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Wie überlebt man, wenn man zum Opfer eines Banküberfalls wird? Wie wächst man auf in einer Familie, in der noch vor einer Generation das Lesen von Büchern verboten war? Wie schlägt man sich durch die Pubertät, wenn man zu denen gehört, die immer schon Schauspieler oder Schriftsteller werden wollten? Jakob Anderhandts Achtziger- und Neunzigerjahre sind durch andere Kämpfe gekennzeichnet als die zwischen Scout-Ranzen und Aktenköfferchen oder Playmobil und Play Big. Hinterlistig schildert Weiter das Leben von Außenseitern zu einer Zeit, in der sich die meisten nach dem Abenteuer sehnten, um sich gleichzeitig vor ihm zu fürchten.
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Seitenzahl: 156
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Trotz mancher Anspielungen auf das Leben des Autors sind alle Figuren in den nachfolgenden Geschichten frei erfunden. Eine Ähnlichkeit mit noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen wäre rein zufällig.
Abschied vom Gartenzaunland
Peter und Petra
Eine Sonnenblume
Die offene Tür
»Anthroposophisch«
Zweimal im selben Fluß
Wenn du gehst
Eine ganz normale Klasse
Sweet Harmony
Die eiserne Leserin
Das Opfer
Von der dreifachen Wandlung zum Ich
Trinkaus!
Bei aller Liebe
An einem Dienstagmorgen, ich war gerade vierzehn, ging ich auf die Sparkasse, um von meinem Konto Geld abzuheben. Die ersten beiden Schulstunden hatte ich frei, es war kurz nach neun. Die Schalterhalle war leer bis auf eine Dame in Grau. Als ich bei der Kontoführung stand und den Zettel für die Auszahlung ausfüllte, legte sich ein Arm um meinen Hals. Gleichzeitig drückte ein Stück Metall in meine Schläfe.
»Hinlegen! Alle!«
In Zeitlupe zog die Kontoführung an mir vorüber. An der Kasse stand Herr Weignarz hinter dem Panzerglas, so bleich und doch so kalt.
»Du, Hände weg vom Tresen!« Der Druck gegen meine Schläfe wurde schwächer. Ein Stück Stoff flog vor mir in die Lade.
»Und nicht die unteren Scheine!« – »Du, liegenbleiben!« Da gab es das Jahreslos vom Großen Preis, die Aktion Sorgenkind. Da gab es die Welthungerhilfe.
»Hier«, sagte Herr Weignarz und hob die Tasche. »Das ist alles. Bis auf die unteren Scheine.«
»Rüberschieben!«
Der Griff um meinen Hals verschwand. Ich fiel, ich sah Springerstiefel. Doch jemand anderes sah mehr und genauer – und das war in einem stärkeren Sinn noch einmal ich. Schon am Abend hatten sie ihn gefaßt.
In Null Komma Nichts berühmt zu werden bedeutet, daß sich plötzlich auch diejenigen für einen interessieren, denen man vorher gleichgültig war. Nicht alle Welt interessiert sich, wohl aber einige mehr. Und wer das ist, wer es nicht ist, wer bloß am Rand steht, um mit der Idee zu spielen, das ist das Interessante daran.
Es ist wie eine zweite Geburt, ähnlich, als käme man noch einmal zur Welt mit dem perfekten Äußeren. Was liest man mit vierzehn? »Für gutaussehende Menschen ist es in der Regel schwieriger, die Sympathien anderer richtig einzuschätzen. Denn sie müssen ständig entscheiden, ob sich ein Kompliment auf ihr Äußeres bezieht, oder ob sie damit als Person gemeint sind.« Warum ich mir dieses Zitat zu eigen machte, verstand niemand. Aber so war es. Der Überfall war etwas Äußeres. Das war nicht mir passiert. Ich hatte zugesehen. Also würde es mich niemals treffen, es sei denn, ich ließ es willentlich zu. Und weil ich das nicht tat, mußte nun auch ich entscheiden, wann in einem Gespräch ich als Person gemeint war und wann bloß das Äußere, der Überfall.
»Aber es ist dir passiert!« Der soziale Thomas, die Mitmenschlichkeit pur in unserer Klasse. Zwei Wochen lang sah er es darauf ab, mir zu helfen.
»Muß ich nicht! Es war jemand anders! Du kennst die Erfahrung nicht!«
»Ach nee! Und wer ist dann bitte dieser andere? Kann ich den mal kennenlernen?« Firma Hohn & Spott baute sich vor mir auf. An ihr vorbei spuckte ich auf den Fußboden. Dann stieß ich einen Urwaldschrei aus. Das funktionierte immer, und immer mit demselben Resultat.
»Mensch! Nun werd’ doch nicht gleich aggressiv! Klar, daß dich das total getroffen hat! Aber ich will dir doch helfen!«
»Und ich hab dich nicht um Hilfe gefragt! Wenn ich Hilfe brauche, frage ich. Okay?«
»Dann nimm wenigstens Rücksicht auf deine Gefühle! Die kochen sonst nämlich über! Irgendwann mal, wenn du am wenigsten damit rechnest! Völlig unkontrolliert!«
Meine Augen stachen in seine. In Thomas’ Gesicht blieb keine Regung mehr. Ich holte zum Gegenschlag aus.
»Lieber Thomas, merk dir eines: Meine Gefühle haben weder früher dir gehört, noch tun sie es jetzt. Sie sind mein höchstes Privateigentum. Und um was es im Augenblick geht, das sind allein deine Gefühle. Weder mir, noch dir ist die Sache passiert. Doch im Gegensatz zu mir scheinst du nicht damit klarzukommen. Soll ich dir sagen, warum? Weil du auch sonst jeden noch so merkwürdigen Dreck auf dich beziehen mußt!«
Die Mundklappe fiel.
Die Szene war zu Ende.
Aber, natürlich, so geht das nicht. Ein Star, der sich nicht den Regeln seines Berühmtseins fügt, den läßt man bald wieder fallen. Als es mit meiner Popularität fast schon wieder vorbei war, sprach mich nach dem Konfirmationsunterricht sogar unser Pfarrer an.
»Jakob, ich wollte mir dir noch einmal reden wegen…«
»... wegen des Überfalls in der Sparkasse? Weil auch Sie meinen, daß ich damit alleine unmöglich klarkommen kann?« Ich senkte die Stimme. »Also auch du, mein Sohn Brutus.« Bohnges überhörte die Bemerkung.
»Ich verstehe, daß du mir nicht glauben magst. Aber ich möchte dich nicht ausfragen. Ich möchte dir auch nicht helfen, es sei denn, du wünschst es ausdrücklich. Ich möchte nur wissen, was da genau passiert ist.«
»Da müssen Sie den anderen fragen«, sagte ich spitz. »Suchen Sie nach dem anderen, fragen Sie den!«
»Aber kannst du mir nicht wenigstens ein bißchen helfen, ihn zu finden?«
War das Ernst oder eine neue Falle? Ich befand mich am Ende des Raumes. Langsam zog ich einen der Stühle heran. Vorn tat Bohnges dasselbe. Wir setzten uns. Über die Bankreihen hinweg sahen wir uns an.
»Gut«, meinte ich. »Meinetwegen fragen Sie. Legen Sie los.«
»Als es passierte – wo warst du?«
»Daneben.«
»Daneben also…« Bohnges nickte. »Woran hast du es gemerkt?«
»Ich habe es gesehen. Ich habe ihn gesehen.«
»Ihn? Meinst du mit ›ihn‹ den, dem es passiert ist?«
»Ja. Und Kubig, der den Überfall gemacht hat. Den habe ich auch gesehen.«
»Beide zusammen hast du also gesehen?«
»Ja.«
»War es weit weg, wo du standest?«
»Mindestens drei Meter.«
»Und wie sah er aus, der andere?«
»Wie ich.«
»Wie du?«
»Genau wie ich.«
»Aber du, du warst es trotzdem nicht?«
»Nein. Wie hätte ich dann alles sehen können? Die Pistole an seiner Schläfe, was Kubig anhatte…«
Bohnges schwieg. Er legte die Hände übereinander.
»Dessen Kleidung, hast du die später der Polizei beschrieben?«
»Ja, das mußten wir doch. Weignarz, der Kassierer, hat dasselbe ausgesagt. Nur an ›The Falcons‹ auf der Rückseite von Kubigs Jacke konnte der sich nicht erinnern. Das hab’ nur ich gesehen. Die Aufzeichnungen der Überwachungsanlage waren unscharf. Doch die Jacke hat man später gefunden. Es stand drauf, ›The Falcons‹.«
»Und darum, meinst du, sei es jemand anders gewesen.«
»Ich meine es nicht«, sagte ich böse, »ich weiß es. Mit eigenen Augen habe ich es gesehen. Ihr Pech, wenn Sie mir nicht glauben.«
»Aber der andere, wer um Himmels willen könnte es gewesen sein, wenn nicht du? Wer in aller Welt könnte es gewesen sein?«
Das war nicht ausgemacht. Wie der soziale Thomas schob er jetzt seine Probleme mir zu. Ich wollte aufstehen. Im letzten Moment überlegte ich es mir anders.
»Natürlich weiß ich, wer es war«, meinte ich gelassen. »Wissen Sie es denn nicht?«
»Nein?«
»Es war Gott.«
»Gott?«
»Ja. Was da passiert ist, das kann ich doch unmöglich tragen. Für Gott ist es ein Leichtes, ein Klacks. Darum hat er es mir abgenommen.«
Noch einmal fiel die Klappe. Von neuem stand ich alleine da. Das Unerklärliche trug nun niemand mehr, außer mir.
Und dort, wohin ich nach meinem Sinkflug zurückkehrte, war nichts mehr, wie es war. Den dichtesten Maschendraht flechten, das kräftigste Gitter ziehen mit ihrer Sorge die eigenen Eltern. »Wir wollen dich nicht verlieren. Fast hätten wir es.« Spätestens, wenn man merkt, daß gegen diese Einstellung auch die beste Erklärung nichts nützt (wenn man denn eine hätte), wird man ein anderer. Von der Welt der Vermehrung zog ich um in die der Beobachtung. Jene Menschen, die ich dort traf, waren allesamt Grenzgänger, und manche waren es weit mehr als ich. Zugleich waren sie abwegige Helden, die Bewohner jener Geschichten, welche es hier zu erzählen gilt…
Wann immer ich sie traf, traf ich sie zusammen. Meistens war es am Mittwochabend. Sie waren Arm in Arm durch das Viertel unterwegs. Ich kam von meinem Nachmittagskurs in Holzwerken zurück und schulterte den Rumpf der Hamburg, des größten Modellschiffes, das dort je gebaut werden sollte. Immer wechselten wir ein paar Worte, und oft schien es mir dabei, als spräche ich statt mit beiden mit einer einzigen Person.
Peter hatte ich zuerst kennengelernt. Seit der Unterstufe waren wir in dieselbe Klasse gegangen. In der Siebten hatte er mich zu seinem Geburtstag eingeladen. Wir gingen kegeln. Peters Eltern saßen an einem der hinteren Tische und schwiegen. Seine Mutter war klein, sie saß gebeugt. Der Vater war das Gegenteil: schlank und dennoch kräftig, fast zwei Meter groß, berührte er mit seinem Rücken während der gesamten Zeit nicht einmal die Lehne seines Stuhls.
Wir räumten ab: »Drei!«, »Sieben!«, »Zwei!«, »Fünf!«
»Spiel du auch mal«, sagte Peters Mutter zu ihrem Mann.
Er ging nach vorne: »Neun!«, »Acht!«, »Neun!«, »Neun!« Ab diesem Moment war er für mich der schwarzhaarige Terence Hill.
Ein halbes Jahr später kam Peter in der Großen Pause zu mir.
»Meine Eltern lassen sich scheiden«, sagte er langsam. »Mein Vater ist gestern ausgezogen.«
»Warum?« fragte ich.
»Sie haben zu viel gestritten.«
Den Grund dafür erfuhr niemand. Gerüchte gab es keine.
Das war bei Petra anders. Sie war in der Zehnten gekommen und hatte schnell begonnen, Bemerkungen auszustreuen. Sie wollte nicht, daß wir ihr Verhalten sonderbar fänden, alles hätte seine Erklärung zu Hause. Ihr Vater sei ein Tyrann. Doch Petra war keineswegs sonderbar, eher schüchtern. Ein paar Monate später war sie mit Peter zusammen. Davor war ich ihr auf der Straße ein einziges Mal alleine begegnet, auch dies an einem Mittwoch. Bei der Hamburg hatte ich an diesem Nachmittag die Spanten auf den Kiel geleimt, und es muß deshalb für sie ausgesehen haben, als trüge dieser Jemand auf dem anderen Bürgersteig einen enormen Fisch nach Hause, der von einer heißhungrigen Katze gerade abgenagt worden war. Petra blickte nur kurz herüber.
»Was die Mutter angeht«, verriet mir ihre Freundin Sylvia, »ist kein Wort aus ihr herauszubekommen. Der Vater erzieht sie allein und arbeitet was mit Elektronik. Früher war er rothaarig wie sie, er hat auch dieselbe helle Haut. Er ist oft krank und liegt im Bett. Aber wenn er gesund ist, duldet er keinen Widerspruch. Petra und der in einem Raum – da wird nichts gesagt, und die Luft kann man schneiden.«
Dr. Mallowine, unser Englischlehrer, der mit uns Shakespeare probte, mochte die Truppe, bei der ich selbst halb Statist und halb für die Beleuchtung zuständig war. Es bedeutete ihm viel, daß wir bei guter Stimmung blieben. Eines Abends lud er uns zu sich nach Hause ein. Bald nach unserer Ankunft saßen Peter und Petra im selben Sessel. Sylvia kauerte in der gegenüberliegenden Ecke. Selbst Mallowine fiel es nun schwer, seine Sympathie für die beiden zu verbergen.
»Mein Großvater war Schauspieler in London«, erzählte er und schenkte ihnen je ein Glas Schorle ein. »Er hat mit sechzehn die Liebe seines Lebens kennengelernt. Werdet ihr heiraten?«
»Wir? Heiraten?« kam es von beiden. »Auf keinen Fall!« Petra lachte hell, und Peter kratzte sich am Kopf. »Da liegen Sie aber ganz schön daneben«, meinte Petra. »Was wir haben, das ist ein Bündnis auf Zeit!«
In den Wochen danach lernte ich Petras Vater kennen. Peter war nach Köln gefahren, er wollte Schallplatten kaufen, und Petra hatte mich zum Tee eingeladen. Ihr Zimmer befand sich im ersten Stock des Hauses. Sie hatte mich hereingelassen; wir waren nach oben gegangen; nun standen wir auf dem Treppenabsatz.
»Ich glaube, er ist da«, sagte sie und deutete nach links auf eine Türe. »Wenn du möchtest, kannst du ihm Guten Tag sagen. Klopf’ aber an.«
Ich näherte mich der Tür. Vorsichtig klopfte ich und wartete auf Antwort. Dann drückte ich die Klinke. So intensiv war die Stimmung in dem Raum, daß sie mich augenblicklich erfaßte.
»Guten Tag«, hörte ich mich sagen. »Ich bin der Jakob. Ich bin ein Klassenkamerad von Petra. Sie hat mich zum Tee eingeladen.«
Petras Vater saß hinter einem Schreibtisch von enormer Größe. Sonst war in dem Raum kein einziges Möbel. An der linken Wand hing ein Bild, ein Original von Miró (wie mir Petra später erzählte), an der rechten an einem Metallträger ein Rennrad. Auf dem Boden vor dem Rad brannte eine Reihe Kerzen. Es waren Friedhofslichter, wie man sie bei uns in der Gärtnerei kaufen konnte.
Auch der riesige Schreibtisch war leer. Petras Vater saß bloß, er bewegte sich nicht, er war mager und blaß. Als ich den nächsten Schritt machen wollte, streckte er abwehrend die Hand aus.
»Ich hab einen blöden Virus. Geh besser zurück zu Petra.«
»Ist er so auch zu dir?« fragte ich. Inzwischen waren wir bei ihr im Zimmer. Aus Petras Gesicht schwand etwas. Es war klar, daß sie nicht darüber sprechen wollte. Statt dessen holte sie ihre Plattensammlung hervor, dann Bilder von sich aus verschiedenen Jahren, so daß ich sehen konnte, wie sie sich verändert hatte.
»Ich glaube, besonders im letzten Jahr habe ich mich gemacht«, meinte sie. Ich bejahte, und wir tranken den Tee aus.
Die Jungfernfahrt der Hamburg wurde ein Erfolg, ganz wie die Premiere von MacBeth. Doch beides wies für mich in eine andere Richtung. Was den Nachmittagskurs im Werken betraf, war ich am Ende meiner Möglichkeiten angelangt. Beim Schultheater hingegen stand ich ganz am Anfang. Doch eine nächste Aufführung würde es nicht geben, denn das Abitur war schon zu nahe gerückt. Also nahm ich mir vor, statt dessen öfter Petra zu besuchen.
Der Radsport war für ihren Vater das Leben gewesen. Bis zur deutschen Meisterschaft hatte er es gebracht, dann war plötzlich Schluß. Warum – das war das Geheimnis dieser Familie, so wie der Grund für die Streitereien es dasjenige von Peters war.
»Ich glaube, er wird sich über meinen Schulabschluß nicht besonders freuen«, sagte Petra eines Nachmittags und zeigte auf die linke Türe. »Ich habe zusammengerechnet. Wenn alles nach Plan läuft, werde ich wegen meiner Punktzahl ein juristisches Anrecht auf St. Gallen haben.«
»Juristisch ein… was?«
Auf Petras Gesicht blitzte der Spott. »Glaubst du etwa, der gibt mir freiwillig nur einen Pfennig?«
»Gut, vielleicht wird er müssen. Unter der Voraussetzung, daß du die Aufnahmeprüfung schaffst und er das Geld hat.«
»Das hat er. Ich bin mir nur nicht sicher, ob ich es will.«
»Um nach St. Gallen zu gehen?«
»Ja. Will ich wirklich so hoch anfangen, und dann immer höher?«
Vor uns standen die Kanne Tee und die zwei Tassen. Petra goß nach. Ich stand auf, um zur Pinwand zu gehen. Alle Bilder, die sie mir beim ersten Besuch gezeigt hatte, waren dort aufgesteckt. Fünf neue waren inzwischen dazugekommen, auf dreien davon war sie zusammen mit Peter zu sehen. Ich ging die ganze Serie noch einmal durch.
»Und?« fragte Petra.
»Zögerst du wegen eures Bündnisses auf Zeit?«
»Was meinst du, ist es eines?«
»Ich denke ja. Der Ausdruck stammt schließlich von dir.«
»Ich könnte meine Meinung geändert haben.«
»Warum solltest du?«
»Nun, zum Beispiel wird Peter St. Gallen nicht schaffen.«
»Das heißt?«
»Jetzt überlege ich.«
Zum letzten Mal zusammen sah ich sie an einem Sonntag. Petra hatte bei mir angerufen. »Hast du Lust, zum Frühstück zu kommen?« Ihre Stimme klang sonderbar.
»Alles in Ordnung?«
»Ein Platz am Tisch ist frei. Mein Vater ist verreist.«
Als ich ankam, saß sie allein in der Küche. Nach einer Viertelstunde erschien Peter. Er kam von oben, wirkte ausgeschlafen, und seine Haut hatte einen bräunlichen Glanz. An diesem Morgen war er der schwarzhaarige Terence Hill. Zwei Klausuren hatte er vergeigt, die Nachprüfungen am Hals, und trotzdem wirkte er unschlagbar. Petra dagegen schien angespannt, gedrückt, als schwebe über ihr eine Drohung. Als Peter für einen Moment nach draußen ging, faßte sie meine Hand. »Spiel jetzt den Unterhalter! Bitte, nach den Prüfungen erkläre ich es dir!«
Also tat ich mein Bestes, während die beiden es schafften, sich zwei Stunden lang anzuschweigen.
Zur Mitte des Sommers regnete es wie seit Jahren nicht. Vor Dunst und Nebel konnte man vom ganzen Juli keinen einzigen Buchstaben erkennen. Die Schulzeit war zuende; Petra hatte das beste Abitur der Stufe gemacht, ich das zweitbeste. Unter einem großen Regenschirm ging ich durch die Straßen. Schließlich stand ich vor Petras Haus. Ich klingelte. Mein Besuch war spontan, aber sie war da.
»Du möchtest mir beim Packen helfen?« öffnete sie lachend die Türe. Ich schüttelte den Kopf.
»Ich habe gehört, hier soll ein Paket für mich liegen. Es hat einen Aufkleber: ›Bitte nicht stürzen!‹, und oben auf der Kiste steht: ›Erklärung‹. Wenn ich richtig informiert bin, soll sich der letzte Teil eines Dramas darin befinden. Man weiß aber nicht, ob es Komödie ist oder Tragödie.«
»Das Paket liegt oben. Du kommst spät, fast hätte ich es in die Schweiz geschickt zu meiner Tante. Dann hättest du es da abholen müssen.«
In Petras Zimmer waren nur noch die Matratze, ein Koffer, ein Berg Kleider und ein Bügelbrett mit einem warmen Eisen.
»Der Rest ist schon in der Schweiz?« fragte ich.
»Nein. Er ist auf dem Sperrmüll.« Petra griff nach einer Bluse. »Erklärung Nummer eins: Peter hat Kleinholz daraus gemacht, an jenem Abend, bevor du zum Frühstück gekommen bist.«
»Er hat es getan, weil… du… mit ihm Schluß machen wolltest?«
»Weil ich ihm nicht mehr geben wollte als sein eigenes Wort. Der Ausdruck ›Bündnis auf Zeit‹ stammt nämlich nicht von mir.«
Ich dachte nach. »Also stammt er von ihm, wegen seiner Eltern. Er wollte nicht, daß ihm selber so eine Trennung passiert. – Aber du, warum hast du eingewilligt?«
Petra stellte das Eisen ab.
»Vielleicht, weil auch bei dir ein Paket liegt? Eines für mich?«
»Für dich?… Nicht, daß ich wüßte.«
»Nicht? Kann ich dich dann etwas fragen?«
»Frag’ einfach.«
»In der Zeit, als es von der Hamburg erst den Kiel und die Spanten gab, warst du da blind für anderes, oder wolltest du bewußt andere Dinge nicht sehen?«
Ich schwieg. Draußen rauschte der Regen.
»Also warst du blind«, schloß Petra. »Dann lautet Erklärung Nummer zwei: Weil ich Respekt vor dir hatte. Vor dir und vor deinen Plänen. Ich habe es immer noch. Doch damals brauchte ich jemand, um durchzukommen. Als Peter mir das Bündnis vorschlug, da wußte ich, daß er meine Chance war.«
»Ja…, aber wenn das so ist… wie soll man denn da je zusammenkommen? Leute wie wir, die werden doch auch später nie sagen können, daß sie es ganz und gar geschafft und keine Pläne mehr haben!«
Petra faltete die Bluse zusammen und legte sie in den Koffer. Als sie fertig war, sah sie mich lange an. »Peter ist jetzt in Gießen«, meinte sie. »Bei der Renovierung seiner Wohnung ist er von der Leiter gefallen. Er liegt im Krankenhaus. Ich habe ihn dort besucht. Er sagt, daß er mich sehr liebt. Die Aufnahmeprüfungen für St. Gallen sind im September. Der Rest… hängt von dir ab…«
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