Weltschatten - Nir Baram - E-Book

Weltschatten E-Book

Nir Baram

5,0

Beschreibung

Die amerikanische Beratungsfirma MSV steuert Wahlkampagnen rund um den Globus, angeblich im Namen von Demokratie und Gerechtigkeit. Doch die Realität sieht anders aus: Intrigen und Skandale, korrupte Investoren, denen nichts heilig ist. Einem der hochrangigen Campaigner reicht es: Daniel Cay nimmt Kontakt zu einer Gruppe junger Anarchisten auf, die sich im Kampf gegen Globalisierung und Kapitalismus über alle Regeln hinwegsetzen. Man ruft schließlich zu einem gigantischen, weltweiten Streik auf. Mit meisterhaftem Blick für die globalen Zusammenhänge legt Nir Baram, der „beste junge Schriftsteller aus Israel“ (NRC), seinen Finger in die offenen Wunden eines Systems, das vom Hunger nach Geld und Macht beherrscht wird.

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Die amerikanische Politikberatungsagentur MSV konzipiert und steuert Wahlkampagnen rund um den Globus, angeblich im Namen von Demokratie und Gerechtigkeit. Doch die Realität sieht anders aus. Fehlspekulationen und wachsender Finanzbedarf haben Investoren mit ins Boot geholt, die einzig ihre eigenen Interessen verfolgen: etwa den Hedgefonds des jüdischen Geschäftsmanns Michael Brookman, der gute Kontakte nach Israel unterhält, Waffenhändler aus Frankreich und korrupte kongolesische Oligarchen. Intrigen und Skandale sind an der Tagesordnung, der Zweck heiligt alle Mittel. Daniel Cay, einem der hochrangigen, gutbezahlten Campaigner, reicht es: Er nimmt Kontakt zu einer Gruppe junger Anarchisten aus Liverpool auf, die sich im Kampf gegen den globalisierten Kapitalismus über alle Regeln hinwegsetzen. Man zerstört Kultureinrichtungen, zündet Galerien an, ruft schließlich zu einem weltweiten Streik auf.

Nir Baram zeichnet in Weltschatten das Bild einer ganzen Generation, seiner Generation, und ihrer komplexen Lebenswirklichkeit: die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts, in der alles mit allem zusammenhängt und einfache Erklärungen ausgedient haben. Ein Roman von beunruhigender Aktualität, »mit einem Widerhall von Don DeLillo« (ABC).

Hanser E-Book

Nir Baram

WELTSCHATTEN

Roman

Aus dem Hebräischen von

Markus Lemke

Carl Hanser Verlag

Die hebräische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Tzel Olam bei Am Oved in Tel Aviv.

ISBN 978-3-446-25407-7

© Nir Baram 2013

Translated from the Hebrew Language.

First published by: Am Oved, 2013

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München

Foto: © Roc Canals Photography / Getty Images

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Inhalt

Erster Teil

Mit jedem Tod wächst unsere Kraft Mit jedem Tod wächst unsere Kraft

Vorbereitungen auf eine große Tat

»Gemeinsam für eine bessere Zukunft«

Zweiter Teil

Daniel Kaye, 2005

Wie das alles geschah

Die Welt ist ein Gerücht

MSV vs. 11.11.

Christopher

Dritter Teil

Er hat nichts Schwindelerregendes, dieser Gavriel Manzur

»MSV gibt es nicht mehr« (Aber noch ist nichts vorbei)

Trafalgar

11.11.

Erstarrt

Jeder von uns hatte seine eigene verdammte Geschichte. Wir hatten nie vorgehabt, uns zusammenzutun. Man kann sagen, andere haben uns zusammengebracht. Es war ein reiner Augenblick des Überlebens: Du fällst, greifst nach einer Hand. Aber was, wenn diese Hand auch fällt? Dann klammerst du dich fest, und man fällt gemeinsam. Irgendein Schriftsteller, den einer von uns mal gelesen hatte, schrieb, dass jeder Mensch in seinem Schicksalskreis gefangen ist und man sich in diesem Kreis frei bewegen, Wege wählen und wechseln kann, bis man sich vielleicht gar nicht mehr bewusst ist, dass man in einem Kreis steckt, denn die meisten Menschen sehen die Mauern um sich herum nicht. Die Frage dabei ist, wie soll sich ein Mensch verhalten, wenn er plötzlich kapiert, dass die Mauern auf ihn zukommen? Eines Tages kann er sie bereits berühren, wenn er nur die Hand ausstreckt, am Tag darauf ist die Hand schon gekrümmt, und noch ein weiterer Tag, und sie klebt an der Hüfte, bis am Ende die Nägel in der Mauer ihm Hautfetzen abreißen, und dann kapiert er, dass diese Mauern ihn, gut, wie soll man sagen, ein wenig in die Zange nehmen.

Jeder von uns kann in Erinnerungen schwelgen. Und vielleicht machen wir das auch. Aber ändert das jetzt noch was, aus welcher Kurve des Lebens wir an diesen Ort gestoßen worden sind? Wobei das Wort »Ort« in unserem Zusammenhang eigentlich ungenau ist. Es gibt keinen Ort, hat keinen gegeben, und wir wollten auch nie einen, und hätten wir einen Ort gehabt, wäre all das vielleicht nie passiert. Es hat geheißen, wir hätten für alle möglichen Leute gearbeitet, die uns ausgenutzt haben, um ihre miesen Ziele zu verwirklichen, und wir seien kleine Soldaten gewesen, die starke Kräfte hin- und hergeschoben hätten. Auch ist gesagt worden, wir seien verantwortlich für viel Zerstörung, Leid und Tod. Solche Anschuldigungen bestreiten wir gar nicht, gehen allerdings davon aus, dass sich alles, was wir getan haben, von verschiedenen Standpunkten aus betrachten lässt, und klar ist, es hat Sachen gegeben, auf die sind einige von uns stolz, während andere sich dafür schämen und noch ein paar andere behaupten, wir hätten sie überhaupt nicht getan. Außerdem lässt sich wohl kaum leugnen, dass auch wir einen Preis bezahlt haben, einen Preis, manchmal so hoch, dass wir ganz aufhören wollten.

Wir wollen weder Verständnis noch Mitleid und ganz gewiss keine Vergebung. Niemals werden wir um Vergebung bitten.

ERSTER TEIL

Mit jedem Tod wächst unsere Kraft

Mindestens einmal am Tag googelt er den Namen seiner verstorbenen Mutter und hält nach neuen Suchergebnissen Ausschau. Wenn ihr Name auf dem Bildschirm erscheint, ist er für einen Moment von Hoffnung erfüllt, als sei die Aussicht auf einen neuen Treffer wie die Erwartung einer winzigen Bewegung der Toten, einer Verschiebung des Gleichgewichts zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. Mitunter fragt er sich, warum er ausgerechnet jetzt, am Tiefpunkt seines Lebens, ständig an sie denkt, nicht aber in jenen berauschenden Momenten, die es gegeben hat und die aller Voraussicht nach nicht wiederkommen würden, als er meinte, die Welt sähe seine Person und seine Leistungen endlich mit seinen Augen. Doch die Gestalt seiner Mutter hatte er in jenen Momenten nicht vor sich gehabt.

Stattdessen hatte die Erinnerung an andere ihn beschäftigt: an Kinder aus der Grundschule oder dem Viertel, junge Mädchen vom Gymnasium, seine erste Freundin in der vierten Klasse und an viele weitere. Manchmal, wenn jemand zu ihm sagte: »Hätte doch Ihre Mutter Sie jetzt sehen können«, oder meinte, ähnliche Platitüden von sich geben zu müssen, hatte er sich, da er einen weiteren Triumph feierte, bemüht, sich ihr strahlendes Gesicht vorzustellen, doch das Gesicht, das sich ihm zeigte, war immer verbunden mit einem bestimmten Ereignis in der Vergangenheit, mit dem Schlafzimmer in der Wohnung seiner Kindheit. Nie gelang es ihm, seine Vorstellung dazu zu bringen, ihr Gesicht aus jener Zeit ins Heute zu überführen, wo sie fehlte. Möglich, dass er im Grunde seines Herzens glaubte, solche Versuche, die Tote zu rekrutieren, nur um die Gipfel zu feiern, die er erklommen hatte, hätten etwas Selbstgerechtes und Beschämendes.

Im Laufe der Zeit jedoch begriff er, dass die Dinge vielleicht einfacher lagen, als ihm schien, denn jedes Sinnieren über seine Mutter, über dieses Lächeln, das sich auf ihrem Gesicht ausbreitete, ließ ihn verstört zurück, als würde er erst in diesem Moment ihren Tod wirklich erfassen. Gut möglich, dass auch das keine befriedigende Schlussfolgerung war, denn vielleicht erfasste er in solchen Augenblicken sowohl ihr Leben als auch ihren Tod, und wenn sich diese beiden Erkenntnisse kreuzten, brachte sein Bewusstsein den Tod zum Sprechen. Denn der Tod lässt sich ebenso wenig aus dem Tod wie aus dem Leben allein verstehen, sondern nur aus einem Moment, in dem das eine mit dem anderen verschränkt ist. Vielleicht, weil seine Mutter sich so vor dem Tod gefürchtet hatte und immer, wenn er um Verzeihung für seine Verfehlungen flehte, von den Blumen sprach, die er noch auf ihr Grab legen würde, vielleicht deshalb hatte er schon als Kind jedes Mal, wenn ein Lächeln ihr Gesicht erhellte, gehofft, sie habe Zuflucht gefunden vor den Klauen des Todes, der sie umkreiste. Andererseits wurde gesagt, sie habe sich in Wirklichkeit gar nicht vor dem Tod gefürchtet, habe geglaubt, sie werde länger leben als alle anderen, und dass alles Lamentieren nur eine Art Schutzimpfung vor einer Sorglosigkeit war, die schwer bestraft werden konnte. Eines Nachts hatte sein Vater spöttisch zu ihm gemeint, mit ihrem pausenlosen, immer wiederkehrenden Todeslamento bezwecke sie in Wahrheit nichts anderes, als den Tod so lange zu langweilen, bis er sich davonmachen würde, um nach interessanteren Menschen zu suchen, die er zur Strecke bringen konnte.

Sonderbar war, dass ihm das Gesicht seiner Mutter nicht vor Augen trat, als alle Welt von der Schande erfuhr, die er über sich und seine Familie gebracht hatte. War seine Mutter in seinen großen Momenten nicht zugegen und doch sehr gegenwärtig gewesen, war im Augenblick seines Absturzes ihr Fehlen endgültig und total. Offenbar war der bloße Gedanke, sie hätte diesen miterlebt, zu furchterregend, um in seiner Vorstellung Gestalt anzunehmen.

Die Jahre vergehen, und er sieht keinen Grund, dass sich in naher Zukunft etwas ändern sollte. Die Welt ist auf seine Dienste nicht länger angewiesen, will sich seiner nicht erinnern, und er hat kein Bedürfnis, irgendjemandem in Erinnerung zu rufen, dass es ihn noch gibt. Gut möglich, dass er nicht aus dem Holz gemacht ist, aus dem er gemeint hatte zu sein. Während seines kometenhaften Aufstiegs war es ihm ein Leichtes gewesen, an seine Stärke und Unverwundbarkeit zu glauben, auch noch, als er sich mit Hindernissen konfrontiert sah, ja selbst, als ihn das Gefühl beschlich, den Boden unter den Füßen zu verlieren, hatte er den Horizont noch gesehen – der Himmel erstrahlte dort in tiefem Blau – und auf seine Kraft vertraut, die Dinge wieder einzurenken.

Aber dann war der Augenblick gekommen, in dem die Welt sich ihm verschlossen hatte, in dem er scheinbar noch wie alle anderen durch die Straßen gelaufen war, man ihn im Grunde aber bereits in die Verbannung gejagt hatte. Das war der Augenblick gewesen, in dem sich alle Eigenschaften verflüchtigt hatten, derer er sich insgeheim immer gerühmt hatte. Geblieben war nur der übermächtige Wunsch, sich ganz klein zu machen und an einem Ort zu verstecken, an dem niemand nach ihm suchen, niemand Rechenschaft von ihm verlangen würde, ein Ort, an dem er einfach existieren würde, bis im Bewusstsein seiner Bekannten nicht mehr als ein flüchtiger Schatten von ihm übrig wäre.

Manch einer zollte seiner Konsequenz Anerkennung, ein fragwürdiges Kompliment, das ihn immer belustigte: Menschen haben nichts Konsequentes an sich, an einem Tag streben sie danach, allein auf dem Gipfel ihrer Welt zu stehen, zählt nichts anderes in ihren Augen, und am nächsten, infolge dieses oder jenes Ereignisses, gehen sie auf die Straße und ihr einziges Bestreben ist, dass man sie die Passanten betrachten und das Blau des Himmels genießen lässt. Jeder Mensch kennt diese Neigung nur zu gut und wähnt daher andere immer konsequenter als sich selbst; rühmt man aber seine Konsequenz und führt dafür Nachweise an, wird er vielleicht doch zustimmen, er habe die meiste Zeit tatsächlich Konsequenz an den Tag gelegt. Gleichzeitig jedoch wird er darauf bestehen, dies sei nur ein winziger Teil von dem, was er habe tun wollen oder in seinen Träumen getan habe, von aller Lust, die ihn habe erzittern lassen, allen Erinnerungen, die ihn überkommen und ihm den Menschen vor Augen geführt hatten, der er hätte sein wollen.

Selten nur begegnete er auf der Straße Menschen, die ihn in der Vergangenheit gekannt hatten, und wenn sie ihn ansahen, wusste er, dass sie ihn sowohl verabscheuten als auch bemitleideten. Die Abscheu war zu verstehen angesichts seiner Taten oder dem, was in der Öffentlichkeit daraus gemacht worden war, obgleich nicht wenige genau dasselbe getan hatten und daher jetzt wahrscheinlich einen Idioten in ihm sahen, der für ihre Vergehen bezahlte. Es war vielmehr das Mitleid, das ihn neugierig machte – sie sahen offenbar einen Geächteten vor sich, der, in relativ jungem Alter von der Gesellschaft ausgestoßen, nun verbittert zu Hause hockte, während er selbst einen Menschen sah, der alles tun konnte, wonach ihm der Sinn stand, einen Menschen, den man einfach sich selbst überlassen hatte. Eine Lektion, die er von seinem Vater gelernt hatte, half ihm dieser Tage: Meide nach Möglichkeit, wie die Unmengen von Kiefernnadeln, die im Sand versteckt liegen, die Schlussfolgerung, du seiest benachteiligt worden. Es hatte Jahre gegeben, da hatte er in dieser Anschauung einen Vorzug gesehen, eine nüchterne Abgeklärtheit, die sich hinter den großen Gesten eines Menschen verbarg, der verstanden hatte, dass die gewaltigen Kräfte des Universums nicht zu eilig anberaumten Sitzungen zusammentraten, um zu beraten, wie man einem gewissen Albert Manzur in die Suppe spucken sollte.

Menschen neigen dazu, hatte sein Vater bei mehr als nur einer Gelegenheit gesagt, eine Ungerechtigkeit, die ihnen widerfährt, sehr viel mehr herauszustellen als einen Gunstbeweis, der ihnen unberechtigterweise zuteilwird, und da wir nun einmal so und nicht anders sind, stehe uns kein Urteil zu, wenn wir tatsächlich einmal benachteiligt werden. Erst später sollte er verstehen, dass sein Vater zu der Sorte Menschen gehörte, die wie gelähmt reagierten, wenn sie herausfanden, benachteiligt worden zu sein, und scheiterten, obgleich sie alles Erforderliche getan hatten, um Erfolg zu haben. Natürlich waren nicht alle Menschen so, im Gegenteil, andere ließen sich durch die Erkenntnis, dass ihnen ein Unrecht widerfahren war, in ihrer Entschlossenheit bestärken, noch höhere Gipfel zu erobern, sein Vater aber entschied sich, alle Kraft zu mobilisieren, um sich selbst zu überzeugen, dass ihm gar kein Unrecht zugefügt worden war, dass er vielmehr von Glück sagen konnte, dass alles nicht noch schlimmer gekommen war. Verständlicherweise lastete auch auf Gavriel mitunter ein Gefühl der Nichtachtung und Herabsetzung, und in solchen Momenten war klar, dass ihm himmelschreiendes Unrecht widerfahren war, sodass er sich selbst schalt: »Genug von diesen Lügen, es wird Zeit, die Dinge so zu sehen, wie sie sind.« Aber nach ein paar Tagen antriebslosem Nichtstun, gefangen in Seelenqualen ohne Ausweg, fügten sich die Dinge von neuem in seinem Bewusstsein – das war weder Glück noch Benachteiligung, sondern irgendetwas dazwischen, das vielen guten Leuten widerfuhr.

♦♦♦

In der Nacht träumte er von der Warteschlange, die sich durch das Erdgeschoss der Grundschule wand, die »Hölle«, wie der lange Flur genannt wurde, weil er so düster war, auch an gleißend hellen Tagen, und weil den ganz Kleinen dort schlimme Dinge passierten. Diesmal waren die Kinder in erwartungsvoller Vorfreude: Im Fenster von Spiele und lerne, wo Bleistifte, Anspitzer, Federkästen und Hefte, die noch nach Holz rochen, auslagen, hatte der Verkauf von Brötchen mit Halva-Aufstrich begonnen. Er erwachte aus seinem Traum und hatte diesen Geschmack noch auf der Zunge – nicht den der klebrigen Halva, sondern der spürbaren Erregung angesichts der bevorstehenden Veränderung in ihrer aller Kinderwelt, die die bekannte Ordnung durcheinanderwirbeln würde. Ausgestreckt und matt im Bett liegend, spürte er in diesem letzten Schwanken zwischen Schlaf und Wachsein in allen seinen Gliedern das euphorisierende Zittern, das er damals in der »Hölle« empfunden hatte, und wusste gleichzeitig, er würde jeden Augenblick herauskatapultiert werden. Und als er schließlich aufstand, rief die Erinnerung an die »Hölle« nur noch das Gefühl in ihm wach, das er in seiner Jugend in Anbetracht der Playboy-Pin-ups mit den perfekten Brüsten und rosigen Brustwarzen empfunden hatte, in der Sekunde, in der er fertig onaniert hatte – plötzliches Unverständnis, wie ihn dies derart aus dem Häuschen hatte bringen können.

Er stand neben dem Bett und sog den Geruch der verschwitzten Laken und der Brathähnchen aus dem Feinkostladen nebenan ein. Auch wenn er das Fenster geschlossen hielt, drang der Grillgeruch ins Zimmer. Er musste sich anziehen, denn heute war nicht irgendein Tag, heute hatte er eine Verabredung. Genau genommen war dies, einmal abgesehen von den Treffen mit Noa und Joël, seinen Kindern, die erste Verabredung seit Monaten. Das Treffen hatte keinen speziellen Grund, man könnte höchstens sagen, dass er einem Freund – und späteren Intimfeind – aus fernen Tagen einen Gefallen tat. Horowitz hatte angerufen und eine Nachricht hinterlassen, ihn gebeten, sich mit Lior, seiner Tochter, zu treffen. Sie sei jetzt Dokumentarfilmerin, und das Thema des Films, an dem sie aktuell arbeite, dürfte Gavriel interessieren, »ein etwas anderer Blick auf die Ereignisse«, wie Horowitz sagte, wobei klar war, dass er das Ganze absichtlich im Vagen beließ. Er war Horowitz nichts schuldig, in den letzten zwei Jahrzehnten hatten sie genau einmal miteinander gesprochen, nämlich als Horowitz anrief, um sein Bedauern auszudrücken über die Schwierigkeiten, in die Gavriel geraten war, und zu verkünden, aus seiner Sicht bestünde kein Grund mehr, die Feindschaft zwischen ihnen aufrechtzuerhalten. In seiner Nachricht auf dem Anrufbeantworter hatte Horowitz angedeutet, dass er nicht um einen Gefallen bat, sondern einfach der Meinung war, der Film würde ihn interessieren.

Zwei Tage später rief Lior an und meinte mit süßer Stimme, soweit sie wisse, habe Horowitz (nicht »Papa«) bereits mit ihm gesprochen, und selbstverständlich erinnere sie sich noch gut an ihn, vor allem an die wundervolle Rede, die er auf jenem Kongress am Strand gehalten hatte, sieben sei sie damals gewesen, aber seine Worte hätten sie so bewegt.

Eine Woche danach, als er vor dem Computer saß – wieder mal suchte er nach Frauen, Jahrgang 1925, die die Eveline-de-Rothschild-Schule in Jerusalem besucht hatten und noch am Leben waren –, nahm er gedankenverloren den Telefonhörer auf und lauschte zum vierten Mal Liors Nachricht, und obgleich ihm klar war, dass ihre Komplimente nur vorgeschoben waren, rief er sie an. Das Gespräch war kurz und höflich, und seine eigenen Sätze klangen ihm affektiert, ja mitunter ohne jeden Bezug zu ihren Fragen. Am Ende lud er sie zu sich nach Hause ein, in vier Wochen etwa. Lior entgegnete, die Angelegenheit sei doch ziemlich dringend und dass sie es zu schätzen wüsste, wäre er bereit, sich schon eher zu treffen, worauf er erwiderte – und sich zu erinnern bemühte, wann irgendjemand, abgesehen von seinen Kindern, das letzte Mal in seiner Wohnung zu Besuch gewesen war –, dass er es noch mehr zu schätzen wüsste, würden sie sich erst in einem Monat treffen.

Sie trug ein langes blaues Kleid mit schwarzen Punkten, dessen Saum hochhackige schwarze Sandalen umspielte. Ihr Gesicht war dezent geschminkt, und das Make-up, das sie auf der Stirn über ihren grünen Augen aufgetragen hatte, überdeckte die Akne nicht ganz. So etwas wie eine erwartungsvolle Freude strahlte aus dem verhaltenen Lächeln, das ihrem hageren Gesicht die Andeutung einer freundlicheren Fülle verlieh. Ihr strubbeliges Haar wogte den Hals hinab, und zwischen den schwarzen Haarspitzen blitzte eine dünne Silberkette auf. Er begrüßte sie mit einem breiten Lächeln, das er den ganzen Morgen über vor dem Spiegel einstudiert hatte – zumindest hoffte er, dass es ihm gelang –, und sie gaben sich die Hand. Ihre weiche Haut war ein wenig eisig, vielleicht wegen der empfindlichen Kühle draußen. Wann hatte er jemandem zum letzten Mal die Hand gedrückt? Er erinnerte sich vage an die sehnige Hand eines Nachbarn, die die seine umfasst hielt, als der Mann ihm mitteilte, sie würden aus dem Haus ausziehen, aber er hätte nicht schwören können, dass dies wirklich passiert war.

Er ließ sie auf dem grauen, mit blauen und roten Kissen überladenen Sofa Platz nehmen und bot ihr Tee an. Sie lehnte ab und bat um ein Wasser. Ihre Stimme war tief und ganz anders als das süßliche Gesäusel, das er vom Telefonat her in Erinnerung hatte. Als er in die Küche ging, empfand er ein leichtes Schwindelgefühl. Er blieb vor dem geöffneten Kühlschrank stehen, genoss die kalte Luft, die seinen Körper umfing, bis ihm bewusst wurde, dass er dort nicht länger verweilen konnte, worauf er unwillig kehrtmachte, ins Wohnzimmer ging und ein Glas Wasser auf dem schwarzen Couchtisch vor ihr abstellte. Für einen Moment stieg ihm der Vanilleduft ihrer Hautcreme oder vielleicht ihrer Haare in die Nase, ehe er den Rückzug antrat und sich auf einen Stuhl sinken ließ, der dieselbe Sitzhöhe hatte wie das Sofa. Sie machte es sich auf dem Sofa bequem und sagte, ihr Vater lasse grüßen. Er dankte und rühmte Horowitz in zwei Sätzen, und ausgerechnet diese unangebrachten Komplimente, allein gedacht, sich lustig zu machen – ein Stil, der ihn und seine Teilhaber in der Vergangenheit ausgezeichnet hatte –, ließen seine Anspannung sich lösen, als hätte er ein paar Akkorde eines Stückes angespielt, das er früher einmal virtuos beherrscht hatte. Ihrem gleichmütigen Gesichtsausdruck, der nur wenig Interesse an den Elogen auf ihren Vater bekundete, konnte er kaum etwas entnehmen und war dennoch der Meinung, sie ermunterte ihn, auf solche überflüssigen Gesten zu verzichten.

»Nun, wenn ich richtig verstanden habe, machen Sie einen Film.« Schließlich war er als Pragmatiker bekannt, also los.

»Ja«, antwortete sie, »genauer gesagt: Wir machen einen Film.«

»Es hat den Anschein, als zeichne das die Kinder der meisten meiner ehemaligen Freunde aus«, sagte er.

»Meinen Sie jetzt Filme oder Kunst im Allgemeinen?«

»Kunst im Allgemeinen.«

»Fehlt es denn an Gründen, sich für Kunst zu interessieren?« Sie lächelte. Sicher erwartete sie, ihre Bemerkung würde ihn zu einer Erklärung verleiten.

Er zog es in Erwägung, entschied aber am Ende, sich ein wenig zu amüsieren: »Gewiss nicht. Nicht von ungefähr hat Picasso gesagt, Kunst sei die Lüge, durch die man die Wahrheit sieht.«

»Glauben Sie daran?«, fragte sie.

»Nein. Und Sie?«

»Natürlich nicht.«

»Schön.« Sie lächelten beide. Sie streckte sich ein bisschen und drückte ihre linke Schulter mit der rechten Hand.

Er war überrascht, wie schnell er seine Gelassenheit wiedergefunden hatte. Aber vielleicht war das nur logisch, immerhin hatte er in seinem Leben schon in Tausenden von Meetings gesessen, und was ihn anging, so konnte man sich zwei Stunden lang mit Smalltalk amüsieren. Er hatte es nicht eilig. Er ließ den Blick durch sein Wohnzimmer wandern und begriff, dass ihre Gegenwart ihm ein wohliges Gefühl vermittelte und er nicht wollte, dass sie so schnell wieder ging. Noch hatte sie dies nicht begriffen, würde mit der Zeit aber wohl dahinterkommen und es dann umso leichter haben, das Gespräch nach ihrem Willen zu steuern.

»Der Film, an dem wir arbeiten, ist eine Art kritische Bestandsaufnahme der israelischen Wirtschaft von den achtziger Jahren bis heute.«

»Ein weites Feld.«

»In den Vereinigten Staaten und in Europa werden viele Filme über Wirtschaftsthemen gemacht. Es hat Filme über Einzelfälle gegeben, wie zum Beispiel Enron oder Lehman Brothers, und welche, die sich mit der Krise von 2008 beschäftigen und einen historischen Blick liefern wie etwa Inside Job. Und es gibt einen neuen Film, von dem Sie sicher schon gehört haben: Zombies, Vampires and our lost Money.« Ihr amerikanischer Akzent war beeindruckend, wenn auch mitunter zu affektiert.

»Haben Sie Film studiert?«

»Ja.«

»Wo?«

»In Tel Aviv und danach ein Jahr an der NYU.«

»NYU. Klingt teuer.«

»Gar nicht mal so.«

»Und Ökonomie, woher haben Sie da Ihre Kenntnisse?«

»Sie wissen doch, wie das ist: Es gibt für alles Experten«, erwiderte sie trocken. »Doch zurück zu unserem Film: Wir konzentrieren uns auf einige zentrale Schlüsselereignisse, das Programm zur Stabilisierung des Marktes aus dem Jahre 1985 etwa, das in Zusammenarbeit mit der Reagan-Administration erstellt wurde, die Reform von 1991, die den israelischen Markt geöffnet hat für Waren aus Osteuropa, Südamerika und Asien …«

»Wenn ich mich richtig entsinne, Südostasien«, warf er ein.

»Südostasien«, wiederholte sie mit amüsierter Fügsamkeit.

»Und erlauben Sie mir zu vermuten, dass auch das Thema der Privatisierung in diesem kritischen Film zur Sprache kommen wird.«

»Selbstverständlich, die Privatisierungswelle der neunziger Jahre und die Beschneidung des staatlichen Sektors. Und natürlich werden wir uns mit dem letzten Jahrzehnt befassen: dem Aufstieg der Tycoons und wie sie sich öffentlicher Gelder bemächtigt haben, der Pensionsfonds etwa, und dann dem gesamten System absurd hoher Managergehälter.«

»Das klingt durchaus interessant, aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen dabei helfen soll, ich bin schließlich kein Banker …«

»Klar«, unterbrach sie ihn, »aber Sie hatten immer einen interessanten Blick auf Wirtschaftsfragen, nicht wahr?«

»Ja. Aber eben nicht als Ökonom, sondern als eine Art öffentliche Person oder Insider.« Er fragte sich, wie viel Horowitz ihr über das erzählt hatte, was sie zusammen in den neunziger Jahren gemacht hatten.

»Und wie würden Sie Ihre Fachkenntnisse definieren?«

»Fachmann für Krümmungskreise, für die Gesetzmäßigkeiten der Welt.«

Ihrem Blick, der zum Fenster wanderte, entnahm er, dass sie nicht vorhatte nachzufragen, was er damit meinte. Er hatte bereits erkannt, dass sie offenbar über die beeindruckende Fähigkeit verfügte zu wissen, welche seiner Antworten lohnten, aufgegriffen zu werden, und welche man besser auf sich beruhen ließ.

»Und Sie hatten mit Hedgefonds zu tun, mit Banken …« Jetzt wurde sie vorsichtig in ihrer Wortwahl. Ihr Gesicht war noch immer zum Fenster gewandt, und er betrachtete ihre sonnengebräunte Wange, bis er das Gefühl hatte, es vielleicht zu übertreiben, und sich beeilte, den Blick von ihr zu nehmen.

»Sie müssen mich nicht mit Samthandschuhen anfassen, ich weiß, welche Suchergebnisse Google als Erstes liefert, gibt man Gavriel Manzur ein.«

»Auf jeden Fall«, sie wandte sich ihm wieder zu und trank einen Schluck von ihrem Wasser, zögerte einen Moment, vielleicht, um sie beide aus dieser Stimmung zu befreien, die sie als angespannt wahrnahm, »wird der Film auch einen Teil haben, der sich mit den Auswirkungen globaler Tendenzen auf Israel beschäftigt.«

»Sehr interessant«, entgegnete er. Bis jetzt war noch nichts Unvorhergesehenes zur Sprache gekommen. »Und Sie werden sicher auch Ihren Vater interviewen?«

»Das wäre nicht fair.«

»Ihm gegenüber?«

»Dem Film gegenüber.«

»Unfair?«

»Nicht fair.«

»Zu all dem habe ich natürlich eine Meinung.«

»Ich merke schon. Möchten Sie diese auch äußern?«

»Ich möchte nicht unhöflich werden.«

»Da machen Sie sich mal keine Sorgen.« Sie warf einen Blick auf ihr iPhone in der mit winzigen Strass-Sternchen besetzten weißen Hülle, und er hegte den Verdacht, sie hatte inzwischen mitbekommen, dass er wollte, sie würde noch bleiben. Und jetzt signalisierte sie ihm: Rede, oder unsere Unterhaltung ist beendet.

»Okay, das ist schließlich das Privileg meiner Situation, ich muss nicht mehr lügen.«

»Ein ziemlich prätentiöser Auftakt.« Sie nötigte sich ein Lächeln ab.

»Wissen Sie, die Wahrheit ist, an der Position von Leuten wie Ihnen ist etwas, das mir schwerfällt zu respektieren. Ich spreche jetzt ganz allgemein, einfach, weil ich Sie persönlich nicht kenne. Beim letzten Mal, als wir uns gesehen haben, waren Sie schließlich noch ein Kind.«

»Ja«, erwiderte sie. »Bei jenem Kongress am Strand, in welchem Jahr war das?«

»1995.« Ihm war klar, sie hatte es gewusst.

»Also, es fällt Ihnen schwer, Leute wie mich zu respektieren«, meinte sie, ein wenig amüsiert.

»Ihre Position, ja«, er nickte. »Unsere Art, wie wir das Spiel gespielt haben, hat euch im Grunde ein sehr angenehmes Leben beschert. Oder wenn wir genau sind, die Art und Weise, mit der wir uns Mechanismen zu eigen gemacht haben, die dem damaligen Zeitgeist entsprachen. Manche behaupten, wir hätten abgesahnt, weil wir einen Zeitgeist nach Israel brachten, der ohnehin im Anmarsch war, aber das ist übertrieben. Euch aber mangelt es an einem Bewusstsein für die Privilegien, die euch zuteilgeworden sind, ich spreche jetzt nicht über Politisches, ich meine die psychologische, intellektuelle und vielleicht auch moralische Position, auch wenn ich diesen Ausdruck nicht mag. Sie würden doch keine Dokumentarfilme machen, wenn Sie nicht wüssten, dass da jemand ist, der Sie finanziell auffängt, falls es nicht gut läuft. Und es fällt mir schwer zu glauben, dass Horowitz nicht auch Ihr Jahr an der NYU finanziert hat und vielleicht jetzt noch für einen Teil des Films oder die Miete oder sonst was aufkommt. Außerdem sind da die Schulen, die Sie besucht haben, die Kurse, die Privatlehrer, die Leute, die Sie von klein auf kennengelernt haben, die Länder, in denen Sie gewesen sind, die Kontakte zu Produzenten, zu Filmfonds, zu Intellektuellen. Schließlich haben viele Leute gute Ideen, aber Sie wissen, welche Schritte zu tun sind, um die Ihren zu realisieren. Sogar jetzt bedienen Sie sich der Kontakte Ihres Vaters, um an Leute wie mich heranzukommen, und das alles, um die israelische Lesart des globalen Kapitalismus zu kritisieren, obgleich Sie jeden Tag Ihres bisherigen Lebens die Privilegien genießen durften, die dieses System Ihnen bietet. Was mir, nebenbei gesagt, alles noch verständlich ist. Das Einzige, was mir schwerfällt zu akzeptieren, ist, dass Sie es leugnen.«

Sie schaute ihn interessiert, ja sogar mit einer gewissen Neugier an, als sei sie durchaus gewillt, noch mehr zu hören, möglich auch, dass sie abschätzig lächelte, noch kannte er sie nicht gut genug, um das zu entscheiden. Ihr Gesichtsausdruck zeugte weder von Überraschung noch von Kränkung. Ihre lässig-souveräne Sitzhaltung, den Kopf gegen die Rückenlehne des Sofas gestützt, schien sich auf natürliche Weise und ohne Boshaftigkeit über das Bedeutungsschwere seiner Worte lustig zu machen. Er senkte für einen Moment den Blick und registrierte, dass sie die rosa lackierten Zehen ihres rechten Fußes in die Höhe reckte. Auch als er den Kopf wieder hob, sah er die unmerkliche Bewegung ihrer Zehen noch. »All das ist sehr interessant«, sagte sie schließlich. »Jetzt müssen wir nur noch Ihr unbestechliches Objektiv auf Sie selbst richten.«

»Sie wissen, dabei wird nichts herauskommen.«

»Und ob. Jeder will seine eigene Geschichte erzählen.«

»Nur wenn es etwas gibt, das demjenigen im Zusammenhang mit der Funktion, die er innehatte, wichtig ist herauszustellen. Ich bin nicht McNamara.«

»Sie haben so etwas nicht?«

»Nein.«

»Werden Sie aber.«

»Wie wollen Sie das wissen?«

»Weil Sie mir sogar jetzt gerade einen kleinen Vortrag gehalten haben. Mir scheint, Sie würden ums Verrecken gern reden.« Der provokative Ton, den sie plötzlich anschlug, gefiel ihm. Im Grunde verlangte sie nicht mehr, als dass er jetzt etwas sagte, das sie interessierte. Und es überraschte ihn nicht völlig, dass er diese Forderung erfüllen wollte.

»Sie meinen, ich brenne darauf, die Rolle des Schurken zu übernehmen, der den Preis bezahlt hat, während sich die anderen Schurken ins Fäustchen lachen? Oder des Schurken, der nicht bereut und fröhlich sein Schurkentum feiert? Oder des Schurken, der sich hat bekehren lassen? Oder des nachdenklichen Schurken, der ein bisschen hier und ein bisschen …«

»Entscheiden Sie selbst.«

»Vielleicht werde ich einfach alle diese Typen auf einmal verkörpern, damit Sie sich damit bei Filmfestivals auf der ganzen Welt tummeln können?«

»So zynisch sind Sie nicht.«

»Eigentlich habe ich gar keinen Grund, Ihnen meine Geschichte anzuvertrauen. Wenn sie etwas wert ist, sagen wir Geld, warum sollte ich sie dann nicht entsprechend einsetzen?«

»Sie könnten noch andere Motive haben.«

»Welche zum Beispiel?«

»Sagen wir, Sie suchen nach Vergebung durch die Gesellschaft.« Ein metallischer Klang hatte sich in ihre Stimme geschlichen; offensichtlich wollte sie diese Diskussion nicht führen, konnte aber der Versuchung nicht widerstehen. Und erst vor wenigen Minuten hatte er ihr insgeheim Komplimente gemacht, sie wisse genau, welche seiner Antworten beim Kragen zu packen waren und welche nicht. Ein verfrühter Lorbeer, ganz unbestreitbar. »Ich weiß, Sie sitzen hier und glauben, Sie bräuchten das nicht, aber klar ist auch, dass es komplizierter ist.«

»Da ist etwas dran«, sagte er. »Denn schlussendlich, die Vergebung, die Sie mir verschaffen könnten, dürfte tatsächlich Geld wert sein, möglicherweise bekäme ich sogar wieder Jobangebote.«

»Vielleicht sollten wir doch in anderer Form darüber sprechen.« Ungeduld flackerte in ihren Augen auf. »Ein solcher Zyniker sind Sie nicht.«

»Bin ich nicht?« Seine Stimme klang belegt. Er hatte sie hier in seiner Wohnung empfangen, in der Annahme, seine Taten müssten Abscheu bei ihr wecken, aber jetzt, da sie offenbar den Mann verabscheute, der vor ihr saß – und nicht etwa den aus den Google-Suchergebnissen, aus der Presse oder den Geschichten, die Horowitz ihr erzählt haben mochte –, spürte er plötzlich die Verzagtheit der Kränkung. Seine Knie schmerzten. Er streckte die Beine, doch der Schmerz wurde nur noch stechender. Immer hatte er sich der Momente gerühmt, in denen die Welt ihn mit seinen eigenen Augen gesehen hatte, aber weit häufiger waren doch die Momente, in denen er den Blick der Welt in sich aufnahm, und jetzt, in diesem Augenblick, war Lior die Repräsentantin dieser Welt. Genau aus diesem Grund wollte er keinen Menschen sehen. Aber warum hatte er sich dann verleiten lassen, sich mit ihr zu treffen?

»Nein, ich erinnere mich an Ihre Rede, darin war viel Aufrichtigkeit.«

»Das war ’95, seitdem ist sehr viel Zeit vergangen. Heute sehe ich manches anders.«

»Inwiefern?« Sie holte eine Schachtel Zigaretten aus ihrer schwarzen Ledertasche und fragte ihn mit den Augen, ob sie rauchen dürfe. Er nickte.

»Heutzutage glaube ich an nichts mehr von dem, was wir damals gesagt oder getan haben. Ich kann verstehen, dass wir seinerzeit das Gesamtbild nicht gesehen haben, weil wir zu nah dran waren, und vielleicht sehen manche, wie Ihr Vater, es noch immer nicht, aber ich habe keinerlei Illusionen mehr.«

»Wie kommt es, dass Sie die ganze Zeit im Plural reden?« Sie stieß eine kleine Rauchwolke in die Luft. »Meinen Sie nicht eigentlich die Dinge, die Sie getan haben?«

»Nichts von dem, was ich getan habe, war außergewöhnlich. Alles entsprang der einen Logik.«

»Ist das die Geschichte, die Sie sich selbst erzählen?« Ein gräulicher Rauchschleier hing zwischen ihnen, genau auf Höhe ihrer Gesichter, und für einen Moment schien es, als seien sie beide unschlüssig, wer ihn als Erster wegwedeln sollte.

»Mehr oder weniger. Ich bezweifle, dass Sie genug wissen, um eine andere Geschichte zu erzählen.«

»Sind Sie der Sündenbock? Sehen Sie, Sie haben ja doch etwas im Zusammenhang mit Ihrer Rolle zu sagen.«

»Die Sache interessiert mich. Sie hat mich bereits am Telefon interessiert, als ich mir auszumalen versuchte, von was für einem Film wir reden.« Der Rauch hinderte ihn daran, ihr Gesicht zu sehen. »Aber ich ziehe es vor, mir das Recht vorzubehalten, pathetisch zu sein.«

»Es ist nicht pathetisch, die Wahrheit zu sagen.«

»Die Zeiten ändern sich, ich bin schon nicht mehr von großem Interesse. Habe gehört, ein paar junge Leute in England haben zu einem weltweiten Streik aufgerufen.«

»Am 11.11.«

»Dann haben die in ihrer Güte dem Kapitalismus ja noch ein paar Monate zum Atmen gelassen. Und gestatten Sie mir die Vermutung, dass diese Idee Ihre Freunde und Sie richtiggehend begeistert …«

»Stimmt, wie sind gerade dabei, die israelische Ländergruppe auf die Beine zu stellen.«

»Wie überraschend.«

»Als Sie über McNamara sprachen«, sie überging den Spott in seiner Stimme, »haben Sie, nehme ich an, den Film von Errol Morris gemeint.«

»Ja. Diese Art von Selbsteinschätzung, die Ästhetik des kritischen Blicks auf die eigene Karriere.«

»Wann haben Sie den Film gesehen?«

»Unlängst erst. In den letzten Jahren hatte ich jede Menge Zeit zur freien Verfügung.« Er kapitulierte, wedelte die Rauchwolke weg, und ihr Blick folgte seiner Bewegung. Er sah keinen Triumph in ihrem Gesicht, spürte aber, dass sie einen kleinen Sieg feierte. Vielleicht stellte seine Phantasie, da er nur so selten Leute traf, aber auch die wildesten Vermutungen an bei jeder kleinsten Geste, jedem wechselnden Gesichtsausdruck.

»Ist es ein guter Film in Ihren Augen?« Sie schnipste etwas Asche weg, die auf ihr Kleid gefallen war.

»Er ist etwas weniger verlogen als Kissinger, aber ich glaube ihm trotzdem kein Wort. Er verbreitet das abgeklärte Gerede alter Männer. Die Leute lieben das.«

»Hören Sie«, sie beugte sich vor, ihre graugrünen Augen strahlten, und ein lebhaftes Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. Sie entledigte sich aller Zurückhaltung, die sie bisher an den Tag gelegt hatte – vielleicht auf Anraten Horowitz’, der ihr wahrscheinlich gesagt hatte, Gavriel Manzur wisse ein zurückhaltendes Auftreten zu schätzen. »Diesen Film werde ich mit Ihnen oder ohne Sie machen. Aber gerade kommt mir noch eine andere Idee. Etwas im Stil des McNamara-Films. Sie sitzen vor der Kamera und reden. Vielleicht packen wir noch ein paar Effekte und ein bisschen Nachrichtenmaterial dazu, aber im Wesentlichen ist es das: Sie und die Kamera.«

»Ein ganzer Film nur über mich? Ich bin ein ziemlich unbedeutender Mensch.«

»Ihre Geschichte ist alles andere als unbedeutend, und wir beide wissen das. Richtig, das Ganze liegt schon eine Weile zurück, aber es dürfte noch immer leicht sein, einen Produzenten zu finden, der an einem solchen Film Interesse hat. Ich habe das überprüft: Sie haben niemals ausführlich darüber gesprochen, was passiert ist.«

Er schwieg. Er wollte sie nicht enttäuschen und befürchtete, schon jetzt könnte entschieden sein, dass sie nicht wiederkäme.

»Denken Sie drüber nach«, sagte sie. »Sie haben doch viel freie Zeit, oder?«

»Absolut«, pflichtete er bei, und beide standen sie gleichzeitig auf. »Jede Menge freie Zeit.«

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, ließ er sich wieder auf seinen Stuhl sinken und betrachtete gedankenverloren den Platz, auf dem sie gesessen hatte. Was ihn an der ganzen Sache traurig stimmte, war, dass ihr, zumindest teilweise, bewusst war, dass sie alles in allem bloß ein Klischee verkörperte, das einer aufbegehrenden Jugend, die danach strebt, die Welt zu verändern. Vordergründig hatten sich hier eine von idealistischen Vorstellungen erfüllte junge Frau und ein abgeklärter, desillusionierter Mann getroffen. Aber in Wahrheit waren sie beide abgeklärt. Sie glaubte nicht wirklich daran, die Welt würde sich ändern, sondern vielmehr, dass schon keine Utopie mehr in Sicht war. Sie gab lauthals Parolen von sich, wusste, das war die Rolle, die die Jugend ihr zudachte, und im Gegenzug würde sie von der liberalen Gesellschaft zuerkannt bekommen, die Zeit angemessen genutzt zu haben, wie ein Entlassungszeugnis, dass man seiner Wehrpflicht nachgekommen ist. Mit Begeisterung stürzte sie sich auf diese politische Jugend, aber das war keine mitreißende, unbedingte Begeisterung, da alle wussten, in zehn Jahren würde sie woanders sein, würde an ihrer Stelle ein anderer dieselben Parolen von sich geben und sich danach ebenfalls in die Welt einfügen, die er zuvor hatte zerstören wollen. Ständig jedoch bediente jemand, mal mit mehr, mal mit weniger Begabung, dieses Klischee und bestückte die eigene Erinnerung mit erbaulichen Momenten, an die er sich später klammern konnte.

♦♦♦

Kann man sagen, sein Vater hatte einen Beruf erfunden?

Die Geschichten über die Karriere Albert Manzurs, die Gavriel durch seinen Vater, seine Mutter oder die Freunde aus Saadias Café erzählt bekam, im amüsierten Tonfall, der sich aller Übertreibungen bewusst war, begannen Mitte der dreißiger Jahre. Damals hatte Albert um ein Gespräch beim britischen Hochkommissar ersucht, um sich über dessen Weigerung zu beschweren, hundert Kinder aus Deutschland mit Zertifikaten für die Einreise nach Palästina zu versehen, und hatte in selbiger Angelegenheit Briefe an Dr. Weizman, an David Ben-Gurion und Mosche Scharet, den späteren Außenminister, geschickt. Vor seinen Freunden in Saadias Café prahlte er damit, Ben-Gurion und Scharet hätten ihn zu einem Treffen eingeladen – bestimmt wären ihnen schon Gerüchte über seine weltumspannenden Geschäfte zu Ohren gekommen – und ihn angefleht, er möge Geld für die Einwanderung spenden.

In Saadias Café in der Jaffastraße kamen die ganz großen Initiativen aufs Tapet. Es wurden dort Briefe aufgesetzt, an Ideen gefeilt, alle Welt verunglimpft, von den Führern des jüdischen Jischuws und seinen Schriftstellern bis zum allerletzten Nichtsnutz in Jerusalem. Gäste empfing man mit Lobeshymnen, nahm sie so, wie sie waren. Sämtliche Ideen indes scheiterten aus den immer selben Gründen: fehlendes Geld und Desinteresse von Seiten der Führung des Jischuws. In der Zwischenzeit jedoch sahen Alberts Freunde zu, dass sie klarkamen: Der eine kaufte ein Mietshaus in Jerusalem, eine andere wurde eine allseits verehrte Ballettlehrerin, ein Dritter bezog ein schönes Einkommen von der Jewish Agency, bis Albert der Letzte war, der an die großen Pläne des Cafés glaubte und mehr schlecht als recht von den Darlehen der Freunde und von Vermittlungs- und Beratungsdiensten für Neuankömmlinge in Jerusalem lebte.

Die zweite Phase in der Karriere des Albert Manzur begann im Jahre 1952 nach seiner Heirat mit Jonah Sitoun. Für Jonahs Vater, Spross einer wohlhabenden Familie, die schon seit annähernd hundert Jahren in Jerusalem ansässig war, stellte Albert Manzur sicher alles andere als einen Wunschschwiegersohn dar. Albert war in Alexandria in einer Familie von Tuchhändlern zur Welt gekommen. Seine Mutter war früh verstorben, und sein Vater, ein hochgebildeter Mann, der die Dichter der Romantik ins Arabische übersetzt hatte, war in Ägypten geblieben. Albert pflegte leichte, elegante cremefarbene Anzüge zu tragen, parlierte ihn vier Sprachen – Arabisch, Hebräisch, Französisch und Englisch – und prahlte mit allen möglichen Projekten, die schon bald etwas abwerfen würden. Jonahs Vater sah ihn zwar den Herrn Even-Shoshan auf dessen morgendlichen Spaziergängen begleiten, und auch seine Geschichten über James Joyce, mit dem er, nach eigenen Worten, im Restaurant Michaud zu plaudern pflegte, beeindruckten ihn wohl, aber vor allem betrachtete er ihn als einen flatterhaften Dandy, der seine Tage und Nächte mit Trinkgelagen und fruchtlosem Gerede vertat, schlimmer noch, als Schürzenjäger, der hinter den Frauen anderer her war. Affären mit der Frau eines britischen Offiziers und der eines hohen Funktionärs im Arbeiterrat hatten Missfallen in Jerusalem geweckt.

Jonahs Vater wollte von einer Heirat mit einem solchen Luftikus nichts hören, bis eine Schwangerschaft das Pendel umschwingen ließ. Zur Hochzeit bekam Jonah von ihrem Vater Goldschmuck und Diamanten. Die Geschäfte, Wohnungen und Gebäude erbten die Söhne, wie es Sitte war. Dennoch, zum ersten Mal in seinem Leben hatte Albert etwas Vermögen in der Hand, um ein paar seiner Ideen zu verwirklichen. Er erwarb Land im westlichen Teil von Abu Tor, um darauf ein Museum zu errichten, das an die Kriege Israels erinnern sollte. Albert beschrieb es in einem Brief an Pinchas Sapir als »Museum, das allen Helden der Kriege Israels Leben einhauchen wird, von Jehoschua ben Nun bis zum rangniedrigsten Soldaten des Befreiungskriegs«. Allein für die Säuberung des Sandes, auf dem die Truppen in Stellung gebracht werden sollten, bezahlte er ein Vermögen. Es gab noch weitere Ideen und Einfälle, die sämtlich zum Scheitern verurteilt waren, doch das Land in Abu Tor sollte 1982, nach endlosen Rechtsstreitigkeiten, für immerhin 150.000 Dollar verkauft werden.

Die letzte Phase begann mit den frühen sechziger Jahren, als Jonah, Albert und den beiden Kindern schon so gut wie nichts mehr geblieben war. Alberts Glaube an die eigene Begabung war erschüttert, und mehr als an allem anderen trug er schwer daran, seinen beiden Kindern eine Zukunft zu vermachen, die nur aus Armut und Mangel bestünde. Die Kehrtwende, die sein Leben nahm, war gewaltig: Zwar stand er nicht eines Morgens auf und beschloss, im Straßenbau zu arbeiten, verstand jedoch, dass er eine erfolgversprechende Idee brauchte, die keinerlei Investition bedurfte.

Und so entschied er, nach eigenen Worten, einen Beruf zu erfinden. Die Grundsätze dieser neuen Profession und Berichte über die ersten Aufträge hielt Albert sorgsam in seinem Tagebuch fest, und dies aus gutem Grund: Seiner Meinung nach war ein Mensch, der eine neue Profession erfand, verpflichtet, seine ersten Gehversuche für die Zukunft zu dokumentieren. Der erste Satz in seinem Tagebuch erläuterte die Notwendigkeit des neuen Berufsstands: »Ein im Sterben Liegender bedarf weder eines Arztes noch des Wehklagens von Verwandten, braucht weder einen Rabbiner noch sonst jemanden, dem es um sein Seelenheil und sein Geld zu tun ist – er braucht einen Schreiber.« Und weiter: »Offensichtlich ist, dass diejenigen, die den Sterbenden achten, verzweifelt eine tiefere Bedeutung suchen in seiner Salbaderei, eine große Wahrheit, zumindest aber eine Einsicht, denen von Nutzen, die zurückbleiben, die Aufgaben des Lebens zu erfüllen. Tagelang harren sie an seinem Bett aus und nehmen alles Gerede als die reinste Wahrheit. Und verstummt der Sterbende oder schläft vielleicht ein, werden sie stupende Bedeutung auch in seinem Schweigen noch finden. Schlussendlich jedoch wird ihnen offenbar, dass die Weisen in Weisheit sterben und die Dummen in Dummheit und nichts Neues unter der Sonne es gibt.«

Dann, in einem Abschnitt mit der Überschrift »Zweck«, tauchte zum ersten Mal der Begriff »Chronist und Lektor eines Todkranken« auf: »Ein Todgeweihter redet und schwätzt, beichtet und lügt, Belangloses und Kluges bunt gemischt, und seine Nächsten setzen ihm immerfort zu mit Fragen über Nichtigkeiten. Hier nun ist ein Chronist und Lektor vonnöten, den mit dem Sterbenden nichts, aber auch gar nichts verbindet, der, ob seines breitgefächerten Wissens, zwischen Wesentlichem und Nebensächlichem zu trennen vermag und die elementaren Fragen stellt. Denn jeder, der im Sterben liegt, glaubt schließlich an irgendetwas (das er mitunter selbst nicht zu definieren weiß) und hat seinen eigenen Blick auf die Welt. Warum also sollte seine Weltsicht mit ihm für immer aus dieser Welt verschwinden?«

In seinem Tagebuch ging Albert nicht näher darauf ein, wie er zu seinem ersten Auftrag gekommen war. Es gab Gerüchte, in den Tagen größter Not sei er durch die Krankenzimmer der Hospitäler gezogen und hätte Todgeweihten und ihren Angehörigen seine Dienste angetragen, und einmal, nachdem er einer Frau, die eine harmlose Operation überstanden hatte, eröffnete, sie sei unheilbar krank und es bliebe ihr nichts anderes, als seine Dienste in Anspruch zu nehmen, hätten ihn deren Angehörige so verprügelt, dass er, von den Ärzten versorgt, im Zimmer neben dem ihren gelandet sei. Schließlich jedoch fand sich eine erste Auftraggeberin. Vielleicht heuerte sie Albert Manzur an, weil sie ihn kannte, ja manch einer behauptete sogar, sie seien ein Liebespaar gewesen, möglicherweise aber hatte sie auch von seinem Vater gehört, der Gedichte aus dem Französischen und Englischen ins Arabische übersetzte.

Ein Umstand jedoch ist unstrittig: Alberts erste Kundin war eine Frau, in seinem Tagebuch nur R. genannt, die an Lungenkrebs erkrankt im Jerusalemer Hadassah-Krankenhaus im Sterben lag. »Sonderbar schien das Gebaren der Frau«, schreibt Albert. »Es ergab sich, dass zu später Nacht sie ihren kostbaren Goldschmuck Chassen geschenkt, der arabischen Pflegerin, die sie im Krankenhaus fütterte. Ihre Liebsten wunderten sich über die Maßen und verstanden nicht, dass R. ihr Leben einer Prüfung unterzogen und sich manches Mal über Belange von höchster Wichtigkeit grämte und ihr Gewissen ihr zusetzte wegen der Bilder, die sie in den Straßen ihrer Kindheit gesehen, darunter die Vertreibung der Familie Chassens aus ihrem Haus in der Gaza-Straße …«

In leicht überraschtem Ton schreibt Albert, in der letzten Woche ihres Lebens habe sich R. nur noch mit einer einzigen Sache befasst: »Sie hoffte, einer der Freunde ihres verstorbenen Gatten, ein herzloser Mensch und zudem reich wie Krösus, möge ihrem Sohn, der in New York wohnte, seine Gunst erweisen und ihm eine Greencard beschaffen. Die ganze Woche bat sie, der Geldsack möge an ihr Sterbebett kommen, dass sie ihn beschwören könne.« An dieser Stelle fühlte sich Albert offenbar bemüßigt, eine eigene Betrachtung einzufügen: »Die Sterbenden neigen dazu, der Illusion aufzusitzen, die Lebenden würden einen Schwur, den sie einem unheilbar Kranken geschworen, mit besonderer Gottesfurcht befolgen. Naturgemäß haben sie auch keine andere Wahl, als dies zu glauben. Doch selbst wenn der Schwörende tatsächlich die Absicht gehegt, sich an seinen Schwur zu halten, so vergeht unweigerlich die Zeit, und die Erinnerung an den Toten verblasst. Die im Sterben Liegenden wissen die Zeit nach ihrem Tode nicht zu bemessen und lassen sich verleiten zu glauben, ihr Tod sei ein Ereignis, das kein Ende kennt.«

♦♦♦

Im Grunde lässt sich sagen, dass Gavriels eigene Karriere unmittelbar aus der seines Vaters resultierte. Im Oktober 1984 erhielt sein Vater eine Einladung nach New York. Derartige Einladungen waren nichts Ungewöhnliches. Sein Vater arbeitete zu dem Zeitpunkt schon seit über zwanzig Jahren in seinem Metier, pflegte einen kleinen Kundenstamm reicher Juden und zog es vor, in den Vereinigten Staaten und in Europa zu arbeiten, da er nicht wollte, dass seine geschäftlichen Angelegenheiten in Jerusalem Stadtgespräch wurden.

Als Kind hatte Gavriel gehört, wie sich seine Mutter und sein älterer Bruder heimlich über seinen Vater lustig machten: Für die Öffentlichkeit sei er ein Biograph oder Erinnerungsschreiber, und nur zu Hause würde er plötzlich zum Chronisten und Lektor Todgeweihter und beeindruckte den kleinen Gavriel mit Schaudergeschichten. Gavriel hatte lieber der Version seines Vaters Glauben geschenkt, der die Sticheleien seiner Frau und seines ältesten Sohnes ignorierte und seine Tätigkeit nach und nach festen Regeln unterwarf: Er pflegte mit lediglich zwei Kunden pro Jahr zu arbeiten, und übernahm nur in Ausnahmefällen weitere, da man »zuweilen Pech hat und einem drei Kunden in einem Jahr wegsterben«. Um die Dienste seines Vaters in Anspruch zu nehmen, musste ein Kunde drei Voraussetzungen erfüllen: Er musste Jude sein, musste die Empfehlung von jemandem mitbringen, der bereits zum Kundenstamm zählte, und 50.000 Dollar zahlen. Zur allgemeinen Überraschung präsentierte der Herr, der ihn nach New York einlud, eine Empfehlung durch den Sohn jener Frau, die sein Vater in seinem Tagebuch nur R. nannte und deren Sohn noch immer in New York lebte.

1982 waren sie, gleich nachdem das Geld aus dem Verkauf des Grundstücks in Abu Tor zur Verfügung stand, von der Wohnung in der Shachar-Straße in Beit Hakerem in ein eigenes Haus in der Saadia Gaon gezogen. Im Januar 1984 dann starb seine Mutter, und wenige Monate später wurde er aus der Armee entlassen, und beide Gründe gleichermaßen bewogen seinen Vater, ihn mit auf die Reise zu nehmen. In New York bewohnten sie einen eigenen Trakt im Penthouse der Familie Brookman an der 5th Avenue. Das riesige Wohnzimmer faszinierte den jungen Gavriel, nicht nur wegen seiner Ausmaße, sondern auch ob seiner ganzen Aufmachung. Mehrere Stile waren bunt durcheinandergemischt: ein Originalgemälde von Jackson Pollock; ein Foto von Norman Mailer, der mit Boxhandschuhen an den Händen einen von Brookman senior gehaltenen Sandsack bearbeitet; ein großer, silberner Chanukkaleuchter, verziert mit dem Relief zweier Löwen; eine große Eichenholzbücherwand, auf der zu jeder Tages- und Nachtstunde weiches, goldenes Licht ruhte und deren Fächer nach Sprachen unterteilt waren: Englisch, Russisch, Polnisch, Hebräisch und Jiddisch.

Dominiert wurde der Raum von einem rissigen Schwarzweißplakat, in dessen Zentrum zwei Männer in dunklen Anzügen und mit Hüten zu sehen waren, der eine mit mächtigem, schwarzem Schnauzbart und Augen, vielleicht blau, und der andere mit glattem, jugendlich-frischem Gesicht, und darüber der Aufruf: Save Sacco and Vanzetti! Die erste Frage, die er Michael Brookman stellte, war, wer diese Männer seien. Michael lächelte zufrieden und erzählte, sein Vater habe großen Anteil am Schicksal dieser beiden jungen Anarchisten genommen, die Anfang der zwanziger Jahre aus Italien in die Vereinigten Staaten eingewandert und, der Beteiligung an einem doppelten Raubmord beschuldigt, zum Tode verurteilt und hingerichtet worden waren. Brookman senior sei der Überzeugung gewesen, es sei eine Schande, dass die Juden in den Vereinigten Staaten sich nicht für die unglücklichen jungen Italiener eingesetzt hatten. In den siebziger Jahren habe er sogar einen Drehbuchautor angeheuert, der die Geschichte des fragwürdigen, umstrittenen Prozesses, der ihnen gemacht wurde, aufrollen sollte. Er habe davon geträumt, Robert De Niro würde die Rolle Saccos übernehmen, aber aus dem ganzen Projekt sei nichts geworden.

Jonathan Brookman war in eben jener Woche aus dem Krankenhaus zurückgekehrt, mit der Diagnose, der Krebs habe bereits Metastasen im ganzen Körper gebildet, und es blieben ihm nur noch wenige Wochen zu leben. Albert traf noch am selben Tag mit ihm zusammen, und als er von dem Treffen zurückkam, berichtete er Gavriel aufgewühlt, anhand des Gesichts habe er ihn sofort wiedererkannt: Brookman senior war der reiche Amerikaner, der R. im Krankenhaus besucht und den sie angefleht hatte, er möge ihrem Sohn helfen, an eine Greencard zu kommen. Und hat er?, fragte Gavriel. Einen Teufel hat er, erwiderte sein Vater, aber darum geht es nicht. Denn der alte Brookman hatte den von Albert über R. verfassten Nekrolog gelesen und sich davon tief beeindruckt gezeigt, hatte gemeint, er habe ihre Person und ihre Auffassungen »ohne Heuchelei, aber mit viel Empathie« dargestellt. Und er war nicht beleidigt wegen des Absatzes, in dem er selbst als gefühlskalte Krämerseele beschrieben wurde. »Es gibt Leute, die sind überzeugt, das bin ich«, meinte er amüsiert. Mehr erzählte Albert nicht von seinen Treffen mit Brookman senior, wahrscheinlich weil er fürchtete, Gavriel könnte im Kreis der Familie zu mitteilsam sein.

Sie blieben fast einen Monat im Haus der Brookmans. Sein Vater verbrachte die Tage im Zimmer des alten Brookman, am Abend aßen sie im Gästezimmer oder in einem der Restaurants des Chinesenviertels, und an den Freitagabenden wurde ein Kiddusch gegeben, bei dem gut und gerne vierzig Personen zugegen waren. Bei ihrem ersten Sabbatempfang saß er neben Michael Brookman, der Mitte dreißig und von umgänglichem Aussehen war, mittelgroß und mit kleinem Bäuchlein, die Wangen von Sommersprossen gesprenkelt und auf dem Kopf eine karottenfarbene Bürste. Die meisten Gespräche bei diesen Dinners wurden von Michaels Baritonorgan bestimmt und drehten sich vorwiegend um die amerikanischen Präsidentschaftswahlen des Jahres 1984. Die Brookmans, großzügige Gönner der Demokraten seit den Tagen Roosevelts, glaubten nicht daran, dass Mondale gegen Reagan das Rennen machen würde, und Michael schilderte gerne und oft Treffen mit Vertretern der Demokraten, die ihn drängten, noch mehr für die Wahlkampagne zu spenden und seine Freunde zu bearbeiten, es ihm gleichzutun, während er stichelte, jeder Dollar, den er ihnen gebe, sei ohnehin verloren. »Aber wir werden spenden, damit ihr hinterher nicht sagt, ihr hättet wegen der Juden verloren.«

Mehr als einmal geriet Albert bei diesen Abendessen mit Michael aneinander, da Liberale seines Schlags genau die Typen waren, die er verachtete, wohingegen er die Reagan-Administration und ihren Kampf »gegen den Kommunismus und die Strolche von den Gewerkschaften« durchaus schätzte und Michael drängte, er müsse wirklich mal Friedrich August von Hayek lesen. Auch hielt er Michael vor, die Liberalen in Amerika verstünden den Nahen Osten nicht, und erzählte ihm gelegentlich, wohl um ihn zu ärgern, von Plänen aus den Tagen von Saadias Café, so zum Beispiel davon, ein Hotel der Propheten Israels zu errichten, was kurzzeitig in den inneren Zirkeln der allmächtigen MAPAI Ben-Gurions Interesse geweckt hatte. »Denn die von der MAPAI«, erklärte Albert, »glauben, heute gebe es in Israel keinen Gott mehr, aber sie könnten schwören, dass er früher mal hier war.« Warum er nicht ein bisschen von seinem vielen Geld in eine solche Idee investiere, wollte er lächelnd von Michael wissen. Zuweilen stritten sie sich heftig über jüdische Belange, etwa wie es komme, dass die bedeutendsten Anthropologen – Durkheim, Lévy-Bruhl, Marcel Mauss, Sapir, Bors, Löwy – allesamt Juden seien, oder in welchem Ausmaß Schabbtai Zvi die jüdische Geschichte beeinflusst habe.

Solche Debatten langweilten Gavriel.

Michael verbreitete gute Laune, und sein Lachen wirkte ansteckend, doch in seine hellen Augen stahl sich zuweilen ein kalter Blick, der für Unbehagen in seiner Umgebung sorgte. In den ersten Tagen verwunderte seine Fröhlichkeit Gavriel, doch mit der Zeit verstand er, dass Michael den nahen Tod seines Vaters als etwas Natürliches akzeptiert hatte: So war der Lauf der Welt nun mal – Väter machten Platz für ihre Söhne –, und dieses unsentimentale Wissen um die Ordnung der Dinge, um ihre Zwangsläufigkeit tröstete ihn.

Mit der Zeit verlor Michael das Interesse an Albert und konzentrierte sich ganz auf Gavriel, lud ihn während ihrer letzten Woche in New York ein, ihn überallhin zu begleiten. Gavriel saß mit ihm in Meetings des Hedgefonds Brookman, Stanston & Barnes und wurde dort mit einem Lächeln als Trainee aus Israel vorgestellt. Er begleitete ihn zu geschäftlichen Mittagessen, zumeist mit Investoren des Hedgefonds, die sicherstellen wollten, dass ihre Rendite auch in diesem Jahr bei 15% läge. Wenn sie danach zurück zum Büro marschierten und Michael über die »Gierhälse« herzog, die sie gerade getroffen hatten, reagierte Gavriel mit gespielter Naivität, um den anderen zu verleiten, noch ausfallender zu werden, bis Michael ihn frotzelnd warnte: »Lass das, Junge.« Sie schritten unter dem orangeroten Blendwerk der herbstlichen Bäume aus, kalter Wind blies ihnen ins Gesicht, und Gavriel war erfüllt von neugieriger, sorgloser Freude – jeder Tag offenbarte ihm neue Geheimnisse. New York reinigte ihn von allen lästigen Grübeleien, und nur ein unhörbares, aber enervierendes Pfeifen erinnerte ihn beständig daran, dass diese Tage bald vorbei sein würden und ein Teil seiner selbst bereits jetzt durch die Gaza-Straße lief und der Zeit in New York nachtrauerte, deren Bruchstücke in den Höhlen der Erinnerung verschwanden.

An den Abenden wurde zumeist in großer Runde getafelt, in Gesellschaft von Hedgefondsmanagern, Brokern, Journalisten, demokratischen Kongressabgeordneten, Bankern, Finanz- oder Immobilieninvestoren und jüdischen Geschäftsleuten, die wie Michael zur jungen Führungsgilde des United Jewish Appeal zählten, einer jüdisch-philanthropischen Dachorganisation. Nach einer Woche schwirrte Gavriel der Kopf vor lauter Namen, Berufen und Lebensgeschichten. Er lernte, diesen Menschen zuzuhören, nicht zu freimütige Fragen zu stellen und es bei einigen wenigen Bemerkungen zu belassen, die sowohl sein Interesse bekundeten als auch andeuteten, welche Lehren er für sich aus dem Gesagten ziehen konnte, ein kniffliger Balanceakt.

Bei diesen Abendessen gab er den jungen Burschen aus Israel, der noch nichts im Leben geleistet hat und deshalb ihre Lesart der Ereignisse nicht in Zweifel ziehen konnte, aber sie andererseits auch nicht mit einem mundfaul dahergebrummten »sehr interessant« langweilen durfte. Er begriff, sie erwarteten von ihm, dass in seinen Fragen jugendliche Renitenz anklang, dass seine Bemerkungen seine Fremdheit und unterschiedliche Auffassung betonten. Er eignete sich den richtigen Tonfall schnell an und lernte, Fragen zu stellen, die bei seinen Gesprächspartnern das Gefühl erweckten, er lege »ein für einen jungen Mann erstaunliches Verständnis« an den Tag. Diese Fähigkeit jedoch vermochte er nicht bei Diskussionen in größerer Runde zu demonstrieren. Zumeist blieb er dann stumm, da er noch nicht die Kunst beherrschte, mit einem Satz zu vier verschiedenen Personen zu sprechen.

Bei mehr als nur einer Gelegenheit saß man in riesigen Wohnzimmern beisammen, und ein kleines Silbertablett machte unter den Gästen die Runde, darauf ein weißes, zu akkurat ausgerichteten Linien geschobenes Pulver. Gavriel bediente sich arglos davon, und das Kribbeln, das er in der Nase spürte, wurde mit jedem Mal angenehmer. Es schien, als würden sich die grauen Wolken, die seine Wahrnehmung umhüllten und deren Existenz er sich bisher nicht bewusst gewesen war, wie von Zauberhand auflösen, und blendend weißes Licht erstrahlte über seinen Schlussfolgerungen und ließ sie ganz klar werden. Es ging so weit, dass er der Meinung war, er könnte es mit diesen Menschen aufnehmen, ja sich insgeheim sogar über sie lustig machte, über diese rosig-blassen Typen, die in trägem, aus den Tiefen ihrer Bäuche sich heraufwälzendem Ton redeten. Doch das war nur ein flüchtiges Gefühl, wie das Aufflackern einer Lampe in seinem Inneren: Für einen Moment wusste er, er verfügte über genug Begabung, sich unter ihnen zu behaupten und auszuzeichnen, schien es, als fügten sich Gedankenmoleküle in seinem Bewusstsein zu stabilen Meinungskristallen, aber noch ehe er Gelegenheit fand, sie näher in Augenschein zu nehmen, lösten sie sich auf oder wirkten sinnlos.

Jedes Mal, wenn das Tablett mit den weißen Linien weiterwanderte, verfolgte er es mit trauerndem Blick. Eine gewaltige, fremde Macht schien in ihm erwacht, darauf wartend, mit der Sprengkraft eines Albtraums in seinem Bewusstsein zu explodieren.

In der Nacht nach der Beisetzung des alten Brookman – es war ihr letzter Tag in New York – führte Michael ihn ins Billardzimmer. Der Raum, in dem der größte Billardtisch stand, den er je gesehen hatte, war kaum beheizt. Windstöße bauschten die weißen Vorhänge vor den Fenstern. Michael beugte sich über den Tisch und zielte mit der weißen Kugel für den ersten Stoß, und während er aus dem Augenwinkel das Dreieck der Kugeln auf der anderen Seite des Tisches anvisierte, sagte er: »Dein Vater weiß jetzt alles über unsere Familie, kennt alle unsere kleinen Geheimnisse. Und du wirst zumindest einen Teil davon auch erfahren.«

»Mein Vater erzählt mir nie etwas«, beeilte sich Gavriel abzuwiegeln. »Er glaubt an eine strikte Trennung zwischen Job und …«

»Ganz egal«, unterbrach ihn Michael, der sich immer seiner schnellen Auffassungsgabe rühmte. Gavriel hatte festgestellt, dass unter den Geschäftsleuten, die er in New York traf, schnelle Auffassungsgabe die am meisten geschätzte Fähigkeit überhaupt war. Sein Vater hingegen verachtete »Schnellmerker« und spottete über diese angebliche Begabung, die manchen Leuten mehr wert zu sein schien als Bildung, als das Verständnis für die Komplexität einer Frage oder die Zusammenhänge zwischen einzelnen Phänomenen. »Ihre Gespräche werden ohnehin in Buchform erscheinen, und soweit ich im Bilde bin, weiß dein Vater zu trennen zwischen Dingen, die nur für seine Ohren bestimmt waren, und solchen, die an andere adressiert sind. Vielleicht weißt du es nicht, aber in bestimmten Kreisen von Geschäftsleuten gilt dein Vater als einer der größten jüdischen Ghostwriter seiner Zeit.«

Es war das erste Mal, dass Gavriel jemanden seinen Vater als Ghostwriter bezeichnen hörte.

Michael trat zur Bar, schenkte Cognac in zwei Schwenker und stellte einen davon auf einen kleinen Glastisch seitlich vom Billardtisch. »Ich war eigentlich dagegen, einen allzu unabhängigen Ghostwriter zu engagieren. ›Was zur Hölle ist das für eine Idee?‹, habe ich zu Dad gesagt. ›Am Ende schreibt er noch, du seiest ganz anders gewesen als der, den wir gekannt haben, und dann müssen wir einen anderen Schreiberling finden, der keine Gelegenheit haben wird, dich überhaupt kennenzulernen.‹ Aber Dad hatte Sachen von deinem Vater gelesen, alles Mögliche, was in Erinnerungsbüchern, Biographien oder Nachrufen veröffentlicht wurde, und auch Dinge, die nur für die engsten Angehörigen bestimmt waren. Er hat sich bemüht, so viel als möglich davon in die Finger zu bekommen. Er hat die Arbeit deines Vaters wirklich geschätzt, hat gemeint, gerade wegen seiner Unabhängigkeit seien seine Berichte so komplex. Also bin ich seinem Wunsch gefolgt, und unterm Strich ist es jetzt so, ihr wisst so viel über uns, dass wir ein bisschen wie eine Familie sind. Und ich bin ein Mensch, dem die Familie sehr viel bedeutet, verstehst du?«

»Ja, verstehe ich absolut«, erwiderte Gavriel ergeben. Der quecksilbrige Ton dieser letzten Frage ließ kaum Platz für eine andere Antwort, und mit einem Mal kam ihm der Gedanke, dass seine Erklärung, sein Vater erzähle ihm nie etwas über seine Arbeit – eine Beschwichtigung, dazu gedacht, die Befürchtungen des anderen zu zerstreuen –, Michael offenbar nicht gefallen hatte. Er betrachtete Geheimnisse, die Väter mit ihren Söhnen teilten, als ein Element der natürlichen Ordnung der Dinge. Denn in seinen Augen waren das Wissen und die Erkenntnisse, die ein Mensch im Laufe seines Lebens sammelt und an seinen Sohn weitergibt, so viel wert wie der Besitz von Geld, Aktien, Immobilien oder Anteilsmehrheiten. Unweigerlich durchzuckte Gavriel die Erkenntnis, gegen die er in den vergangenen Tagen immer wieder angekämpft hatte: Er verstand diese Menschen und die Werte nicht, die ihr Handeln diktierten.

Michael nahm einen Schluck aus dem Glas in seiner Hand. Die Verzagtheit, die Gavriel erfasst hatte, war ihm nicht entgangen, und jetzt strahlte sein Gesicht erneut die Gutmütigkeit aus, die für einen Moment wie weggewischt gewesen war. »Nebenbei gefragt, junger Freund«, sagte er mit sanfter Stimme, »hast du jetzt vor zu spielen oder nicht?«