Im Land der Verzweiflung - Nir Baram - E-Book

Im Land der Verzweiflung E-Book

Nir Baram

5,0

Beschreibung

2014 und 2015 ist Nir Baram in die besetzten Gebiete des Westjordanlands gereist. Um sich selbst ein Bild von der Lage seines Landes zu machen, hat der preisgekrönte Schriftsteller aus Israel Flüchtlinge, Siedler, Juden, Palästinenser, Politiker und Aktivisten befragt. Vorurteilslos spricht Baram mit den unterschiedlichen Bewohnern entlang der Grenzen, und stets schlägt ihm eine scheinbar einfache Wahrheit entgegen: „Trennung führt immer zu einem Mangel an gegenseitigem Verständnis und der Dämonisierung des anderen.” Seine Reportagen beweisen eindrucksvoll, dass es möglich ist, aufeinander zuzugehen und dass es einen Weg jenseits der Zwei-Staaten-Lösung geben muss.

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Auf den Reisen, die Nir Baram 2014 und 2015 entlang der israelisch-palästinensischen Grenzen von 1967, der sogenannten Green Line, unternommen hat, ist er zu den Menschen an den Brennpunkten der besetzten Gebiete gefahren – bis hin zu dem winzigen jüdischen Außenposten »777« tief im Westjordanland. Er erlebte die undurchsichtige Verhaftung von zwei palästinensischen Jugendlichen, bei denen Messer gefunden wurden, verbrachte Stunden in den Schleusen der Checkpoints und geriet an der al-Aqsa Moschee zwischen die religiösen Lager. Seine Gespräche mit palästinensischen Anwälten, jüdischen Siedlern, Kibbuzbewohnern der ersten und jüngsten Generation, mit Politikern, Friedensaktivisten, trauernden Familien und verzweifelten Bauern führen tiefer und anschaulicher als jeder Medienbericht in die zerrissenen Lager eines Landes im ständigen Ausnahmezustand. Unparteiisch befragt Baram alle Seiten und erkennt, dass fast jede Geschichte mehrere Wahrheiten besitzt, je nachdem, aus welcher Perspektive man sie erzählt. Aber er stellt auch fest, wie tief beide Lager trotz des Konflikts miteinander verbunden sind und wie wichtig für alle Beteiligten die Aussicht ist, dass es doch eine Aussöhnung zwischen den beiden Völkern geben kann.

Hanser E-Book

Nir Baram

IM LAND DER

VERZWEIFLUNG

Ein Israeli reist in die

besetzten Gebiete

Aus dem Hebräischen

von Markus Lemke

Carl Hanser Verlag

Die israelische Originalausgabe erscheint 2016 unter dem Titel Be’ertz Ha’yeusch bei Am Oved in Tel Aviv.

Das Zitat auf S. 99 wird zitiert aus Tristan Egolf, Monument für John Kaltenbrunner, aus dem Amerikanischen von Frank Heibert, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000.

ISBN 978-3-446-25208-0

© Nir Baram 2015

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2016

Karten: Peter Palm, BerlinUmschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Foto: Moti Milrod, © Haaretz Daily Newspaper

Ltd. All Rights Reserved

Satz: Greiner & Reichel, Köln

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

INHALT

Prolog

Zwei gefesselte junge Palästinenser auf der Straße – Flüchtlingslager Balata, Ende 2014

Die »Post-Zwei-Staaten-Ära« – Der Außenposten El Matan und die Siedlung Maale Shomron, Winter 2014

Der erste Jude in seinem Leben. Die ehemaligen Häftlinge der Fatah und der Hamas beginnen ein neues Leben – Ramallah, Sommer 2014

Stadtviertel im Nirgendwo – Das palästinensische Jerusalem jenseits der Trennmauer, Frühling 2014

»Aus dem Fenster sehe ich Gaza« – Kibbuz Nirim, Sommer 2014

Ein palästinensischer Junge wird ermordet und auf dem Tempelberg reden sie vom stillen Religionskrieg – Jerusalem innerhalb der Mauer, Sommer – Winter 2014

Große Träume: Wird die Siedlerpartei zu einer großen israelischen Partei? – Kedumim und Elon Moreh, Anfang 2015

Isaak und Ismael sind Brüder. Die Otni’el-Jeschiwa und das Feld – Otni’el, Gush Etzion, Winter 2015

Jede Friedensinitiative stößt am Ende auf die Mauer – Beit Dschala und Bethlehem, Winter 2014

Am Außenposten 777 sind Palästinenser bloß ein Gerücht – Die Ableger der Siedlung Itamar und das Dorf Kafr Yanun, Winter – Frühling 2015

In Barta’a reden sie über innerarabischen Handel, nicht über Frieden – Barta’a, Frühling 2015

Lärm – Jabal Mukaber und Ras al-Amud, Ostjerusalem, Oktober 2015

Epilog – Das Andauern der Dämonenzeit

Prolog

Ich habe mich auf diese Reise gemacht, um herauszufinden, wie das Land wirklich aussieht, in dem ich mein ganzes bisheriges Leben verbracht habe und in dem ich (Stand heute) auch bis an mein Lebensende bleiben werde.

Von Kindheit an werden wir mit Bildern, Karten und Zeitungsartikeln über den israelisch-palästinensischen Konflikt bombardiert. Wir lernen etwas über Unrecht und Morden, über die Zustände in Jenin, am Checkpoint Kalandia oder in Ramallah – und sind zumeist erschüttert. Manchmal will mir scheinen, der größte Teil unseres politischen Lebens ist in Erschütterung vergangen. Doch in den letzten Jahren gewinnt man den Eindruck, als seien die Israelis dieser Erschütterung müde, die immer auch mit einem Gefühl der Ohnmacht einhergeht. Oder vielleicht sind sie gerade wegen dieser Ohnmacht der Erschütterung müde. Auf jeden Fall haben sie das Interesse an den Palästinensern verloren. Die meisten Israelis und vielleicht auch die meisten Menschen auf der Welt sind inzwischen zu dem Schluss gelangt, dass keine Aussicht mehr auf eine Lösung des Konfliktes besteht.

In den letzten Jahren sind Erschütterung, Gleichgültigkeit und Resignation immer mehr zu abgedroschenen Phrasen in der öffentlichen Diskussion in Israel und im Ausland geworden. Es hat den Anschein, als sei alles bereits gesagt. Faszinierend aber ist, dass die überwiegende Mehrheit aller Israelis (und der Menschen auf der Welt) – die schon über den Konflikt reden, solange sie denken können –, keine Ahnung hat, wie das Leben auf der Westbank aussieht, dem Gebiet, das Kern der Auseinandersetzung ist. Die meisten sind noch niemals dort gewesen, andere kennen es aus der Zeit ihres Militärdienstes, der in aller Regel aber schon eine ganze Weile zurückliegt. Inzwischen könnte man meinen, wir reden über einen theoretischen, nebulösen Ort, der in unserer politischen Vorstellung nur vage existiert, so wie über die Bürgerkriegsschauplätze in Syrien oder Kongo.

In den letzten Jahren ist offensichtlich geworden, dass nur wenige von uns heute noch ein umfassendes und genaues Bild von der Westbank und dem Verlauf der Grünen Linie haben. Daher habe ich mich auf diese Reise gemacht. Um so unvoreingenommen wie möglich das Verhältnis zwischen meinen politischen Ansichten und der Realität auf der Westbank zu überprüfen. Ich war sie einfach leid die Diskussion in den Cafés, auf Universitätskongressen oder in Genf, wo über die Okkupation geredet wird, ohne dass jemand tatsächlich eine Antwort auf bestimmte Fragen weiß: Wo verläuft denn nun die Grüne Linie? Und wie sieht es heute in einem Flüchtlingslager aus? Das ganze Jahr über, das ich auf der Westbank zugebracht habe, bin ich immer nach Tel Aviv zurückgekehrt, und habe meinen Freunden hier und anderswo auf der Welt erzählt, was ich gesehen hatte. Die Reaktionen, die ich erntete, schwankten zwischen Erstaunen und Unglauben: Gibt es in Jerusalem wirklich Viertel wie Ras Khamis, mit israelischen Einwohnern, die auf der palästinensischen Seite der Mauer leben? Existieren tatsächlich alle diesen nebulösen, unscharfen Exklaven ohne klare regionale und nationale Kontrolle? Sind die Siedlungen ernsthaft schon über die gesamte Westbank verteilt und nicht nur auf die »Siedlungsblöcke« konzentriert? Palästinenser und Siedler fahren wirklich auf denselben Straßen und stehen in denselben Verkehrsstaus? So viele nichtreligiöse Siedler soll es geben? Nach und nach habe ich verstanden, dass zwischen dem Israel, das ich kenne, und der Westbank nicht nur Checkpoints und Übergänge liegen wie der in Kalandia – sondern vor allem eine Bewusstseinssperre, die zusehends wächst.

Ich bin im Israel der achtziger Jahre aufgewachsen. In jenen Jahren arbeiteten täglich Hunderttausende von Palästinensern von der Westbank in Israel und waren im Straßenbild von Jerusalem, Tel Aviv, Haifa und anderen Städten allgegenwärtig. Seit den Verträgen von Oslo, und verstärkt seit dem Ausbruch der zweiten Intifada und dem Bau der Mauer, ist die Trennung zwischen den Palästinensern auf der Westbank und den Israelis immer rigoroser und systematischer geworden. Die Palästinenser scheinen inzwischen von unseren Straßen verschwunden zu sein und die meisten Israelis haben noch nie die Grüne Linie überquert. So kommt es, dass junge, achtzehn Jahre alte Juden, mit denen ich gesprochen habe, in ihrem Leben noch nicht einen einzigen Palästinenser getroffen haben, und gleichaltrige Palästinenser mich fassungslos angeschaut haben, weil ich der erste Jude war, dem sie in ihrem Leben begegnet sind. Aber auch ältere Israelis, die früher Palästinenser von der Westbank gekannt haben, ja mitunter sogar mit ihnen zusammenlebten, haben die alten Bekannten inzwischen schon viele Jahre nicht mehr gesehen. Im Grunde ist die Westbank in den letzten Jahren in den Augen der meisten Israelis zu einem Reich jenseits der hohen Berge geworden, dem Blick entzogen. Sie wissen, bestimmte Dinge geschehen dort, manchmal reden sie über die Besatzung und die Siedlungen, doch eine Vorstellung, wie die Westbank heute aussieht und wie die Menschen dort leben, haben sie nicht. Auch führen die meisten Israelis politische Diskussionen über die Okkupation, während sie eine Karte aus dem Jahre 1995 oder 2004 vor Augen haben, ohne echten Bezug zu der vor Ort inzwischen herrschenden Realität – mit dem unvermeidlichen Ergebnis, dass die öffentliche Diskussion in Israel von Zombie-Begriffen nur so strotzt. Begriffen, die in der politischen und medialen Diskussion allgegenwärtig sind, aber auf den Straßen der Westbank, in Siedlungen und Flüchtlingslagern oder an Checkpoints, wie man vor Ort schnell feststellt, keinerlei Gültigkeit haben. Und schwierig ist es eben, über eine Lösung zu reden, wenn man keine Ahnung hat, wie der Ort aussieht, über den man spricht.

Zweifelsohne ist die Frage des Territoriums ein schicksalsträchtiges Thema. Aber was ist mit den Menschen, die dort leben? Wir alle reden im Namen von Menschen, wissen, auch ohne die verschiedenen Gruppierungen und Strömungen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft zu kennen, welche politischen Ziele die Palästinenser haben. Auch glauben wir, dass alle Siedler nur die Losungen radikaler Rabbiner nachbeten, weil wir diese im Fernsehen gesehen haben; und dass Menschen wie Abu Mazen oder die Hamasführer oder die Siedlervertreter – alles in allem vielleicht zwei, drei Dutzend Gesichter – tatsächlich die Millionen repräsentierten, die auf der Westbank leben. Zumeist zitieren wir Leute, die unsere Ansichten bestätigen, oder geben wieder, was dubiose Meinungsführer, denen wir nie persönlich begegnet sind, gesagt haben, und greifen uns eine stereotype Figur heraus, mit der wir uns leicht auseinanderzusetzen können.

Auf meiner Reise habe ich das ganze letzte Jahr über mit Hunderten von Menschen gesprochen, Juden und Araber aus allen Schichten und politischen Lagern. Ich habe ihnen zugehört, habe Fragen gestellt, habe sie gebeten, ihr Leben zu schildern, ihre Hoffnungen und Ziele für die Zukunft. Ich habe sie in ihrem Zuhause getroffen, am Arbeitsplatz, am Checkpoint, unterwegs auf der Straße, in ihrer natürlichen Umgebung, und habe mich bemüht, ihre Alltagsnöte kennenzulernen. Zuweilen habe ich Menschen zugehört, die ich immer als politische Feinde betrachtet hatte – Anhänger der Hamas etwa oder Bewohner illegaler Siedlungsaußenposten –, und dabei gelernt, die Geschichte, an die sie glauben, zu akzeptieren, auch ihre Ideen für die Zukunft. Nach und nach habe ich begriffen, dass die uns bekannte Unterteilung in Befürworter und Gegner eines Friedens simplifizierend und wenig nützlich ist. Und dass die komplexe Realität, die auf der Westbank entstanden ist, sich de facto nicht mehr nur durch eine Antwort auf die Frage »Zwei Staaten – ja oder nein?« verstehen lässt. Denn diese Realität setzt sich zusammen aus unterschiedlichen Auffassungen von Zeit und Raum, einem divergierenden Verständnis der entscheidenden historischen Ereignisse, gegenläufigen religiösen Überzeugungen, Angst vor dem jeweils anderen, tagtäglichen Gewohnheiten, Nöten und ideologischen Grundsätzen. Menschen zuhören heißt, ein komplexeres Weltbild zu riskieren, das manchmal voller Widersprüche sein mag. Es ermöglicht aber auch, in weniger starrer Form über die Zukunft zu sprechen, unterschiedliche Ideen unvoreingenommen zu prüfen und vor allem den Bezug zu verstehen zwischen der eigenen politischen Auffassung und der sich auf der Erde formenden Realität. Zweifellos hatte ich mitunter das Gefühl, dass meine politischen Einstellungen ins Wanken geraten und dass ich nicht immun bin gegen starre Vorstellungen. »Sie müssen lernen, dem Land zu lauschen«, hat mir ein junger Palästinenser im Flüchtlingslager Balata gesagt. »Und ich meine wirklich lauschen.« Dem Land lauschen. Ich habe lange über seine Worte nachgedacht. In seinem spannenden Buch Palestinian Walks zitiert der Schriftsteller und Rechtsanwalt Raja Shehadeh aus den Reiseerinnerungen Aufzeichnungen von Cornhill nach Gross Cairo des großen englischen Romanciers William Makepeace Thackeray, der in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts unter anderem das Westjordanland besuchte: »Entsetzen und Blut, Verbrechen und Strafe füllen Blatt für Blatt in grauenhafter Aufeinanderfolge. Da ist auch nicht ein Plätzchen – wohin das Auge auch blicken mag –, wo nicht irgendeine Gewalttat verübt, ein Blutbad angerichtet, ein Unglücklicher gemordet, einem Idole unter blutigen und furchtbaren Gebräuchen gehuldigt worden wären.«

Es ist ganz wie Thackeray schreibt, ja trifft zweihundert Jahre später noch mehr zu: Auf der Westbank hüllt die Vergangenheit die Landschaft ein, gleißt von jedem Hügel, schleicht sich in jeden Satz, dirigiert alles Nachdenken und speist das Bewusstsein ständig von neuem mit Bildern (die man mitunter gar nicht versteht). Dabei ist es doch gerade die Zukunft, die mich auf diese Reise geführt hat. In Israel melden alle unentwegt Zweifel am Fortbestehen unserer Existenz an. Zynismus, rabulistische Fragen, biblische Klischees und Horrorszenarien bestimmen sowohl die öffentliche als auch jede private Diskussion über die Zukunft, und das nicht zufällig. Die Menschen, egal, ob sie nun politisch rechts oder links stehen, leben in Israel ohne klares Bild von der Zukunft, ja im Grunde sogar ohne auch nur eine vage Vorstellung davon. Und stets lauert die künftige Apokalypse irgendwo in den Tiefen ihres Bewusstseins, überstrahlt zuweilen alles und verbirgt sich dann wieder für einige Zeit. Und so hat man den Eindruck, als könne niemand hierzulande sich die Zukunft im Jahre 2040 oder 2060 vorstellen. Ja, die meisten Menschen haben nicht einmal eine Lösung auf die einfachste Frage überhaupt: Wie sehen die Grenzen des Staates aus, in dem sie dann leben, und was für ein Staat wird dies sein?

Doch die meisten meiner Freunde, die größten Skeptiker und Pessimisten mit eingeschlossen, sind in den letzten Jahren Eltern geworden. Die meisten haben ihre Kinder in einem Staat zur Welt gebracht, dessen künftige Existenz sie stark bezweifeln, zumal in seiner jetzigen Beschaffenheit. Und dennoch folgen so gut wie alle der Routine ihres Alltagslebens, als gäbe es diesen Zweifel hinsichtlich der Existenzfrage Israels nicht: Sie kaufen Wohnungen, verwirklichen Geschäftsideen, sparen jetzt schon für das Studium ihrer fünfjährigen Tochter. Man könnte meinen, es sei eine sonderbare Abkoppelung eingetreten zwischen der pessimistischen politischen Auffassung der meisten Israelis und dem Alltagsleben, das sie führen; als würde alles immer so bleiben, wie es jetzt ist, als würde diese Gegenwart bis in alle Ewigkeit andauern. »Und die Jahre waren platt gedrückt, zusammengepresst und flinker als wir«, hat der Dichter Israel Pinkas geschrieben. »Wir aber verhielten uns, als seien wir ›unsterblich‹ und als bliebe Zeit für alles.«

Diese Diskrepanz zwischen der düsteren politischen Zukunft und unserem Leben, das in ihrem Schatten zu verlaufen scheint, sich im Grunde aber von ihr losgesagt hat – diese Widersprüchlichkeit hat mich lange belastet. Immer wieder habe ich meine Freunde, meine politischen Mitstreiter und Gegner gefragt: Wie sieht unsere Zukunft aus? Welchen Staat wird es hier geben? Oder wie viele Staaten? Und wie werden sie aussehen? Welche Gesetze werden sie haben? Wollen wir uns vielleicht die Zukunft gemeinsam ausmalen, jetzt? Aber nach und nach habe ich begriffen, dass wir nicht über die politische Zukunft Israels reden wollen, dass wir uns mit allgemeinen Äußerungen oder mit vagen Prognosen begnügen, gespickt mit schwarzem Humor, ja, dass sich hier in den letzten Jahren eine handfeste kollektive Verdrängung in Bezug auf die Zukunft ausgebildet hat.

Auf meiner Reise bin ich natürlich nicht in die Zukunft gesprungen. Aber überall, wo ich war, habe ich nach ihr gefragt, habe Lösungen erbeten, Ideen, habe Menschen aufgefordert, ihren Plan zu präsentieren, Grenzen zu skizzieren, sich mit den Auswirkungen ihrer Vision auseinanderzusetzen. Hatten sie keine Vision, sollten sie ein bisschen über die Angelegenheit nachdenken, wir würden uns schon bald wieder sprechen. Ich habe nach Grenzen gefragt, nach Staatsbürgerschaft und Identität, habe nach 2040 und 2060 gefragt. Ich war fest entschlossen, den Juden und Arabern, die auf der Westbank leben, die Frage zu stellen, die mich seit mehreren Jahren umtreibt, die alles entscheidende Frage, vor der wir stehen: Wie wird die Zukunft hier aussehen?

Auf die alten Debatten und Geschichtsstunden habe ich keine Zeit vergeudet. Manches Mal habe ich meine Gesprächspartner bis an die äußerste Grenze der eigenen Logik führen wollen, wollte ihre politische Vision sich an den rauhen Steinen der Realität reiben lassen. Für mich war diese Reise eine Gelegenheit, diesem gestaltlosen Dämon ins Auge zu schauen, der in der Zukunft auf uns wartet. Wenn Schriftsteller sich Geflüster, Erinnerungen, Ängste und Träume aneignen, die sich in unserem Bewusstsein vermischen und »einen Geist zu einer Geschichte« machen, dann wollte ich auf dieser politischen Reise den Dämon zu einem möglichst klaren politischen Modell werden lassen, ja im Grunde zu verschiedenen Modellen, die sich der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft stellen sollen. Denn das ist der kritische Punkt: Jedes politische Modell in Israel muss sich mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft gleichermaßen auseinandersetzen. Doch die meisten bekannten Modelle versuchen nicht, allen dreien gerecht zu werden, oder erschaffen zum Beispiel die Vergangenheit auf eine Weise neu, die die eigene Auffassung untermauert, alles habe mit der Eroberung der Westbank durch Israel im Jahre 1967 begonnen.

***

Am Ende meiner Reise bin ich gefragt worden, ob ich jetzt noch verzweifelter oder optimistischer bin. Die Wahrheit ist, ich weiß es nicht genau. Vielleicht hätte ich mich ernüchterter fühlen sollen, und in gewissem Maße empfinde ich auch so, aber nicht immer. Ich habe auf dieser Reise vieles gesehen, was zu Verzweiflung Anlass gibt, habe gelernt, wie verzweigt und komplex der Besatzungsapparat ist – eine Art Labyrinth, in dessen Gängen man unweigerlich verloren gehen muss, und das uns zu einer Gesellschaft von Gefängniswärtern gemacht hat. Aber ich habe auch Menschen getroffen, die Hoffnung bei mir geweckt haben, ja sogar Inspiration, und ich habe neue Ideen zu hören bekommen. Letztendlich glaube ich, dass der Kampf um einen politischen Raum, in dem Juden und Araber gleichberechtigt leben, noch lange nicht entschieden ist. Denn wenn sich eines aus dem 20.Jahrhundert lernen lässt, dann dies: gewaltige Veränderungen, die niemand vorausgesehen hat, ereignen sich plötzlich, mitunter in einem Wimpernschlag. Ein ehernes Gebot, welches bestimmt, dass der Krieg hier kein Ende hat, gibt es nicht. Ich glaube noch immer, dass wir bislang nicht genug getan, nicht genug politischen Mut gezeigt haben, dass neue Ideen nicht ernsthaft erwogen wurden, und sich dies ändern kann. Und im Gegensatz zu der auf meiner Reise nicht eben wenig gehörten fatalistischen Haltung muss ich einfach daran glauben, dass das Schicksal der Menschen, die hier leben, noch immer von ihnen selbst abhängt. Und dass uns noch Zeit bleibt.

Zwei gefesselte junge Palästinenser auf der Straße

Flüchtlingslager Balata, Ende 2014

Ein junger Palästinenser im Unterhemd kniet auf dem Seitenstreifen neben der Fahrbahn. Seine Augen sind mit einem Tuch verbunden, gekrümmter Rücken, Kopf gesenkt, die Hände auf dem Rücken mit Kabelbinder aneinandergefesselt. Seine Arme wirken kräftig und muskulös. Der Himmel über ihm ist strahlend blau und klar. Als Kulisse ringsum das kahle, breite Kalkplateau des Bergs Gerizim in der Nähe von Nablus und die Häuser des palästinensischen Dorfes Burin.

Weiter weg liegen grüne Hügel glänzend im Sonnenlicht. Soldaten umstehen den jungen Palästinenser mit entsicherter Waffe. Fahrzeuge passieren die Stelle. Keines hält an. In unserem Wagen sind keine Geräusche von draußen zu hören und die ganze Szenerie wirkt absonderlich: der junge Palästinenser, die Soldaten, keine Bewegung, alles scheint erstarrt. Wir steigen aus und die Soldaten brüllen uns an: »Militärisches Sperrgebiet, seht zu, dass ihr wegkommt!« Immer wieder fragen wir, warum der junge Palästinenser gefesselt ist, doch die Soldaten bleiben bei ihrer harten Linie. Der Fotograf stürmt an ihnen vorbei und fotografiert den am Boden Knienden, die Soldaten setzen ihm nach, geben dann aber auf, bitten, er solle aufhören – schnell ist aus den ruppigen Befehlen ein freundschaftliches Bitten geworden, offenbar sind ihnen ihre Anweisungen nicht wirklich klar, oder aber es gibt sie nicht.

Jetzt sehe ich hinter dem Armeejeep zusammengekauert noch einen weiteren gefesselten Halbwüchsigen, das Haar ist an den Seiten kurz rasiert – die nach der letzten Weltmeisterschaft für junge Männer auf der ganzen Welt stilbildende Frisur. Nach und nach beruhigen sich die Soldaten und werden zugänglicher. Einer von ihnen, mit Brille und schwarzem Haar, erzählt mit erregter Stimme: »Sie sind gekommen und haben irgendwas auf Arabisch gebrüllt, und dann haben sie plötzlich die Messer gezogen und sind auf mich zugerannt.« Ein anderer sagt: »Sie haben ›Allahu akbar‹ geschrien und sich auf uns gestürzt!« Wann war das? »Vor einer Viertelstunde.« Es sind junge Soldaten des Infanterieregiments Kfir. Auf der Motorhaube ihres Jeeps liegen akkurat ausgerichtet zwei geschliffene Messer, die sehr neu aussehen, Zigarettenpackungen, Ausweise, Portemonnaies und Mobiltelefone.

Dann helfen die Soldaten den beiden jungen Palästinensern auf die Beine und führen sie zu einem zweiten, am Fahrbahnrand abgestellten Jeep. »Wohin fahrt ihr?«, fragen wir. Einer der Soldaten, ein kleingewachsener Spaßvogel mit großer Kippa auf dem Kopf, antwortet: »Zur nächsten Grube, nach Babi Jar.« Doch sein Kamerad sagt sofort: »Beachte ihn gar nicht, er erzählt nur Mist.« Die jungen Männer sitzen bereits sehr aufrecht auf den kleinen Bänken im Jeep. Einer der Soldaten ordnet ihre Füße. Wir fragen sie, wo sie wohnen. Sie antworten nicht. Sakaria, ein Aktivist, der schon lange in der Gegend tätig ist und sich unter anderem für die Freilassung palästinensischer Verhaftungsopfer einsetzt, sagt uns, ein versuchter Messerangriff auf Soldaten sei ein schwerwiegender Straftatbestand, im Augenblick könne man nichts für die beiden tun. Von irgendjemandem hat er bereits gehört, sie seien aus dem Flüchtlingslager Askar, neben Ein Beit-Ilme und Balata eines der drei Flüchtlingscamps bei Nablus. Der schwarzhaarige Soldat, der uns zuvor erzählt hat, die beiden jungen Palästinenser hätten ihn als Ersten abstechen wollen, meint noch: »Sie sind mit gezückten Messern und Killerblick in den Augen auf uns losgegangen.«

Die Türen werden zugeschlagen und die Jeeps rollen davon. Wir fahren in die andere Richtung, zum Flüchtlingslager Balata. Auf der Straße sind nur wenige Fahrzeuge zu sehen. Wir passieren Berge aus alten Autoteilen und grüne, baumbestandene Hügel, um die eingeschossige Häuser verstreut liegen. Reshet Bet, der zweite Kanal des staatlichen Radiosenders, meldet: »In der Nähe des Dorfes Burin, südlich von Nablus, hat eine Armeepatrouille zwei Palästinenser festgenommen, die sich den Soldaten genähert und damit ihr Misstrauen geweckt hatten. Es wurden Messer bei ihnen gefunden.«

Wir halten vor einem Bergrücken, auf dem die Häuser der Reichen von Nablus thronen, und kommen dann auf den Ausläufern des Bergs Gerezin unterhalb des Anwesens des Geschäftsmannes Munib al-Masri vorbei, das sich auf einer Fläche von 250.000 Quadratmetern erstreckt. »Du fühlst dich dort, als wärst du zu Besuch im Palast eines italienischen Prinzen aus dem 18.Jahrhundert«, hat mir einmal ein Israeli verraten, der bereits dort war. »Du solltest dich mal um eine Einladung bemühen …«

Die Gassen des Flüchtlingslagers Balata sind eng und die Straßen voller Schlaglöcher, Müll, Schutthaufen und offen dahinströmender Abwässer. Aus den breiteren Gassen zweigen lange, gewundene und nur mannsbreite Gassen ab, und von überallher kommen Scharen von Kindern angelaufen. Jede Menge Kinder. »How are you?«, rufen sie immer wieder und lachen. Die Hauswände sind mit Graffiti übersät, das Bild eines Gewehrs mit Zielfernrohr und kaum zehn Meter davon zwei Friedenstauben, die in den Himmel aufsteigen. In der Hauptstraße, der Kasba von Balata, finden sich Bekleidungsgeschäfte und Gemüseläden, ein kleines Grillrestaurant und ein paar Lebensmittelgeschäfte. Zwei Mädchen in weißen Kleidern, eines mit einem Königinnenzepter in der Hand, winken uns zu.

Im Gebäude der Abteilung für Flüchtlingsbelange, die zuständig ist für die Leitung des Lagers, herrscht Hochbetrieb. Die Organisation »Ärzte für Menschenrechte« will heute hier für einen Tag eine Art Großpraxis einrichten – alle Bewohner des Lagers können kommen und sich behandeln lassen. Schon bald werden die Ärzte die Räume des Gebäudes in Beschlag nehmen. Eine kostenlose ärztliche Untersuchung ist sicher nicht verkehrt, aber für die meisten Bewohner des Lagers stellen die Medikamente den Hauptanreiz dar. Denn die Ärzte kommen mit einem ganzen Sortiment von Präparaten. Im Lager Balata leben mehr als 40.000 Menschen und es gibt hier nur ein von der UNRWA betriebenes medizinisches Zentrum, das an fünf Tagen der Woche bis nachmittags um drei geöffnet hat. Nach drei wird man nur andernorts ärztlich versorgt, vielleicht ja in Nablus.

Die Ärzte sprechen mit der Leitung des Lagerkomitees über ein Thema, das alle beschäftigt: die Fortbildungsprogramme im Tel Ha-Shomer Hospital, dem größten Krankenhaus in Israel. Ärzte aus Gaza waren dazu eingeladen, haben sich letztendlich aber entschieden, auf Druck der internationalen BDS‑Kampagne hin, die zu einem Boykott gegen Israel aufgerufen hatte, nicht an den Programmen teilzunehmen. Der Besuch der Fortbildung hätte eine Kollaboration mit der israelischen Besatzungsmacht bedeutet. Ein Teil der Palästinenser ist für diesen Boykott, ein anderer Teil dagegen. Eine junge Palästinenserin, die als Krankenschwester arbeitet, sagt mir: »Solche verlockenden Angebote medizinischer oder wirtschaftlicher Zusammenarbeit sind Teil der Normalisierung des Besatzungszustands. Die Israelis wissen, dass wir darauf angewiesen sind, um unser Leben zu verbessern, und es ist gut für ihr eigenes Image hierzulande und in der Welt. Das passiert überall und ständig. Wir befinden uns immerzu in einem Dilemma: kooperieren oder nicht kooperieren.«

Jetzt wird über den palästinensischen Minister Ziad Abu Ain gesprochen, der wenige Tage zuvor nach einer Konfrontation mit Soldaten gestorben ist. Bekannte erzählen, Ziad habe sie, als er noch im Nafcha- oder im Ketzi’ot-Gefängnis inhaftiert war, regelmäßig angerufen und ihnen über die Lage der Gefangenen berichtet. Ich treffe Rassan Daghlass, er ist für den Kampf gegen die Übergriffe der Siedler im nördlichen Teil der Westbank verantwortlich; und er hat mit dem ums Leben gekommenen Minister eng zusammengearbeitet. Nach eigenen Worten besucht er Tag für Tag Dörfer, die durch Siedler angegriffen wurden, vor allem in der Region um Nablus. »Es gibt zwölf Siedlungen in der Nähe von Nablus, ungefähr 2500 Menschen wohnen dort. Vor allem die Leute aus Jitzhar greifen ständig Dörfer an, prügeln, stecken in Brand, schikanieren. Wir versuchen, die Dorfbewohner zu schützen so gut wir können.«

Ich erzähle Rassan, ich hätte in letzter Zeit vermehrt Palästinenser auf der Westbank getroffen, die sich über die Ohnmacht der Autonomiebehörde angesichts der sogenannten Vergeltungsaktionen der Siedler beschwert hätten – Brandsätze gegen Moscheen, zertrümmerte Windschutzscheiben, Handgreiflichkeiten und immer wieder entwurzelte Olivenbäume. Die Menschen hätten das Gefühl, die Autonomiebehörde reagiere nicht mit der gebotenen Schärfe, wirke ein bisschen müde, ja sogar lethargisch und habe vielleicht Angst vor Konfrontationen mit der israelischen Armee, weshalb jetzt örtliche Initiativen wie die im Dorf Kussra, wo eine lokale Bürgerwehr zum Schutz gegen die Siedler errichtet wurde, Konjunktur hätten. »Was ist das für ein Gerede«, antwortet Rassan. »Vor Ort haben wir weder echte Macht noch Befugnisse. Die Armee arbeitet für die Siedler, wir dokumentieren alles und sind präsent, aber sich bei der israelischen Armee zu beschweren ist absolut nutzlos. Und wenn wir zurückschlagen, geht die Armee sofort gegen uns los, darauf warten die Siedler ja nur. Ich arbeite unter unmöglichen Bedingungen.«

Um uns hat sich inzwischen eine Gruppe etwa zwölfjähriger Jungen und Mädchen geschart, mit orangefarbenen Tüchern und grauen Westen, auf die das Logo »Yala« gestickt ist. Sie stehen schweigend und hören den Erwachsenen zu. Zusammen mit den Kindern setze ich mich wenig später vor das Gebäude. Keines von ihnen spricht Hebräisch, weshalb ihr Betreuer, ein junger Mann von Mitte zwanzig, übersetzt. Wir sind eine Jugendbewegung und gehören dem internationalen Pfadfinderverband an. Eine Jugendbewegung mit politischem Bewusstsein, sagen sie. Der Bewegung gehören im Lager ungefähr 150 Kinder an. »Wir leisten hier soziale Arbeit und gehen auch auf Demonstrationen«, berichtet Salach, einer der Jungen. »Das Hauptaugenmerk unserer Bewegung ist der Freiwilligendienst, unser Ziel ist es, den Menschen im Lager zu dienen. Es gibt hier viel Not, viel Arbeitslosigkeit, wir helfen den Armen, machen Straßen und Wege sauber, organisieren Aktivitäten und Auftritte zu den Feiertagen.« Heute sind sie hergekommen, um das Gebäude für die Ärzte vorzubereiten, wollen Medikamentenboxen ins obere Stockwerk tragen, wo die improvisierte Praxis eingerichtet wird, und den Menschen helfen, die kommen, um sich behandeln zu lassen.

Ich frage sie, woher sie stammen.

Aus Jaffa sagt einer, und dann ein zweiter. Einer nennt Kfar Saba. (Damit meint er das arabische Dorf Kafr Saba, das sich östlich der israelischen Stadt Kfar Saba befand und dessen Bewohner 1948 vertrieben wurden.) Ein anderer kommt aus Gaza. Die allermeisten nennen Städte oder Dörfer, aus denen ihre Großeltern oder Urgroßeltern vertrieben wurden. Salach erzählt uns, als die Israelis ihr Dorf, Kafr Saba, eingenommen hätten, sei die Familie erst nach Kalkilya geflohen und dann weiter in ein Dorf bei Salfit, eine palästinensische Kleinstadt in den Autonomiegebieten, ungefähr fünfundzwanzig Kilometer südwestlich von Nablus gelegen. Sie hätten geglaubt, innerhalb weniger Wochen zurückkehren zu können. Sein Großvater sei Bauer gewesen, habe Ländereien in der Gegend von Kfar Saba besessen.

Wart ihr dort schon mal?

»Nein, waren wir nicht«, sagen sie. Auch in Tel Aviv sind sie noch nie gewesen.

Und an welche politische Lösung glaubt ihr?

»Wir denken über niemanden Schlechtes, nur Gutes«, witzelt einer und alle lachen. »Für uns sind Israelis die Besatzung, jeder von uns hat Geschwister oder Onkel, die eure Armee getötet hat, oder die jetzt im Gefängnis sitzen«, sagt ein Junge mit Brille, der zwei andere im Arm hält und diese ununterbrochen piesackt. »Wir glauben an einen palästinensischen Staat und ein Leben mit den Israelis. Aber du musst verstehen: es gibt einen Unterschied zwischen Israeli und Zionist. Die jüdischen Israelis sind Menschen, die an irgendeine Religion glauben und einen Gott haben. Der Zionismus aber ist eine Terrororganisation.«

Im zweiten Stock des Gebäudes der Abteilung für Flüchtlingsbelange drängen sich Dutzende von Menschen und warten. Sie warten nicht auf einen Arzt, sondern auf ein kurzes Treffen mit dem Leiter der Abteilung für Flüchtlingsfragen, die Teil des Volkskomitees des Lagers Balata ist. Das Komitee ist dem Flüchtlingsdezernat der PLO angegliedert und 1995 entstanden, nachdem die palästinensische Autonomiebehörde in der Westbank ihre Arbeit aufgenommen hatte. Derartige Komitees hatte es in den Flüchtlingslagern in Jordanien und dem Libanon schon immer gegeben, aber bis zu den Osloer Verträgen war es verboten, solche in der Westbank zu gründen. Das Büro des Komiteevorsitzenden Ahmad Thouqan ist vollkommen verqualmt. Um den großen Tisch herum sitzen viele Leute. Sie reden über das Land, das sie in der Nähe des Lagers erworben haben und auf dem sie einen Kindergarten errichten wollen. Doch das eigentliche Thema ist Geld. Nie ist genug Geld vorhanden. Auch nicht für ein auf minimaler Fläche errichtetes Lager, von dem die Rede ist und in dem heute größte Platznot herrscht. Die Kinder können nirgendwo spielen, Familien nirgendwo spazieren gehen. Der Vorsitzende ist hauptsächlich mit der Verteilung der begrenzten Geldmittel beschäftigt, die ihm zur Verfügung stehen.

Thouqan, ein Mann von Mitte fünfzig, raucht Kette, telefoniert unablässig und gibt knappe Stakkatoantworten. Gesundheitsfragen beschäftigen ihn sehr. Das Lager sei übervölkert, es gebe nur wenig Sonne, auch die Luft sei »nicht gut«, und viele Bewohner hätten Atemwegserkrankungen, hohen Blutdruck und Diabetes. Diabetes sei ein großes Problem. Im Lager gebe es rund 1200 Zuckerkranke, darunter viele Kinder. Die Sache sei die, manchmal müssten sie mehrfach am Tag ihren Blutzuckerwert messen, die Ambulanz der UNRWA schließe jedoch schon früh, weshalb die Kinder gezwungen seien, privat einen Arzt aufzusuchen. Doch das koste Geld. Dazu noch die Medikamente aus der Apotheke. Es gebe Leute hier, die verdienten zwischen 50 und 80 Shekel am Tag (ungefähr 15 Euro), und sei der Arztbesuch in Nablus auch günstig – sagen wir 20 Shekel (etwas weniger als 5 Euro) –, hätten sie das Geld dafür nicht.

Ein weiteres Thema ist die Arbeitslosigkeit. Nach Thouqans Einschätzung liegt sie im Lager bei etwa 35%. In den letzten Jahren seien viele Leute, die während der zweiten Intifada inhaftiert wurden, freigekommen und ins Lager zurückgekehrt. Zumeist Männer, die keinen Beruf erlernt hätten und sich schwertäten, Arbeit zu finden. Viele von ihnen wollten bei den Sicherheitskräften der Autonomiebehörde arbeiten, aber die meisten von ihnen würden abgelehnt, weil sie zu alt seien, es keinen Bedarf gebe oder weil man sie nicht wolle. Sagen wir, mit fünfunddreißig kommt so ein Mensch plötzlich aus dem Gefängnis, ohne Familie, ohne Arbeit, ohne Ausbildung, und man muss ihm helfen, denn schließlich sei das Lager stolz auf seinen Beitrag zum Kampf des palästinensischen Volkes. »Statistisch gesehen«, erzählt Thouqan stolz, »haben wir hier mehr Häftlinge und Märtyrer als in Nablus.«

Ungefähr 300 Bewohner des Lagers Balata haben während der zweiten Intifada ihr Leben verloren. In letzter Zeit jedoch ist die Unruhe im Lager nicht nur auf die ständigen Konflikte mit Israel und die wiederkehrenden Razzien der israelischen Armee zurückzuführen. Eine der Frauen, die auf einen Termin beim Arzt warten, erzählt: »Es ist angespannt hier, nachts gibt es manchmal Krach, manchmal fallen Schüsse.« Bei der palästinensischen Autonomiebehörde hegt man den Verdacht, ein Teil der bewaffneten Kräfte im Lager, offiziell Fatah-Leute, seien de facto Anhänger von Muhammad Dahlan. Dahlan, einer der Spitzenfunktionäre der Fatah und einst unter Yasser Arafat Sicherheitschef der Autonomiebehörde im Gazastreifen, war, durch Abu Mazen (Mahmud Abbas) aus dem Gebiet der Autonomiebehörde verbannt, in die Vereinigten Arabischen Emirate ins Exil gegangen, nachdem der Präsident behauptet hatte, Dahlan habe an seinem Sturz gearbeitet. Aktuell sei Dahlan, so der Verdacht, im Rahmen seines Kampfes gegen den amtierenden Vorsitzenden der Fatah dabei, in der Westbank und vor allem im Gazastreifen viel Geld unter die Leute zu bringen. Im Februar 2015 wird es dann tatsächlich Berichte geben über schwere Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften der palästinensischen Autonomiebehörde und Anhängern Dahlans im Norden des Westjordanlandes und vor allem in Balata. Dem Vernehmen nach waren es die Gefolgsleute Dahlans, die das Feuer eröffneten, als Reaktion auf eine Verhaftungswelle, die die Autonomiebehörde in der Region veranlasst hatte.

Woher stammen die Mittel zur Leitung des Lagers? Doch nicht aus Steuereinnahmen …

»Wir stehen in gutem Kontakt zur Autonomiebehörde«, erwidert Thouqan, »vor allem zum Ministerpräsidenten und zu Abu Mazen, die uns helfen. Außerdem bekommen wir Spendengelder in nicht unerheblicher Höhe, und natürlich gibt es noch die UNRWA und die PLO. Aber ich gebe Ihnen ein Beispiel zu einem Thema, das mich in den letzten Tagen sehr beschäftigt hat und zuweilen beinahe resignieren lässt. Wir haben hier mehr als fünfhundert Studenten an Universitäten wie der an-Nagah in Nablus und der Bir-Zait. Die Studiengebühren liegen bei etwa 2500 Shekel (knapp 600 Euro) im Monat. Familien mit zwei Kindern an der Universität müssen für jedes Kind im Jahr ungefähr 10.000 Shekel (etwa 2400 Euro) Ausbildungskosten aufbringen. Wie sollen sie das bewerkstelligen? Also, der einzige Weg für die Menschen hier, aus der Situation herauszukommen, in der sie sich befinden, ist eine Ausbildung. Denn wir reden hier von Menschen, die weder Land noch Eigentum besitzen und so etwas wie Handel gibt es hier ohnehin nicht. Die Logik ist folgendermaßen: Du studierst und arbeitest dann in Ramallah oder Saudi-Arabien oder Dubai. Du arbeitest dort und finanzierst die Familie im Lager, bis deine jüngeren Geschwister groß sind, selber studieren und die Familie ernähren. Dann bist du frei, deine eigene Familie zu gründen.«

Er zeigt mir ein Schriftstück. Die Zahl 28.000 ist zu erkennen und daneben Rubriken. Sie hätten Familien helfen wollen, ihre Kinder zur Universität zu schicken, und um Hilfe gebeten. Von der PLO seien 28.000 Shekel (etwas weniger als 7000 Euro) gekommen. Das würde ausreichen, um fünfzehn jungen Leuten zu helfen. Sie hätten aber ungefähr 200 Anträge. Und nun schlage er sich schon seit einigen Tagen mit der Entscheidung herum, wie das Geld zu verteilen ist. Er wisse, ein Studium bedeute für mehrere Jahre ein Auskommen für eine ganze Familie. Am Ende habe er beschlossen, das Geld nur unter den Kandidaten zu verteilen, die mehr als drei Geschwister haben, von denen noch keines studiert. Den meisten jungen Menschen könne er damit noch immer nicht helfen, da Familien hier im Durchschnitt sechs Kinder und mehr hätten.

Neben den Alltagsnöten ist das politische Bewusstsein im Lager durch das Flüchtlingstrauma bestimmt. Überall sieht man alte Landkarten Palästinas von vor1948, Ölbilder oder Bleistiftzeichnungen, Fotos von Häusern und Ländereien, die Welt vor der Vertreibung. Wenn man die Menschen fragt, woher sie stammen, wird oft der Wohnort der Familie vor 1948 genannt. Die Geschichte des Vorsitzenden ist ein gutes Beispiel.

Er erzählt, sie hätten in Jaffa gewohnt und betont, er meine damit nicht die Stadt, sondern den Distrikt Jaffa, in dem vor ’48 etwa 120.000 Menschen lebten und der ein pulsierendes Zentrum der Araber in Palästina war. Ihr Dorf hieß as-Sawalima. Die Familie besaß Land, etwa 50 Dunam, und ein modernes, geräumiges Haus, das sie Anfang der vierziger Jahre errichtet hatte. Auf ihrem Land bauten sie Orangen, Wassermelonen und anderes Obst an. Auch hätten sie moderne Gerätschaften gehabt wie zum Beispiel eine Motorpumpe zur Bewässerung. Im Krieg dann seien sie vertrieben worden. Sie hätten an allen möglichen Orten gelebt, bis die Familie Anfang der fünfziger Jahre schließlich im Flüchtlingslager Balata gelandet sei. Sein Vater habe sich sehr schwergetan, habe ständig zwischen seinem früheren Leben und dem im Lager verglichen. Einst hatte er Ländereien, Geld und eine angesehene gesellschaftliche Stellung, sein Name war in ganz Jaffa bekannt gewesen, und jetzt plötzlich konkurrierte er, für einen Hungerlohn, um dieselbe Arbeit mit einem Fellachen, den er seinerzeit aus Ägypten geholt hatte, damit er bei ihm auf den Feldern arbeitete. »Es war eine Mischung aus Demütigung, Zorn und auch Scham«, sagt Thouqan, »weil er sein Land nicht hatte verteidigen können.«

Eines Tages habe jemand eine Arbeit als Wächter für ihn gefunden. Früh am Morgen fuhr man ihn zu seinem neuen Arbeitsplatz. Und mit einem Mal habe sein Vater gesehen, dass sie auf seinem eigenen Land standen. Alles sah anders aus, aber die Motorpumpe war noch da. Er sagte ihnen, »das ist mein Land«, zeigte ihnen die Pumpe und die Bäume, die er gepflanzt hatte. Sein Vater sei so außer sich gewesen, dass sie entschieden hätten, ihn in ein Krankenhaus zu bringen. Von jenem Tag an habe er den Ort bis zu seinem Tod 1990 nie wieder sehen wollen. Seine Mutter sei in einem Dorf namens Djius bei Kalkilya aufgewachsen, ehe sie mit seinem Vater zusammenkam. Nach 1967 hätten die Ländereien des Dorfes als Teil der Westbank gegolten und seine Mutter habe sieben Dunam von ihrem Vater erhalten. Alle ihre Hoffnungen für die Zukunft hätten auf diesen sieben Dunam gelegen. Und dann wurde der Trennzaun errichtet. Das Dorf Djius sei dadurch besonders schwer betroffen gewesen. 60% seiner landwirtschaftlichen Anbauflächen wurden als Teil des Sperrgebiets um den Zaun ausgewiesen, was nichts anderes bedeutete, als dass Israel von nun an den Zugang zu diesem Land durch ein Regime von Genehmigungen kontrollierte, bestimmte, wer sein Land bestellen durfte und zu welchen Zeiten. Und manchmal musste ein Bauer eben feststellen, dass er keine Erlaubnis hatte, sein Land zu beackern. Seit der Errichtung des Trennzauns sei der landwirtschaftliche Ertrag des Dorfes auf 4000 Tonnen im Jahr zurückgegangen, etwa die Hälfte von dem, was die Dorfbewohner vor dem Bau der Sperranlage erwirtschaftet hatten. Der Vorsitzende sagt, ihre sieben Dunam seien heute schon nicht mehr viel wert.

Ich frage ihn nach der Zwei-Staaten-Vision seiner Organisation, der Fatah, und nach den von Abu Mazen mit Israel geführten Verhandlungen. Von einem Rückkehrrecht für die Flüchtlinge ist dabei im Grunde genommen nicht die Rede.

»Es gibt doch Palästinenser, die innerhalb der Grünen Linie wohnen, nicht wahr?«, fragt er zurück. »Warum sollen dann die Palästinenser, die früher dort gewohnt haben und vertrieben wurden, nicht in ihre Häuser zurückkehren können? Ich bin absolut bereit, in einem israelischen Staat zu leben.«

Also wird es in Ihren Augen keine Regelung ohne ein Rückkehrrecht für die Flüchtlinge geben? Ihnen ist schon klar, dass Sie damit den Staat Israel grundlegend verändern würden?

»Unser Land, unser Haus – das ist etwas, auf das ich nicht verzichten kann. Ich hätte nicht einmal das Recht dazu. Mein Zuhause, das ist as-Sawalima; hier, das ist nicht mein Zuhause.«

Aber Sie wohnen schon Ihr ganzes Leben hier.

»Richtig, aber das ist weder mein Zuhause noch das von irgendjemandem hier. Es leben hier sehr viele Menschen, die aus ihren Häusern und von ihrem Land oder dem ihrer Großeltern und Eltern vertrieben wurden und die niemals etwas zurückbekommen haben, niemals entschädigt worden sind oder Anerkennung für das ihnen zugefügte Unglück erfahren haben. Niemand hat das Recht, auf das Land zu verzichten, die Nakba ist die Geschichte der Palästinenser überall auf der Welt.«

In Chile, wo eine der größten palästinensischen Exilgemeinden auf der Welt lebt, habe ich erst neulich ganz Ähnliches gehört. Nach einem Treffen mit der palästinensischstämmigen chilenischen Autorin Diamela Eltit kam eine junge Frau zu mir, deren Eltern in Balata gewohnt haben, die aber selbst in Chile zur Welt gekommen ist. Sie sagte: »Ihr müsst eins verstehen: Ihr habt über Zeit geredet, ’67 oder ’48, nicht aber über den Raum. Unsere jeweilige Auffassung vom Raum aber ist grundverschieden: In den Augen der Israelis sind die Palästinenser Gaza oder die Westbank, aber unsere Wahrnehmung umfasst auch die Flüchtlingslager in Jordanien und im Libanon, ebenso wie die großen palästinensischen Exilgemeinden auf der Welt – das ist kein zusammenhängender, eigenständiger Raum, aber eben der palästinensische Bewusstseinsraum nach ’48.«

Sagen Sie, frage ich, bevor wir uns verabschieden, wir reden ja über ’48. Ich möchte Sie etwas fragen: Vor kurzem erst habe ich Die Bedeutung der Nakba gelesen, den epochalen Aufsatz des arabischen Intellektuellen Constantin Sariq aus dem Jahre1948, verfasst also unmittelbar nach der Nakba. Sariq schreibt: »Meiner Ansicht nach ist es unser Recht und unsere Pflicht, die gewaltige Macht des Feindes anzuerkennen, und uns von daher nicht mehr Schuld als nötig aufzuerlegen. Gleichzeitig jedoch ist es unser Recht und unsere Pflicht, unsere eigenen Irrtümer und die Ursachen unserer Schwäche zu erkennen … Schlimmer als alles wäre, entzögen wir uns dieser Verantwortung, verschlössen die Augen vor unseren eigenen Unzulänglichkeiten und wälzten alle Schuld auf äußere Umstände ab, ohne unsere eigenen Schwächen und Fehler zu sehen, unsere Korruption und Verderbtheit.« Sind Sie der Meinung, diese selbstkritische Bestandsaufnahme ist erfolgt? »Ich bin nicht ganz sicher«, antwortet sie mit entwaffnender Ehrlichkeit. »Es hat eine Selbstkritik in Bezug auf die Nakba und unser eigenes Versagen, die Ängste und unsere fehlende Organisiertheit stattgefunden, aber mitunter frage ich mich, ob wir die nach der Nakba erforderlichen Veränderungen tatsächlich vollzogen haben. Oder ob wir nicht doch zu fixiert gewesen sind, ob wir heute nicht sehr viel stärker sein könnten, hätten wir nur gewagt, mit bloßen Händen in die Wunden zu fassen.«

Es ist Mittag und die Kasba von Balata bereits gut besucht. Vor mir bummelt gemächlich eine kleine Familie – junge, gutaussehende Eltern und zwei ganz in Weiß gekleidete Kinder – um sie herum kleine, offene Kloakerinnen. Ich sitze mit Doktor Fathi Darwish zusammen. Ein schmächtiger, älterer Herr, der auf eine interessante Karriere in der PLO zurückblicken kann. Er fragt, ob ich Arabisch spreche. Ich druckse, ich hätte zwei Kurse besucht, versuche ein paar Sätze auf Arabisch und gestehe dann nach kurzem Schweigen, es sei in der Tat traurig, dass ich kein Arabisch könne, vor allem eingedenk der Tatsache, dass drei meiner vier Großeltern fließend Arabisch gesprochen hätten. Er lacht. Gut möglich, dass er Hebräisch spricht, aber wie die meisten anderen redet er Englisch mit mir. In den siebziger Jahren war er viel in Flüchtlingslagern im Libanon, in Syrien und Jordanien unterwegs und mit der Frage der Gesundheitspolitik dort befasst. Danach, in den achtziger Jahren, ging er nach Tunis und arbeitete in Arafats Stab.1994, nach dreißig Jahren im Exil, kehrte er zusammen mit Arafat nach Palästina zurück. Er erinnert sich, wie die Palästinenser tagelang im Freien auf die Ankunft ihres Führers gewartet hätten. »Wir waren damals voller Optimismus, für uns war es das Ende des Exils. Es herrschte die Hoffnung, unsere Kinder würden eine bessere Zukunft haben. Uns allen war klar, das Ende der Besatzung steht unmittelbar bevor.«

Geboren ist er 1944 im Viertel Wadi Nisnas in Haifa. Die Familie wohnte im Königsweg (heute: Weg der Unabhängigkeit) im ersten Stock eines Hauses, in dessen Keller sich eine Bäckerei befand. Während des Kriegs von 1948 hätte es eines Tages nicht mehr nach frischem Brot, sondern verbrannt gerochen, erinnert er sich. Die Bäckerei habe in Flammen gestanden und sein Vater habe ihn und seine Schwester auf den Arm genommen und aus dem Haus getragen. Draußen hätten sie die ausgebrannte Bäckerei gesehen. Sie seien zunächst ins Dorf Ja’abed in der Nähe von Jenin gekommen und danach an andere Orte weitergezogen. Insgesamt seien sie elf Geschwister. Vier noch in Haifa geboren, die anderen auf der Westbank und in Kuwait. »Wir sind ein klassisches Beispiel für den Zerfall der palästinensischen Familie nach ’48, wie eine explodierende Granate, deren Splitter in alle Richtungen fliegen, haben sich meine Geschwister über die ganze Welt verteilt. Ich habe Brüder und Schwestern in Kuwait, in Saudi-Arabien, Serbien, Amerika, Jordanien. Einige von ihnen habe ich schon seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr gesehen.«

Darwish ist ein alter PLO‑Mann. Spricht man über die Zukunft mit ihm, klingt er wie ein Vertreter der palästinensischen Autonomiebehörde. »Ich glaube daran, dass die israelische Regierung verpflichtet ist, die Abkommen mit den Palästinensern umzusetzen und auf die Vision einer Zwei-Staaten-Lösung hinzuarbeiten. Das heißt, ein palästinensischer Staat in den Grenzen von ’67 mit Jerusalem als Hauptstadt. Und dazu vielleicht kleinere Gebietstausche. Im Augenblick jedoch drohen die Siedlungen alles zunichtezumachen.«

Sind Sie ein Mann der Zwei-Staaten-Lösung?

»Ob es nun zwei Staaten geben wird oder nur einen, interessiert mich nicht, wichtig für die Palästinenser ist, dass die Besatzung beendet wird und sie dieselben Rechte erhalten wie die Juden.«

Man kann sagen, dass Abu Mazen bei den Verhandlungen faktisch auf das Rückkehrrecht verzichtet hat. Akzeptieren Sie das?

»Wie kann ich Flüchtlingen in Syrien und im Libanon erklären, dass jeder Jude auf der Welt nach Israel kommen darf, weil er vor 2000 Jahren hier Wurzeln hatte, sie selbst aber nicht zurück in ihre Häuser können? Die meisten Palästinenser, die hier geboren und vertrieben wurden, besaßen Land, ein Haus, Grundstücke – haben sie kein Recht zurückzukehren?«

Darwishs Antworten beleuchten einen interessanten Punkt: Unter Israelis, Palästinensern und der internationalen Gemeinschaft zeichnen sich zwei, in ihrer Wahrnehmung der Vergangenheit divergierende Gruppen ab, die entsprechend zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen hinsichtlich der Zukunft kommen. Mögen diese Gruppen auch kein gemeinsames Ziel teilen, so ist ihr geschichtlicher Blick dennoch ähnlich. Die eine lässt sich als Gruppe 67 definieren und umfasst das Mittelinkslager in Israel und einen Teil der israelischen Rechten, die internationale Gemeinschaft und einen Teil der Fatah-Bewegung. Sie alle glauben, das alles entscheidende politische Ereignis sei der Sechs-Tage-Krieg von 1967 gewesen, und setzen sich demnach für eine Zwei-Staaten-Lösung ein. Natürlich gibt es innerhalb dieser Gruppierung auch Palästinenser, die zwar nicht glauben, ’67 sei das entscheidende Moment gewesen, jedoch die Tatsache anerkennen, dass dies der internationale Parameter für eine Lösung des Konfliktes ist.

In der zweiten, komplexeren Gruppe finden sich die israelische Rechte, vor allem die Siedler, die radikale Linke und ein großer Teil der palästinensischen Gesellschaft. Sie alle glauben, das entscheidende Moment habe 1948 stattgefunden, die Vertreibung der Palästinenser von ihrem Land. Daraus resultiert unter anderem die Argumentation der Siedler, für Ramat Aviv (erbaut auf den Ruinen des arabischen Dorfes Scheich Muwannis) müsse dasselbe gelten wie für die Siedlung Ofra. In dieser Gruppe glaubt ein Teil nicht daran, dass der Konflikt überhaupt lösbar sei, während andere auf Ideen wie einer Annektierung von Teilen des Westjordanlandes, einen einzigen, gemeinsamen Staat oder die Rückführung der Flüchtlinge im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung ganz anderen Zuschnitts vertrauen. Auch die von vielen Palästinensern, mit denen ich gesprochen habe, gewählte Formel fällt in diese Kategorie: »Frieden, Bewegungsfreiheit und rechtliche Gleichstellung, egal in welchem Rahmen.« Doch in ihrer aller Augen liegt der Schlüssel für eine Lösung in der Auseinandersetzung mit ’48. Und noch etwas muss gesagt sein. Die meisten Vertreter der palästinensischen Autonomiebehörde, die über 1967 und die internationalen Parameter reden, werden auf die Frage nach einer Rückführung der Flüchtlinge antworten wie Darwish: »Es ist ihr Recht zurückzukehren.« Zuweilen geht diese Aussage mit dieser oder jener Einschränkung einher, darunter auch höchst bedeutsame wie »wir werden den Charakter Israels nicht verändern«. In ihrer Argumentation jedoch rücken sie nicht von dem Prinzip einer Rückführung der Flüchtlinge ab, weshalb sich die Diskussion immer zwischen ’67 und ’48 bewegt. Eines aber ist klar, die Mehrheit der israelischen Gesellschaft, einschließlich der »Friedensbewegten« in ihr, ist nicht bereit, sich mit dem palästinensischen Blick auf 1948 auseinanderzusetzen.