Weißen Feminismus canceln - Sibel Schick - E-Book

Weißen Feminismus canceln E-Book

Sibel Schick

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Beschreibung

Der Feminismus in Deutschland muss sich ändern, fordert die Journalistin und Autorin Sibel Schick: Wir brauchen Gerechtigkeit statt Ausgrenzung! Sich selbst als Feminist*in zu bezeichnen, hat Konjunktur, aber das heißt noch lange nicht, dass der Mainstream-Feminismus diesen Namen verdient hätte. Von ihm profitieren in Deutschland nämlich nur wenige: privilegierte, heterosexuelle und cisgeschlechtliche weiße Mittelschichtsangehörige. Und die Ausbeutung aller anderen wird in die Unsichtbarkeit gedrängt. Wenn wir in einer freien Gesellschaft leben möchten, die echte Gleichberechtigung für alle Menschen fordert, muss sich vieles ändern: in unserem Zusammenleben, der Politik, online, im Job und überhaupt in unserem Demokratieverständnis. Schritt für Schritt analysiert Sibel Schick die Ausschlussmechanismen des weißen Feminismus anhand aktueller gesellschaftlicher Debatten und bricht dabei mit Traditionen und Erwartungen. Ein hochrelevantes Plädoyer für eine gerechtere Welt.

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Seitenzahl: 330

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Sibel Schick

Weißen Feminismus canceln

Warum unser Feminismus feministischer werden muss

 

 

Über dieses Buch

 

 

Der Feminismus in Deutschland muss sich ändern: Wir brauchen Gerechtigkeit statt Ausgrenzung!

 

Sich selbst als Feminist*in zu bezeichnen, hat Konjunktur, aber das heißt noch lange nicht, dass der Mainstream-Feminismus diesen Namen verdient hätte. Von ihm profitieren in Deutschland nämlich nur wenige: privilegierte, heterosexuelle und cisgeschlechtliche weiße Mittelschichtsangehörige. Und die Ausbeutung aller anderen wird in die Unsichtbarkeit gedrängt.

Wenn wir in einer freien Gesellschaft leben möchten, die echte Gleichberechtigung für alle Menschen fordert, muss sich vieles ändern: in unserem Zusammenleben, der Politik, online, im Job und überhaupt in unserem Demokratieverständnis. Schritt für Schritt analysiert Sibel Schick die Ausschlussmechanismen des weißen Feminismus anhand aktueller gesellschaftlicher Debatten und bricht dabei mit Traditionen und Erwartungen. Ein hochrelevantes Plädoyer für eine gerechtere Welt.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Sibel Schick, 1985 in Antalya geboren, ist freie Autorin, Journalistin und Kolumnistin. Seit 2009 lebt sie in Deutschland, seit 2016 schreibt sie Texte über Feminismus, Rassismus und die Türkeipolitik. Ihre Kolumnensammlung »Hallo, hört mich jemand?« erschien 2020 bei Edition Assemblage. Bis 2021 war sie Kolumnistin des feministischen »Missy Magazine«, sie kolumniert für »nd« und »Campact«, schreibt Artikel für diverse Medien. Ihr Newsletter »Saure Zeiten« erscheint monatlich.

Inhalt

Motto

Einleitung

Weißer Feminismus

»Canceln« bzw. »Cancel Culture«

TERF, SWERF

Rassismus

Ableismus

1. Wir sind nicht gleich, und das ist in Ordnung

Der Wut-Filter

Brüste ≠ Brüste

Die Nichtschuldigung

Warum wir nicht gleich sind

2. Opfer und Dämonen

Lüge als politische Arbeit

Instrumentalisierung des Kinderschutzes

Falsch abgebogen?

Lose Organe überall!

Der große Austausch

Entweder Opfer oder Dämonen

3. Sicherheit für wen? Feminismus und die Polizei

Polizei: Wessen Freund und Helfer?

Die Fähigkeit zu diskriminieren

Täterschutz oder Opferschutz?

4. Politische Teilhabe

Lass dich doch einbürgern!

Was dürfen Frauen?

Politische Räume

Gefährliche Nebenschauplätze

Macht ist allgegenwärtig

Subtile Ausschlüsse

5. Arbeit

Ausbeutung mit System

Feminismus, wow

Das Märchen von der Einvernehmlichkeit

Also, was tun?

6. »Es gibt einen anti-emanzipatorischen Feminismus«: Ein Gespräch mit Lou Kordts

Danksagung

»Wenn das Ziel des Feminismus Gleichheit für alle ist, bedeutet das, dass die Zukunft des Feminismus ganz anders aussehen muss als seine Vergangenheit.«[1] – Mikki Kendall

»Kein Kampf dreht sich nur um ein Thema, denn unser Leben dreht sich nicht nur um ein Thema.«[2] – Audre Lorde

Einleitung

Die US-amerikanische Historikerin Gerda Lerner sagte einst: »Jede Frau ändert sich, wenn sie erkennt, dass sie eine Geschichte hat.« Ich möchte ergänzen: Jede Frau ändert sich, wenn sie erkennt, dass sie eine Hautfarbe hat. Diese Erkenntnis kommt nur durch die Abgrenzung zu »den Anderen«, quasi als Vergleich und von außen – unabhängig davon, ob dies Diskriminierung oder Privileg bedeutet. Damit eine Person weiß sein kann, muss es andere geben, die nicht weiß sind. Ein Privileg setzt dabei Benachteiligung voraus.

Wenn wir in gesellschaftlichen Debatten über Frauen sprechen, dann meinen wir eine bestimmte Frau: Sie ist christlich sozialisiert, akademisiert und cisgeschlechtlich; hat weder eine Behinderung noch eine chronische Erkrankung, und sie ist definitiv nicht arm. Aber vor allem fehlt ihr ein ganz bestimmtes Merkmal: eine Hautfarbe. Denn sie ist weiß. So wie alle weißen Menschen einfach »Mensch« heißen dürfen, ohne Ergänzungen, ohne zusätzliche Markierungen und Beschreibungen, scheint auch die weiße Frau gar keine Hautfarbe zu haben. Diese Norm-Frau prägt unseren Feminismus, der nicht flächendeckend, sondern sehr spezifisch in ihrem Interesse agiert. Alle, die über die weiße Frau hinausgehen, bleiben nicht nur unsichtbar, sondern werden aktiv benachteiligt. Heftiger Vorwurf, ich weiß. In den folgenden Kapiteln erkläre ich ausführlich, was damit gemeint ist. Wie der weiße Feminismus zwar uns allen, aber vor allem den Verletzlichsten unserer Gesellschaft schadet.

Feminismus ist kein geschützter Begriff, es gibt keinen Feminismus-TÜV, und das ist auch gut so. Feminismus darf nämlich keinen Türsteher spielen, Feminismus darf keine Menschen ausschließen. Niemand sollte es sich herausnehmen, anderen abzusprechen, feministisch zu sein oder sein zu können. Jeder Mensch darf sich als Feminist*in bezeichnen, und das soll sich auch nicht ändern – je mehr desto besser.

Was sich aber ändern kann und muss, sind so manche Feminismen beziehungsweise Ansichten, die angeblich feministisch sein sollen, im Namen des Feminismus produziert und reproduziert werden, es im Kern aber nicht sind. Ich finde manche Feminismen ziemlich unfeministisch, manche sind sogar aktiv antifeministisch, und genau aus diesem Grund ist dieses Buch entstanden: um dazu beizutragen, dass Feminismen feministischer werden. Um zum Nachdenken anzuregen: Ist mein Feminismus überhaupt feministisch?

Das Wort »weiß« vom »weißen Feminismus« bezeichnet hier keine Gruppe von Menschen, die vom Feminismus ausgeschlossen werden sollen. »Weiß« bezieht sich auf das folgende Wort, »Feminismus«. Wenn ich von weißen Feminist*innen spreche, dann meine ich alle Menschen, die einen weißen Feminismus vertreten, unabhängig davon, wie diese Menschen aussehen mögen. Es geht also nicht darum, weißen Menschen abzusprechen, feministisch zu sein. Wenn sich eine Person als feministisch bezeichnet, darf das zuerst einmal nicht in Frage gestellt werden. Aber bei Feminismus geht es nicht nur darum, sich als feministisch zu bezeichnen. Es geht um eine politische Haltung, die gelebt werden muss. Feministisch zu sein ist also eine Handlung. Feministisch zu sein bedeutet, nicht nur andere, sondern auch sich selbst permanent kritisch zu beäugen. Feministisch zu sein setzt voraus, dass wir täglich unsere eigene Haltung hinterfragen, unser eigenes Verhalten reflektieren und versuchen, gelernte und verinnerlichte anti- oder unfeministische Denk- und Verhaltensweisen zu verstehen und abzulegen. Alle können sich als feministisch bezeichnen, die Hemmschwelle hängt tief, es ist nämlich nur ein Wort und leicht gesagt. Aber wirklich feministisch sind nur jene Menschen, die sich die Arbeit, die dazugehört, machen. Feminismus ist harte Arbeit, dazu eine ständige, eine lebenslange. Ich will nicht abschrecken; ich will nur, dass wir alle sein können und sein lassen.

Auch ich sehe mich als feministisch, und zwar als intersektionale Feministin. Das Wort »Intersektion« bedeutet so was wie »Überschneidung« oder »Schnittstelle«, und »Intersektionalität« beschreibt in diesem Zusammenhang verschiedene Diskriminierungsformen, die gleichzeitig auftauchen und miteinander verwoben sind. Als politischer Begriff wurde »Intersektionalität« gegen Ende der 1980er Jahre von der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Williams Crenshaw geprägt. Sie nutzte ihn zum ersten Mal, um die Diskriminierungsformen Sexismus und Rassismus, die sich gegen Schwarze US-amerikanische Arbeiterinnen richteten, sich gegenseitig überschnitten, untrennbar waren und gleichzeitig auftauchten, sichtbar zu machen.

Eine intersektionale Feministin zu sein bedeutet für mich, dass ich mich in meiner feministischen Arbeit bemühe, verschiedene Diskriminierungsformen gleichzeitig zu betrachten und ihre Wirkung auf Betroffene in meine Lösungsansätze einfließen zu lassen.

Ich bin selber von unterschiedlichen Diskriminierungsformen betroffen, das heißt, ich bin mehrfach marginalisiert. Ich bin Migrantin, in der Türkei geboren und aufgewachsen und erst in meinem 23. Lebensjahr nach Deutschland gezogen. Ich schreibe und kommuniziere also nicht in meiner ersten, sichersten Sprache, oder in jener Sprache, die für mich die Bildungssprache in der Schule oder für mehr als die Hälfte meines Lebens die offizielle Amtssprache war. Zudem war mein Aufenthaltsstatus in Deutschland fast 13 Jahre lang nicht gesichert, in dieser Zeit wusste ich demnach nicht mit Sicherheit, wie lange ich in Deutschland wohnen durfte. Das führte dazu, dass ich immer eine gewisse Unsicherheit in mir trug und es mir nicht vollständig gelang, in Deutschland Wurzeln zu schlagen. Das heißt auch, dass ich in Deutschland nicht stimmberechtigt war, obwohl ich die politischen Parteien mitfinanzierte – auch rechte Parteien, von deren menschenfeindlicher Politik ich als Frau und Migrantin direkt negativ betroffen bin. Ich komme aus der Türkei und bin alevitische Kurdin, was bedeutet, dass ich auch in dem Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, zu einer äußerst marginalisierten Minderheit gehörte. Ich weiß also nicht, wie es sich anfühlt, in einer Gesellschaft der Dominanzgruppe anzugehören, weil ich diese Erfahrung nie gemacht habe. Ich komme aus einem sogenannten Aufsteigerhaushalt – in meiner Kindheit erlebte ich Armut. Der Aufstieg meiner Mutter in Form besser bezahlter Arbeit bedeutete auch meinen Aufstieg. Ich habe bisher keinen akademischen Abschluss – ich habe mehrfach versucht zu studieren, aber mit meinem unbehandelten ADHS und meinen Bildungslücken ist es mir bisher noch nicht gelungen. Die Ursache meiner Bildungslücken ist einerseits meine Klassenherkunft – meine Mutter durfte die Schule nicht abschließen, bevor sie in sehr jungem Alter aus Westdeutschland in die Türkei verheiratet wurde. Das heißt keine Hilfe bei Hausaufgaben und kein Elternteil, der mir abends vorlas oder sich um meine schulischen Anliegen kümmern konnte. Und andererseits das qualitativ fragwürdige, zwar jederzeit unterschiedliche, dennoch immer regierungstreue türkische Bildungssystem, das in Deutschland kaum inhaltliche oder bürokratische Gültigkeit hat. Außerdem musste ich immer viel lohnarbeiten, um meinen Aufenthaltsstatus in Deutschland nicht zu gefährden, was im Vergleich zu Menschen mit sicherem Aufenthaltsstatus noch mal einen Unterschied macht. Diese Voraussetzungen prägen meine Perspektive im Leben und im Feminismus.

Menschen sind komplex und manchmal auch widersprüchlich. So habe ich neben diesen Benachteiligungen auch Privilegien. Ich bin cisgeschlechtlich, identifiziere mich also auch tatsächlich mit dem Geschlecht, das mir zugewiesen wurde, allerdings ohne zu wissen, warum das so ist. Ich kann mein Frausein nämlich an nichts festmachen. Es gibt weder einen Körperteil noch eine Charaktereigenschaft, die mir mitteilt, dass ich eine Frau bin. Nichtsdestotrotz bedeutet dieses Privileg, dass mein Frausein von niemandem in Frage gestellt oder gar verleugnet wird oder werden kann. Zudem bin ich dadurch privilegiert, nicht behindert zu sein, und dass mich meine chronischen Erkrankungen relativ wenig einschränken.

Was die rassistische Diskriminierung angeht, bin ich auch in gewissem Sinne privilegiert. Ich bin durch mein Aussehen nicht direkt als Migrantin einzuordnen. Dieses Privileg nennt sich »white passing«. Das bedeutet, dass mich Menschen unter Umständen für weiß halten, was dazu führt, dass ich eine andere, mildere Art von Rassismus erlebe als Menschen, deren Aussehen rassistisch markiert wird. Das ist ein Privileg im Vergleich mit den Erfahrungen von zum Beispiel Schwarzen oder hidjabi Frauen (die sich auf eine bestimmte Art, oft religiös oder kulturell, verschleiern). Zudem musste ich nicht fliehen und hatte meine offiziellen Dokumente mitsamt Visum dabei, und ich stamme aus einem sogenannten Vertragsland, was den bürokratischen Aufwand seitens der Ausländerbehörde relativ erleichtert.

Diese Zeilen entstehen aus meiner subjektiven Perspektive. Ich kann als Einzelperson nicht alle marginalisierten Perspektiven vertreten oder abdecken, den Anspruch habe ich auch gar nicht. Ich spreche für mich. Dort, wo dies nicht möglich ist, zitiere ich andere, anstatt für sie zu sprechen.

Die Liste der Themen, die ich in diesem Buch behandle, ist unvollständig. Den weißen Feminismus kann man in einem viel größeren Kontext kritisieren, allerdings würde das den Rahmen eines einzelnen Buchs sprengen. Darüber, was sich ändern muss, damit unser Feminismus alle Menschen einbezieht, könnten viele Bücher entstehen, und ein Mensch kann und muss nicht alle Themen abdecken, also habe ich priorisiert. Wenn ich ein bestimmtes Thema vernachlässige, liegt es nicht daran, dass ich es für unwichtig halte, sondern für mich entscheiden musste, was mein Bedürfnis ist und worüber ich am dringendsten sprechen beziehungsweise nachdenken möchte und was ich womöglich verschieben könnte.

Weißer Feminismus

Weißer Feminismus betrachtet Diskriminierung nur auf Grundlage des Geschlechts. Für den weißen Feminismus sind Rassismus, Antisemitismus, Armut, Behinderung, chronische Krankheit etc. irrelevant, diese sind keine »Frauenthemen«. Frau ist nur weiß, berufstätig, gesund und Mittelstand.

Das heißt, dass es in diesem Weltbild nur die Unterdrücker, also Männer, und die Opfer, Frauen, geben kann, weil Diskriminierung ja nur aufgrund des Geschlechts passieren kann. Diese zwei Kategorien von Mann und Frau sind klar voneinander getrennt und in sich homogen. Das heißt: Alle Frauen sind gleich, alle Männer sind gleich, keinerlei unterschiedliche Erfahrungen, keine weiteren Hierarchien jenseits des Geschlechts, die zu Ungerechtigkeiten in der jeweiligen Gruppe führen könnten. Damit dieses Weltbild funktioniert, ist der weiße Feminismus auf das Geschlecht als eine klar getrennte, biologisch-essentialistisch definierte Kategorie und auf Frau und Mann als gegensätzliche und komplementäre Wesen angewiesen. Geschlecht ist demnach Schicksal, das Menschen unveränderbare und für alle einheitliche Eigenschaften genetisch einschreibt: Alle Männer sind so und so, weil sie Männer sind, und alle Frauen sind so und so, weil sie Frauen sind. Der weiße Feminismus versteht Männer als grundsätzlich böse und Frauen als grundsätzlich gut und tugendhaft. Der weiße Feminismus ist eine selbsterfüllende Prophezeiung.

»Weiß«, schreibt Natasha A. Kelly in ihrem Buch Rassismus. Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen![1], sei »keine objektive Kennzeichnung eines äußeren Erscheinungsbildes, sondern eine durch Rassismus geschaffene privilegierte Positionierung«. Der Begriff »weißer Feminismus« bezeichnet einen Feminismus, der nur die Gleichberechtigung relativ privilegierter weißer Frauen aus dem Mittelstand (mit weißen Männern aus dem Mittelstand) zum Ziel hat. Dieser Feminismus konzentriert sich auf den Frauenanteil in Leitungsebenen, also in den Chefetagen, was bedeutet, dass gesellschaftliche Hierarchien nicht als Problem wahrgenommen werden, sondern nur als Strukturen, die man bedienen lernen muss. Das führt dazu, dass weißer Feminismus nicht nur die Diskriminierung mehrfach marginalisierter Gruppen vernachlässigt, sondern auch aktiv fördert, also mehrfach betroffene Menschen aktiv diskriminiert. Dort, wo sich weißer Feminismus um die Anliegen von mehrfach marginalisierten Gruppen zu kümmern scheint, tut er dies von oben herab, anstatt Betroffene zu Wort kommen und für sich sprechen zu lassen, was wiederum bevormundend, gewaltvoll und diskriminierend ist. Denn eine betroffene Person und/oder Gruppe hat jeweils die alleinige Autorität über ihre eigenen Bedürfnisse und muss daher selber darüber sprechen können.

Weißer Feminismus wird auch als »unternehmensnaher Feminismus« bezeichnet[2] beziehungsweise kritisiert, und zwar insofern als er die Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen, die von Armut oder Rassismus betroffen sind, von behinderten und chronisch kranken Frauen, von transgeschlechtlichen oder anderweitig marginalisierten Frauen nicht berücksichtigt. Dieser »Girl Boss«-Feminismus wird auch als »Lean-In-Feminismus« bezeichnet[3], nach dem Buch der Milliardärin Sheryl Sandberg, der Ko-Geschäftsführerin von Meta, dem Konzern, dem auch Facebook und Instagram gehören.

Dabei sind die Menschen, die der weiße Feminismus ausschließt, entweder ebenso Frauen oder sind von Sexismus beziehungsweise dem Patriarchat ebenso negativ betroffen wie Frauen.

Weißer Feminismus bezeichnet also die Bestrebungen für die gleichberechtigte Repräsentation und Teilhabe der Frauen in ausbeuterischen Systemen, ohne das Konzept »Macht« in Frage zu stellen. Demnach sollen Frauen einfach lernen, genauso hart zu sein wie jene Menschen, die sie systematisch ausbeuten, und auf ihrem Weg nach oben scheint es legitim zu sein, andere Frauen und mehrfach marginalisierte Menschen auszubeuten und betroffen zu machen. Repräsentation und Teilhabe sind selbstverständlich wichtige Ansätze, allerdings darf es dabei nicht darum gehen, Opfer zu produzieren. Mehr Frauen in der AfD wären zum Beispiel kein Feminismus, weil dies keinen Beitrag zur Gleichberechtigung leisten würde. Ein höherer Frauenanteil würde die AfD nicht weniger faschistisch machen. Genauso wie es keine feministische Errungenschaft ist, dass die rechtsextreme Politikerin Giorgia Meloni jetzt die Ministerpräsidentin Italiens ist. »Frauen für Merz« ist keine feministische Gruppe, sondern ein misogyner Mob, genauso wie die FDP-Politikerinnen, die sich wegen der radikalen Ellbogenkultur in ihrer Partei aktiv gegen eine Frauenquote einsetzen, damit es bloß niemand ein kleines bisschen leichter hat als sie selbst, und sich dabei auch noch zynisch als feministisch bezeichnen. »Ich hatte es schwer, also sollen sie es auch schwer haben« ist natürlich kein Feminismus, sondern schlicht unsolidarisch. Die feministische Verantwortung ist, eine bessere, gerechtere Welt zu hinterlassen als die, die wir vorfanden.

Für sich einen leichteren Aufstieg in die oberen gesellschaftlichen Klassen zu fordern, anstatt die Kultur der Diskriminierung zu beseitigen, ist keine Gleichberechtigung, sondern Eigennutz, weil Reichtum Armut voraussetzt. Das heißt, damit Frauen (default Frauen, weiße cis Frauen) reich werden können, müssen sie unter anderem mehrfach marginalisierte Frauen ausbeuten, zum Beispiel als billige Arbeitskräfte zu Hause und auf dem Arbeitsplatz. Wer von diesem System aktiv profitiert und das nicht als Problem, sondern als Recht sieht, kann natürlich auch nicht die Beseitigung des Systems fordern, entweder weil sie das eben nicht als Problem sehen, weil es für sie kein Problem ist oder weil sie sich keine Alternative vorstellen können. Insofern machen sich weiße Feministinnen in gewissem Maße erpressbar: Wer auf Privilegien angewiesen ist, hat Angst vor Gleichberechtigung.

Kyla Schuller schreibt in ihrem Buch The Trouble With White Women: »(weißer Feminismus) betrachtet das Leben von Schwarzen und indigenen Völkern, anderen People of Color und den Armen als Rohstoff, der den Aufstieg von Frauen fördern kann«.[4] Demnach sind mehrfach marginalisierte Personen also bloß menschliche Ressourcen, die als billige Arbeitskräfte genutzt werden dürfen, um es den weißen cis Frauen leichter zu machen beziehungsweise ihnen zu ermöglichen, auf den Status der weißen cis Männer aufzusteigen. Dabei sind die eigenen Diskriminierungserfahrungen keine Rechtfertigung, selber zu unterdrücken.

Mehrfach marginalisierte Menschen profitieren von den Maßnahmen des weißen Feminismus im Großen und Ganzen nicht, weil diese Maßnahmen an ihrer Lebensrealität vorbeigehen und teilweise auch aktiv zu ihrer Benachteiligung und Diskriminierung führen. Das heißt, weißer Feminismus fordert zwar die »Gleichberechtigung« einer benachteiligten Gruppe – bestimmter Frauen –, diskriminiert dabei aber selber ganz oft andere, zum Teil auch andere Frauen. Das weißfeministische Ziel, mehr Frauen in Machtpositionen zu bringen und ihnen auf diese Weise genauso viel Macht zu verleihen wie jenen Männern in ihren Kreisen, beseitigt keine Ungerechtigkeiten, weil sich diese Forderung innerhalb eines Systems bewegt, das vor allem von Ungerechtigkeit lebt. Weißer Feminismus übt also keine Systemkritik, sondern möchte Teil des Systems werden – Teil des kapitalistischen Systems, das uns ausbeutet. Das Ziel des Feminismus sollte aber nicht sein, neue Täterinnen zu produzieren. Von einer Gleichberechtigung, die keine ist, profitiert am Ende nur eine kleine Minderheit von Frauen, die ohnehin privilegiert auf die Welt gekommen ist. Das Ziel des Feminismus muss lauten: Herausfinden, welche Strukturen diskriminieren, diese zerstören, durch gerechtere Systeme ersetzen und alle Menschen gleichstellen.

»Canceln« bzw. »Cancel Culture«

Cancel Culture existiert, seit es menschliche Hierarchien gibt: Wer diskriminiert, systematisch klein, unsichtbar, unhörbar und ohnmächtig gehalten wird, wird gecancelt. Canceln beschreibt den Raub von Rechten und Freiheiten von Menschen aus Gruppen, die strukturell benachteiligt werden. Allerdings wurde »Cancel Culture« inzwischen zu einem rechten Kampfbegriff, der Bestrebungen für Gleichberechtigung schaden möchte, indem er diese als gewaltvolle Bedrohung für die Freiheit und die Demokratie brandmarkt. Im deutschsprachigen Raum wird beispielsweise behauptet, eine »Cancel Culture« würde unschuldigen Menschen das Leben und die Karriere und schließlich sogar die ganze demokratische Ordnung zerstören. Auch wenn »canceln« als politischer Begriff ursprünglich »Plattform entziehen« bedeutet, hat die Behauptung, dass ein böswilliger Mob zu Unrecht Leben und Karrieren Unschuldiger zerstöre, absolut nichts mit deutscher Realität zu tun. In Wahrheit ist dieser Vorwurf eine Täter*innen-Opfer-Umkehr und dient dazu, dass Menschen, die von Cancel Culture betroffen sind, weiterhin betroffen bleiben. Das liegt an dem Paradox, dass weiße reiche cis Männer und Frauen in deutschen Fernsehprogrammen sitzen und vor einem Millionenpublikum unironisch behaupten können und dürfen, dass sie gecancelt worden seien, weil sie einmal in ihrem Leben kritisiert oder als »Fleischfresser« bezeichnet wurden, während jene, die wirklich gecancelt worden sind, nie in ihrem Leben die Möglichkeit erhalten, in einer Talkshow zu sprechen. Man weiß nicht einmal von ihrer Existenz, sie leiden in der Unsichtbarkeit, und das ist auch der Sinn der Sache.

Das Wort »canceln« zu verwässern dient ebenso dazu, dass die wahre Cancel Culture unsichtbar bleibt und geschützt wird. Oft wird es in deutschsprachigen Medien als »Cancel Culture« diffamiert, wenn beispielsweise in den sozialen Medien gegenüber einer berühmten privilegierten Person oder gegenüber einer Institution Kritik, Enttäuschung oder Wut geäußert werden. Dabei geht es oft um die Kritik diskriminierenden Verhaltens und um die Forderung, dass eine Person oder Institution, die mit ebenjenem diskriminierenden Verhalten auffällt, die Konsequenzen tragen soll. Also eine Person oder Institution, die diskriminiert, die man aber nicht juristisch belangen kann, weil viele Diskriminierungsarten entweder nicht strafbar sind oder nicht bewiesen werden können, wenigstens sozial büßen zu lassen und so ein Stück Gerechtigkeit herzustellen. Es geht nicht zwingend darum, dass die beschuldigten Personen oder Institutionen aus der Öffentlichkeit entfernt werden sollen, auch wenn unter Umständen genau das gefordert werden kann. Am häufigsten geht es aber um reine Kritik und manchmal auch um die Forderung nach einer formalen Entschuldigung. Diese verbal und öffentlich geäußerte Kritik und die legitime Forderung nach Konsequenzen des Fehlverhaltens oder einer bloßen Entschuldigung werden in den traditionellen bürgerlichen Medien mit einer erfundenen Machtzuschreibung, es würden Menschen dadurch zerstört, dämonisiert. Dabei geht es oft um den Ton, mit der die Kritik geäußert wird, um die Wut, um es genauer zu beschreiben. Wut zu skandalisieren ist sehr praktisch: Zum einen resultiert Wut als Emotion vor allem aus Ohnmacht, zum anderen dient deren Skandalisierung denjenigen, die von dieser Ohnmacht profitieren. Mit oder ohne Absicht soll diese Dämonisierung am Ende dazu führen, dass betroffene Menschen keine öffentliche Kritik mehr äußern können, weil ihre Kritik instrumentalisiert wird, um sie auf der Stelle, quasi sobald sie den Mund öffnen, zu Täter*innen zu erklären.

In diesem Buch geht es nicht darum, dass wir weiße Feministinnen canceln. Es geht auch nicht darum, dass wir jene Menschen, die den weißen Feminismus gut finden und größer machen, canceln. Nicht die Personen müssen gecancelt, sondern die Idee des weißen Feminismus muss durch eine bessere Alternative ersetzt werden. Das können wir nur schaffen, wenn wir frei und ohne Angst darüber sprechen können, dass der Kampf gegen Armut, Rassismus, Antisemitismus, Transfeindlichkeit und Behindertenfeindlichkeit zum festen Bestandteil unseres Feminismus werden muss, damit alle, die von Sexismus negativ betroffen sind, von Feminismus profitieren können.

TERF, SWERF

TERF steht für »Trans Exclusionary Radical Feminists« und bedeutet trans exkludierende/ausschließende Radikalfeminist*innen. Viele TERFs behaupten, dass TERF eine frauenfeindliche Beleidigung wäre: Als Jan Böhmermanns Sendung ZDF Magazin Royale 2023 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet wurde, demonstrierte eine Gruppe transfeindlicher Radikalfeministinnen namens »Lasst Frauen sprechen!« vor dem Marler Theater, in dem die Preisverleihung stattfand. Die Gruppe verlieh Böhmermann den selbstinitiierten Negativpreis »Grimmiger Scheißhaufen«: ein Stoffhut in Form des Kackhaufen-Emojis. Grund für diese »Ehre« ist eine Folge von Magazin Royale über Transgeschlechtlichkeit und Transfeindlichkeit vom 2. Dezember 2022[1] mit dem Titel »Transfeindlichkeit ist Trend«, in der der Satiriker in Sachen feministische Aufklärung einen viel besseren Job macht als das Emma-Magazin. »Wir sind hier, weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk mit dem Grimme-Preis für Jan Böhmermann einen Mann auszeichnet, der in seiner Sendung Frauen als Scheißhaufen bezeichnet hat«, soll die Juristin Eva Engelken als eine der Initiator*innen des Negativpreises gegenüber dem Emma-Magazin begründet haben. In der betreffenden Folge bezeichnet Jan Böhmermann Frauen selbstverständlich nicht als Scheißhaufen, sondern die transfeindliche Ideologie. Als Juristin sollte sie besser argumentieren und einordnen können – erwartet man zumindest. Aber wir wissen spätestens seit Beatrix von Storch auf einen Tweet des Spiegel mit dem 0815-Ausdruck »Wir halten euch auf dem Laufenden« mit »Gendergaga« antwortete, weil sie »Laufenden« für die gegenderte Version von »Läufer« hielt,[2] dass transfeindlicher Hass das Gehirn ausschalten kann. Allerdings kann auch die Behauptung, Transfeindlichkeit beim richtigen Namen zu nennen sei frauenfeindlich, offenlegen, dass Juristinnen manchmal Unsinn erzählen. Diese Behauptung ist vergleichbar mit dem Argument, dass jemanden als rassistisch zu bezeichnen, rassistisch gegenüber dieser Person sei, und ist daher eine Umkehr der Täter*innen-Opfer-Rolle. Und ich führe den Rassismus-Vergleich tatsächlich nur mit Vorsicht, weil ich weiß, dass das Emma-Magazin auch die Bedeutung von Rassismus nicht kennt. So nannte das Magazin Jan Böhmermann beispielsweise einen »lupenreinen Rassisten«, weil er Alice Schwarzer als »alt« bezeichnete.[3]TERFs werfen anderen vor, was sie selbst sind.

Bei TERF handelt es sich nicht zwingend um eine Fremdbezeichnung – es gibt auch TERFs, die stolz darauf sind, sich als TERF zu bezeichnen. Viel weiter verbreitet ist allerdings die Art von TERFs, die sich in Bezug auf trans und nicht-binäre Menschen als inklusiv geben. Diese sollten natürlich geschützt werden – aber bitte möglichst weit weg von uns »normalen« Menschen. Das zeige ich anhand eines Beispiels im Kapitel »Opfer und Dämonen«, eines Positionspapiers der zivilgesellschaftlichen Organisation Terre Des Femmes Deutschland.

Der transfeindliche »Feminismus«, den ich ebenso als weißen Feminismus verstehe, behauptet, dass die Existenz von trans Personen eine Gefahr für »Frauen und Mädchen« sei. Das ist interessant, weil auch trans Frauen Frauen sind und trans Mädchen Mädchen. Ihnen werden ihre Identitäten von diesem »Feminismus« allerdings abgesprochen. Die vermeintliche Gefahr sehen die TERFs in bestimmten Nebenschauplätzen wie öffentlichen Toiletten, Umkleidekabinen und im Frauensport. Aber sie behaupten auch, dass beispielsweise ein Recht auf Selbstauskunft eine Gefahr für die Frauen und Mädchen in Schutzhäusern sei – eine Behauptung, der Expert*innen widersprechen. Ein weiteres Merkmal des transfeindlichen Radikalfeminismus ist auch tatsächlich, dass Expert*innenmeinungen und wissenschaftliche Fakten keine Rolle spielen. Seine Transfeindlichkeit ist teils offensichtlich, aber oft auch subtil. Hass, Gewalt und Diskriminierung werden häufig als Fürsorge verkleidet. So wie bei jedem subtilen Hass ist es schwieriger für Außenstehende, diesen als solchen zu erkennen. Er scheint manchmal plausibel, bis man anfängt darüber nachzudenken.

 

SWERF steht für »Sex Work Exclusionary Radical Feminists« und bedeutet »Sexarbeitende ausschließende Radikalfeminist*innen«. SWERFs sagen entweder, dass jede Sexarbeit pauschal Vergewaltigung sei oder dass der Anteil von selbstbestimmten Sexarbeitenden so gering sei, dass sie, ihre Rechte, Bedürfnisse und Freiheiten in der Gesetzgebung keine Rolle spielen müssten. Als Angehörige mehrerer Minderheiten ist dies für mich eine Horrorvorstellung – der Anteil von als Erwachsenen immigrierten alevitischen Kurdinnen in Deutschland dürfte ebenso gering sein und für diese SWERFs alleine aufgrund des niedrigen Anteils keine Rolle spielen. Der Begriff SWERF bezeichnet jene Feminist*innen, die die Kriminalisierung der Sexarbeit nach dem »Schwedischen Modell«, das auch als »Sexkaufverbot« bezeichnet wird, fordern, anstatt die Ursachen der Sexarbeit zu beseitigen und Sexarbeiter*innen in ihren Rechten zu stärken.

TERFs und SWERFs zeigen oft Überschneidungen, TERFs sind oft ebenso SWERFs und umgekehrt. »Nicht selten gehen Transmisogynie und Hurenfeindlichkeit miteinander einher«, schreibt Hengameh Yaghoobifarah fürs Missy Magazine:

In den USA werden die beiden Strömungen unter dem Label exkludierender Radikalfeminismus zusammengefasst. Unter Radikalfeminismus ist nicht einfach radikal praktizierter Feminismus zu verstehen, vielmehr bezieht er sich auf eine konkrete Bewegung innerhalb des Feminismus. Wobei hier angemerkt werden muss, dass dieses Label stark vereinfacht, denn nicht alle radikalfeministischen Theoretiker*innen und Aktivist*innen sind per se trans- und/oder Sexarbeiter*innen-feindlich.[4]

Rassismus

In dem oben zitierten Text betont Yaghoobifarah später, dass TERFs und SWERFs auch häufig rassistisch agieren, sich beispielsweise für ein Burka- und Kopftuchverbot einsetzen. Es ist ein Problem, Rassismus nur als ein Phänomen unter Nazis und Rechtsextremen zu verstehen, weil es erstens nichts mit der Realität zu tun hat – Rassismus ist ein tief verankertes, starkes, systematisches, flächendeckendes und großes Problem in Deutschland, das alle Gesellschaftsschichten betrifft. Zweitens verhindert dieser Aberglaube, den eigenen Rassismus zu erkennen und abzulegen. Rassismus ist nicht in den alleinigen Händen von Nazis und Rechtsextremen. Die Leipziger Autoritarismus-Studie[1] belegt, dass die Mitte der deutschen Gesellschaft vielmehr rechts als mittig steht.

Rassismus ist in den Strukturen unserer Gesellschaft eingeschrieben, jede Ebene unserer Gesellschaft ist von Rassismus durchdrungen. In dem oben zitierten Buch Rassismus schreibt Natasha A. Kelly:

Rassismus (ist) eine spezifische Form der Diskriminierung, die sich aus institutionellem Rassismus, internalisiertem[1] Rassismus, interpersonalem Rassismus und Alltagsrassismus speist. Auf diesen Ebenen werden Machthierarchien geschaffen, die die gesellschaftlichen Strukturen und sogar globale Hierarchien zwischen Ländern und zwischen Kontinenten herstellen.[2]

Rassismus führt dazu, dass bestimmte Menschen durch gesetzliche und gesellschaftliche Maßnahmen benachteiligt und diskriminiert, aufgrund von Fremdzuschreibungen, Vorurteilen, Abwertungen und aktivem Hass[2] als »die Anderen« markiert und psychischer, verbaler, physischer und ökonomischer Gewalt ausgesetzt werden. Rassismus findet weder nur auf rechtsextremen Demonstrationen noch ausschließlich in blöden Kommentaren auf Social Media statt, sondern ist auch in der deutschen Gesetzgebung festgeschrieben, beispielsweise in migrationsfeindlichen Gesetzen oder durch die Kriminalisierung bestimmter Verhaltensweisen, die überwiegend von rassifizierten, also rassistisch kategorisierten Menschen gezeigt werden, deren Ursache allerdings in der Diskriminierung liegt und nicht in ihren vermeintlichen Genen oder ihrer vermeintlichen Kultur. Insofern zeigt sich auch der Rassismus in den meisten Fällen als eine Art selbsterfüllende Prophezeiung: Menschen werden diskriminiert, dadurch entstehen weitere Probleme, diese Probleme werden diesen Menschen zugeschrieben und wiederum als Ausrede für mehr Diskriminierung instrumentalisiert.

Fußnoten

[1]

verinnerlichtem

[2]

Als Hass bezeichne ich keine Emotion, sondern eine Handlung.

Ableismus

Aktion Mensch, ein gemeinnütziger Verein für Inklusion, beschreibt Ableismus als die Reduzierung von Menschen auf ihre körperliche oder psychische Behinderung. Ableismus ist die eingedeutschte Version von »ableism« aus dem Englischen. Autor*in und Aktivist*in Mika Murstein schreibt: »Bei Ableismus geht es um das Höherwerten bestimmter Fähigkeiten, die ein reibungsloses Funktionieren und Nützlichsein in dieser Gesellschaft ermöglichen. Mangel an diesen und von der Norm abweichendes Sein werden abgewertet. Be_hinderung, Krankheit und neuroatypisch sein werden als Abweichung von der als ›gesund‹ bezeichneten Norm und als Schwäche empfunden.«[1]

Marie Minkov erklärt: »Ableismus beschreibt ein Wertesystem anhand eines Fähigseins: Bist du (nicht) fähig, bestimmte Dinge zu tun, wirst du bewertet. Was dieses Fähigsein umfasst, bestimmen die Normen einer Gesellschaft. Sie legen fest, was ein fähiger Körper ist und wie er auszusehen hat.«[2] Was Marie Minkov und Mika Murstein hier beschreiben, ist die Konstruktion der Behinderung als gesellschaftliches Phänomen. In ihrem Leseheft Ableismus schreibt die Autorin Tanja Kollodzieyski:

Ableismus wird im Wesentlichen von zwei Seiten bestimmt. So beschreibt er auf der einen Seite eine gewisse Wahrnehmungs- und Erwartungshaltung von nicht-behinderten Menschen gegenüber behinderten Menschen. Feindliche Gesinnung kann ein Teil davon sein, muss es aber nicht. Es geht darum, wie nicht-behinderte Menschen das Leben von Menschen mit Behinderung bewerten; welche Bilder und Stereotypen sie im Kopf haben, wenn sie an behinderte Menschen denken. (…) Ableismus entsteht also dann, wenn nicht-behinderte Menschen es als Gesetz erachten, dass ihre Vorstellungen die Realität abbilden. (…) Die unbemerkte Lücke zur Realität ist daher ein wesentliches Spektrum des Ableismus.[3]

Ein gängiges Wort für Ableismus ist auch Behindertenfeindlichkeit. Allerdings deckt er nicht jede Form von Ableismus ab, erklärt Tanja Kollodzieyski in ihrem Text weiter.

 

Meinem Feminismus geht es nicht darum, als Frau mit Männern gleichgestellt zu werden. Denn für mich ergibt sich daraus automatisch die Frage: Mit welchen Männern? Mit christlich sozialisierten, weißen cis Männern aus dem Mittelstand des globalen Nordens? Oder mit jenen Männern, die aus vielfältigen Gründen aus den Rechten und Freiheiten privilegierter Männer ausgeschlossen, diskriminiert und marginalisiert werden? Ich beanspruche weder ein vermeintliches Recht, selbst zur Täterin zu werden, noch möchte ich so tun, als ob jeder Mann gleich und gleichberechtigt, mit gleichen Möglichkeiten ausgestattet und gesegnet wäre. Ich möchte würdevoll leben, weil es als Mensch mein Recht ist.

 

   Antalya, 2023

1. Wir sind nicht gleich, und das ist in Ordnung

Wir sind weder gleich noch gleichberechtigt. Das so plump zu hören, mag zuerst einmal irritieren, weil man diese einfache Feststellung als einen persönlichen Vorwurf auffassen kann. Allerdings lohnt es sich, kurz innezuhalten.

Der Wut-Filter

Stellen wir uns vor, dass wir uns mit einer Freundin streiten. Wir sind wütend auf sie. Verhaltensweisen, die wir unter normalen Umständen vielleicht nicht einmal wahrnehmen würden, stören uns plötzlich, wir fassen diese negativ auf. Weil wir wütend auf sie sind. Diese Wut auf die Freundin nach einem Streit müssen wir uns wie eine Art Filter vorstellen, durch den wir sie betrachten. Bei der Bewertung des Verhaltens marginalisierter Menschen sind permanent zahlreiche solcher Filter aktiviert, auch wenn Wut nicht unbedingt der Auslöser ist. Wir bemerken diese Filter nicht, aber sie sind da, und sie beeinflussen unsere Wahrnehmung. Wir entstehen nämlich nicht im luftleeren Raum, sondern werden in einer Gesellschaft sozialisiert, in der gegenüber bestimmten Gruppen Vorurteile und sogar feindliche Ansichten herrschen, die zu systematischer Diskriminierung führen. Das alles prägt uns, auch wenn wir diese Prägung nicht wahrnehmen, denn wir sind das Produkt der Gesellschaft, in der wir leben, in der wir werden.

Die Merkmale der Diskriminierung und Privilegien können wir uns darum als eine Art Filter vorstellen, die zwischen uns und der betroffenen Person oder Gruppe liegen. Wie wir einen Menschen betrachten, wird dadurch bestimmt, auf welche Weisen dieser Mensch marginalisiert oder privilegiert wird. Natürlich sind nicht alle Marginalisierungen oder Privilegien sichtbar fürs Auge, aber sofern das der Fall ist, beeinflusst und prägt das unseren (ersten) Eindruck und unsere Bewertung. Dabei können sich mehrere Filter überlagern, Stichwort Intersektionalität.

So wie wir nicht gleich betrachtet werden, wird auch unser Verhalten nicht gleich bewertet. Das sieht dann ungefähr so aus: Eine weiße Frau wird nach strengeren Maßstäben behandelt und bewertet als ein weißer Mann. Eine Schwarze oder anderweitig rassistisch markierte Frau wird ebenso nach anderen Maßstäben behandelt und bewertet als eine weiße Frau und macht dementsprechend andere Erfahrungen. Diese Realität macht der Mord an Marwa Al-Sherbini brutal sichtbar.

Marwa Al-Sherbini wurde auf einem Kinderspielplatz in Dresden von einem Mann rassistisch und frauenfeindlich beleidigt. Sie wehrte sich und zeigte ihn an. Während der Verhandlung im Landgericht Dresden, im Jahr 2009, tötete er sie mit Messerstichen. Ihr Mann versuchte, den Täter davon abzuhalten, leider erfolglos. Die Polizeibeamten im Gerichtssaal gingen zuerst auf Al-Sherbinis Ehemann los, anstatt auf den Mann mit dem Messer zu reagieren. Sie starb vor Ort. Marwa Al-Sherbini trug einen Hijab, also eine religiöse oder kulturelle Kopfbedeckung. Das nahm der Täter zum Anlass, um sie zuerst öffentlich rassistisch und frauenfeindlich zu beleidigen und schließlich zu ermorden.

Die Filter, durch die Menschen betrachtet werden, können beliebig aufeinandergelegt werden: Ist eine Person arm, trans, behindert oder als Sexarbeiter*in tätig, kommen jeweils Vorurteile, Abwertungen und systemische Probleme dazu, die bestimmen, was wir von unserem Gegenüber halten und wie wir ihm begegnen. Diese Filter werden von den Betrachtenden oft nicht wahrgenommen; es ist entsprechend auch viel häufiger so, dass Menschen ihre Vorurteile nicht bewusst wahrnehmen, als dass sie andere mit Absicht abwerten. Vieles an Diskriminierung und menschenfeindlichen Verletzungen passiert, ohne dass wir es merken oder beabsichtigen, also unreflektiert. Auch diskriminierende Strukturen werden oft nicht als solche in Frage gestellt. »Ist halt so«, denkt man und zuckt mit den Schultern, wenn zum Beispiel sogenannte Ausländer*innen seit über 40 Jahren in Deutschland leben, aber nicht stimmberechtigt sind. Wir gewöhnen uns an Skandale und bewerten sie als normal.

Natürlich gibt es auch jene, die mit Absicht verletzen und ausschließen und, um das tun zu können, unsere Unterschiede instrumentalisieren. Zum Beispiel wird behauptet, dass unsere vermeintlichen Gene oder unsere vermeintliche Kultur uns zwingend gewalttätig machen. Das sagten sie in der Vergangenheit, um Rassismus zu legitimieren und ausüben zu können, und das sagen sie heute mit der gleichen Absicht, und auch um trans Frauen vom Frausein auszuschließen. Ein ähnliches Argument bei Neurechten und Nazis lautet: Diejenigen aus bestimmten »Kulturkreisen« sollen von Europa ferngehalten werden, weil diese hier angeblich nicht integrierbar und sogar gefährlich für europäische Werte seien.

Wenn wir betonen, dass die Behauptung, bestimmte Gruppen wären aufgrund ihrer »Kultur« nicht »integrierbar«, eine rassistische Lüge ist, dann verleugnen wir nicht, dass manche von uns Bezüge zu außereuropäischen Kulturen haben. Bei der Benennung dieses rassistischen Narrativs als solchem geht es darum, konsequent abzulehnen, dass diese Bezüge als Ausrede für Ausschluss, Diskriminierung und Gewalt instrumentalisiert werden. Zumal niemand genau sagen kann, um welche Kultur es jeweils gehen soll, welche Merkmale diese angeblich hat. Es geht eben nicht um Kultur, sondern um rassistisch-kolonialistische Vorstellungen von »den Anderen«. Rechte tauschten das Argument der »Kultur« gegen das Argument der Genetik, wahrscheinlich weil es inzwischen auch wissenschaftlich belegt ist, dass es keine »Menschenrassen« gibt, und sie mit dem Verweis auf Genetik keine größeren Massen mobilisieren können. Mit »Kultur« ist allerdings dasselbe gemeint: dass bestimmte Menschen, die als fremd gebrandmarkt werden, von Natur aus so anders und minderwertig seien, dass sie nicht erwünscht und sogar gefährlich sind. Das soll auch die schlechte Behandlung – wie Diskriminierung und Gewalt – rechtfertigen.

Das Kultur-Argument bildet womöglich nicht die Mehrheitsmeinung ab, dennoch ist es gefährlich, solange es von dieser Mehrheit nicht entschieden abgelehnt und stigmatisiert wird. In ihrem Buch Frausein schreibt die Autorin Mely Kiyak, nachdem sie körperlich angegriffen wurde: »Wenn ein Mensch einen anderen in der Öffentlichkeit unter der Mitwisserschaft anderer beschädigt, wird damit eine gesellschaftliche Vereinbarung über Hierarchien und Stellungen getroffen. Die Gemeinschaft sprach zu mir, indem sie mir durch ihre Ignoranz zurückmeldete, dass ich ein ungeschütztes Mitglied bin.«[1] Kiyak bezieht sich zwar auf einen körperlichen Angriff durch einen Mann, aber man muss nicht körperlich angegriffen werden, um verletzt zu werden. Auch verbale Gewalt ist Gewalt, auch die Verharmlosung von Rassismus ist Rassismus. Und Rassismus ist ausnahmslos immer Gewalt. Sag mir also nicht, dass du keine Farbe siehst. Sag denjenigen, die mich nicht hier sehen wollen, dass ihre Meinung nicht toleriert wird!

Wenn wir alle bloß das Produkt der Gesellschaft, in der wir leben, sind, und das sind wir, kann man Menschen nicht vorhalten, dass sie bestimmte Vorurteile und diskriminierende Verhaltensweisen von ebenjener Gesellschaft übernehmen. Das ist nur natürlich. Wir sollten es ihnen aber vorhalten, wenn sie diese Verhaltensweisen nicht reflektieren, wenn sie ihre Verantwortung, die Gesellschaft diskriminierungsärmer zu gestalten, nicht ernst nehmen und nicht dran arbeiten, ihre eigenen Verhaltensweisen zu verändern. Das ist nämlich etwas, was alle können.

Brüste ≠ Brüste

Feminismus beschäftigt sich, ganz grob gesagt, mit dem System der Ungleichbehandlung, dessen Ursachen sexistisch sind. Das heißt: Wir sind nicht gleich, weil wir nicht gleich behandelt werden. Mag sein, dass Frauen und Männer in Deutschland zumindest schwarz auf weiß gleichgestellt sind. Aber die Organisation unseres Zusammenlebens funktioniert nicht nur über Gesetze, es geht weit darüber hinaus. Im Alltag gibt es zahlreiche Situationen, die nicht juristisch geregelt sind. Zudem gilt die gesetzliche Gleichbehandlung nicht allen: So werden beispielsweise trans und nicht-binäre Menschen auch juristisch diskriminiert, genauso wie Menschen, die behindert, chronisch krank, von Rassismus oder Armut betroffen sind. Das heißt, in Deutschland ist es legal, bestimmte Gruppen zu diskriminieren. Während ich diesen Text schreibe, sind trans Menschen immer noch von der Fremdbestimmung, die das sogenannte Transsexuellengesetz festschreibt, betroffen. Ein Selbstbestimmungsgesetz will diesen Missstand teils beseitigen, allerdings wird seit dessen Ankündigung eine regelrechte Kampagne dagegen geführt, unter anderem von selbsternannten Feministinnen wie Alice Schwarzer. Und migrantischen Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft werden einige Rechte verwehrt, die für Deutsche selbstverständlich sind – so selbstverständlich, dass sie diese nicht einmal wahrnehmen. Zum Beispiel das Stimmrecht oder das Recht auf Mobilität.

Wofür genau müssen wir unsere Unterschiede definieren, welchen Sinn hat das, außer uns zu spalten? Diese Frage, vor allem der Gedanke der Spaltung, ist oft die erste impulsive Reaktion von Menschen, die zum ersten Mal mit ihren Privilegien konfrontiert werden. Dabei geht es darum, aus unseren Unterschieden vielfältige und effektive Maßnahmen zu entwickeln, damit wir alle besser leben können.

Wenn wir beispielsweise davon ausgehen, dass Frausein nur eine einzige Bedeutung hat, dann konzentrieren wir unsere Kräfte auf diese eine Bedeutung. Das ist kontraproduktiv, weil die gesellschaftliche Realität nun mal so ist, dass Frauen nicht dieselben Erfahrungen machen und das Frausein unterschiedlich erlebt wird. Das heißt, dass auch die Diskriminierung von Frauen nicht immer gleich ist. Wenn wir Maßnahmen speziell für den Schutz der privilegiertesten Frauen entwickeln – jener Frauen, die die Deutungshoheit haben und definieren, was Frausein bedeuten soll –, vernachlässigen wir unvermeidbar Perspektiven, die auf diese Weise unsichtbar gemacht werden. Die Maßnahmen für die privilegiertesten Frauen helfen Frauen, die mehrfach marginalisiert werden, in den seltensten Fällen, beispielsweise der alleinige Fokus auf die sogenannte gläserne Decke, ohne Armut zu bekämpfen. Wenn Feminismus zum Ziel hat, alle Frauen gleichzustellen und zu schützen, dann ist es unverzichtbar, dass auch Diskriminierungsformen wie Rassismus, Klassismus, Transfeindlichkeit, Ableismus u.v.m. betrachtet und bekämpft werden – diese Themen müssen Gegenstand des Feminismus sein, weil sie Frauen betreffen. Eine Frau hört nicht auf, eine Frau zu sein, nur weil sie von Rassismus betroffen ist. Rassismus und Sexismus sind für sie nicht trennbar – sie wird als Frau von Rassismus betroffen. Dies gilt ebenso für andere Marginalisierungsformen.

Die alltäglichen Ungleichheiten und Diskriminierungen können sehr vielfältig sein und ziemlich unspektakulär erscheinen. Etwas, das mich immer wieder beschäftigt, sind Männer, die in der Öffentlichkeit ohne Oberteil herumlaufen.

Ich bin nicht unbedingt eine sehr sportliche Person. In den letzten Jahren entwickelte sich dennoch ein Bedürfnis in mir, sportlicher zu werden, um meinem Körper etwas näherzukommen, falls es noch möglich sein sollte, dass ein Mensch seinem Körper näherkommt, weil wir alle in einem Körper leben. Vor wenigen Jahren fing ich an zu bouldern. Das ist eine Art zu klettern, aber ohne Sicherheitsgurt, weil die Kletterwände nicht hoch sind und man nicht sehr tief fallen kann.

In Boulderhallen begegne ich immer wieder jungen weißen Männern ohne Oberteil. Selbst in jenen Hallen, in denen es ausdrücklich unerwünscht ist, dass Menschen ohne Oberteil Sport machen, und entsprechende Schilder angebracht sind. Kaum denke ich an Boulderhallen, denke ich an die Oben-Ohne-Pauls und rege mich auf, als stünde gerade einer vor mir.