Wellblechpisten rollen nicht gut - Ulrike Schenker - E-Book

Wellblechpisten rollen nicht gut E-Book

Ulrike Schenker

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Beschreibung

»Habt ihr keine Angst, dass was passiert?« »Wir sind froh, dass endlich was passiert!« Selbstsicherheit und Vorfreude stecken in der Antwort von Christoph und Ulrike. Beide Ü 50, geben Job und Wohnung auf, um für ein Jahr in das Abenteuer ihres Lebens zu starten. Sie lieben das Unterwegssein mit dem Rad, wollen damit von ihrem Heimatort Neustadt/Sachsen bis ans Ende der Welt, nach Patagonien reisen. Wie und ob sie dieses Ziel erreichten, beschreibt die Autorin in unterhaltsamen Kurzgeschichten, mit eindrucksvollen Beschreibungen von Natur, Begegnungen, Strapazen und Ängsten. Nur eines sei hier verraten: Sie kamen reicher zurück, als sie gestartet sind.

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WELLBLECHPISTEN ROLLEN NICHT GUT

Geschichten einer Radreise von Neustadt in Sachsen nach Patagonien, erlebt von Ulrike und Christoph Schenker, aufgeschrieben von Ulrike Schenker

Alle Rechte, insbesondere auf digitale Vervielfältigung, vorbehalten.

Keine Übernahme des Buchblocks in digitale Verzeichnisse, keine analoge Kopie ohne Zustimmung des Verlages.

Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden.

Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbildes ist nur mit Zustimmung des Verlages möglich.

Die Fotos im Buchblock sind urheberrechtlich geschützt und dürfen nur mit Zustimmung der Autorin verwendet werden.

Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Ereignissen sind rein zufällig.

www.net-verlag.de

Erste Auflage 2023

© Text: Ulrike Schenker

© net-Verlag, 09117 Chemnitz

© Coverbild: Ulrike Schenker

Covergestaltung: net-Verlag

Fotos: Diego Fabián Leon Moreira &Karla Cerda Oterola (S. 137)

Jonas Deichmann (S. 159)

Lucas Rencoret Alarcon (S. 180)

Landkarten und Collage: Pixabay

alle anderen Ulrike & Christoph Schenker

printed in the EU

ISBN 978-3-95720-373-1

eISBN 978-3-95720-374-8

Für Christoph,der es mit mir und meinen Verrücktheitenschon so lange aushält.

Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Aufbruch und Der Weg durch Europa

1. Vorwort

2. »Oh wei, jetzt sind wir frei!«

3. Der Pferdeflüsterer

4. Bei Freunden in Ingolstadt

5. Ein Zeltplatz in Altensteig

6. Das letzte Mal bei Anna in Bühl

7. Bonjour, Frankreich oder: Der Ärger mit der örtlichen Krankenkasse

8. Ein zerstreuter Professor

9. Ankunft in Bordeaux – Weiterfahrt zum Atlantik

10. Marmelade aus Bad Tölz

11. Buenos dias, España! Oder: Die Sache mit der Zeltstange

12. Mutrikut – letzte Station an der spanischen Atlantikküste

13. Bei Carl und Magda in Mondragon

14. Zu Gast bei Elena und Ben in Vitoria-Gasteiz

15. Jakobsweg mit Ed und Anett aus Holland

16. Grenzübertritt mit Hindernissen

17. Auf dem Weg nach Salamanca (Spanien)

18. Avila

19. Madrid

20. Fliegen ist schön, oder?

Teil 2: Südamerika

1. Santiago de Chile

2. Eintausend Kilometer Panamericana

3. Enrique oder: Wo die Seele wieder atmen kann

4. Estefan

5. Hunde

6. Pucon oder: Die letzten Kilometer Panamericana

7. Die verrückten Argentinier in Entre Lagos

8. Grenzübergang ohne Hindernisse

9. Karla und Diego, zwei Radliebhaber aus Chile

10. Wasser

11. Carla oder: Der patagonische Wind

12. Cuevas de los manos – Die Höhlen der Hände

13. Jonas Deichmann – Begegnung mit einem Weltrekordler

14. Fitz Roy und Cerro Torre, der Traum eines jeden Bergsteigers! Und eines jeden Radfahrers?

15. Hotel »La Leona«

16. Perito Moreno oder: Weihnachten in Argentinien

17. Wie weiter?

18. Lucas

19. Nationalpark »Torres del Paine«

20. Ein Trip nach Ushuaia

21. Dirk oder: Achtundvierzig Stunden Fähre

22. Caleta Tortel – ein Kleinod an der chilenischen Pazifikküste

23. Jan und Jana oder: Die erste Etappe auf der Carretera Austral

24. Wellblechpistenblues

25. Zwei Aussteiger in Puerto Rio Tranquillo

26. Cuevas de Marmol – Marmorhöhlen

27. Chile Chico am Lago General Carrera

28. Coyhaique, die einzig größere Stadt an der Carretera

29. Ein treuer Gefährte für 35 Kilometer

30. Die letzten Tage auf der schönsten Straße der Welt

31. Wie geht es weiter?

32. Horst W. – Begegnung mit einem deutschen Bergsteiger und Fotografen

33. Frutillar – Urlaub vom Reisen

34. Abschied von Südamerika

Teil 3: Rückkehr

1. Hallo, Europa, hier sind wir wieder!

2. Wieder auf dem Rad unterwegs

3. Von Bordeaux bis an den Rhein

4. Au revoir, Frankreich! Hallo, Heimat!

5. Begrüßung auf »Sächsisch«

6. Ankunft

7. Nachwort

Einige Daten zur Reise

Danksagung

Über die Autorin

Teil 1: Aufbruch und Der Weg durch Europa

Die Route von Neustadt über Ingolstadt nach Bühl

1. Vorwort

»Abenteuer füllen deine Seele, Arbeit füllt dein Konto!«

Dieser Spruch hängt schon lange an unserer Wohnungstür, mahnt im täglichen Kleinkampf.

»Was ist, wenn das Konto voll und die Seele leer ist?«, frage ich meinen Mann.

»Dann wirst du krank«, antwortet er.

An einem dieser Abende, an denen wir philosophieren, über Sinn und Unsinn des Daseins diskutieren, entschließen wir uns, dafür zu sorgen, nicht krank zu werden.

Wir wollen eine Auszeit nehmen, ein Jahr mit unserem Lieblingsfortbewegungsmittel ein Stück Welt erkunden. Raus aus dem Alltag, rein ins Abenteuer, um unsere Seelen zu füllen.

Reiselust macht sich mit einem angenehmen Kribbeln breit. Doch vorher heißt es sparen, nur das Allernötigste kaufen, jeden Euro beiseitelegen. Essen gehen ist gestrichen, sogar der Kaffee beim Bäcker.

»Zu Hause gekocht, ist der viel billiger!«, sage ich zu meinem Mann.

»Und in deinen Buchladen brauchst du gar nicht mehr reingehen!«, kontert er.

Oh, das ist schwer!

Aber mit einem Ziel vor Augen schafft man vieles.

Ein Jahr vor dem geplanten Abfahrtstermin wird es ernst. Mein Arbeitgeber versichert, dass das bestehende Verhältnis ruhen kann. Bei Christoph gibt es die Möglichkeit nicht. Er muss kündigen, bekommt aber ebenfalls versichert, gute Chancen bei der Wiedereinstellung zu haben.

Während der Vorbereitungsphase teilen wir die Aufgabengebiete. Christoph kümmert sich um die Technik, darin ist er unschlagbar. Das heißt, die Räder sollen reise- und flugtauglich sowie reparabel werden.

Ich melde mich zum Spanischkurs in der Volkshochschule an, denn Sprache ist mein Steckenpferd.

Inzwischen haben wir uns auf ein Ziel geeinigt. Südamerika soll es sein, dort vor allem Chile und Argentinien.

Das sind unserer Meinung nach die Länder, von denen man am wenigsten über Unruhen oder Überfälle hört. Patagonien – viel gepriesen für landschaftliche Schönheit und Besonderheit des Lichtes.

Im »Globetrotter« kaufe ich die einzigen Landkarten, die es von den zwei Ländern gibt sowie die dazugehörigen Reiseführer. Wir planen und suhlen uns in Vorfreude!

Natürlich wissen wir, dass auch Widrigkeiten auf uns zukommen werden. Aber Tatendrang und Abenteuerlust sind auf der gewichtigeren Seite.

Trotzdem sprechen wir darüber, dass die Reise unter Umständen schnell vorbei sein kann. Wir geben uns das Versprechen, Rücksicht auf die Befindlichkeiten des anderen zu nehmen, Schwächen zu akzeptieren und den Partner nicht mit Vorwürfen zu attackieren.

Ein halbes Jahr vor dem Start beginnen wir, »Ballast« abzuwerfen, misten aus, werfen weg, packen Kisten. Die Wohnung wollen wir mit dem Abreisetag übergeben. Laufende Nebenkosten sollen sich in diesem Jahr auf ein Minimum beschränken.

Im Keller stapeln sich Bretter von abgebauten Schränken. Ein Sperrmülldatum ist festgelegt. Leider haben wir mit der hiesigen Wohnungsgenossenschaft einen Mietvertrag aus DDR-Zeiten, der uns verpflichtet, bei Auszug die gesamte Tapete von den Wänden abzulösen.

Das ist eine Schinderei! Hoch gelobt sei hier der Erfinder des »Tapetenablösegerätes«! Das leihen wir uns von Freunden und kommen so schneller voran. Nebenbei gehen wir arbeiten, lernen Spanisch, studieren Landkarten, besorgen notwendige Ausrüstungsgegenstände wie z. B. ein neues Zelt und Isomatten und müssen eine Menge Schreibkram erledigen.

Hier sei gesagt, dass es lange nicht so einfach ist, eine Versicherung aufzulösen, wie eine abzuschließen. Mit Geduld, Spucke, viel Papier und Druckertinte können wir alle nicht notwendigen Verträge kündigen beziehungsweise stilllegen. Das Auto nimmt unser Händler unter seine Fittiche, die zwei Mountainbikes langjährige Radkumpel.

Die weltweite Haftpflicht lassen wir laufen und schließen bei der HanseMerkur eine Traveler-Krankenversicherung für 1,10 € pro Tag und Person ab. Das finden wir preiswert und wichtig. Schließlich sind wir mit über 50 nicht mehr die Jüngsten.

Die Allgemeine Ortskrankenkasse weist darauf hin, dass wir einen Antrag auf »Anwartschaft« zu stellen haben, ohne den wir nach unserer Reise nicht mehr über sie versichert werden können. Da niemand Genaueres dazu weiß, tue ich dies artig, bekomme Antwort mit Wünschen für eine gute Reise.

Wir stellen einen Nachsendeauftrag bei der Post und geben die Adresse meiner Schwester an.

Ein Gesundheitscheck bei der Hausärztin steht noch auf dem Programm. Sie versorgt uns mit einem Notfallmedikament und bringt den Impfstatus auf Vordermann (Hepatitis, Tollwut).

Da diese Impfungen für die gewählten Reiseländer empfohlen werden, übernimmt die Krankenkasse die Kosten.

Wir machen Kopien von Ausweisen, Flugtickets und Versicherungsscheinen und verstauen sie an sicherer Stelle im Gepäck.

Für den Notfall haben wir einhundert Dollar in kleinen Scheinen auf der Sparkasse bestellt. Dort wird auch die Mastercard für Südamerika freigeschaltet. Wir haben außerdem jeder eine Visacard für den Fall der Fälle.

Finanziell wollen wir nicht mehr als 25 € pro Person und Tag ausgeben. Mehr darf nicht sein. Wenn doch, werden wir arbeiten müssen.

Ein Polster für Fähren, Transfers oder Ähnliches ist vorhanden.

Etwas mulmig ist uns nun schon. Die Wohnung wird immer leerer, je näher der Abreisetermin rückt.

Jetzt kommen die Abschiede von Freunden, Verwandten und Arbeitskollegen. Es rührt mich zu Tränen, als ich sehe, mit wie viel Liebe und Weitblick kleine Geschenke ausgesucht wurden, unter anderen: Müsliriegel, Händedesinfektion, Flickzeug, Deutschlandfahne, fünf Reisetagebücher und acht Schutzengel, die allesamt ihren Platz bei uns finden. Schutzengel kann man nicht genug haben. Eltern und Geschwister statten uns mit finanziellen Beihilfen aus.

»Damit ihr auch mal in einem richtigen Bett schlafen könnt!«, meinen sie. Aus allen guten Wünschen spricht nur eins: die Sorge um Gesundheit und Sicherheit.

Für alle, die Infos und Fotos wollen, richte ich eine WhatsApp-Gruppe »Radreise« ein.

»Wisst ihr überhaupt, was ihr da macht?«, fragt ein Bekannter.

So sicher sind wir uns dann doch nicht mehr. Aber nun gibt es kein Zurück. Unzählige »Schlemmer-Abschiedspartys« lassen unser Gewicht nach oben schnellen. Vielleicht brauchen wir ja diese »eiserne Reserve«.

Es gibt Leute, die uns für verrückt erklären. Die meisten jedoch wünschen Glück und bewundern unseren Mut.

Und dann kommt das, was Reinhold Messner den »goldenen Schritt« nannte, nämlich der Tag der Abreise …

2. »Oh wei, jetzt sind wir frei!«

Seit Monaten arbeiten wir auf diesen Tag hin. Unser Hab und Gut ist in Kisten verpackt und bei Freunden und Bekannten untergestellt. Die Sperrmüllabfuhr hat abgeholt, was in den letzten 30 Jahren so an Qualität nachgelassen hat, dass es nicht mehr zu gebrauchen ist. In mühevoller Arbeit haben wir, Stück für Stück, die Tapeten unserer Wohnung abgelöst und entsorgt. So verlangt es der Vermieter.

Alles, was wir für ein Jahr Radreise brauchen, ist in jeweils vier Packtaschen, einem Packsack und einer Lenkertasche verstaut; auch Zelt, Schlafsack, Kocher und Isomatte.

Die letzten zwei Nächte verbringen wir bei meiner Schwester.

Besen schwingend gehe ich nun durch die leeren Räume. Wenn Frau L. gleich die Wohnung abnimmt, soll alles in Ordnung sein.

Ich spüre einen Kloß im Hals. Zum ersten Mal seit Tagen der ruhelosen Organisation kehre ich, im wahrsten Sinne des Wortes, in mich.

Gleich haben wir kein Dach mehr über dem Kopf, nur eine Zeltplane! Und das für ein Jahr! Haben wir uns das richtig überlegt?

Zum Kloß im Hals gesellen sich Hummeln im Bauch und Schmetterlinge im Herzen. Aufbruchsstimmung paart sich mit Unsicherheit, Neugierde und Angst vor dem Unbekannten.

Ein Jahr Radreise – gewollt, organisiert und geplant, soweit man so etwas planen kann.

»Warum erst jetzt?«, haben viele gefragt.

»Besser jetzt als nie!«, war unsere Antwort.

»Habt ihr keine Angst, dass etwas passiert?«

»Wir sind froh, dass endlich was passiert!«

Noch 17 Jahre bis zur Rente, tagtägliche Routine. Und dann? Ob wir körperlich und geistig später noch dazu in der Lage sind, solch eine Anstrengung zu unternehmen?

Klingeln unterbricht meine Gedankengänge. Jetzt geht’s los! Fertig, aus, basta!

Frau L. findet alles in Ordnung. Wir dürfen sogar die Postkarte mit der Aufschrift: »Arbeit füllt dein Konto, Abenteuer deine Seele!« an der Tür hängen lassen. Wir machen ein Foto von der Schlüsselübergabe, während ich denke: Au wei, jetzt sind wir frei!

Meine Schwester drückt uns zum Abschied vor der Haustür. Die Nachbarin hat einen Schutzengel gehäkelt. Auch der kommt mit.

Schwiegervater begleitet uns die erste Strecke.

Auf geht’s!

Doch vorher muss ich noch ein Versprechen einlösen: eine Abschiedsrunde mit Rad und Gepäck vor dem Kindergarten, meiner langjährigen Arbeitsstelle.

Da mir das Herz dabei schwer wird, kneife ich mich zwischen Daumen und Zeigefinger. Das tue ich immer, wenn ich verhindern will, dass Tränen rollen.

Als wir durch die Brücke kommen, schallen uns Trillerpfeifen, Rasseln und Trommeln entgegen. Alle Großen und Kleinen haben sich versammelt, um uns eine gute Reise zu wünschen. Sie jubeln und winken mit bunten Tüchern. Die Straße schmücken Kreideblumen und die Aufschrift: »Gute Reise, liebe Ulli!«

Und die Tränen rollen nun doch.

3. Der Pferdeflüsterer

Sechs Tage sind wir nun schon unterwegs. Es ist Ende Juli und sehr heiß. Das Thermometer zeigt 40 Grad. Arme und Beine glänzen vom Schweiß. Der Staub der Straße kann wunderbar daran kleben. Noch haben wir uns nicht an das Gewicht der bepackten Fahrräder gewöhnt. Wir schwitzen ordentlich in den Bergen des vogtländischen Mittelgebirges.

Leider reichen die steilen, aber kurzen Abfahrten nicht für eine Abkühlung, sondern nur für ein laues Lüftchen.

Heute brauche ich unbedingt eine Dusche!

Beide denken wir das Gleiche.

Das Navi zeigt einen Campingplatz in der Nähe. Unter den heutigen Bedingungen können zwölf Kilometer anstrengend werden. Aber Dusche und kühles Bier locken.

Motiviert treten wir in die Pedale, kämpfen uns steile Anstiege hinauf und wundern uns, dass auch auf die letzten zwei Kilometer kein Campingplatzschild auftaucht. Als das Navi die Zielflagge anzeigt, stehen wir vor einem großen Gebäude, in dem viele junge Leute geschäftig hin- und herlaufen. Erst nimmt keiner Notiz von uns, aber als ich jemanden anspreche, versammeln sich alle: »Was, ihr wollt ein Jahr Fahrrad fahren und seid vor einer Woche losgefahren? Wohnung habt ihr auch keine mehr? Ihr habt nur noch das, was in die vier Radtaschen passt? Na, da habt ihr euch ja was vorgenommen!«

Wir unterhalten uns angeregt.

»Nein, einen Zeltplatz gibt es hier nicht, aber wenn ihr noch ein Stück den Berg hinauffahrt, kommt ihr an ein Grundstück. Dort wohnt ein komischer Kauz, den hier alle den Pferdeflüsterer nennen, vielleicht könnt ihr ja dortbleiben.«

Wir schnappen unsere Räder und schieben weiter. An Fahren ist bei dem Steilhang nicht zu denken.

Oben angekommen, stehen wir vor einem blickdichten, mannshohen Bretterzaun. Auf Läuten ertönt Hundegebell. Mein Herz schlägt ein paar Takte schneller.

Minuten später öffnet ein Mann in unserem Alter, tritt heraus und schließt hinter sich wieder ab.

Ich erzähle unsere Geschichte. Aufmerksam hört er zu, mustert uns mit leuchtend blauen Augen im wettergegerbten, faltenreichen Gesicht.

»Ja, hier war mal ein Zeltplatz. Den gibt es aber schon lange nicht mehr. Wahrscheinlich haben die das immer noch nicht aus dem Internet entfernt.«

Erschöpft frage ich, ob er nicht trotzdem einen Platz für unser Zelt hat.

Er überlegt kurz und sagt dann mit zahnlosem Mund: »Wisst ihr was, die eine Nacht könnt ihr hier auf der Wiese bleiben. Hinten ist noch das Toilettenhäuschen. Außen gibt es einen Wasserhahn, den stell ich euch an.«

Dankbar nehmen wir den Vorschlag an, woraufhin ich mich sagen höre: »Hätten Sie vielleicht noch eine Packung Nudeln und zwei Bier zu verkaufen? Wir dachten, auf dem Zeltplatz Verpflegung zu bekommen.«

Wieder mustert er mich, diesmal, wie ich finde, leicht amüsiert. »Ich muss erst mal mit meiner besseren Hälfte sprechen, baut ihr doch erst mal euer Zelt auf!« Spricht’s und ist im selben Moment verschwunden.

Wir jauchzen vor Vergnügen, als wir uns später splitterfasernackt einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf kippen, abseifen und abspülen. Dabei verschwenden wir keinen Gedanken daran, ob uns jemand sieht. Hinterher fühlen wir uns pudelwohl.

Eine Stunde später kommt unser Gastgeber und sagt, wir hätten zwei Optionen: erstens, mit ihm in den zehn Kilometer entfernten Supermarkt zu fahren oder zweitens, mit ihm und seiner Freundin zu Abend zu vespern. Sie hätten nicht viel, aber zum Sattwerden würde es reichen.

Wir wechseln rasch einen Blick.

Ich sehe Christophs Begeisterung: die erste Einladung auf unserer Reise! Wer hätte gedacht, dass das schon in Deutschland passiert!

Wir sagen zu und verabreden uns.

Ich soll meine Hundeangst draußen lassen, meint er noch. Wie hat er das bloß gemerkt?

Geschniegelt und gebügelt klingeln wir pünktlich um 19:00 Uhr am Tor. Eine schlanke Frau, Mitte fünfzig, öffnet uns. Interessante Fältchen schmücken ihr Gesicht. Fasziniert betrachte ich sie.

»Ich bin Angie«, sagt sie und bittet uns herein.

Der Gastgeber zeigt uns seine Ranch. Er behandelt Pferde, die manche Tierärzte schon abgeschrieben haben. Mit Geduld, Liebe und Naturmedizin hat er offensichtlich Erfolge, die den Vierbeinern zu neuen Chancen verhelfen.

Es sieht alles ein bisschen wild aus. Tier und Mensch sind hautnah beieinander. Die Einrichtung aufs Notwendigste beschränkt. Trotzdem wirkt es gemütlich.

»Die Tiere haben mich noch nie enttäuscht«, sagt der »Pferdemann« und führt uns in die Sommerecke. Nahe der Koppel sitzen wir unter einer Schatten spendenden Weide auf grob gezimmerten Stühlen. Angie stellt Wurst- und Käseplatte, Tomate, Gurke, Eier und Brot auf den hölzernen Tisch und hat sogar für jeden ein Bier. Wenn das nicht gut aussieht!

Wir hauen rein mit Appetit, plaudern dabei, als ob wir uns schon ewig kennen.

Er ist begeistert von unserem Reisevorhaben, erzählt aus seinem eigenen bewegten, abenteuerlichen Leben, unter anderem bei der französischen Fremdenlegion, und wie es kam, dass er später zum Pferdenarren und Einsiedler auf diesem Berg wurde.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass er sich gerade etwas ausdenkt. Aber das ist an diesem Abend egal. Wir unterhalten uns prächtig, sind dankbar für die Gastfreundschaft.

Ich glaube, dass er trotzdem froh ist, als wir uns nach zwei Stunden verabschieden. Ein Foto dürfen wir machen. Er kontrolliert es jedoch, weil er nicht will, dass man seine Zahnlücken sieht.

Ein bisschen eitel ist er schon, unser Fremdenlegionär, Aussteiger und Pferdenarr. Auf jeden Fall aber ist er ein Beispiel dafür, dass es auch in Deutschland unvoreingenommene Gastfreundschaft gibt.

4. Bei Freunden in Ingolstadt

»Ihr habt hier immer ein Basislager!« Das waren die Worte meiner bayrischen Freundin Paula.

Im Jahr 2011 lernten wir uns auf dem Jakobsweg kennen. Seitdem sind wir in Kontakt und besuchen uns gegenseitig.

Auch unsere Männer verstehen sich prächtig. Dass wir die gleichen Hobbys haben, Mountainbiken und Wandern, ist der Sache zuträglich.

Schon oft machten wir auf der Anfahrt zu Urlaubszielen einen Boxenstopp bei ihnen oder durften bei Radreisen das Auto unterstellen. Immer unterstützten sie uns mit Rat und Tat, denn die beiden Bayern sind nicht nur fröhlich und gastfreundlich, sondern auch erfahren in Sachen Reisen.

Daher ist es selbstverständlich, dass wir zu Beginn unseres großen Abenteuers bei ihnen vorbeischauen.

Acht Tage hatten wir veranschlagt für den Weg von Neustadt bis zu ihnen. Leider haben wir Hitze, Mittelgebirge und Gepäck nicht bedacht. Kurz und gut: Damit wir pünktlich am Wochenende da sein können, müssen wir ein Stück mit dem Zug fahren.

Bei Rudolph und Paula ankommen ist wie ein bisschen zu Hause sein. Auch diesmal ist es wieder sehr herzlich, bayrisch erfrischend oder einfach lustig. Wir lachen viel, diskutieren aber auch über ernsthafte Themen.

»Mit Sicherheit werdet ihr auf der Reise auch einmal an eure Grenzen kommen«, meint Rudolph mit tiefer Bassstimme und dem herrlich bayrischen Dialekt.

»Und wenn ihr die Nase voll habt, dann lasst die bayrischen Schimpfwörter raus, die wir euch gelehrt haben!«, fügt Paula keck hinzu.

Wir kichern und schwelgen in Erinnerungen. Auf dem Jakobsweg habe ich Paula das »Popellied« von Gerhard Schöne beigebracht und sie mir das bayrische Wort für »dicke Männer«, nämlich: »Gwambada Uhu«. Immer wieder kann ich darüber lachen.

Vorausschauend, wie unsere Freunde sind, haben sie ein nützliches Geschenk bestellt: einen Pufferakku, den man über Solar aufladen kann. Denn die Stromversorgung der elektrischen Geräte könnte unterwegs ein Problem werden.

Wir haben die beiden ins Herz geschlossen. Dementsprechend drückt ein dicker Kloß im Hals, als der Abschied naht.

Es waren zwei wundervolle Tage, angefüllt mit fröhlichem Lachen, gemeinsamem Kochen, Diskutieren und Philosophieren.

»Kommt ihr auf dem Rückweg wieder bei uns vorbei?«, fragt Paula unter Tränen und drückt mich fest an sich.

»Aber klar! In einem knappen Jahr.«

»Pfiad di!«, sagt Rudolph, als ich mich wie immer auf die Zehen stelle, um mich von dem blonden Riesen zu verabschieden. »Kommts ja gsund wieder!«

»Pfiad eich!«, verabschiedet sich auch Paula, und das heißt: »Behüte euch Gott!«

Danke euch beiden!

5. Ein Zeltplatz in Altensteig

Immer noch sind wir unterwegs in Deutschland und wie jeden Abend auf der Suche nach einem Zeltplatz. In Altensteig soll es einen geben. Wir finden ihn und wollen uns anmelden.

Aber nein, das geht nicht, meint der Mann hinterm Tresen, er sei vollkommen ausgebucht.

Enttäuscht gehe ich zu Christoph. Für unser kleines Zelt wäre schon noch ein Plätzchen da. Erneut begebe ich mich in die Rezeption, um nach einer Alternative zu fragen. Ganz nebenbei erzähle ich, dass wir in der Nähe von Dresden gestartet sind, ein Jahr Radreise vor uns haben und bis nach Südamerika wollen.

Er hat Stress, der gute Mann, muss einige Telefonate erledigen. Mit genervter Stimme sagt er, dass wir warten sollen, er würde sich gleich um unser Problem kümmern.

Aber ja doch! Wenn wir von allem so viel hätten wie Zeit! Wer kann das schon von sich behaupten! So sitzen wir Beine baumelnd im Schatten und warten.

Minuten später stürzt der Mann aus dem Anmeldehäuschen. Wild gestikulierend bedeutet er uns, ihm zu folgen, er habe eine Idee.

Kurz entschlossen nimmt er die Fußballtore vom Minispielplatz und stellt sie in den Schuppen. »Ist sowieso zu heiß zum Fußball spielen«, meint er nun freundlich. »Die Anmeldung machen wir später. Ich komme zu euch, wenn ich Zeit habe.«

Froh, bei über 40 Grad ein schattiges Plätzchen und eine Dusche zu haben, bauen wir die »Schildkröte« auf. So haben wir unser Zuhause für das kommende Jahr getauft. Wir holen den »Trangia« raus und beginnen zu kochen.

»Oh, den Kocher kenne ich! Der ist richtig spitze!« Im Vorbeigehen lächelt der Zeltplatzwart und zeigt den Daumen nach oben. Kurz vorher hatte er sich mit Christoph unterhalten und ihm »durch die Blume« erklärt, dass es solche Camper wie uns nur noch selten gibt und die Besitzer der weißen Blechbüchsen (gemeint waren die Wohnmobile), die Bezeichnung »Camper« gar nicht verdienen.

»Der kann uns aber gut leiden!«, meint mein Mann. Oft liegt er mit seiner Vermutung sogar richtig.

Später kommt der dicke Chef mit dem Porsche vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Auch er ist angetan von unserem Vorhaben. Freundlich erzählt er, dass er diesen Zeltplatz nur als Hobby betreibt, gute Rente hat und sein Sohn eine Firma in Südamerika, die super läuft. Er wünscht uns für die Reise Glück und Gottes Segen.

Das Gleiche wünscht uns ein Mann beim Einkaufsmarkt. Er betrachtet die Fahrräder mit den Ersatzfaltreifen und meint scherzhaft: »Ihr wollt wohl zum Atlantik?«

Als wir bejahen, ernten wir anerkennende Worte und den Spruch: »Gottes Segen soll euch begleiten«.

Gute Wünsche sind immer willkommen, egal von wem.

Bis zum Einbruch der Dunkelheit hat sich der Mann von der Rezeption noch nicht gemeldet. Da wir jeden Euro nötig brauchen, beschließen wir, uns still zu verhalten. Die ganze Nacht habe ich »dummes Huhn« ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn nicht an die Rechnung erinnert habe.

»Vielleicht hat er uns ja mit Absicht vergessen«, meint Christoph. »Einfach, um uns etwas Gutes zu tun. Sicher sieht Gottes Segen so aus!«

Am nächsten Morgen bekommen wir ein Augenzwinkern, Daumen nach oben und den Wunsch »Gute Reise« mit auf den Weg.

Später auf der Tour habe ich gelernt: Wenn das Schicksal dir ein Geschenk macht, kannst du es ohne schlechtes Gewissen annehmen.

6. Das letzte Mal bei Anna in Bühl

Wiederholt frage ich mich, warum unser einziges Kind so weit weggezogen ist. Wir wohnen an der östlichen Seite von Deutschland, nahe der Grenze zu Tschechien und Polen, Anna an der westlichen Seite, in der Nähe von Frankreich. Sie hat mir versichert, dass es nichts mit uns zu tun hat.

Mittlerweile ist der Schwarzwald ihre zweite Heimat. Hoch oben am Berg wohnt sie, mit ihrem Freund und dessen Eltern.

Selbstverständlich wollen wir Anna noch einmal sehen, bevor wir für längere Zeit aus Deutschland verschwinden.

Gerade quälen wir uns die Berge des Schwarzwaldes hoch, besser gesagt: Wir schieben.

Treffpunkt ist der Schwarzenbachstausee. Dort will Anna das Gepäck nehmen, damit wir leichter zu ihr auf den Berg kommen.

Ein ganzes Wochenende bleiben wir, werden köstlich bewirtet von unserem Kind und den Schwiegereltern.

Christoph spürt seinen Zahn. Oh je! Ich glaube, ihm macht auch die Psyche zu schaffen. Der Abschied vom Kind und dem sicheren Deutschland, in dem man rundum versorgt wird.

Da wir hier noch zwei Tage versichert sind, fährt Anna mit ihm zum Zahnarzt. So richtig finden kann er nichts. Es ist wohl ein überkronter Zahn, da kann man auf die Schnelle sowieso nichts machen. Er soll gut putzen und spülen.

Da mein Mann beruhigt ist, schiebe ich den Gedanken weg, dass da noch mehr sein könnte.

Als wir unser großes Töchterlein zum Abschied drücken, sitzt wieder der Kloß im Hals. Wer weiß, was ist, wenn wir wieder da sind.

Sie will sich verändern, hat aber noch keinen Plan.

»Nicht umdrehen Papa, nicht umdrehen!«, ruft Anna.

Hör auf deine kluge Tochter!, denke ich und kneife mich mal wieder zwischen Daumen und Zeigefinger.

Abschied ist doof!

Der Weg zum Atlantik

7. Bonjour, Frankreich oder: Der Ärger mit der örtlichen Krankenkasse

Wir waren schon oft mit dem Rad im französischen Nachbarland, haben es ins Herz geschlossen. Die Freundlichkeit der Menschen finden wir toll. Fast jeder hat hier ein »Bonjour« für den anderen übrig.

Fantastische Radwege gibt es und kaum eine Straße ohne begleitende Fahrradspur. Fahren wir in einen Kreisverkehr, halten sogar Lkws an.

Auch die Zeltplätze gefallen uns. Es gibt immer einen Tisch und einen Stuhl für die kleinen Camper. Außerdem bewundern wir die historischen Städtchen, die stilvoll gepflegt und restauriert sind. Und nicht zuletzt sind die vielen »Boulangerien« (Bäckereien) zu nennen, aus denen verführerische Düfte strömen und die auch sonntags aufhaben, perfekt für Radreisende.

Unser Ziel ist Bordeaux und die Atlantikküste. Im Moment fühlen wir uns sprichwörtlich wie Gott in Frankreich, schlemmen Abendessen. Es gibt Fisch und einen guten Wein. Ich denke gerade, wie gut wir es doch haben, als mich eine Nachricht von meiner Schwester Sabine erreicht. Ihre Adresse haben wir für eventuelle Postnachsendungen angegeben. Sie schreibt, dass die örtliche Krankenkasse sich mehrfach schriftlich gemeldet hat. Darin beglückwünschen sie uns zur Entscheidung, eine »Anwartschaftsversicherung« abgeschlossen zu haben, und fordern uns auf, einige Formulare auszufüllen. Außerdem teilen sie uns mit, dass wir nun rund 50 € pro Person und Monat dafür bezahlen müssen.

Wie bitte? Ich lese wohl nicht richtig!

Hatten die nicht geschrieben: »Alles klar und gute Reise«?

In mir brodelt es, aber ich kann nichts machen.

Mein Schwesterlein hat sich gekümmert, herumtelefoniert, sich durchgefragt. Dabei stellte sich heraus, dass diese »Anwartschaftsversicherung« dafür gedacht ist, Krankheiten, die man von der Reise mitbringt, später in Deutschland behandeln lassen zu können. Ansonsten müsse man diese Kosten selber tragen.

Ja, aber warum hat man mich darüber nicht vorher aufgeklärt?

»Wir sind ab dem 1. August nicht mehr in Deutschland«, stand definitiv als Info im Brief, den ich an die Örtliche geschickt habe. Ich schiebe den Ärger weit von mir und bitte Sabine, die Beträge auszulegen.

Das ist kein Problem für sie.