin.“

Marc bedankte sich, trank sein Bier aus und bezahlte.

Früher Morgen, 07.30 Uhr. Marc schloss die Wohnungstür hinter sich und lief die Treppe vom ersten Obergeschoss hinunter zur Haustür. Die Garage lag in zweihundert Metern Entfernung. Auf dem Fußweg kamen ihm zwei uniformierte Polizeibeamte entgegen. Unvermittelt sprach ihn der ältere der beiden Männer an.

„Entschuldigen Sie! Kennen Sie einen Marc Mezger?“

„Das bin ich, mein Name ist Marc Mezger. Warum? Wollen Sie zu mir?“

Marc beschlich ein ungutes Gefühl.

„Nicht hier, lassen Sie uns zu Ihrer Wohnung gehen.“

Marc sträubte sich, was war passiert. Außerdem zeigten beide Beamte eine äußerst ernste Miene. Er wurde immer unruhiger.

„Nein, sagen Sie mir bitte augenblicklich, warum Sie mich aufsuchen. Ich muss zu meiner Dienststelle. Ich bin übrigens ein Kollege, Kripo.“

„In der Direktion?“

„Ja, am Münsterplatz.“

Beide Beamte blickten sich an, der eine nickte dem anderen zu.

„Herr Mezger, wir haben eine sehr schlechte Nachricht für Sie!“

Marc fühlte, wie sich ein unsichtbarer Strick um seinen Hals legte und sich langsam zuzog.

„Paul und Irmtraud Mezger, sind das Ihre Eltern?“ Marc nickte, musste schlucken. „Sie sind gestern um 19.00 Uhr mit dem Auto tödlich verunglückt! Das Krankenhaus hat Sie gestern Abend leider nicht telefonisch erreicht.“

Er konnte es kaum fassen, geschweige denn begreifen. Fragte wie automatisch gesteuert: „wie ist das passiert? Sie hatten keine Chance?“

Ein Beamter schüttelte den Kopf. „Nein, keine. Der LKW rammte sie frontal, sie waren sofort tot.“ Marc unterbrach den Beamten.

„Hat mein Vater überholt?“

„Nein, der LKW ist auf die falsche Fahrbahnseite geraten, wahrscheinlich Sekundenschlaf. Es war noch eine weitere Person mit im Auto, eine junge Frau.“

Marcs Augen wurden riesengroß.

Nein, bitte nicht, nur das nicht. Nicht auch noch Ella.

Er begann am ganzen Körper zu zittern.

„Wer war die junge Frau? Wissen sie ihren Namen.“

„Das dürfen wir Ihnen leider nicht sagen…“

Marc unterbrach den Beamten, seine Stimme zitterte beim Sprechen.

„Meine Freundin heißt Ella Wegener, war sie …“

Gedanken schossen durch seinen Kopf, was hatte sie gesagt, bis zum Lebensende, ganze fünf Stunden …

Er konnte den Satz, seinen Gedanken nicht mehr zu Ende denken, nicht mehr vollenden, bekam keinen Ton mehr heraus. Der Polizeibeamte brauchte nicht zu sprechen. Marc sah die Antwort in den Augen. Seine Beine gaben nach. Bevor er zusammenklappte, stützte ihn einer der beiden Polizisten. Sofort wurde die Rettung verständigt.

Zwei Wochen waren seither vergangen, Marc saß in seiner Wohnung, konnte sein Unglück immer noch nicht fassen. Binnen einiger Minuten war sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Seit dieser Mitteilung krankgeschrieben, verfiel er immer mehr in Depressionen, ließ sich gehen. Zudem griff er erst selten, dann regelmäßig zur Flasche.

Selbst als sein offizieller Krankenstand aufgehoben wurde, ließ er sich nicht bei seiner Arbeitsstelle blicken. Die Krönung war schließlich der Auftritt bei seinem Dienstvorgesetzten in volltrunkenem Zustand, nachdem die Suspendierung über ihm verhängt worden war. Die Folgen waren verheerend, er verlor erst den Arbeitsplatz, dann seinen Beamtenstatus, schließlich seine Wohnung. Zum Weg „auf die Straße“ fehlten nur noch Zentimeter.

Wenige noch verbliebene Freunde, hier insbesondere seine langjährigen und besten Freunde Gerhard sowie Hartmut hielten ihm die Treue. Hartmut hatte Marc verziehen. Der Tod Ellas traf auch ihn hart. In seinem tiefsten Innern indes war er froh, dass es sie nicht mehr gab.

Immer wieder versuchten sie, ihn für Paddeltouren zu gewinnen. War er jedoch mal mit dabei, dann nie nüchtern. Langsam aber sicher wendeten sich alle, Freunde wie Verwandte, von ihm ab. Eben bis auf diese beiden, die nicht aufgeben wollten. Insbesondere Hartmut war ständig bei ihm. Er hatte keine Eltern, die für ihn da waren, aufgewachsen bei seiner Großmutter, hatte er immer wieder Marc um seine Eltern beneidet. Schon als Kinder spielten sie zusammen im Sandkasten . Gerhard kam erst als Teenager zu den beiden dazu. Alle drei waren unzertrennlich. Sie fingen gemeinsam mit dem Kanusport an, pflegten ihr Hobby intensiv über die Jahre weiter. Selbst als Gerhard seine Susanne heiratete, tat das der Freundschaft keinen Abbruch. Auch Ella fügte sich allem Anschein nach nahtlos in die Gruppe ein. Sie wie auch Hartmut verloren kein Wort über ihre gemeinsame Vergangenheit.

Aber ein einziges Mal schien es zwischen Marc und Hartmut zu kriseln, der Grund war Ella, denn Hartmut hatte sich in einem zweiten Versuch um sie bemüht. Deutlich hatte sie ihn zurück gewiesen, vor Marc, Gerhard und seiner Frau Susanne. Zu provokativ ging Hartmut auf Ella zu, stellte Marc bloß. Marc und Hartmut benötigten nicht nur eine Aussprache, um die Krise zu beseitigen.

Marc war zwischenzeitlich in sein Elternhaus eingezogen, fast jeden zweiten Tag schaute Hartmut von Halden nach ihm. An einem Montagabend war es wieder so weit. Hartmut klingelte an der Haustür, Marc öffnete die Tür einen Spalt breit, worauf Hartmut sofort seinen Fuß dazwischen steckte. Als er dieses menschliche Wrack namens Marc vor sich sah, traf ihn das zutiefst. Obgleich er zweimal in der Woche vorbei schaute, war die Entwicklung in den letzten vier Tagen verheerend. Marc hatte sich weder gewaschen noch seine Kleidung gewechselt, entsprechend waren seine Ausdünstungen.

Hartmut fackelte nicht lange, rief Gerhard und Susanne an, die er um sofortige Unterstützung bat. Vierzig Minuten später trafen beide endlich ein. Nachdem sie sich verständigt hatten, packten beide Männer Marc, entkleideten ihn und steckten ihn in die Badewanne. Während Hartmut auf Marc aufpasste, sammelte Gerhard sämtliche Flaschen ein und vernichtete alle weiteren Alkoholvorräte in der Toilette. Susanne versuchte gleichzeitig, Ordnung in das Haus zu bekommen, ein mühseliges Unterfangen. Mit Unterstützung beider Männer hatten sie bis zum späten Nachmittag das Gröbste geschafft. Susanne musste nach Hause ihre beiden Kinder vom Kindergarten abholen.

Größer war der Aufwand, Marc einigermaßen nüchtern zu bekommen. Nach acht Stunden endlich wieder leidlich ansprechbar, setzten sich beide Männer mit Marc an den Tisch. Vor ihm lag ein Berg von Post. Missmutig nahm Marc einen Briefumschlag nach dem anderen in die Hand und legte diesen sogleich desinteressiert auf die Seite. Gleichermaßen wollte er mit einem großen braunen Umschlag verfahren, Hartmut nahm diesen jedoch entgegen, öffnete ihn und hielt den Inhalt, einen Brief Marc direkt vor Augen. Der Brief war von seinen Eltern und mit der Hand geschrieben. Sofort war Marc hellwach, mit zittrigen Händen begann er zu lesen:

Lieber Marc, wenn du diesen Brief liest, sind wir nicht mehr am Leben. Zuallererst bitten wir dich um Verzeihung, denn die nächsten Zeilen werden dich mit Sicherheit aufwühlen. Nun aber der pragmatische Teil. Du bist unser Alleinerbe, das Haus gehört dir. Die beiden vermieteten Wohnungen in Ulm und Neu-Ulm ebenso. Barvermögen und Aktien auch, allein das sind um die 400.000 DM. Dein Vater meint, dass allein die beiden Wohnungen einen Wert von 300.000 DM haben. Verkaufe sie. Lieber Marc, dein Vater und ich lieben dich über alles, du bist und warst für uns das wichtigste überhaupt.

Aber: wir sind nicht deine Eltern. Wir haben dich im Alter von zwei Wochen von einer jungen Mutter bekommen und dich adoptiert. Sie muss sehr jung gewesen sein, 14 oder 15. Sie konnte dich wohl nicht behalten. Besonders ich habe es einfach nicht über mein Herz gebracht, dir die Wahrheit zu sagen, dein Vater wollte das immer. Ich hatte fürchterliche Angst, dass du uns verlässt und deine leibliche Mutter suchen wirst. Sie wird, wenn ich diese Zeilen schreibe, Mitte dreißig sein. Glaub mir bitte, ich habe keine Ahnung wie sie heißt, geschweige denn wo sie lebt. Mir ist durchaus bewusst, dass du beim Lesen dieser Zeilen viel durchmachen musst, denke aber bitte daran, dein Leben geht weiter, wirf es bitte nicht weg. Sprich mit unserem Notar, Herrn Dr. Ralf Schmidt und regle alles. Und behalte uns bitte in guter Erinnerung, vergiss uns nicht.

Marc legte den Brief auf die Seite, ein Ruck ging durch seinen Körper. Er blickte seine beiden Freunde an, bedankte sich für die Hilfe und versprach, sein Leben wieder zu ordnen. Hartmut machte einen Vorschlag, der beide, Marc und Gerhard geradezu paralysierte.

„Was haltet ihr davon, im Spätsommer eine Kajak-Expedition in Kanada zu machen?“

Erst ungläubiges Schweigen, dann nahmen beide begeistert den Vorschlag auf.

„An welche Flüsse hast du dabei gedacht? Mensch Hartmut, das ist eine Superidee. Marc, davon träumen wir doch schon lange, was meinst du?“

Marc nickte nur unterstützend, er hatte Kopfschmerzen.

„Ich habe einen fürchterlichen Kater. Ich glaube, ich muss mich erst mal hinlegen und wieder richtig nüchtern werden. Dann kümmere ich mich um das Haus hier und meine privaten Sachen. Lasst uns doch am Mittwoch im Vereinsheim zusammensitzen und mal grob planen.“

Am darauffolgenden Tag suchte Marc den Notar auf, betraute ihn mit der Regelung seiner Vermögensverhältnisse und beauftragte einen Immobilienmakler zum Verkauf des Hauses und der beiden Eigentumswohnungen. Schon jetzt stellte sich heraus, dass die Vermögenswerte bei deutlich über 2 Millionen DM lagen, da kurz zuvor der Euro eingeführt wurde, besaß er ungefähr 1,5 Millionen Euro an aktuellen Vermögenswerten. Nach Erledigung der Pflicht folgte die Kür, zum ersten Mal seit dem Tod seiner Eltern und von Ella freute sich Marc auf das Treffen mit seinen Freunden. Mit Absicht fuhr er zwei Stunden früher zum Vereinsheim der Ulmer Kanuten, welches direkt am Flussufer der Donau unterhalb der Eisenbahnbrücke lag.

Marc betrat, nachdem er Neoprenanzug, Helm und Schwimmweste angelegt hatte, die große zweigeschossige Bootshalle im Erdgeschoss, ging zu den Boxen der Wildwasserkajaks und zog seinen knallgelben Gattino aus dem Regal. In Paddlerkreisen galt dieses Kajak als Dickschiff und nicht mehr zeitgemäß. Marc war die Meinung der anderen egal. Das Boot war für ihn immer wieder richtig, egal ob schweres oder leichtes Wildwasser, selbst für Wanderfahrten war es einsetzbar. Das Kajak lässig über die rechte Schulter gehängt, das Paddel in der linken Hand marschierte er die 150m zur Kiesbank an der Donau. Normalerweise war diese mehrere Meter breit, aufgrund des leichten Hochwassers aber nur mehr einen halben Meter. Nachdem er das Boot abgelegt hatte, blickte er zufrieden auf die Eisenbahnbrücke. Bedingt durch das Hochwasser bildeten sich an der unteren Seite der großen Steinpfeiler kräftige Kehrwasser.

Mit Kehrwasser bezeichnet man im Wildwasser Bereiche, in denen sich die Strömung flussaufwärts kehrt oder zumindest stark verlangsamt. Diese „Umkehr“ (oder Verlangsamung) der Fließrichtung des Wassers wird durch Wirbelbildung hinter angeströmten Hindernissen in Fließgewässern hervorgerufen. Die Technik des Hineinfahrens in ein Kehrwasser ist die wichtigste Voraussetzung zur Befahrung eines sportlichen Flusses.

Noch war niemand außer ihm auf dem Wasser, er hatte die ganze Brücke für sich alleine. Er zog das Boot hangaufwärts auf den Grashang, setzte sich auf dem Trockenen in das Kajak, schloss die Spritzdecke und rutschte mit Tempo in die Donau. Auf dem Wasser war es sofort wieder da, dieses unglaublich gute Gefühl! Er und das Kajak bildeten eine Einheit. Mit kräftigen Schlägen drückte er das Kajak dicht am Ufer entlang langsam flussaufwärts. Ein kleines Kehrwasser ausnutzend, legte er beim Ausfahren in die schnelle Strömung das Boot auf die Kante, hielt sich mit einer hohen Paddelstütze sicher im Wasser und fädelte mit einem kräftigen Ziehschlag in das Kehrwasser hinter dem ersten Brückenpfeiler ein. Auf diese Weise überquerte er die gesamte Breite der Donau bis zur Mündung eines Nebenarmes der Blau. So pendelte er ein paarmal über die Donau, immer wieder neue Spielarten austestend. Die früher vorhandene Sicherheit stellte sich langsam wieder ein. Nach zwei Stunden intensiven Trainings kehrte er zwar ausgepowert, aber glücklich an das Ufer zurück.

Am Ufer wurde er bereits von seinen beiden Freunden Hartmut und Gerhard erwartet, die ihn freudig begrüßten. Er wurde langsam wieder der alte. Marc zog sich noch schnell um, räumte Boot und Material auf und ging zu seinen beiden Freunden in die Gaststätte des Vereinsheimes. Die hatten sich bereits zwei Weißbiere bestellt. Lachend nahm er am Tisch Platz, „Ich kann's noch, ein super Gefühl. Ihr habt schon bestellt?“

Marc legte nach und bestellte sich ebenfalls Bier und etwas zu essen. Mit wichtigem Gesicht begann Hartmut:

„So Jungs, ich habe mir einiges überlegt. Unser Ziel ist Kanada, der äußerste Nordwesten, Wildnis pur und traumhafte Flüsse.“

Gerhard hakte ein, „an welchen Fluss dachtest du denn?“

„Zuerst an den Yukon, 780km von Whitehorse bis Dawson City.“

Marc ergänzte noch, „nicht schlecht, auf den Spuren Jack Londons und des Goldrausches.“

„Genauso habe ich auch gedacht, bei weiterem Studium bin ich dann auf den South Nahanni gestoßen. 600km pure Wildnis, kein einziger Ort. Wir müssen uns mit dem Wasserflugzeug zum Einstieg einfliegen lassen. Die ersten vier Tage Wildwasser, ein Hochgenuss von leichtem bis mittlerem Schwierigkeitsgrad, dann der höchste Wasserfall Kanadas mit fast 100m und vier Canyons, einer großartiger als der andere. Ich schlage den South Nahanni vor. Wir brauchen für die Befahrung gute zwei Wochen. Was meint ihr?“

Zur Bestätigung seiner Ausführungen legte er noch Kartenmaterial und Reiseführer auf den Tisch. Marc begeisterte sich von Minute zu Minute mehr.

„Das ist ja Wahnsinn. Ich bin dabei. Wann wolltest du starten?“

Hartmut lächelte, „wenn ihr Urlaub bekommt, Ende August diesen Jahres. Dann ist der Wasserstand niedrig und der erste Frost setzt bereits ein. Und das ist gut für uns und schlecht für die Mosquitos. Außerdem brauchen wir die Zeit. Ich muss sofort morgen die Permits für den Nationalpark reservieren, damit wir überhaupt fahren dürfen. Die Parkverwaltung lässt nämlich pro Monat nur eine bestimmte Anzahl Menschen auf den Fluss. Das ist beim Yukon anders, der ist fast schon zur Autobahn mutiert. Außerdem müssen wir das Material beschaffen und uns vorbereiten.“

Aufmerksam schaute Hartmut seine beiden Freunde an. Gerhard fasste als erster nach.

„Wie meinst du das? Material? Wir haben doch alles, bis auf einige Kleinigkeiten vielleicht.“

Hartmut schüttelte den Kopf.

„Falsch mein Lieber, wir haben fast nichts. Oder wie wolltest du die Boote transportieren, per Schiff und LKW?“

Marc ergänzte, „ich vermute, du spielst auf ganz andere Boote an, oder? Ich könnte mir vorstellen, dass Faltboote hierfür ideal sind. Sie sind eingeschränkt wildwassertauglich, schnell und fassen viel Gepäck.“ Er grinste dabei breit, „und ich bin der stolze Besitzer eines solchen Bootes, ein Klepper T 65, damit ist mein Vater früher schon Wildwasser gefahren.“

Auch Hartmut lachte.

„Marc, endlich wieder wie früher. Du hast es erfasst. Wir brauchen Faltboote. Ich tendiere dabei zu einem neuen Aerius 450 und für Gerhard habe ich einen T9 von einem Bekannten. Wir müssten die beiden alten Boote aber noch auf ihre Fahrtüchtigkeit überprüfen.“

„Da hast du Recht, das ist unbedingt notwendig. Ich habe keine Ahnung, wie lange das Kajak nicht benutzt wurde. Ich bin dafür, dass Hartmut die Koordination der Planung übernimmt, was meinst du dazu, Gerhard?“

Dieser erklärte sofort sein Einverständnis.

Als erstes legten sie die Zeit fest, Hartmut gelang es, im Nationalpark die drei Permits für die Durchfahrt vom 26.August bis 15.September zu reservieren. Um diesen Zeitraum wurde die gesamte Reise aufgebaut. Als nächstes wurden die Hotels und Flüge gebucht. In den kommenden Wochen ging es nur noch um die Ausrüstung. Marc musste feststellen, dass sein altes Faltboot runderneuert werden musste. Nach kurzer Überlegung entschied er sich, eine vollkommen neue Bespannung zu kaufen. Hartmut und er hatten sich in Rosenheim bei Klepper angemeldet. Er nahm das Gerüst seines Bootes mit, Hartmut dagegen liebäugelte mit dem neuen Aerius, ein vollkommen anders aufgebautes Boot. Ausgerüstet mit einem Luftschlauch war es wesentlich stabiler, im Wasser leichter und hatte eine höhere Zuladung. Hartmut musste jedoch zu seinem Bedauern feststellen, dass der T9 seines Bekannten nicht mehr fahrbereit gemacht werden konnte. Gerhard wollte jedoch auf keinen Fall für diese eine Reise ein Boot kaufen und mehrere 1000 Euro investieren, zumal die Fixkosten der Reise allein schon an der 3000 Euro Grenze kratzten.

Die drei Freunde entschieden sich dann, gemeinsam nach Rosenheim zum Faltboothersteller zu fahren. Dort angekommen, testeten sie verschiedene Boote. Gerhard war kurz davor auszusteigen. Das Angebot von Marc, die Kosten für das Faltboot zu übernehmen, lehnte er ab. Die Variante, einen Zweier zu nehmen, schien beiden nicht zu schmecken. Im Einer war auf jeden Fall mehr Stauraum vorhanden. Haut und Persenning hatte Marc bereits bestellt, so konnte er sein altes Boot runderneuert einfahren. Der Stauraum war aber auch in diesem Boot eher knapp bemessen. Marc testete noch den Aerius 490, einen Kajak-Einer mit Luftschläuchen, kam aber zu dem Ergebnis, dass sein T65 wesentlich agiler ist und sich eher wie ein Wildwasserboot fahren lässt als der Aerius. Auch Gerhard und Hartmut versuchten die unterschiedlichsten Boote, schließlich erlöste Hartmut die Gruppe, indem er den Aerius XXL mit 5,85m Länge kaufte, ein Boot, welches notfalls auch mit bis zu vier Personen gefahren werden konnte und sehr viel Gepäck aufnahm. Marc beteiligte sich ohne Wissen von Gerhard an den Kosten, die allein mit 3500 Euro zu Buche schlugen.

Das Material wurde vervollständigt. Da Marc am wenigsten Stauraum in seinem Boot hatte, galt es, äußerst platzsparendes und leichtes Material zu wählen. Er entschied sich dabei für ein leichtes nur 1,7kg wiegendes Zweimann-Zelt von sehr geringen Abmessungen. Das gleiche galt für alle anderen Utensilien. Nach zwei Monaten war die Ausrüstung vollständig. Jeder konnte nur zwei Gepäckstücke mit maximal 46 kg mitnehmen. Von vornherein war klar: ein Gepäckstück waren jeweils die Boote, das zweite der Rucksack mit allen persönlichen Sachen. Marcs Boot wog 21 kg, der Rucksack 24 kg. Bei seinen beiden Freunden war das Verteilungsgewicht etwas günstiger, da sich das Boot auf zwei Personen verteilte.

Sie bereiteten sich intensiv auf die Reise vor. Am Anfang benötigte Marc für das Aufbauen des Faltbootes fast 45 Minuten, zum Schluss nur noch 15 Minuten. Gepaddelt wurde nur noch mit den Faltbooten.

Die Generalprobe stand an. Als Fluss wählten sie die Durance in den Seealpen in Frankreich. Wasserwucht, Kiesbankschwälle, kleinere Verblockungen waren ideales Trainingsgelände. Marc merkte sehr schnell, dass seine Wahl in jedem Fall richtig war. Das Boot ließ sich hervorragend fahren, selbst mit Ballast. Er konnte es extrem auf die Kante legen, was mit dem riesigen Aerius schlichtweg nicht möglich war. Gerhard und Hartmut mussten erkennen, dass sie eine verblockte Engstelle mit wenig Wasser auf keinen Fall fahren konnten.

Endlich war es soweit, die Reise stand bevor.

Das Abenteuer beginnt

Flughafen Stuttgart, der Neubau des Terminals 3 war noch nicht abgeschlossen. Die drei Freunde mussten in den alten Hallen einchecken. Gerhards Frau Susanne hatte sie mit einem großen Kombi von Ulm zum Flughafen Leinfelden-Echterdingen gefahren. Im Land nur kurz L.E. genannt, dabei ausgesprochen wie das amerikanische L.A. Um 11.00 Uhr war Abflug, bereits um 8.30 Uhr stoppte der Kombi direkt am Eingang Abflug. Der Abschied war kurz und schnell, wobei Gerhard seiner Frau versprechen musste, sie nach Möglichkeit einmal in der Woche anzurufen. Währenddessen organisierte Marc zwei große Gepäckwagen für die Rucksäcke und Boote. Einchecken und Gepäckaufgabe geschah ohne Probleme.

Endlich im Flugzeug. Das Abenteuer konnte beginnen.

Zuvor stand aber noch zweimaliges Umsteigen in Frankfurt und Vancouver an. Ab Frankfurt ging es weiter im Jumbojet, sie saßen alle in gleicher Reihe. Marc am Gang, Gerhard in der Mitte und Hartmut am Fenster. Die Zeitzonen wurden passiert und das berühmte Jetlag entstand. Inzwischen war es dunkel geworden, die meisten Passagiere schliefen oder dösten. Marc konnte nicht schlafen, immer war er bei Reisen nervös, dieses Mal jedoch etwas mehr. So entschloss er sich zu ein bisschen Bewegung und erkundete das Flugzeug mit seinen zwei Etagen. Vor der Businessklasse wurde ihm der Zutritt verwehrt. Als er sich schon abwenden wollte, bekam er ein paar Wortfetzen von zwei Männern mit, die sich lautstark unterhielten und wohl nicht einer Meinung waren. Es schien um eine junge Frau zu gehen, der man habhaft werden wollte. Das machte ihn neugierig und er stellte sich unauffällig an einen Zeitungsständer, um mehr zu erfahren. Der ältere der beiden Männer schien der Vorgesetzte des etwas jüngeren Mannes zu sein.

Seine tiefe Stimme war schneidend und ließ keinen Widerspruch zu.

„Bekommen Sie das Problem endlich in den Griff? Oder muss ich mich darum kümmern. Ich habe endgültig genug von diesen Halbwilden …“

Der jüngere unterbrach ihn, „es ist aber nun mal ihr Land und wir zerstören es. Vielleicht sollten wir ihnen ein bisschen Entgegenkommen zeigen.“

Der Ältere wurde zornig.

„Entgegenkommen? Die haben hier Wald ohne Ende. Flächen so groß, dass man die Schweiz ein paar Mal hineinstecken könnte und dann leben dort eine Handvoll Menschen. Nein, das Maß ist endgültig voll, ich will eine Entscheidung. Keine Ausflüchte mehr, verstanden?“

Der Jüngere war sichtbar einige Zentimeter kleiner geworden, versuchte einzulenken.

„Soviel ich weiß ist die junge Frau, die Tochter von Littlefoot, mit ihrem Bruder jetzt in Jade City am Cassiar Highway, einem winzigen Ort mit nur zwanzig Einwohnern. Wir hätten alle Möglichkeiten. Ein Entkommen ist da nicht mehr möglich.“

Der Ältere dachte kurz nach, ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Tun Sie, was Sie tun müssen. Ich will eine endgültige Lösung.“

In diesem Augenblick fiel Marc eine Zeitung auf den Boden. Der jüngere der beiden Männer kam sofort zu ihm.

„Was machen Sie hier?“

Marc heuchelte Überraschung, antwortete in der deutschen Sprache, irritierte den Frager.

„Was haben Sie gesagt? Ich verstehe nicht, kann kein Englisch.“

Der winkte nur ab, begab sich zurück zu seinem Vorgesetzten, während Marc sich schnell zurückzog. Völlig durcheinander kehrte Marc an seinen Platz zurück.

War das jetzt ein Mordauftrag? Ich muss irgendwas unternehmen!

Er weckte seinen Sitznachbarn Gerhard und erzählte ihm von seinen Beobachtungen. Gerhard weckte wiederum Hartmut. Alle drei beratschlagten die weitere Vorgehensweise. Insbesondere Hartmut wiegelte ständig ab und verharmloste den Vorfall, er wollte auf keinen Fall die Reise gefährden.

Marc stand schließlich mit seiner Meinung alleine. Er konnte sich damit, alles einfach so zu lassen wie es ist, überhaupt nicht anfreunden. Zuerst musste er wissen, wo dieses Jade City lag. In seinem Reiseführer wurde er schnell fündig. Der winzige Ort lag ganz in der Nähe von Watson Lake, ihrem Reiseziel. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Natürlich, die beiden Männer wollen nach Watson Lake, dann ist die junge Frau jetzt in Jade City. Er nahm sich vor, nach Jade City zu gehen und die junge Frau zu suchen, egal was seine beiden Freunde dazu meinten.

In Vancouver angekommen, hielten sie sich fast drei Stunden im Flughafenbereich auf, um direkt den Anschlussflug nach Whitehorse zu nehmen. Whitehorse, ein moderner viel zu großer Flughafen für eine Stadt mit 18000 Einwohnern, ist eine Drehscheibe im äußersten Norden Kanadas. Dort angekommen suchten sie zuerst ihr gebuchtes Hotel auf.

Am Abend im Hotel beim Abendessen war Marc sehr einsilbig, während seine beiden Freunde dem Aufbruch förmlich entgegen fieberten. Marc dagegen beschäftigte vorrangig immer noch das Gespräch im Flugzeug, dessen Zeuge er geworden war. Am liebsten wäre er sofort nach Watson Lake aufgebrochen, doch ihr Bus fuhr erst am nächsten Morgen.

Hartmut ergriff schließlich die Initiative, sein Desinteresse bereitete ihm Sorge. Jedoch interpretierte er dies vollkommen falsch. Hartmut dachte eher an einen Rückfall von Marc.

„Mensch Marc, freust du dich nicht auf die Tour. Was ist los? An was denkst du?“

Marc schreckte aus seinen Gedanken auf, er wollte seine beiden Freunde nicht beunruhigen.

„Klar freu ich mich, ich bin nur ein bisschen müde. Wann fährt der Bus?“

Der Bus, ein Greyhound, brauchte knapp sechs Stunden bis Watson Lake. Früh am Morgen fanden sie sich am Busbahnhof ein. Ein typischer silbergrauer Bus stand vor ihnen, das Logo des rennenden gestreckten Hundes an der Front aufgemalt. Das Gepäck verschwand im riesigen Stauraum des Busses. Die Fahrt war sehr entspannend und der Bus selbst außerordentlich komfortabel mit viel Fußraum. Die Fahrtstrecke ging über den berühmten Alaska Highway Nr. 1. Auf freier Strecke stoppte der Bus plötzlich.

Über Lautsprecher drang die Stimme des Busfahrers krächzend durch das Mikrofon: „Sehr geehrte Fahrgäste, leider müssen wir eine nicht geplante Zwangspause einlegen, eine große Herde Karibus wird gleich den Highway kreuzen. Wer will, kann fotografieren.“ Schon schwang die Tür auf die Seite und die ersten Fahrgäste liefen ins Freie. Marc und seine Freunde mit gezückten Fotoapparaten hinterher.

Die ersten Tiere traten vorsichtig aus dem Wald, so als ob sie sich zuerst überzeugen wollten, ob die Straße auch tatsächlich frei war. Drei prächtige Exemplare, eines davon besonders groß mit braunem Fell und heller fast weißer Halskrause betraten die Straße und … blieben stehen. Alle drei besaßen riesige Geweihe mit gewaltigen Schaufeln an den Enden. Bei den Fahrgästen surrte und klickte es ununterbrochen. Was für ein Schauspiel, als auf breiter Front hunderte von Tieren den Wald verließen und den Leittieren folgten. Die setzten sich gemächlich in Bewegung und verschwanden im lichten Wald auf der anderen Seite der Straße. Eine gewaltige Staubwolke hüllte die Tiere ein, ein nicht endend wollender Strom querte den Highway, wahrscheinlich waren es Tausende. Fast alle Fahrgäste waren ausgestiegen, um sich dieses einzigartige Spektakel anzusehen.

Für Marc und seine Freunde sollte dies das einzige Mal bleiben, bei der sie eine solche Anzahl zu Gesicht bekamen. Im weiteren Verlauf der Fahrt trottete eine Braunbärenmutter mit zwei Jungtieren gemächlich über die Fahrbahn, auch hier musste der Bus stoppen, nur durfte dieses Mal keiner der Passagiere den Bus verlassen.

Nach jeder dieser Unterbrechungen stieg der Lautstärkepegel im Bus stark an, gekrönt durch eine Ansage des Busfahrers: „Sehr geehrte Fahrgäste, wollen Sie Wild Life sehen, fahren Sie mit dem Greyhound und Sie sehen jedes Mal Tiere, versprochen!“ Endlich, nach sechs Stunden Fahrzeit erreichten sie ihr Hotel in Watson Lake.

Shonessi

Hier hatten sie einen zusätzlichen Tag Aufenthalt geplant, um sich zu akklimatisieren. Marc jedoch packte noch nicht einmal seine Sachen aus, sondern orderte über die Hotelrezeption einen Mietwagen und fuhr mit diesem ohne sich mit seinen Freunden abzusprechen die fast 100km bis Jade City. Der Ort bestand im Prinzip aus zwei Geschäften, deren einer Produkte aus Jade verkaufte.

Marc stürmte in den ersten, fragte die Verkäuferin zu der von ihm gesuchten Person aus. Die konnte ihm jedoch nicht weiterhelfen. Hoffnungslosigkeit übermannte ihn.

War wohl doch eine Schnapsidee, hierher zu fahren und nach einer Frau zu suchen, von der ich nichts weiß.

Er überlegte nochmals, wie er fragen sollte und machte sich wenig zuversichtlich auf in den zweiten Laden. Am Tresen stand eine ältere Frau, die ihn beim Betreten sogleich freundlich begrüßte.

„Hallo, wie kann ich Ihnen helfen?“

Marc räusperte sich, „ich suche eine junge Frau indigener Abstammung, die aber nicht von hier ist. Haben Sie eine solche Frau hier gesehen?“

Die Frau schaute den jungen Mann verständnislos an. Sie konnte wohl mit dem Ausdruck „indigen“ nichts anfangen, wahrscheinlich falsch übersetzt, dachte er bei sich. So versuchte er es erneut.

„Sorry, ich meine eine junge Frau der First Nations.“

Noch immer reagierte sie nicht, im Gegenteil, misstrauisch fragte sie ihn: „warum suchen Sie diese Frau?“

Marc sah ein, dass er wohl etwas mehr sagen musste, er überlegte und sprach dann leise weiter.

„Sie schwebt in großer Gefahr! Ich muss sie unbedingt warnen, ich will sie schützen. Bitte glauben Sie mir. Haben Sie diese Frau gesehen?“

Die Frau schwieg und blickte Marc lange genau an, seine Augen bettelten um Hilfe.

„Kennen Sie diese Frau?“, wollte sie wissen. Er schüttelte den Kopf.

„Nein, ich habe nur unabsichtlich ein Gespräch belauscht. Und da haben zwei Männer sie bedroht. Ich habe keine Ahnung, wer diese Frau ist, geschweige denn, wie sie aussieht.“

Für die Frau eine unglaubliche Geschichte. Aber warum sollte er lügen? Sie überlegte, lächelte ihn breit an.

„Dann gehen Sie mal da hinten in den rechten Gang zwischen den Regalen, das müsste sie sein.“

Er bedankte sich, wollte noch wissen, ob ihr hier Männer aufgefallen waren, die sich auffällig benahmen und ebenfalls Fragen stellten. Das verneinte sie. Sie meinte nur, bei den vielen Touristen passe sie nicht mehr auf. Er ging schnell in den hinteren Bereich des Ladens und sah vor sich eine zierliche höchstens 165 cm große junge Frau mit glatten langen schwarzen Haaren, die ihr weit über die Schultern, fast bis zur Hüfte fielen. Bekleidet war sie mit einer Jeans und einem eng anliegenden langärmligen dunkelgrünem Sweatshirt. Er verlangsamte seinen Schritt und trat an sie heran.

„Verzeihen Sie bitte, dass ich Sie anspreche …“

Sie drehte sich zu ihm um, Marc konnte seinen Satz nicht mehr zu Ende reden. Er stockte, schluckte. Rehbraune Augen schauten zu ihm auf, ein offenes freundliches Lächeln empfing ihn und er hörte eine glockenhelle Stimme. „Ja bitte, was gibt es denn?“

Noch immer bekam er kein Wort heraus. Wie alt mochte sie sein? Höchstens Anfang zwanzig. Ihn faszinierten diese makellosen ebenmäßigen Gesichtszüge, die schmalen sehr markanten Augenbrauen, eine zierliche wohlgeformte Nase und ein sanft geschwungener Mund. Er konnte kaum glauben, dass vor ihm eine 'Indianerin' stand, sie hätte eher als Model durchgehen können. Die indigene Abstammung war wohl erkennbar.

Was für eine schöne Frau!

„Halloo, was ist, was wollen Sie von mir?“

Das langgezogene 'Hallo' ließ ihn erwachen.

„Entschuldigung, es war nicht meine Absicht, sie so anzustarren. Kennen Sie einen Littlefoot?“

Jetzt bekam sie große Augen. Ihr Lächeln verschwand. Was wollte dieser Mann von ihr, der nach seiner Aussprache kein Kanadier war.

„Ja, das ist mein Vater. Aber woher wissen Sie?“

Sie war es tatsächlich. Er hatte sie gefunden.

„Entschuldigung. Ich habe ein Gespräch belauscht, es ging um eine junge Frau der First Nations, die…“

Er brach ab, wollte nichts Falsches sagen, nichts dramatisieren. Aufmerksam, gespannt wartete sie.

„…die sie, …die sie…“

Marc stockte, sie wurde ungeduldig.

„Was? Nun reden Sie schon!“

„Die wollten Ihnen was antun, hier in Jade City, was weiß ich nicht. Ich habe das Schlimmste befürchtet, wollte das einfach verhindern. Dabei ist auch der Name von Littlefoot gefallen. Deswegen bin ich nach unserer Ankunft in Watson Lake auch sofort losgefahren, um Sie zu suchen.“

Sie schaute ihn an.

Wer ist dieser Mann? Wieso macht er das?

Ihre Blicke begegneten sich, hafteten fest aneinander. Sie fand zuerst zurück zur Sprache.

„Sie kennen mich nicht, warum? Warum bist du hier her gekommen? Was versprichst du dir davon? Was erwartest du von mir?“

Wieder Schweigen, wieder Blickkontakte. Marc zuckte die Schultern.

„Ich habe Sie gefunden, und das freut mich. Muss es denn immer eine Gegenleistung sein?“

Sie senkte den Kopf, „nein, muss es nicht. Danke dafür. Komm mit.“

Sie fasste ihn bei der Hand und rannte mit ihm aus dem Laden zu einem Pickup, der auf der anderen Straßenseite parkte. In ihrer Muttersprache rief sie nach ihrem Bruder, der schnell angelaufen kam.

„Das ist mein Bruder Adam Sand, ich bin Ilene Sand und du bist?“

„Marc Mezger, aus Deutschland, ich mache mit Freunden hier Urlaub.“

Ihr Bruder, deutlich älter, wartete auf Ilene, seine Haltung zeigte ein wesentliches Maß an Skepsis.

„Er will uns warnen. Er hat im Flugzeug nach Vancouver ein Gespräch mitgehört. Es ging dabei um mich…“

Adam Sand klang besorgt, unterbrach sie. „Was hat er mitgehört?“

„Ein Gespräch über meinen Vater und mich“, sie stockte, „man will mich wohl ausschalten.“

„Ausschalten? Wie ausschalten!“

Marc antwortete für Ilene, nicht ohne sie dabei im Auge zu behalten.

„Die Männer im Flugzeug sprachen von einer endgültigen Entscheidung hier in diesem kleinen Ort. Hier und nur hier hätten sie alle Möglichkeiten für eine endgültige Entscheidung. Das hat sich für mich nicht gut angehört.“

Adam Sand beobachtete Marc genau, sah seine Augen, die an seiner Schwester hafteten. Sein Ausdruck wurde finster.

„Und du glaubst ihm einfach so? Du wirst dich nie ändern…“

„Sei still, ja ich glaube ihm! Er hat meinen Vater mit Namen genannt. Woher sollte er das wissen. … Und, mein lieber Bruder, er will mir nur helfen.“

„Helfen? Er will dir helfen. Blödsinn. Er will nur…“

„Es reicht. Schluss! Aus! Nochmal, ich glaube ihm.“

Adam Sand wurde wütend, wandte sich an Marc.

„Warum machen Sie das für uns? Sie kennen uns doch gar nicht. Aus Deutschland? Habt ihr nicht ein paar Millionen Juden auf dem Gewissen?“

Marcs Gesicht rötete sich.

„Ich habe keinen Menschen auf dem Gewissen. Und würde ich so handeln, wie Sie mir gerade unterstellen, wäre ich wohl nicht hier, oder?“

Wütend fauchte Ilene ihren Bruder an.

„Hör sofort auf damit, er will uns nur helfen.“

„So wie er dich anstarrt, kann er auch andere Gründe haben.“

Ilene wurde ruhig, lächelte beide Männer an, fragte leicht provozierend Marc, den sie herausfordernd ansah.

„Vielleicht gefalle ich dir ja, wie heißt du nochmal?“

Marc konnte nur noch stottern, „Ma…arc, äh Marc.“

Gereizt mischte sich ihr Bruder ein.

„Du bist vergeben, vergiss das nicht!“

Sie giftete zurück.

„Nein, bin ich nicht. Was mein Vater ausgehandelt hat, interessiert mich nicht. Ich werde keine Ehe eingehen, die mein Vater will. Ich suche mir einen Mann selbst aus. Und auch du hast mir hier nichts vorzuschreiben, kapiert?“

Marc wies beide Streithähne nochmals auf die drohende Gefahr hin. Adam Sand sprach mit seiner Schwester in einer Sprache, die Marc nicht verstand. Aus der Gestik der beiden konnte er erkennen, dass sie ihm heftig Kontra gab. Adam Sand sagte noch ein Schlusswort, wandte sich von seiner Schwester ab, stieg ohne ein weiteres Wort zu verlieren in seinen Pickup und fuhr los. Seine Schwester ließ er mit offenem Mund stehen. Marc verdrängte für einen Augenblick die bevorstehende Gefahr und freute sich insgeheim.

„Wenn du willst, kannst du mit mir fahren?“

Ihr Zorn verflog, sie lachte Marc an. Dieses Lachen verzauberte ihn vollkommen, er wies mit seiner Hand zu seinem Mietwagen, einem klassischen Jeep Wrangler in der Kombiversion.

„Dann soll das wohl so sein, dass ich mit dir fahre. Was meinst du?“

Marc bestätigte ihre Meinung mit freudigem Gesichtsausdruck. Als sie neben ihm saß, musterte er sie von der Seite.

„Gefalle ich dir?“ Sie ging vollkommen offen mit ihm um, was ihn beträchtlich irritierte. „Bekomme ich noch eine Antwort? Oder machst du einen Rückzieher, redest nicht mehr mit mir?“

Marc gefiel ihre offene Art, so fasste er Mut.

„Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, aber vorhin in dem Laden. Du hast dich umgedreht und ich war vollkommen geplättet.“

Unverständlich schaute sie ihn an.

„Ah so, ja. Wie sagt man in Englisch? I was struck by lightning? Du gefällst mir, sehr sogar. Ehrlich, so was ist mir bis jetzt noch nicht passiert. Ich bereue keine Sekunde, bin froh, dass ich dich getroffen habe.“

Ihre Antwort kam prompt.

„Ich finde das auch ganz super, was du hier für mich alles machst! Das ist nicht selbstverständlich, überhaupt nicht.“ Sie schaute ihn an. „Du gefällst mir auch, ich mag dich.“

Sie lachte nicht mehr, ernst blieb ihr Gesichtsausdruck. Beide stiegen in das Auto, Marc wollte schnell weg aus dem Ort. Sie fuhren bereits eine halbe Stunde auf dem Highway Richtung Watson Lake, Marc schaute, wie immer, flüchtig in den Rückspiegel, von Deutschland war er es so gewohnt. Nach kurzer Zeit war er sich sicher, sie wurden verfolgt. Ein dunkler geschlossener Transporter fuhr mit gleichem Abstand hinter ihnen her. Über fünfzehn Minuten ging das so, Marc beobachtete den Wagen laufend, nichts änderte sich. Und Adam, der war verschwunden, zumindest außer Sichtweite. Plötzlich beschleunigte der Wagen hinter Ihnen und näherte sich rasend schnell. Als beide Fahrzeuge auf gleicher Höhe waren, zog der Transporter mit einem Mal zu ihrem Jeep herüber. Marc legte eine Vollbremsung hin, so schoss der Wagen an ihnen vorbei und setzte sich direkt vor sie. Marc legte den Rückwärtsgang ein, wendete und fuhr zurück. Er hatte einen Waldweg einige Kilometer zurück abbiegen sehen. Den wollte er nehmen.

Schließlich hatte der Jeep Allradantrieb. Der Transporter hatte ebenfalls gewendet und versuchte, den Anschluss wieder herzustellen. Endlich kam der Waldweg in Sicht. Die Verfolger ahnten wohl sein Vorhaben und versuchten ihn einzuholen. Mit Anlauf preschte Marc in den Waldweg, der sich nach 300m gabelte. Er nahm die rechte Variante, die kurz darauf mit geradlinigem Anstieg steil auf einen Berg führte. Mit dem Allrad kein Problem, jedoch für den Transporter unmöglich zu folgen.

Sie erreichten den Bergkamm, der Weg wurde immer verwachsener und schlechter. Marc fuhr langsam weiter, er wollte ausreichend Abstand zwischen sich und die Verfolger bringen. Auf einem Plateau, welches nur von Gestrüpp bewachsen war, hielten sie schließlich an. Ein befahrbarer Weg war nirgends mehr erkennbar. Marc verließ den Jeep, bahnte sich noch 100m durch das Gelände zu Fuß seinen Weg und kletterte schließlich auf einen großen alles überragenden flachen Felsklotz.

Der Ausblick von hier war umwerfend. Er winkte Ilene zu sich. Direkt um sie herum war das Gelände flach und mit Büschen bewachsen, daraus ragten die verkohlten Stümpfe des ehemaligen Waldes heraus und wiesen auf einen vor drei oder vier Jahren erfolgten Waldbrand hin. Unten im Tal konnte man das silberne Band eines Flusses erahnen. Es war warm, ein kräftiger Wind wehte über die Höhe, so blieben wenigstens die lästigen Moskitos weg.

Ilene rückte bis auf Tuchfühlung zu Marc und schmiegte sich an ihn.

„Marc? Darf ich dich mit du ansprechen?“

„Ja, gerne.“

Er wandte sich ihr zu, sie drehte sich wie ein Wirbelwind lachend von ihm ab. Tänzerisch bewegte sie sich auf dem Felsklotz, bewegte ihre Arme hoch gereckt perfekt zu den Bewegungen ihres Körpers. Fasziniert sah Marc ihr zu. Er musste sich zusammenreißen, entdeckte dann den Weg.

„Sieh mal, da hinten geht der Weg weiter!“

Nur 50m weiter setzte sich der Waldweg fort. Mühsam kämpfte er sich mit dem Jeep durch das Gestrüpp, bis sie den freien Teil wieder erreichten, der sehr felsig und deswegen nicht zugewachsen war. Im kleinsten Gang setzten sie den Weg abwärts über Geröll und kleine Felsstufen fort. Inzwischen war es bereits früh am Abend, als sie die Weggabelung erreichten. Die Sonne war hinter den Bergen versunken, die Dämmerung begann. Als sie wieder auf dem Highway waren wurde Ilene still. Während der ganzen Abfahrt hatte sie noch in einer Tour geplappert. Marc versuchte wieder ins Gespräch zu kommen.

„Weißt du, wo dein Bruder ist? Soll ich dich zu ihm hinfahren?“

Der Gedanke, sie nicht mehr zu sehen und sich verabschieden zu müssen, beschäftigte ihn. Im Stillen hoffte er, dass sie den Aufenthalt ihres Bruders nicht wusste. Und tatsächlich: „Ich habe keine Ahnung, wo mein Bruder steckt. Wir wollten von hier über Nacht durchfahren bis Yellowknife. Mist, ich hab auch nicht viel Geld dabei. Kannst du mir helfen. Ich zahl' s auch bestimmt zurück.“

Erschrocken schaute Marc sie an. Ihre Hoffnung schwand, ging sie doch davon aus, dass ihr Marc kein Geld gibt.

Ich muss ihr helfen. Egal, was es kostet!

„Wie willst du denn nach Yellowknife kommen?“

„Entweder mit dem Greyhound oder mit dem Mietwagen. Mit dem Bus ist es am günstigsten. Aber ich habe nur ganz wenig Geld.“

„Da mach dir mal keine Gedanken.“

Ihr Gesicht hellte sich auf. Sie kamen vor dem Hotel an, zwischenzeitlich war es dunkel geworden.

„Komm mit ins Hotel, ich zahl dir das Zimmer für die Nacht und auch den Bus.“

Sie lächelte ihn an, „Marc, du musst vom Himmel gefallen sein, ich danke dir. Viel kann ich dir nicht geben. Was hältst du von diesem Dankeschön?“ Und flugs hatte er einen Kuss auf seiner Wange.

„Wenn du dich auf diese Art bedankst, mache ich gerne noch mehr für dich.“

„Das glaube ich dir sofort. Du bist auch nicht traurig, wenn ich heute Nacht hier bleiben muss, oder?“

Beiden standen sich vor dem Jeep gegenüber. Marc fasste sie an den Hüften und zog sie an sich. Sie legte ihre Arme um seinen Hals.

„Ilene, ich muss dir was sagen!“

Ein sanftes „Ja…a?“, und erwartungsvolle Blicke trafen ihn bis ins Innerste. „Hört sich jetzt vielleicht ein bisschen dumm an … Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.“

„Ich finde das nicht dumm. Du glaubst es, oder du weißt es?“

Marc atmete tief durch: „Ich weiß es!“

Bestimmt und klar kam die Aussage. Statt einer Antwort bekam er einen Kuss. Erst nur ganz kurz und auf die Lippen. Beide blickten sich lang und intensiv in die Augen. Marc beugte sich zu ihr, ihr Mund öffnete sich. Er spürte ihre Lippen, fühlte ihre Zunge. Sie war voller Hingabe, leidenschaftlich und gefühlvoll. Das war kein normaler Kuss, sie schienen miteinander zu verschmelzen.

Marc fasste sie an der Hand, ging zur Rezeption, reservierte ein Zimmer und ging mit ihr in den Gastraum. Im Gastraum sah er auch sofort seine beiden Freunde Gerhard und Hartmut. Letzterer sprang auf, als er Marc erblickte und stürzte ihm entgegen.

„Sag mal, wo warst du? Wir wollten schon eine Vermisstenmeldung aufgeben.“

„Leute, ich habe heute so viel erlebt und ich habe mich verliebt! Und das ist sie! Ilene Sand.“

Er zeigte dabei auf Ilene. Gerhard wurde neugierig.

„Verstehe, du hast die Frau aus dem Flugzeug gesucht und wohl auch gefunden.“

„Stimmt genau, sie ist es.“

Marc erzählte beiden seine Erlebnisse auf Englisch, so konnte Ilene dem Gespräch folgen. Hartmut sagte gar nichts, blickte Ilene die ganze Zeit fasziniert an.

Sie setzte sich mit an den Tisch, hatte nur Augen für Marc, nahm Hartmut und Gerhard nur am Rande wahr. Gerhard freute sich sehr für Marc. Hartmut jedoch spürte Neid und Eifersucht in sich aufsteigen.

Kaum ist er wieder fit, hat er schon wieder einen solchen Goldfisch an der Angel, damals Ella und jetzt sie. Die hätte ich gern, sieht noch besser aus als Ella. Wieso immer Marc, was finden die nur an ihm. Der merkt überhaupt nicht, wie er auf Frauen wirkt.

„Marc, danke dass du dich so für mich eingesetzt hast. Wahrscheinlich hast du sogar mein Leben gerettet. Ich bedanke mich auf diese Weise bei dir, ich werde dich ab jetzt 'Lakota' nennen.“

„Aha, und was bedeutet Lakota?“

Sie nahm seine beiden Hände und umschloss sie mit den ihren, dabei blickte sie ihn dermaßen verliebt an, dass ihm die Stimme versagte.

„Lakota heißt 'Freund, der zu mir steht' und mich nennst du bitte ab jetzt auch mit meinem Stammesvornamen …“, sie legte eine bewusste Pause ein. Marc hatte seine Sprache wiedergefunden, war auch sehr neugierig, hatte er doch über die Bedeutung von indianischen Vornamen einiges gelesen.

„Und wie lautet dein Name? Du machst es jetzt aber richtig spannend.“

„Shonessi!“

Marc zog die Augenbrauen hoch.

„Shonessi, was für ein schöner Name. Gibt es dafür auch eine Bedeutung?“

„Ja Lakota, die gibt es, jeder native Name hat seine Bedeutung. Und meiner bedeutet 'Tanz mit dem Wind'. Gefällt er dir?“

„Gefallen? Das ist der schönste Name, den ich je gehört habe. Er passt ganz wunderbar zu dir. Vorhin, auf dem Felsen. Du erinnerst dich? Da hast du getanzt, mit dem Wind. Das möchte ich gerne noch öfter sehen.“ Marc wurde sehr leise, auch er vergaß seine beiden Freunde. „Die Frau, die mit dem Wind tanzt: das war so grazil, so leicht und beschwingt, als wärst du eine Feder. So geschmeidig und anmutig habe ich noch nie eine Frau gesehen. Du bist die schönste Frau, der ich je in meinem Leben begegnet bin.“

„Meinst du das ehrlich? So was hat noch nie jemand zu mir gesagt.“

Ihre braunen Augen leuchteten.

„Ja, und ich habe gerade richtig Schmetterlinge im Bauch.“

Die Umgebung um sie herum versank. Hartmut saß mit offenem Mund am Tisch, bis es aus ihm herausbrach. „Was für ein Gequatsche. Sie macht sich doch nur an dich ran, merkst du das nicht? So ein Gewäsch, bist du besoffen? So redet doch kein Kerl…“

Marc fuhr herum, wie konnte er so dazwischen gehen.

„Bist du neidisch? … Dann pass mal auf: ja, ich bin betrunken – vor Glück, weil ich mich verliebt habe. Wenn es dir nicht gefällt, kannst du ja gehen!“

Marc hatte vor Zorn einen roten Kopf bekommen und war aufgesprungen wie auch Hartmut.

Shonessi blickte mit stechenden Augen zu Hartmut, fasste Marc am Arm, zog ihn mit der einen Hand zu sich, drehte mit der anderen Hand seinen Kopf zu ihr, hauchte ihn an, „lass ihn, er ist dumm und eifersüchtig. Beachte ihn erst gar nicht. Schön waren deine Worte, sie kamen von Herzen, das habe ich gefühlt. Hier“, sie nahm die Hand von Marc, drückte sie auf ihr Herz. Ihr Ton änderte sich, wurde schneidend. „Er nennt sich dein Freund? So verhält sich kein Freund. Er hat es nicht verdient, dein Freund zu sein. … Komm her!“

Dieses 'Komm her' war so verführerisch, dass Marc spontan Hartmut vergaß. Hartmut fielen fast die Augen aus dem Kopf, kreidebleich wurde er im Gesicht, verlor die Fassung nach Shonessis Antwort, musste nach Luft ringen. Vor ihm verschwammen die Bilder, als Shonessi Marc leidenschaftlich küsste.

Gerhard stand auf und zog den widerstrebenden Hartmut mit sich. Marc und Shonessi waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie das nicht wahrnahmen.

Eine weitere Stunde später betrat eine gebieterische Erscheinung den Gastraum. Der Mann war augenscheinlich indigener Abstammung, Anfang dreißig. Seine dunklen, fast schwarzen Haare waren schulterlang mit einem Mittelscheitel. Er trug ein rotkariertes Holzfällerhemd. Aufmerksam blickte er sich im Raum um, ging dann zielstrebig auf die Sitzecke mit Marc und Shonessi zu. Er wollte seinen Augen nicht trauen, so vertraut und sich liebkosend hingen beide aneinander, bemerkten seine Anwesenheit in keiner Weise.

„Stör ich?“ Mit grimmigem Gesicht stellte er diese Frage, eine Antwort nicht erwartend. „Was soll das hier, Shonessi? Komm sofort mit!“

Shonessi legte ihre Stirn in Falten.

„Ich bleibe, Ahmik. Ich liebe Lakota und ich will bei ihm bleiben.“

Marc musste tief Luft holen, erst jetzt erkannte er in dem Fremden den Bruder von Shonessi. Ahmik blickte verdutzt von einem zum anderen.

„Lakota, wieso Lakota?“

„Weil ich ihn Lakota nenne, oder kennst du die Bedeutung des Namens nicht mehr?“

Ahmik verdrehte die Augen.

„Bist du völlig irre. Man droht dir mit Mord und du denkst an so einen Blödsinn!“

„Blödsinn? Das ist kein Blödsinn.“

Sie war aufgesprungen. Seine Bevormundung nervte. Bevor der Streit jedoch eskalierte, griff Marc ein.

„Shonessi, bitte! Dein Bruder hat Recht, du bist in sehr großer Gefahr. Geh mit ihm. Ich halt das nicht aus, wenn dir etwas zustoßen sollte.“

Shonessi wandte sich Marc zu.

„Liebst du mich? Willst du mich wiedersehen, dann sag es! Jetzt!“

Marc nahm ihren Kopf zwischen beide Hände, schaute sie ernst an.

„Ich liebe dich, und ich will dich wiedersehen.“

„Das will ich auch, komm einfach nach Yellowknife, hier ist meine mobile Rufnummer. Wenn du mich dort nicht findest, ich wohne auf Queen Mary Island, in Sunrise City. Hier ist meine Adresse.“

Sie gab ihm eine Karte mit ihrer Adresse und Telefonnummer. Zur Antwort nahm er sie fest in seine Arme und streichelte ihr über die Haare. Ahmik stand die ganze Zeit ohne ein Wort zu sagen daneben. Dann griff er ihre Hand, widerwillig folgte sie ihm aus dem Gastraum.