Weiterleben - Christiane Salm - E-Book

Weiterleben E-Book

Christiane Salm

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  • Herausgeber: Goldmann
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Wenn ein geliebter Mensch plötzlich stirbt – über das Wesen der Trauer und die Kraft des Weiterlebens

Der Tod eines geliebten Menschen – des Partners, des Kindes, eines engen Familienangehörigen – ist ein zutiefst erschütterndes Ereignis, das das Leben für immer verändert. Oft geht dieser Verlust mit Sprachlosigkeit einher. Weil der Schmerz zu groß, zu verzehrend ist. Und weil Tod und Trauer in unserer Gesellschaft immer noch mit einem stillschweigenden Tabu belegt sind. Bereits in ihrem SPIEGEL-Bestseller »Dieser Mensch war ich« versammelte Christiane zu Salm Nachrufe von Sterbenden auf das eigene Leben und bewegte damit viele Leser. In ihrem neuen Buch nun verleiht sie mit großer Einfühlsamkeit denjenigen eine Stimme, die Kraft zum Weiterleben gefunden haben, nachdem ein geliebter Mensch von ihrer Seite gerissen wurde. Ein oft erschütterndes, immer ergreifendes Buch von beispielhaftem Mut und existenzieller Ehrlichkeit.

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Seitenzahl: 354

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Buch

»Mich berührt zutiefst, wie die Erzählenden in diesem Buch es vermocht haben, nach dem Verlust eines oder mehrerer wichtiger, nahestehender Menschen Kraft zum Weiterleben zu schöpfen. Wie sie nach für mich unvorstellbaren Tragödien, die viele erlebt haben, Schritt für Schritt wieder ins Leben zurückfanden. Sie haben es irgendwann geschafft, den Verlust als Teil ihres Lebens zu akzeptieren und auch zu integrieren.

Durch das Leiden und die Trauer sind die Erzählenden zu anderen Menschen geworden. Zu stärkeren, einfühlsameren und achtsameren Menschen. Der Verlust lehrt einen, das Wesentliche in sich selber zu sehen.

Das ist für mich die große und wichtige Botschaft dieses Buches: dass es möglich ist, nach einer gewissen Zeit, wie lange sie auch immer dauert, einen geliebten Menschen loszulassen. Dass man es schaffen kann, sich irgendwann wieder dem Leben zu öffnen, einem neuen Leben. Dass der Sinn des Lebens nicht in der immerwährenden Trauer liegen kann. Sondern irgendwo im Leben. Im Weiterleben.«

Christiane zu Salm, aus dem Vorwort

Weitere Informationen zu Christiane zu Salm sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Christiane zu Salm

WEITERLEBEN

Nach dem Verlusteines geliebten Menschen

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Originalausgabe
Copyright © der Originalausgabe 2016 by Christiane zu Salm Copyright © dieser Ausgabe 2016 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: UNO Werbeagentur Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling ISBN: 978-3-641-15531-5V003www.goldmann-verlag.de
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Nur Liebe und Tod ändern alle Dinge.

Khalil Gibran

Dem Nicht-Verstehenmüssen gewidmet

Aufstehen und Weiterleben

Was fühlt ein Mensch, wenn er einen geliebten Menschen verliert? Was geht in ihm vor, wenn von heute auf morgen sein Partner, sein Kind, seine Eltern oder Geschwister sterben, ein geliebter Familienangehöriger plötzlich nicht mehr da ist? Wie kann er danach überhaupt weiterleben?

Der Tod eines geliebten Menschen verändert das eigene Leben für immer. Nicht nur das eigene, sondern auch das von ganzen Familien. Als ich sechs Jahre alt war, starb mein kleiner Bruder vor meinen Augen. Es war bei uns zu Hause, und es war ein Unfall. Ich weiß noch heute, über vierzig Jahre danach, wie das Wetter war, erinnere, dass ich ein blau-weiß gestreiftes Sommerkleid trug, sehe die rote Farbe meiner Schuhe vor mir und die langen Zöpfe, die meine Mutter mir an jenem Sonntagmorgen geflochten hatte. Ich habe die versteinerten Gesichter meiner Eltern vor Augen, glasklar, bis heute. Dieses traurige Ereignis hat das Leben unserer gesamten Familie für immer verändert.

Tod und Trauer beschäftigen mich seither. Vor einigen Jahren machte ich eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin in einem Berliner Hospiz. Ich lernte, wie für Menschen, die um ihr baldiges Sterben wissen, am Ende noch ein würdiger Raum entstehen kann, zu sich selber zu finden, mit sich ins Reine zu kommen. Viele Sterbende erzählten mir, wie sie ihr Leben im Rückblick betrachteten. Jede einzelne Lebensgeschichte hat mich tief berührt. Darüber habe ich mein erstes Buch geschrieben.

Bei meiner Hospiz-Arbeit bin ich auch mit vielen Angehörigen ins Gespräch gekommen. Zu manchen habe ich noch Jahre nach dem Verlust ihrer geliebten Frau, ihres Kindes, des Vaters oder des Bruders Kontakt. Wie haben sie es geschafft, sich dem Leben wieder zu öffnen? Wie haben sie nach oft langen Jahren der Trauer dem Leben wieder etwas Positives abgewinnen können?

Darum geht es in diesem Buch. Hinterbliebene haben mir erzählt, wie sie einen oder sogar mehrere große Verluste verschmerzt haben. Wie sie zunächst unter Schock standen, dann trauerten, und irgendwann mit dem Weiterleben begonnen haben.

So, wie jeder Mensch anders liebt, trauert jeder anders. Jeder Verlust ist ein anderer und mit keinem weiteren vergleichbar. Es gibt auch keinen leichteren oder schwereren Schicksalsschlag, selbst wenn das von außen manchmal so erscheinen mag.

Was hilft es einem schon, wenn es heißt: »Es war besser so für ihn«? Ein Verlust wiegt genauso schwer, wie er von dem trauernden Menschen empfunden wird. Ganz gleich, ob Eltern ihr Kind verloren oder die Ehefrau ihren geliebten Ehemann. Während aller Gespräche habe ich gespürt: Man kann seine Seele nicht vor dem Gefühl der Trauer schützen. Ich kann mir keine größere emotionale Wucht im Leben vorstellen als die, mit der der Mensch im Verlust eines geliebten Menschen auf sich selber zurückgeworfen wird.

Auch kann man sich auf Trauer nicht vorbereiten. (Vielleicht können es einige buddhistische Mönche, denen es auch gelingt, sich angstfrei auf das Sterben vorzubereiten, aber sie sind eine Ausnahme.) Es gibt keinen Maßstab, keinen Deal, keine Vermittlung, keinen Pakt, kein Ende, auf das man hinleiden könnte. Trauer fühlt sich so tief, weit und bodenlos an wie ein unendliches Meer. Kein Land in Sicht, keine Zukunft. Deswegen haben die allermeisten Menschen auch Angst vor diesem Gefühl. Ich gehöre sicher dazu.

Gerade in der Zeit, in der wir leben, findet die Trauer keinen angemessenen Platz. Trauern steht für Unglück, und das entspricht nicht dem Zeitgeist: Alles Forschen, Denken und Handeln ist auf das immer bessere, glücklichere Leben ausgerichtet. Auf das Wachsen und das Werden, auf das Sein – und auf den Erhalt des Seins.

Irgendwann auf den vielen Fortschrittswegen, die wir alle täglich gehen, haben wir aber verlernt, vergehen zu können. Und noch viel weniger können wir dieses Vergehenmüssen bewusst akzeptieren. Als Gesellschaft tun wir vielmehr alles dafür, dem Vergehen zu entgehen. Immer wieder. Wir tun unser Möglichstes, den Tod zu verhindern, und wenig, ihn als etwas ebenso Natürliches wie das Leben anzunehmen.

Genau das aber ist unsere Aufgabe, wenn wir einen geliebten Menschen verlieren. Und diese Aufgabe ist sehr groß. Vielleicht gehört sie sogar zu den größten und wichtigsten Aufgaben, die das Leben an uns stellt. Denn es geht um nichts Geringeres als um das Loslassen können. Wer jemals einen anderen Menschen geliebt hat, dem wird das Leben diese Aufgabe stellen, früher oder später. Und zwar, bevor er selber stirbt. Es gibt also kein Entkommen.

Deswegen bin ich den Menschen, die mir für dieses Buch von ihrer Verlusterfahrung erzählt haben, äußerst dankbar: für ihren Mut, über das traurigste, schmerzhafteste Kapitel ihres Lebens zu sprechen. Für ihre Bereitschaft, längst oder auch nur gerade eben geheilte Wunden wieder aufreißen zu lassen – durch das Sprechen über ihren Schmerz. Ganz gleich, ob der Verlust zehn, vierzig oder nur zwei Jahre her ist. Ohne ihren Mut, sich ihrem Schmerz erneut durch das Erzählen zu stellen, gäbe es dieses Buch nicht.

Viele haben dies vor allem getan, um anderen, die ihre Geschichte lesen, Mut zum Weiterleben zu machen – nachdem auch sie jemanden verloren haben oder noch verlieren werden. Fast alle erlebten es als heilsamen, wenn auch harten Prozess, ihre Verlustgeschichte in Worte zu fassen und sich das eigentlich Unsagbare von der Seele zu reden. Einige, die ich fragte, konnten einfach nicht darüber sprechen, weil es noch oder wieder zu schmerzhaft gewesen wäre. Auch ihnen möchte ich danken, dafür, dass sie sich genau das bewusst gemacht haben.

Wie schwer es ist, über den Tod eines geliebten Menschen innerhalb der Familie zu sprechen, ist für mich eine erschütternde Erkenntnis. Totale Sprachlosigkeit. Jahrzehntelang, manchmal für immer. Schockstarre der Seele. Zu groß ist für viele Menschen der Tod, um ihn zu begreifen. Zu groß der Schmerz, um Worte zu finden. Um darüber zu reden. Darüber, was dieser Verlust mit der hinterbliebenen Mutter, dem hinterbliebenen Ehemann, den zurückgelassenen Geschwistern und auch Freunden macht. Was sie fühlen, welche Gedanken ihnen kommen, was dieses Nichtmehrdasein eines Menschen für sie bedeutet. Darüber, wie sehr er oder sie fehlen. Über mögliche Schuldgefühle. Wie verzweifelt man ist. Wie wenig man es noch geschafft hat, diesen Verlust anzunehmen. Wie schwer es ist, morgens aufzustehen und weiterzuleben.

Nicht-Sprechen hat leider oft weiteres Unglück zur Folge. Vielleicht zerbräche manche Familie nicht, könnten ihre Mitglieder miteinander reden – über das, was am meisten weh tut.

Mich berührt zutiefst, wie die Erzählenden in diesem Buch es vermocht haben, nach dem Verlust eines oder mehrerer wichtiger, nahestehender Menschen Kraft zum Weiterleben zu schöpfen. Wie sie nach für mich unvorstellbaren Tragödien, die viele erlebt haben, Schritt für Schritt wieder ins Leben zurückfanden. Denn während die Außenwelt schon kurz nach dem Begräbnis zur Tagesordnung übergeht, bleibt die Innenwelt der Hinterbliebenen für immer verändert, bis zu ihrem eigenen Tod. Die Erzählenden haben sich Hilfe von Psychologen geholt, haben Halt im Glauben gefunden, auch in der Arbeit, haben Familienzusammenhalt erfahren, oder sie haben ein Kind adoptiert. Sie haben es irgendwann geschafft, den Verlust als Teil ihres Lebens zu akzeptieren und auch zu integrieren. Selbst wenn das bedeutete, dass das bestehende Familiensystem zusammenbrach und sich ein neues zusammenfügte. Dass nach dem Tod eines gemeinsamen Kindes die Ehe auseinanderbrach oder, im Gegenteil, dieser Verlust ein Paar umso mehr zusammenschweißte. Sie haben sich helfen lassen – von Freunden, Verwandten, Therapeuten oder Seelsorgern.

Aus allen Lebensgeschichten erfahren wir, dass der Schmerz über den Verlust eine transformative Kraft hat oder selber ist: durch das Leiden und die Trauer sind die Erzählenden zu anderen Menschen geworden. Zu stärkeren, einfühlsameren und achtsameren Menschen. Der Verlust lehrt einen, das Wesentliche in sich selber zu sehen.

Das ist für mich die große und wichtige Botschaft dieses Buches: dass es möglich ist, nach einer gewissen Zeit, wie lange sie auch immer dauert, einen geliebten Menschen loszulassen. Dass man es schaffen kann, sich irgendwann wieder dem Leben zu öffnen, einem neuen Leben. Dass der Sinn des Lebens nicht in der immerwährenden Trauer liegen kann. Sondern irgendwo im Leben. Im Weiterleben.

Andrea Gunthert

Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht daran denke

Ich habe begonnen, Julian zu verlieren, nicht, als er starb, sondern, als ich ihn auf die Welt brachte. Das war die Zeit des Verlustes, und es war die allerschlimmste Zeit meines Lebens. Denn mir war von der ersten Sekunde an klar, was da Schreckliches auf uns zukommt. Das habe ich sofort gewusst.

Es war eine ganz normale Schwangerschaft, aber ich bin ja so ein Organisations- und Kontroll- und Sicherheitsfanatiker, also habe ich jede Art von Vorsorge gemacht, die der Mensch nur machen kann. Ich war auch nicht mehr die Jüngste, schon Mitte dreißig. Es war mein erstes Kind. Da habe ich einfach alle Vorsorgeuntersuchungen mitgemacht.

Drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin wachte ich morgens auf und bekam den Eindruck, dass da etwas nicht stimmte. Auch wenn es meine erste Schwangerschaft war und ich keine Gynäkologin bin, sondern Hautärztin, aber hier stimmte etwas nicht. Die Kindsbewegungen hatten stark nachgelassen. Daraufhin bin ich sofort in die Klinik gefahren. Ich war schon vom niedergelassenen Arzt an die Klinik überwiesen worden, damit die einen kennenlernen, bevor man zur Entbindung dort auftaucht.

Mein Arzt selber war noch im Urlaub. Er wäre zum errechneten Geburtstermin da gewesen. Ich wurde von einem Oberarzt untersucht, der mich zu beruhigen versuchte: »Machen Sie sich keine Gedanken, dieses Kind ist schon so groß, der kann sich gar nicht mehr bewegen, der liegt schon im kleinen Becken.« Und so weiter. Na ja, ich ging halbwegs beruhigt da weg. Ich bin auch jemand, der sich auf Fachleute verlässt. Dann war auch viel zu tun, es war unter der Woche, und ich arbeitete immer noch.

Zwei, drei Tage später kam das Wochenende, ich kam zur Ruhe und bemerkte: Mein Kind bewegt sich nicht nur nicht. Mein Gefühl war: Mein Sohn hängt da drin wie ein nasser Sack. Also bin ich wieder in die Klinik gefahren und habe gesagt: »Hören Sie mal, ich bin nicht angemeldet, tut mir leid, und jetzt ist auch noch Wochenende, aber ich glaube, da stimmt was nicht. Ich würde sagen, mein Kind hängt da in mir drin wie ein nasser Sack. Das kann doch nicht normal sein.« Diesmal haben die Ärzte die Notsituation erkannt. Es gab einen Notkaiserschnitt, eine Dreiviertelstunde dauerte das. Obwohl, wie ich später von den Anwälten hörte, das Baby bei einem Notkaiserschnitt in 13 Minuten draußen sein muss.

Es war an einem Sonntag. Ich lag noch in Narkose, als mein Kind zur Welt kam. Mit Apgar null. Apgar ist ein Punkteschema, in das man die Kinder nach der Geburt einteilt. Das besteht aus Punkten für Spontanatmung, Muskelspannung, Herzschlag und Hautfarbe etc. Die Kinder, die man so kennt, haben fast immer zehn Punkte. Es gibt welche, die haben neun Punkte. Man mag auch das eine oder andere Kind kennen, das acht Apgar-Punkte hat. Mein Sohn hatte null. Wenn man das in die Umgangssprache übersetzt, heißt das: Totgeburt.

Als ich aufwachte, sah ich die Gesichter um mich herum und hörte: Apgar null. Da war mir alles klar. Mir war wirklich alles klar. Sofort. Ich weiß noch, am ersten Abend, wir saßen im Dunkeln, mein Mann Stefan und ich, und … furchtbar. Furchtbar! Es kamen dann auch die Schwestern und sagten: »Ach, warten Sie mal ab. Es hat sich schon so viel noch gewendet.« Aber mir war von Anfang an klar, was die Null bedeuten würde.

Wir hatten uns Julian so sehr gewünscht. Es hat jahrelang gedauert, bis es überhaupt zu dieser Schwangerschaft gekommen war. Die Schwangerschaft mit Julian war das Ergebnis von elf Inseminationen und dreimal Reagenzglas. Und jetzt lag er auf der Intensivstation, an alle Maschinen und Schläuche angeschlossen, die so ein Krankenhaus zu bieten hat. Wo war sein Leben?

Ich hatte gleich zu Stefan gesagt: »Also ich glaube, das Einzige, was uns hier je wieder rausführt, ist so schnell wie möglich so viele weitere Kinder wie möglich zu kriegen.« Aber das war natürlich alles Wunschdenken. Und nun kam die schlimmste Zeit, die ich mir je hatte vorstellen können. Ich war wirklich in der dunkelsten Ecke vom finstersten Jammertal. Zwei Jahre lang.

Bei so einem neugeborenen Baby kannst du natürlich alle möglichen Funktionen noch gar nicht testen. Du hast keine Ahnung vom Intellekt, vom Sehvermögen, vom Hörvermögen usw. Das geht nur schrittweise. Ist ja klar, je älter ein Baby wird, desto mehr Tests kannst du dann auch machen. Und so durftest du dich als eigentlich glückliche frischgeborene Mutter schrittweise verabschieden von deinem Kind, das einmal laufen wird, von einem Kind, das mal sprechen wird, von dem Kind, das überhaupt und ungefähr versteht, was du sagst, geschweige denn genau.

Und das war das Furchtbarste an dieser ganzen Geschichte. Der Tod nachher – aber jetzt greife ich schon vor –, der Tod meines geliebten Julian, das war wie eine Art Riesenpaukenschlag am Ende. Aber diese finsterste, schrecklichste, traurigste Zeit war vorher, denn man hat dann doch ein bisschen Hoffnung.

Eine schreckliche Zäsur kam ungefähr drei Wochen nach der Entbindung. Man gab sich furchtbare Mühe, alles für uns zu tun, sehr viele Ärzte halfen mit, überlegten mit, machten Vorschläge. Ich wurde von Pontius zu Pilatus geschickt mit meinem Neugeborenen, weil man irgendwie sehen wollte, wem kann hier in diesem schrecklichen Fall noch irgendwas einfallen. Ich wurde zu einer besonderen Ultraschalluntersuchung in ein spezialisiertes Krankenhaus geschickt. Die Schädigung von Julian war im Gehirn. Und vom Gehirn aus werden ja alle Funktionen gesteuert: Laufen, Sprechen, Denken, Fühlen, Sehen. Alles findet im Gehirn statt, der Zentrale sozusagen. Da war der Hauptschaden. Es war ein Sauerstoffschaden. Es wurde nie geklärt, was die Ursache seiner Krankheit war. Ob mein Kind sich selber mit der Schulter die Nabelschnur abgedrückt hatte? Man wusste es nicht. Und man wird es nie wissen. Die Frage nach dem Warum konnte nie beantwortet werden.

Nach drei Wochen wurde ich also in dieses Krankenhaus geschickt zu einer Ultraschall-Spezialistin. Ich war wie immer bei diesen vielen Besuchen ganz alleine. Ich fuhr mit dem Taxi dorthin, meinen kleinen Sohn in einer Wolldecke eingewickelt auf dem Arm. Ich war aufgelöst! Ich wusste genau, jetzt wird die Büchse der Pandora wieder geöffnet, und ich kriege irgendwelche Ausblicke auf die Zukunft, irgendwelche Ideen, wie dieses Gehirn wohl von innen genau aussieht. Die Frau war furchtbar nett. Sie sah, dass ich aufgelöst war. Ich konnte kaum sprechen. Sie war sehr warmherzig, sehr freundlich und sagte: »Kommen Sie doch erst mal rein.« Und lächelte mich an: »Jetzt warten Sie mal ab, jetzt wollen wir doch erst mal schauen.« Dann begann sie mit der Untersuchung. Sie sprach kein Wort. Sie sprach überhaupt kein Wort. Und als sie dann endlich fertig war, schaute sie in Unterlagen auf ihrem Schreibtisch nach.

Was war passiert? Ich glaube, ich habe die Szenerie genau richtig gedeutet: Sie rang mit ihrer eigenen Fassung, weil sie in dieses Gehirn reinschaute. Es hieß nachher, die ganzen Kavernen und Windungen wären mit Wasser gefüllt. Ich habe das Monate später noch wiederholt: »Mit was haben Sie gesagt? Mit Wasser gefüllt?« Es stellte sich heraus, dass da, wo sonst Gehirn ist, bei Julian nur Flüssigkeit war. Gewebewasser, vereinfacht ausgedrückt. Diese Frau war so fassungslos, dass sie sich gar nicht richtig verbalisieren konnte. Sie konnte mir weder sagen, es ist alles in Ordnung, oder, jetzt warten wir mal ab und schauen wir mal, da ist noch alles möglich und vielversprechend vielleicht. Nichts dergleichen! Ich sah in ihrem Gesicht, in ihren Gesichtszügen, was in ihrem Kopf vorging. Sie brauchte mir gar nichts zu sagen, ich habe alles in ihrem Gesicht gesehen. Das war die schrecklichste Zeit.

Und es war doppelt furchtbar. Erst bekam ich in regelmäßigen Abständen eine schlimme neue Nachricht, zum Beispiel die, dass Julian blind ist. Und die zweite schlimme Sache war: Bei solchen Nachrichten war ich immer alleine mit den Kollegen, die unseren geliebten Sohn untersuchten. Und dann musste ich es noch Stefan beibringen, das machte es doppelt schlimm. Denn mein Mann regte sich furchtbar auf und setzte in seiner Verbitterung dem Leben gegenüber immer noch einen obendrauf, so dass ich das schon gar nicht mehr ertragen konnte. Und dieses Zweizeitige, das war dann ein doppeltes Package, das ich irgendwie verarbeiten musste. Es war eine furchtbare Zeit.

Vor der Geburt dachte ich mir: Hach, so eine Mutter mit Baby, das wollen wir mal so richtig genießen. Deswegen hatte ich schon lange vorher eine Wochenbettpflegerin engagiert, die auch Kinderkrankenschwester war. Ohne zu wissen, wie wichtig diese Entscheidung werden würde. So kam es, dass ich in der Klinik nach vier Wochen sagen konnte: »Jetzt geben Sie mir doch endlich mein Baby nach Hause, ich habe dort doch eine Kinderkrankenschwester.« Und deswegen durfte er dann mit. Sonst hätte Julian noch viel länger in der Klinik sein müssen.

Ich war so fertig. Und daher war es natürlich viel schöner, als das Baby im Haus war und ich neben seinem Bettchen sitzen konnte. Stundenlang. Eine Mahlzeit mit meinem Sohn dauerte meistens eine Stunde und 45 Minuten, denn er entwickelte dann auch diese spastische Schluckstörung, und von jeder Nahrung, die er schlucken sollte, kam drei Viertel wieder raus.

Obwohl ich ein positiver und tatkräftiger Mensch bin, wollte ich morgens nicht mehr wach werden. Ich blieb einfach im Bett liegen. Ich bin ein Frühaufsteher mit guter Laune, jeden Morgen bin ich um sechs Uhr wach.

Irgendwann in dieser Zeit begann ich aufzuwachen, und dann war es so, als schlüge mich jemand mit einem nassen Tuch. Ich war noch im Halbschlaf, weil dieser ganze schreckliche Kummer mich sofort überfiel beim Aufwachen. Ich wollte gar nicht wach werden. Wach werden bedeutete ja weiterleben mit diesem Schmerz. Ich sagte mir vielmehr: Schlaf noch weiter, dann denkst du vielleicht nicht daran.

Und so kam es, dass ich an unheimlich vielen Tagen um Viertel vor zwölf morgens, also mittags, noch im Nachthemd aufgelöst durch meinen Haushalt geisterte. Denn als Mutter ist es natürlich dein natürlicher Trieb und auch deine Intention, dafür ist man ja als Mutter da, seinem Baby zu helfen, irgendwie. Ich steigerte mich da so sehr rein, dass ich mir nachher ernsthafte Gedanken machte, ob ich den Schnuller für mein Baby von links oder von rechts in dieses Mündchen stecke. Es kamen zahlreiche Therapeuten, Frühtherapeuten und Krankengymnasten, alle kamen und wollten helfen. Da gibt es viele gute Tipps. Aber innerlich übersteigerte ich das so dermaßen, dass ich überhaupt keine Lässigkeit hatte zu sagen: Komm, jetzt lassen wir heute mal den lieben Gott einen guten Mann sein. Sondern ich versuchte alles aufzunehmen und alles noch besser und noch genauer zu machen, immerzu. Und ich schaffte es bei dieser ganzen absoluten Überfürsorge, die das Kind wahrscheinlich fertiger gemacht hat, als wenn ich gar nichts gemacht hätte, noch nicht mal, mich anzuziehen.

Dann kam aber der Tag. Julian kam im August zur Welt, und ich hatte gesagt, okay, im neuen Jahr komme ich dann wieder zur Arbeit. Wir müssen mal sehen, wie es geht. Was man halt so sagt, bevor eine normale Mutter ein normales Kind gebärt. Meine Sprechstundenhilfe telefonierte immer wieder aufs Neue herum nach einem Praxisvertreter. Ein Riesendurcheinander in meiner Praxis. Aber der Tag kam näher, an dem ich wieder selber anfangen sollte und auch musste, schließlich verdiene ich mit der Praxis unseren Lebensunterhalt. Das war eine der wichtigen Triebfedern für mich, meine Arbeit als Hautärztin wieder aufzunehmen.

Dabei war ich überhaupt nicht in der Lage dazu. Ich war ja noch nicht mal in der Lage, mich bis zwölf Uhr mittags anzuziehen! Aber der Tag kam. Und dann habe ich mit etwas angefangen, was unglaublich banal ist, aber für mich die einzige Möglichkeit war weiterzuleben: Ich lag im Bett und habe zu mir gesagt: Andrea, nicht denken, sondern nur den ersten Schritt aus dem Bett raus machen. Aufstehen und ins Badezimmer gehen. Nur einen ersten Schritt. Nur diesen. Und als ich das dann irgendwann geschafft hatte und im Badezimmer stand, da habe ich gesagt: Okay, gar nicht weiterdenken, nur den zweiten Schritt tun, die Zähne putzen. Und dann habe ich die Zähne geputzt.

So habe ich mich wieder ins Leben reingekriegt, mit diesen lächerlichen, banalen Schritten. Nur so habe ich es geschafft, überhaupt zu einer ordentlichen Uhrzeit fertig angezogen zu sein. Und das habe ich gemacht mit einer eisernen Disziplin. Ich habe versucht, das Gehirn auszuschalten, habe nur den Weg überlegt, der jetzt zu gehen ist – vom Bett ins Badezimmer. Und dann bis zur Zahnbürste mit Zahnpasta. Und so weiter.

Irgendwann war ich fertig. Dann musste ich also in die Praxis fahren. Okay. Hier kam mir eine ganz wichtige Sache zu Hilfe, und das ist meine Botschaft: Wenn man einen halbwegs vernünftigen Beruf hat, muss man ihn machen. Es passierte dann Folgendes: Erstens musste ich mich unheimlich konzentrieren. Ich konnte ja nicht meinen schlimmen, desolaten Zustand an der Gesundheit von anderen Leuten auslassen, die vielleicht im schlimmsten Fall – so etwas passiert nicht so schnell, aber trotzdem – noch kränker werden würden als vor ihrem Besuch in meiner Praxis. Das heißt, ich habe da gesessen und habe wirklich mein Äußerstes gegeben. Und zweitens fühlte ich mich durch die Begegnung mit meinen Patienten in meinem unendlichen Leid in einem menschlichen Umfeld, in dem so etwas nicht wirklich eine Seltenheit ist, sondern in dem andere auch mehr oder weniger und schlimmer oder weniger schlimm ihren Kummer haben. Mittags eilte ich nach Hause, schaute mir mein eigenes Elend an und ging nachmittags wieder in die Praxis.

Das ist etwas, was andere auch schaffen können, die Ähnliches erlebt haben wie ich: Man schafft es mit den denkbar kleinsten Schritten, morgens in den Tag zu gelangen, und man schafft es mit seiner Arbeit. So habe ich mir meine eigene Zukunft jeden Tag ein kleines Stück mehr erarbeitet. Nur so. Wenn Sie gesehen hätten, wie ich versucht habe, mich anzuziehen …

Dass ich dann tatsächlich noch mit zwei weiteren Söhnen schwanger wurde, die beide kerngesund sind, war, glaube ich, das Mutigste, was ich in meinem ganzen Leben gemacht habe. Weil ich natürlich auf meinem Weg durch die verschiedenen Institutionen, Behindertenheime und Fördereinrichtungen genügend Mütter gesehen habe, die nicht ein behindertes Kind hatten, sondern zwei oder drei behinderte Kinder. Das ist nämlich gar keine Seltenheit. Ob es ein Gendefekt ist, eine Plazentainsuffizienz ist, die dann auch beim zweiten und dritten Mal zum Tragen kommt, wie auch immer. Von daher war das schon mutig.

Ich hatte einen Arzt, einen Kinder-Neurologen, der mir unheimlich Mut gemacht hat. Ein ganz erfahrener. Er empfing mich noch aus seinem Ruhestand heraus und gab mir Tipps. Er sagte jedes Mal als Erstes: »Na, Frau Gunthert, sind Sie schon wieder schwanger?« Und ich habe nachher schon gelacht und gesagt: »Herr Professor, ich werde doch nicht so schnell schwanger und kann noch keinen Erfolg melden, aber ja, ich bleibe am Ball.«

Constantin kam drei Jahre nach Julian zur Welt. Wieder nach 13 Inseminationen. Und er war quietschfidel. Ich hatte große Angst vor seiner Geburt. Schon sechs Wochen vor dem errechneten Geburtstermin bin ich ins Krankenhaus eingezogen. Ich habe gesagt, ich bin jetzt nicht hysterisch, aber ich überlasse gar nichts mehr dem Zufall. Hier bin ich.

Man hat mir ein nettes, kleines Zimmerchen gegeben neben dem Kreißsaal. »Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber ich möchte, dass Sie mich jeden Morgen und jeden Abend untersuchen. Machen Sie jeden Test mit mir, und zwar nicht doppelt und dreifach, sondern alles, was wichtig ist, jeden Tag aufs Neue. Und wenn das Kind halbwegs groß genug ist, dann holen wir es einfach da raus.« Die Gynäkologen waren gar nicht begeistert. Das war drei Wochen vor dem Termin. Die haben mit mir um jeden Tag gerungen. Ich habe gesagt: »Okay, machen wir einen Kompromiss, Sie holen nachher den Kinderarzt, also morgen oder bei der Visite, und wenn der Kinderarzt sagt: Okay, von mir aus ja, dann machen wir das.« Und so haben wir es gemacht. Auch bei Valentin, der zwei Jahre später kam. Ich hatte ja kein normales Verhältnis mehr zu Geburten. Alle haben auf mich aufgepasst, und das war ein beruhigendes Gefühl.

Constantin und Valentin waren das Glück, das wieder ins Haus einzog. Julian lag immer auf einer Decke oder einem Kissen oder war auf dem Schoß, und er kriegte genau mit, wenn seine Brüder in seiner Nähe waren. Als seine beiden Brüder noch klein waren, habe ich sie neben Julian gelegt, und er gab glückliche Laute von sich: »Hmmmmm.« Egal, ob er vorher schlechte Laune hatte, wenn Constantin und Valentin dazukamen, durften die richtig auf ihn drauftreten und mit ihm spielen. Das war pures Glück. Ich habe da noch ganz rührende Fotos, wie er so »Hmmm« sagte, wie er dann da so lag und sich an seinen strampelnden, fröhlichen Baby-Brüdern erfreute. Dann war eine völlig andere Stimmung im Haus.

Trotzdem war ich natürlich überlastet mit dem kranken Jungen und zwei ganz kleinen. Stefan flüchtete sich in seine Arbeit, weil ihm das alles zu viel war. Aber es war trotzdem wunderbar. Ich hatte wieder ins Leben gefunden. Anders, als man gemeinhin denkt, ist es ja nicht so, dass Kummer ein Paar zusammenschweißt. Das ist ein Ammenmärchen. Ich weiß nicht, wer das mal irgendwann aufgebracht hat.

Stattdessen trauern Menschen, selbst wenn sie sich lieben, völlig unterschiedlich. Ich habe gehört, 85 Prozent der Eltern von schwerstkranken oder gestorbenen Kindern trennen sich über kurz oder lang. Ich weiß nicht, ob diese Zahl belastbar ist, aber die hat sich mir so eingeprägt. Und die anderen 15 Prozent, da weiß man natürlich auch nicht wirklich, aus welchen Gründen die zusammenbleiben. Vielleicht auch, weil sie sonst ihr Leben gar nicht mehr hinkriegen würden oder aus finanziellen Gründen. Bei uns war es so: Ich habe mich immer mehr in die Betreuung unseres kranken Kindes reingesteigert, und mein Mann hat immer mehr versucht, sich abzulenken. Das war dann so ungefähr der Anfang vom Ende.

Dass er eine Neue schon vor Constantins Geburt hatte, habe ich erst fünf Jahre später mitbekommen. Sehr merkwürdig, wieso ich das nicht vorher merkte. Fünf Jahre lang! Vielleicht, weil ich es nicht wollte? Das war so eine klassische Sache mit dem Handy. Irgendwie war hier zu Hause ein Durcheinander, das eine Kindermädchen wollte abgeholt werden, ich war aber gar nicht da oder wie auch immer. Unser drahtloses Festnetztelefon war wie immer verschwunden. Dann lag da Stefans Handy, und ich dachte: Ich rufe mal ganz schnell mit seinem Handy irgendwen an. In dem Moment war eine SMS eingetroffen.

Ich bin sonst überhaupt nicht eifersüchtig, aber irgendwie war ich in dieser Sekunde einfach einen Hauch neugierig und dachte: Ach, Sonntagnachmittag um fünf, wer meldet sich denn da? Und drückte da drauf. Dann stand da: »Ich vermisse Dich so und sehne mich unendlich nach Dir. Wann kommst Du endlich wieder zu mir?« Unterschrift: Monika. Ich kannte eine Monika, und in der Sekunde war mir alles klar. Ich fragte mich nicht: Oh, was ist das denn? Sondern ich wusste sofort Bescheid.

Danach war er wie Helmut Kohl in der Spendenaffäre, er gab die Sache nur scheibchenweise zu. Ich musste es ihm sozusagen erst nachweisen, ehe er mit der Wahrheit richtig rausrückte. Das war natürlich eine unglaubliche Enttäuschung. Aber es war auch ein Wendepunkt. Sechs Wochen danach habe ich fest beschlossen, alleine wieder komplett neu anzufangen. Und diese Entscheidung habe ich nicht eine Sekunde bereut, es fühlte sich sehr klar an.

Unser Julian war gerade ein paar Monate vorher gestorben. Es war in einer nebeligen Herbstnacht. Seit Monaten bis gefühlten Jahren war es der erste Abend, an dem Stefan und ich zusammen unser krankes Kind in sein Zimmerchen brachten, ins Bettchen legten, das Kopfkissen und noch ein anderes Kissen unter diesen armen Körper schoben, die Decke noch mal festklopften, die Heizung noch mal kontrollierten und Julian noch mal streichelten. Beide miteinander standen wir vor diesem Bettchen: »Schlaf schön, mein Schätzchen!« Und beide hatten wir über seinen Kopf gestreichelt. Ich glaube, so ein gemeinsamer Moment mit unserem Sohn hat anderthalb oder zwei Jahre vorher das letzte Mal stattgefunden, oder es hat ihn auch gar nicht vorher so gegeben. Es war jedenfalls sehr ungewöhnlich.

Und dann kam die Nacht. In der Nacht habe ich ein-, zweimal auf der Treppe gestanden und habe gelauscht, weil ich dachte, Julian weint. Und Stefan, der in einem anderen Zimmer schlief, hatte in derselben Nacht zu anderen Zeitpunkten auch auf der Treppe gestanden und gedacht, er weint. Julian war nicht krank gewesen, also ich meine, es gab keine neue zusätzliche Störung wie zum Beispiel eine Erkältung oder irgendetwas. Es war eigentlich alles wie immer.

Er hat diese Nacht nicht überlebt. Am nächsten Morgen wollte ich ihn wecken und anziehen. Ich ging alleine hoch, wollte ihn wie jeden Morgen für die Frühförderungseinrichtung fertig machen. Da lag er tot vor dem Bett. Auf dem Fußboden. Er hatte ja neben den ganzen anderen Sachen auch noch Epilepsie in verschiedenen Stufen durchlaufen. Vielleicht hatte er in der Nacht einen ersten großen Anfall, hatte sich aufgebäumt und war aus dem Bett gefallen. Es war ein ganz niedriges Bett, denn er konnte sich ja noch nicht mal selbst umdrehen. Insofern brauchte es auch kein großes Gitter wie bei anderen Kinderbetten. Er war sieben Jahre alt. Und weil er sich nicht drehen konnte, konnte er auch nicht rausfallen. Aber vielleicht hatte das mit diesem Krampfanfall zu tun. Wir wissen es nicht und werden es auch nie wissen.

Sein Tod kam so unglaublich plötzlich. Ich habe sofort den Notarzt gerufen, der Krankenwagen kam. Die Retter konnten aber nur noch den Tod feststellen. Zehn Minuten später stand die Kriminalpolizei vor der Tür. Sie kamen herein und verhörten Stefan und mich getrennt voneinander. Die beiden Herren waren sehr, sehr nett. Und auch Stefan, der sonst immer meckerte, empfand das so. Ich hatte auch sofort zu den Herren gesagt: »Ich verstehe das. Da liegt ein Kind tot auf dem Fußboden, selbstverständlich müssen Sie kommen und sich das hier anschauen.«

Es war ein Riesendrama. Ich fand Julian oben, Constantin saß auf der Treppe. Du begreifst in dem Moment nicht genau, ist er nur bewusstlos oder … Es ist so unverständlich. Ich habe ihn dann nur auf den Arm genommen, bin schreiend vom zweiten in den ersten Stock gelaufen, habe ihn da auf einen Teppich gelegt, habe versucht, mir zu überlegen, was ich jetzt mache. Ich rief sofort die Notrufnummer an.

Constantin saß die ganze Zeit daneben und starrte schweigend und wie hypnotisiert auf uns herunter. Plötzlich so viel Polizei im Haus. Glücklicherweise kam bald schon Anita, unser spanisches Kindermädchen. Sie fing ja morgens immer sehr früh an. Anita war ein ganz junges Mädchen, aber sie hat wunderbar reagiert. Valentin turnte oben in seinem Gitterbett herum, und Constantin saß wie angewurzelt auf der Treppe. Ich versuchte immerzu, ihn nach oben zu schicken, aber er ging nicht. Und dann kam Anita und hat sich mit den Kindern hingesetzt und war rührend. Sie hatte sich folgende Geschichte ausgedacht: Julian ist jetzt im Himmel, lieber Constantin und Valentin, und im Himmel kann euer Bruder sprechen, und er kann laufen und guckt jetzt auf uns runter. Jetzt geht es ihm gut!

Das war so tröstlich für die beiden Jungen, die natürlich immer, solange sie denken konnten, die Krankheit ihres Bruders so mitbekamen, wie sie eben war. Sie haben unheimlich zurückstecken müssen. Immer hatten sie den kranken Bruder erlebt. Das war natürlich auch für die zwei eine ganz, ganz große Einschränkung, muss man sagen.

Einschränkung ist nicht das richtige Wort, das ist so ein neutraler Begriff. Ich glaube, das Wort Ausnahmezustand trifft es besser. Nichts war normal in unserer Familie. Jeder Tag mit Julian war unberechenbar. Egal was wir vorhatten, egal was, wann und wie, plötzlich, und wir reden hier von allen drei Wochen, war wieder irgendetwas ganz Schlimmes passiert, und Julian musste wieder ins Krankenhaus. Man musste alles stehen und liegen lassen und sofort mit ihm dorthin fahren. Er kriegte nicht mehr richtig Luft, oder er kriegte neue epileptische Anfälle. Er war sehr krank. Immer wieder kam etwas Neues hinzu. Und die anderen Kinder, egal was war, ob einer Geburtstag hatte oder so etwas Schönes: nichts. Denn immer wieder war Julian dran und sonst niemand.

Ich hatte ja Gott sei Dank viel Hilfe, insofern habe ich es besser gehabt als viele andere. Teilweise haben mich auch Sprechstundenhilfen unterstützt. Ich habe dann eine Sprechstundenhilfe in der Praxis zur Seite genommen und gesagt: »Mein Sohn liegt jetzt im Krankenhaus, ich möchte nicht, dass er da alleine ist. Die Schwestern dort haben zu viel zu tun. Sie können nicht ständig bei Julian sein und ihm über den Kopf streicheln oder das Händchen halten. Die haben auch andere Patienten. Ich möchte, dass jemand von uns da ist und ihm die Hand hält.« Und so saß manchmal auch eine meiner Sprechstundenhilfen an seinem Bett. Es war mir wichtig, dass immerzu eine liebende, wärmende Hand unseren Sohn berührte.

Er starb, und das war wie ein Bogen, verstehen Sie? Er war vorher ja seit seiner Geburt sozusagen stückweise gestorben, über sieben Jahre hinweg. Und jetzt war er wirklich tot. Ich weiß noch genau, es war das Allerschrecklichste, denn wir hatten ihn abgöttisch geliebt.

Sie glauben nicht, wie das Herz gerade an so einem kranken Kind hängt. Auch Stefans. Das Einzige, was Julian hatte, waren sein Gehör und das ganze Emotionale. Ich habe nur mit ihm so gespürt, gefühlt, gekuschelt. Oder manchmal, wenn ich besonders traurig und verzweifelt war, hatte ich ihn auf dem Schoß, und er fing an, kleine Gesten zu machen und Folgendes auszudrücken: Mama, sei doch nicht so traurig, so schlimm ist es doch nicht. Er verstand nichts. Nichts! Ich erzähle hier von einem Kind, das noch nicht mal Mama sagen konnte. Aber er spürte sofort die Liebe und die Gefühle und versuchte dann, mich zu trösten. Das war zum Steinerweichen. Wir hatten ihn unendlich lieb. Sobald einer in der Nähe war, schnappten er oder sie sich gleich unser krankes Kind und liebkosten es auf dem Schoß.

Und dann war er tot, und es war schrecklich. Aber ich erinnere noch den Tag nach der Beerdigung, als ich mit einem Freund spazieren ging. Wir waren gar nicht besonders eng befreundet, aber da war einfach einer, der hier in der Nähe wohnte und sagte: »Komm, lass uns doch wenigstens mal ein paar Schritte an der frischen Luft gehen.« Ich fand das irgendwie tröstlich und wollte auch mal kurz frische Luft schnappen. Er sagte: »So, Andrea, und jetzt muss ich dir aber mal eines sagen: Jetzt ist der Junge tot, jetzt kannst du ihn nicht mehr pflegen. Aber jetzt ist es auch erlaubt, dass du weiterlebst und mit dir auch Constantin und Valentin, sodass ihr drei …«, von Stefan war da gar nicht die Rede, »… ihr drei auch mal in diesem Leben wieder zu eurem Recht kommt. Auch die kleinen Kinder, die immer zurückstecken mussten, und auch du. Über dir hing sieben Jahre so ein Trauerflor, eine Trauerwolke. Jetzt ist er tot, und jetzt dürft ihr weiterleben.«

Das haben wir dann auch in ziemlich schneller Zeit getan. Denn niemand hatte mich gefragt, niemand hatte auch im Grunde entschieden, dass dieses Kind so krank zur Welt kommt. Genau genommen hatte man dem Schicksal ins Handwerk gepfuscht, denn er wäre ja eigentlich tot gewesen. In den 60er-, 70er-Jahren wäre die Hebamme gekommen, hätte ihre Decke über das Kind geschlagen und hätte gesagt: »Frau Gunthert, es war nicht.« Aber keiner hatte uns gefragt. Und dass er dann doch bei all dieser Krankheit so plötzlich stirbt.

Ich wollte so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommen, denn ich fand, das haben ja nun Constantin und Valentin gar nicht verdient: Erst haben sie eine aufgelöste Mutter, weil der Bruder krank war. Gut, daran konnte ich nur bedingt etwas ändern. Aber jetzt lebt der Bruder nicht mehr, und daran können wir nichts mehr ändern. Jetzt sind wir dran, die beiden Jungs, aber auch nicht zuletzt ich selber.

Ich habe seither einen anderen Blick auf das Leben. Früher dachte ich: Man kann alles erreichen, wenn man es nur will. Man kann an jeder Schraube drehen, an der man nur drehen will. Und man kann auch alles ändern, man muss nur richtig kämpfen oder die richtigen Dinge im richtigen Moment tun und darf sich nicht unterkriegen lassen. Gut, man muss auch tüchtig und klug an Dinge herangehen.

Diese Sicht der Dinge habe ich jetzt völlig abgelegt, denn du kannst nichts ändern. Alles, was du ändern kannst, sind absolute Nuancen. In so einem Moment sind die Würfel gefallen, und du kannst nur noch die Scherben auflesen und die rudimentärste Mängelverwaltung machen. Du kannst dich nicht gegen das Schicksal stemmen. Es geht einfach nicht.

Heute denke ich, egal, was passiert: Gott sei Dank, die Kinder sind gesund. Dann bin ich sofort über eine kleine störende Situation hinweg. Ich habe auch gelernt, den Moment als Glück zu genießen. Heute sind wir gesund, heute wird der Tag genossen. Das kann ich. Bedingungslos. Was ich auch daraus gelernt habe, ist: Die wesentlichen Dinge sind heute in Ordnung, und jetzt machen wir es uns heute richtig schön. Unwichtigen Ärgernissen gebe ich gar keinen Raum.

Da bin ich auch ganz anders als mein jetziger Lebenspartner. Er fragt eher: Wo steht geschrieben, dass der heutige Tag schön sein muss? Das wäre für mich der allergrößte Frevel, richtiggehender Frevel, wenn man gute Situationen als solche nicht wahrnimmt, nur weil eine Kleinigkeit nicht stimmt.

Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich nach so etwas Schrecklichem nochmal die Chance bekomme, dass das Leben wieder gut wird. Nachdem ich unendlich traurig war. Ich war so unglücklich, wie ein Mensch nur unglücklich sein kann. Unglücklicher geht es, glaube ich, nicht. Ich habe mir damals gar nicht vorstellen können, jemals wieder lächeln zu können, geschweige denn glücklich zu werden. Und trotzdem bin ich wieder richtig glücklich geworden. Weil die Dinge sich so entwickelt haben, alle miteinander. Weil man irgendwann auch akzeptiert, dass das ein furchtbar trauriges Kapitel ist, man aber die Chance hat, etwas zu finden, was es wert ist, auch wieder Freude daraus zu schöpfen. Dass ich das geschafft habe, das hätte ich nie gedacht. Die Gewissheit, dass Julian zeit seines Lebens immer schwerstbehindert gewesen wäre und sein lebenslanges Leiden vorprogrammiert war, wandelt seinen Tod in meinen Augen auch ein Stück weit zu einer Erlösung von seinem Schicksal. Das tröstet zwar eine Mutter nicht, aber es hilft mir doch, mit dem Verlust eines so kranken Menschen besser umgehen zu können.

Dabei hat mir auch unser furchtbar netter Freundeskreis geholfen. Stefan hat immer gemutmaßt, Leute mit behindertem Kind werden gar nicht mehr eingeladen. Das hätte etwas Störendes. Ganz im Gegenteil: Wir wurden ganz besonders viel eingeladen. Es gab keinen Kaffeeklatsch mehr, bei dem man nicht sagte: Wollen wir bitte auch auf jeden Fall die arme Andrea mit ihrem Baby anrufen, dass sie sich irgendwie dazwischensetzt, dann können wir uns doch ein kleines bisschen auch um sie hier in der Mitte kümmern.

Es ist so wichtig, sich helfen zu lassen. Auch wenn man sich dazu zwingen muss. Denn viele Verstorbene waren ja vorher Kranke. Die Pflege lastet nach wie vor sehr auf den Schultern der Angehörigen. Pflege ist etwas ganz, ganz Zehrendes, körperlich sowieso, aber es belastet einen umso mehr, weil die psychische Belastung so ungeheuer ist. Deswegen macht Pflege die Angehörigen fertig. Daher sind Freunde und Bekannte so wichtig, die das übernehmen.

Unsere Freunde haben sich allergrößte Mühe gegeben, das war wunderbar. Und wenn auch mal nur die Nachbarin kam oder irgendeine Tante und sich eine Stunde hinsetzte. Man muss sich dazu zwingen rauszugehen, wegzugehen, Tapetenwechsel, einen Moment auf andere Gedanken kommen, irgendetwas machen, was einem guttut, egal, was es ist, Hauptsache, man kommt einen Moment raus aus so einer Situation. Und wenn man wieder reinkommt, hat man ein kleines bisschen mehr innere Ruhe und Gelassenheit, um dieses Elend wieder zu ertragen. Wenn man nur in seinen vier Wänden sitzt, wird man verrückt.

Es gab auch merkwürdige Anteilnahme. Nach dem Tod von Julian kam eine Dame auf mich zu, die eigentlich einen sehr netten Eindruck machte. Sie sagte, sie habe einen Kreis um sich versammelt, der Kontakt mit den Toten aufnimmt. Darauf habe sie sich spezialisiert. Wenn ich wollte, könnte sie mir ermöglichen, mit meinem toten Sohn Kontakt aufzunehmen, damit ich mit ihm immer mal wieder sprechen könnte.

Ich weiß noch, dass ich richtiggehend wütend wurde und mich über dieses Angebot ärgerte. Als Ärztin bin ich ja durch und durch naturwissenschaftlich geprägt. Für so etwas habe ich überhaupt keinen Sinn. Natürlich ist es für eine Mutter immer das Allerschönste, das erste Mal zu hören, wenn das Kind Mama sagt. Noch nicht einmal das hatte mein armes krankes Kind gekonnt, auch nur einmal Mama sagen, geschweige denn richtig mit mir sprechen. Ein Gedankenaustausch wäre mit einem Siebenjährigen sowieso nur begrenzt möglich gewesen, aber mir mit meinem nicht sprechenden Kind auch noch vorzuschlagen, ich könnte jetzt doch nach seinem Tod mit ihm sprechen, das war mir unerträglich.