Welt der Wunder - Aimee Nezhukumatathil - E-Book

Welt der Wunder E-Book

Aimee Nezhukumatathil

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Beschreibung

»Ohne Zweifel das schönste Buch des Jahres« – New York Times

In ihrer Jugend nannte Aimee Nezhukumatathil viele Orte ihr Zuhause: das Gelände einer psychiatrischen Anstalt in Kansas, wo ihre philippinische Mutter als Ärztin tätig war; der offene Himmel und die hohen Berge von Arizona, wo sie mit ihrem indischstämmigen Vater wanderte; und die kühleren Gefilde im Westen von New York und Ohio. Aber ganz gleich, wohin sie durch die vielen Umzüge ihrer Familie verpflanzt wurde – ganz gleich, wie neu, befremdlich oder sogar unangenehm der Ort oder die Landschaft war –, sie konnte sich immer an die wilden und lustigen Kreaturen unserer Welt wenden, um sich zu erden. In einer fantastischen Mischung aus Nature Writing und Memoir erzählt Aimee Nezhukumatathil von der Liebe zur Natur, von Unterstützung durch Pflanzen und Tiere in Zeiten großer Ungewissheit – und von der Kraft der Imagination.

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Seitenzahl: 169

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Zum Buch

In ihrer Jugend nannte Aimee Nezhukumatathil viele Orte ihr Zuhause: das Gelände einer psychiatrischen Anstalt in Kansas, wo ihre philippinische Mutter als Ärztin tätig war; der offene Himmel und die hohen Berge von Arizona, wo sie mit ihrem indischstämmigen Vater wanderte; und die kühleren Gefilde im Westen von New York und Ohio. Aber ganz gleich, wohin sie durch die vielen Umzüge ihrer Familie verpflanzt wurde – ganz gleich, wie neu, befremdlich oder sogar unangenehm der Ort oder die Landschaft war –, sie konnte sich immer an die wilden und lustigen Kreaturen unserer Welt wenden, um sich zu erden. In einer fantastischen Mischung aus Nature Writing und Memoir erzählt Aimee Nezhukumatathil von der Liebe zur Natur, von Unterstützung durch Pflanzen und Tiere in Zeiten großer Ungewissheit – und von der Kraft der Imagination.

Zur Autorin

AIMEE NEZHUKUMATATHIL Jahrgang 1974, ist Professorin für Anglistik und Kreatives Schreiben an der University of Mississippi und vielfach ausgezeichnete Autorin und Lyrikerin. Sie erhielt für ihre Arbeit Stipendien von der Guggenheim Foundation, vom U. S. National Endowment for the Arts und dem Mississippi Arts Council. Ihre Texte erschienen u. a. im New York Times Magazine und in renommierten Lyrikmagazinen wie Poetry und Tin House. Für ihr Nonfiction-Debüt »World of Wonders« erhielt sie zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Sie lebt mit ihrer Familie in Oxford, Mississippi.

Aimee Nezhukumatathil

Welt der Wunder

Über Glühwürmchen, Walhaie und andere Erstaunlichkeiten

Aus dem Amerikanischen von Anna von RathIllustriert von Fumi Nakamura

Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »World of Wonders« im Verlag Milkweed Editions, Minneapolis, MN.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe August 2022Copyright © 2020 by Aimee Nezhukumatathil

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright der Illustrationen: © 2020 by Fumi Nakamura

Originally published in the English language in the United States of America

Milkweed Editions

1011 Washington Avenue South, Suite 300

Minneapolis, Minnesota 55415

milkweed.org

All rights reserved

Covergestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf von Fumi Nakamura

Covermotiv: © Fumi Nakamura

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

e-ISBN 978-3-641-27948-6V002www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für meine Eltern –Paz und Mathew, meine ersten Wunder

INHALT

Catalpa

GlühwüRmchen

Pfau

Seenuss

Mimose

Kaktuszaunkönig

Narwal

Axolotl

Tanzfrosch

Vampirtintenfisch

Monsun

Titanenwurz

Indischer Hutaffe

Ars Poetica

Walhai

Tagschläfer

Cara-Cara-Orange

Oktopus

Nymphensittich

Drachenfrucht

Flamingo

Nasenmuräne

Fragen und Aussagen meiner sechs und neun Jahre alten Mixed-Race-Söhne bei der Vogelbeobachtung am National Audubon Bird Count Day in Oxford, Mississippi

Kragenparadiesvogel

Grünlicher Wassermolch

Helmkasuar

Monarchfalter

Glühwürmchen (noch einmal)

Danksagung

Nachwort der Übersetzerin

Der Schmetterling zählt nicht Monate, sondern Momente. Und er hat genug Zeit. – Rabindranath Tagore

CATALPA

Catalpa speciosa

Ein Catalpa kann als grüner Sonnenschirm für zwei Mädchen of Color in West Kansas dienen. Werdet nicht zu braun, erinnerte uns unsere Mutter, wenn wir im unerbittlichen Sonnenlicht des Mittleren Westens spazieren gingen. Jeden Tag nach der Schule ließ der Busfahrer meine jüngere Schwester und mich am Larned State Hospital raus, und jeden Tag starrten uns unsere Klassenkamerad*innen hinterher, während der Bus davonfuhr. Ich schloss die Tür zu unserer Ärztinnenwohnung auf, der Schlüssel hing an einem Bindfaden als Kette um meinen Hals. Wir gingen hinein, machten uns ein paar Snacks und erledigten unsere Hausaufgaben. Wir warteten, bis unsere Mutter anrief, um uns zu sagen, dass wir nun zu ihr ins Büro kommen konnten. Dieser Anruf bedeutete, dass sie zehn Minuten später Feierabend machen würde. Wir drückten den Ausknopf des Fernsehers und drängelten zur Tür, um so schnell wie möglich in unsere Flip-Flops zu schlüpfen, für den kurzen Weg rüber zum Verwaltungsgebäude des Krankenhauses. Meine Schwester und ich wussten, dass wir nicht in die Nähe des Zauns der Patientenbehausungen gehen durften, weil sie manchmal draußen hinter dem dreifachen Stacheldraht Basketball spielen durften. Aber ab und zu erlaubte ich mir, sie zu beobachten, wenn ich mit meinem kastanienbraunen Dreigang-Fahrrad vorbeifuhr, und manchmal winkte mir sogar ein Insasse zu.

Catalpas, die zu den größten sommergrünen Laubbäumen der Welt gehören, schießen bis zu achtzehn Meter in die Höhe. An ihren Ästen baumeln lange Bohnenschoten herunter, und sie tragen flache Samen mit Flügeln, die ihnen helfen davonzufliegen. Diese Schoten brachten die Menschen dazu, sie »Zigarrenbäume«, »Trompetenbäume« oder »Catawba« zu nennen. Catalpas können helfen, den Wind zu verstehen, wenn er ihre riesigen herzförmigen Blätter zusammenklatschen lässt – Blätter wie Schmalzlocken von frechen Jungs aus 1950er-Jahre-Filmen, deren erstes Drag-Race mit einer Niederlage und verschütteten Milchshakes endet. Aber diese Blätter können richtig Randale machen, wenn sie an einem besonders windigen Tag alle gleichzeitig applaudieren. Ein Catalpa, der zu nah an einem Haus gepflanzt wurde, ist ein vorhersehbares Unglück. Eines, das auf jeden Fall kommen wird, auch wenn manche Leute die Gefahren herunterspielen, weil Catalpas wirklich gut klingendes Holz für Gitarren hergeben. Und wer würde da die Klatschlieder draußen im flachen Land infrage stellen?

Der Rhythmus des Catalpa ruft die Sphinxmotte (Ceratomia catalpae) auf den Plan, die bis zu 500 Eier auf einmal auf seine Blätter legt. Eier, die jeweils nur einen halben Millimeter groß sind. Diese Blätter sind das einzige Nahrungsmittel für diese Art von Raupe, und wenn sie nicht aufgehalten werden, können sie alle Blätter eines mächtigen Catalpas in nur einer Nacht vernichten. Kinder der Prärie wissen, dass sich mit diesen »Würmern« wunderbar Taschengeld verdienen lässt. Die Sphinxraupen (die auch als Catfish Candy bekannt sind) werden als Köder sehr geschätzt. Besonders Katzenfische und der blaue Sonnenbarsch verschlingen die Raupen, ohne bei ihrem plötzlichen Auftauchen im Wasser auch nur den geringsten Verdacht zu schöpfen.

Manchmal klaubten wir, bevor wir unsere Mutter abholten, noch ein paar Münzen für den Snackautomaten zusammen, der im Foyer ihres Büros stand. Im Jahr 1986 kostete ein Little Debbie Brownie unschätzbare 35 Cent – wertvoll besonders deshalb, weil wir unser kleines Taschengeld nur unregelmäßig bekamen und uns nicht darauf verlassen konnten, dass es so bald wieder welches geben würde, um uns ein Dutzend Weingummiarmbänder den ganzen Arm raufzuschieben – natürlich um damit Madonna zu imitieren – oder um uns ein Eis-Sandwich für 99 Cent bei Dairy Queen zu kaufen oder um auf ein weiteres Paar bunter Flip-Flops zu sparen. Man kannte uns in diesem verschlafenen kleinen Landstrich als die Töchter der neuen Ärztin. Doch meine Mutter stellte sicher, dass wir nicht so verwöhnt wurden, wie die Kinder ihrer Kolleg*innen. Die nämlich besaßen oft sechs oder sieben Paar der neuesten Sportschuhkollektion und diskutierten bereits über die Marke ihres zukünftigen ersten Luxusautos. Für uns Schwestern war Extravaganz damals der seltene Nachmittag, an dem wir genügend Münzen fanden, um uns einen Brownie zu teilen.

Nachdem wir an der Rezeption gegrüßt hatten, ein paar Etagen mit dem Aufzug hochgefahren und an dem Billardtisch der Patient*innen vorbeigelaufen waren, grinsten wir unserer Mutter mit Schokoladenresten zwischen den Zähnen entgegen. Karies, Karies, fauchte sie dann und ließ alles stehen und liegen, um uns zur Begrüßung zu küssen und in die Arme zu schließen. Erst Jahre später konnte ich nachvollziehen, dass sie ihre Tage damit verbrachte, Patient*innen zu helfen, die sie mitunter rassistisch beschimpften und ihr Gewalt androhten – wie etwa Verschwinde, du Schlitzi, oder ich erwürge dich mit meinen bloßen Händen. Ich weiß nicht, wie sie es geschafft hat, mit den Mikroaggressionen der Familien umzugehen, die ihr sagten, sie könnten ihren Akzent nicht verstehen. Oder wie sie es aushielt, dass manche von ihnen besonders laut und langsam mit ihr sprachen, ganz so, als wäre sie – Klassenbeste, erste Doctora ihres kleinen Dorfes im Norden der Philippinen – ein kleines Kind, das nichts versteht. Doch meine Mutter behielt immer die Ruhe, wiederholte ihre Empfehlungen und kümmerte sich um ihre Fälle, ohne die Beherrschung zu verlieren.

Wie schaffte sie es, all das hinter sich in ihrem Büro zu lassen? Den Schalter umzulegen, um sich das Geschnatter ihrer beiden Mädchen – eine in der fünften, die andere in der sechsten Klasse – über Spielplatzdramen, Kränkungen und kleine Alltagserfolge anzuhören? Ich erinnere mich nicht, dass sie je über ihre Arbeit sprach, während wir nach

Hause liefen, sie ihre stylischen Kostüme ablegte oder sie uns etwas zu essen machte. Was sie alles erdulden musste, erfuhr ich nur, weil ich heimlich ihre Tagebücher überflog, wenn sie gerade im Bad duschte oder ihre Zähne putzte. Ohne diese verstohlenen Einblicke hätte ich nie mitbekommen, was sie in diesem einen Jahr aushalten musste.

Dreißig Jahre später stehe ich unter dem größten Catalpa des Bundesstaats Mississippi. Dieser Baum ist eines der Herzstücke des berühmten »Tree Walks« auf dem Campus der Universität von Mississippi, an der ich momentan unterrichte. Seine Äste strecken sich in der Waagerechten fast so lang wie ein Bus. Sie müssen an mehreren Stellen von dicken Metallpfosten gestützt werden, damit diejenigen, die in der Mitte weich sind und anfangen matschig zu werden, nicht auf ahnungslose Studierende herunterfallen.

Die dreißig Zentimeter langen Blätter eines solchen Baumes bedeuteten für mich immer Schutz vor hartnäckigem Sonnenschein und gnadenlosen Blicken. Als ich in die Südstaaten zog, ging ich davon aus, dass ich diese breiten Blätter ständig brauchen würde, aber zum ersten Mal in meinem Leben brauchte ich sie nicht. Und meine Kinder sahen zum ersten Mal in ihrem Leben täglich außer mir auch noch viele andere People of Color. Niemand starrt mich hier im Süden an. Niemand starrt hier meine Eltern an, wenn sie zu Besuch kommen – genauso wenig wie in Florida, wo sie jetzt wohnen. Meine Eltern nutzen ihre Rente, um einen aufwendigen Garten zu betreiben. Einen Garten mit vielen Bäumen, die sehr kleine Blätter haben. Eine ihrer großen Freuden ist es, diese nach einem Spaziergang zu pflegen. Da werden dann tote Blätter oder Äste abgezupft und sorgfältig gestutzt, viel ordentlicher als jeder Haarschnitt, den ich je bekommen habe. Wenn ich sie besuche, gehe ich am liebsten mit meiner Mutter zwischen den Obstbäumen spazieren und höre ihr zu, wenn sie mir haarklein über alle Gartenereignisse erzählt, die sich seit meinem letzten Besuch abgespielt haben: Kannst du glauben, dass der hier beim letzten Hurrikan alle Blüten verloren hat? Das ist so traurig, jetzt wird es dieses Jahr keine Mangos geben. Hier ist der Baum, an dem die Vanda-Orchideen am besten wachsen, erinnerst du dich? Ich habe deinem Vater gesagt, dass die Vögel alle Früchte von diesem Baum klauen würden, aber er hat mir nicht geglaubt, kannst du dir das vorstellen?

Wenn ich nun auf dem Campus in Mississippi an dem großen Catalpa vorbeigehe, denke ich an die schüchterne Sechstklässlerin, die richtig nervös wurde, wenn die Leute sie anstarrten. Aber dann erinnere ich mich an das selbstbewusste Klick-Klack der Absätze meiner Mutter, wenn sie mit mir und meiner Schwester nach Hause lief. Wenn uns dann Leute anstarrten, schien es meine Mutter nicht zu kümmern, oder sie tat so, als ob sie es gar nicht bemerken würde. Ich erinnere mich auch an ihr strahlendes Lächeln, wenn wir in ihr Büro stürmten, und ihr lautes Lachen, wenn wir von unseren Dramen in der großen Pause oder beim Sportunterricht erzählten. Und ich höre meine eigenen Absätze, wenn ich zu meiner ersten Stunde eile, die ich an der Universität unterrichte.

Der Catalpa auf dem Campus zeigt heute Morgen seine cremefarbenen Blüten. Ein Morgen, der schon seit 9 Uhr feucht und schwül ist. Der Baum steht immer noch, trotz der zwei oder drei Tornadowarnungen, die wir in unserem ersten Jahr in Mississippi hatten. Als ich an ihm vorbeigehe, überlege ich, welches der Blätter wohl groß genug ist, um mein ganzes Gesicht zu verdecken, sollte das je wieder nötig sein. Sollte es je wieder nötig sein, dass ich unbemerkt bleiben muss, um mich vor Fragen wie Was bist du? und Wo kommst du her? zu schützen. Ich laufe weiter. Meine Studierenden warten. Meine lieben Südstaaten-Studierenden, die darauf bestehen, mich »Ma’am« zu nennen, egal wie sehr ich sanft protestiere. Ich kann es kaum erwarten, ihre schönen Gesichter zu sehen.

GLÜHWÜRMCHEN

Photinus pyralis

Wenn der erste kleine Lichtpunkt eines Glühwürmchens im Sommer am Nachthimmel glimmt, möchte ich immer gleich meine Mutter anrufen, einfach nur um ihr Hallo zu sagen. Die Biografie des Glühwürmchens besteht aus einem zarten elektrischen Kleid, einer kleinen Flamme, die in den Gräben entlang der Highways züngelt, und den Elytren, welche die hinteren Flügel des Glühwürmchens bedecken und sich wie leichtes Leder abheben, geschmeidiger als bei jedem anderen Käfer. Es fliegt wie ein lautes Lachen, das so nur im Sommer möglich ist, wenn der Gestank von brutzelndem Fleisch die Straße hinaufwabert, die Schnuten der Nachbarskinder von lauter Wassereis verschmiert sind und ihnen in Vorfreude auf das Fangen oder mit dem Ball spielen die Münder offen stehen.

Früher sah ich sie immer, wenn wir von Familienurlauben wieder nach Hause fuhren, zurück in die ländliche Gegend westlich von New York. Mein Vater liebte es, nachts zu fahren, um das grelle Sommerlicht und die Hitze zu meiden. Meine Schwester und ich saßen dann in Decken gehüllt, durch eine riesige Kühlbox voneinander getrennt, auf der Rückbank. Ich nickte regelmäßig ein und wurde wieder wach, was umso schöner war, weil ich dann das angenehme Murmeln meiner Eltern hörte. Manchmal versuchte ich, ihnen zuzuhören, wurde dabei aber oft von den unregelmäßig aufblitzenden Lichterchen abgelenkt, die verschwommen an uns vorbeizogen.

Jedes Jahr im Juni finden sich für ein paar Wochen in den Great Smoky Mountains unzählige Rover-Glühwürmchen für eine leuchtende Darbietung zusammen. Sie sind die einzige Glühwürmchenart in Nordamerika, die ihr Blinken synchronisiert. Vor Jahren machten wir dort während eines unserer sagenhaften Roadtrips eine Pause. Mein Vater wusste unser Auto in einigem Abstand zu einem unfassbar grünen Hügel zu parken, der aus einem Tal voller Waldlilien, Feuerkirschen und Erlenblättrigem Schneeball auftauchte. Er wusste auch, dass wir rote Stoffbeutel über unsere Taschenlampen ziehen mussten, um die Glühwürmchen nicht zu stören, als er seine Frau und seine beiden etwas scheuen jugendlichen Töchter durch die dunkelblaue Pause kurz nach der Abenddämmerung führte. Ich gebe zu, dass ich anfangs tatsächlich viel lieber in meinem klimatisierten Hotelzimmer gewesen wäre – überall, nur nicht auf diesem einsamen Schotterweg, auf dem lediglich vereinzelte Balzrufe eines Ochsenfroschs die Dunkelheit durchbrachen. Aber jetzt denke ich daran, dass meine Schwester und ich inzwischen weit voneinander entfernt an unterschiedlichen Orten leben, und ich bin dankbar für diese Familienurlaube, bei denen wir zusammen in der Natur sein und über diese Erde gehen konnten.

Gegen Ende eines solchen Urlaubs war meine Mutter immer erschöpft, aber ich weiß, dass ihr jeder der seltenen Tage ohne Arbeit und mit ihrer Familie lieb und teuer war. Wie sehr ich mich nach diesen gemütlichen Urlaubstagen und den unendlich geruhsamen Abenden sehne, danach, wie sie sich Zeit nahm, unsere Rüschennachthemden rauszusuchen, wie wir über die Erlebnisse des Tages und unsere billigen Souvenirs lachten. Sie zog mir die Decke bis zum Kinn. Ihr wunderschönes dunkles und welliges Haar kitzelte mich, wenn sie sich vorbeugte, um mir einen Gutenachtkuss zu geben. Sie roch nach Oil of Olaz und Pfefferminzkaugummi. Es waren diese Reisen, auf denen ich ihre Zärtlichkeit kennenlernte, die wortlose Gewissheit, die eine Mutter einer Tochter geben kann, während sie mir meinen Pony aus dem Gesicht strich. Es gab keine Eile am Morgen, um meine Schwester und mich in einen Schulbus zu schieben und sich selbst in Richtung Arbeit zu bewegen. Wenn es meine Mutter irgendwann einmal nicht mehr geben sollte, dann weiß ich jetzt schon, dass ich mich an dem Geruch von Minze und Feuchtigkeitscreme festhalten werde, den ich immer mit Schönheit und Liebe verbinde. Ich werde mich immer an diese Sommernächte erinnern, an denen wir nach Hause fuhren, jedoch ohne Eile. Ich werde immer versuchen, mich selbst in unser Oldsmobile zurückzuversetzen, so wie die Florfliegen, die sich jede Nacht aufs Neue mit der Glühbirne auf meiner Veranda streiten, um mich an unserer kleinen Familie festzuhalten, die noch nicht mal groß genug war, um als Schwarm bezeichnet werden zu können: eine Schwester, zwei Eltern.

Ich bin in der Nähe von Wissenschaftler*innen aufgewachsen, die mit Indigofinken arbeiteten. Es gibt kein anderes Blau wie das dieser Vögel, keine ähnlich elektrisierenden Federn. Sie navigieren, indem sie dem Nordstern folgen, und die Forscher*innen versuchten, sie hereinzulegen. Sie sollten in einem dunklen Raum einem anderen, falschen Stern folgen. Aber die wenigsten fallen auf diesen Trick herein. Wenn sie freigelassen werden, finden sie ihren Weg genauso nach Hause wie immer. Die Indigofinken kennen den Nordstern in- und auswendig. In ihrem ersten Sommer lernen sie, nach ihm zu schauen, und sie speichern dieses Wissen, um es Jahre später zu verwenden, wenn sie ihre Wanderung beginnen. Wie viel Zeit sie damit verbracht haben müssen, unter den Flügeln ihrer Mutter aus dem Nest heraus in den Himmel zu diesem Stern zu spicken. Was so hell strahlt, hält sie auf ihrer Bahn.

Während die Finken unerschütterlich bleiben, können Glühwürmchen viel leichter getäuscht werden. Sie verlieren ihren Leuchtrhythmus, sobald nur ein einziges Auto mit eingeschalteten Scheinwerfern an ihnen vorbeifährt. Manchmal dauert es Stunden, bis sie ihr Blinken wieder kalibriert haben. Was passiert in der Sendepause? Welche Verbindungen werden falsch übersetzt oder gehen völlig verloren? Verandalichter, LKWs, Gebäude und grelle Straßenlaternen verkomplizieren den Prozess und halten die Glühwürmchen davon ab, ihre Liebesbotschaften auszusenden – was bedeutet, dass im nächsten Jahr weniger Glühwürmchenlarven geboren werden.

Niemand kann wissenschaftlich erklären, warum bestimmte Glühwürmchen synchron blinken können. Möglicherweise ist es ein Zeichen für einen Konkurrenzkampf zwischen den Männchen, die ihre Signale zuerst durch die Täler und über die Manna-Wiesen senden wollen. Möglicherweise können die Weibchen besser entscheiden, wessen Licht am hellsten strahlt, wenn sie alle gleichzeitig blinken. Was auch immer der Grund ist, die Glühwürmchen blinken nicht mehr die ganze Nacht synchron – trotz oder gerade wegen der Touren, die mittlerweile in den Smokies angeboten werden. Manchmal blitzen sie noch kurzzeitig gemeinsam auf, enden dann aber abrupt in quälenden Phasen völliger Dunkelheit. Die Glühwürmchen sind immer noch da draußen, aber sie fliegen oder ruhen sich in sichtbarer Stille auf Grashalmen aus. Vielleicht haben einige Besucher*innen vergessen, ihre Taschenlampe zu dimmen, oder ihre Autolichter waren zu lange an, und nun erleben sie den stummen Protest der Glühwürmchen.

Eier und Larven von Glühwürmchen sind biolumineszent, und die Larven jagen auch selbst nach Beute. Sie können die Schleimspur einer Schnecke erkennen und dieser bis zu ihrer saftigen, ahnungslosen Quelle folgen. Es ist bekannt, dass ganze Gruppen von Larven zusammen relativ große Beute jagen können, zum Beispiel Regenwürmer – das sieht aus wie eine makabre Verfolgungsjagd im Kerzenschein aus einer alten Billigfilmproduktion. Die Larven erstrahlen als pulsierende Lichtpunkte und treiben ihr Opfer an das Ufer eines schlammigen Teiches, wo sie den sich windenden Wurm verschlingen. Manche Glühwürmchenlarven leben komplett unter Wasser, ihre Lichter glühen direkt unter der Wasseroberfläche auf, wenn sie Wasserschnecken fangen und fressen.

Für einen Käfer leben Glühwürmchen ein wirklich langes Leben – ungefähr zwei Jahre. Sie verbringen die meiste Zeit unter der Erde, futtern sich herrlich voll und schlafen nach Herzenslust. Wenn wir sie am Nachthimmel leuchten sehen, haben sie in der Regel nur noch eine oder zwei Wochen zu leben. Als ich das als Kind lernte – man konnte mich oft auf ungemähten Wiesen sehen, wie ich langsam herumlief und schaute und noch nicht bereit war, zum Abendessen ins Haus zu gehen –, machte mich das, trotz ihres hellen Strahlens, sehr traurig. Ich konnte nicht glauben, dass etwas so hell Leuchtendes schon so bald würde gehen müssen.

Ich weiß, dass ich zeit meines Lebens nach Glühwürmchen Ausschau halten werde, auch wenn es jedes Jahr weniger werden. Ich kann nicht anders. Sie blinken, leuchten grünlich gelb in der Sommernacht, als ob sie sagen würden: Ich bin noch hier, du bist noch hier, ich bin noch hier, du bist noch hier, immer und immer wieder. Vielleicht wird es wahr, wenn ich es nur genug will. Vielleicht kann ich die vergangenen Sommernächte mit meiner Familie in einem leeren Marmeladenglas aufbewahren – ein leuchtendes Glas mit kleinen Löchern im Deckel, mit einem Zweig und einigen Grashalmen drin. Und in diesen unvorstellbaren Nächten in der Zukunft, an denen ich meine Mutter am meisten vermissen werde, wird das strahlende Glas mir die Nacht erleuchten und die Luft für mich kühlen.

PFAU

Pavo cristatus

I