Wendemanöver - Eva Lütkemeyer - E-Book

Wendemanöver E-Book

Eva Lütkemeyer

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Beschreibung

Mit Volldampf in die Marktwirtschaft?

Positive Prognosen für den Schiffbau in Mecklenburg-Vorpommern gab es nach 1989 zunächst viele. Mit vollen Auftragsbüchern wollten die Werftbeschäftigten »mit Volldampf in die Marktwirtschaft« starten. Auch im politischen Diskurs dominierte die Meinung, die maritime Branche habe gute Überlebenschancen. Dennoch entwickelte sich die Privatisierung der ostdeutschen Werften zu einer der »schwierigsten Aufgaben der Treuhandanstalt«. Eva Lütkemeyer untersucht Kontroversen der Transformation, analysiert Zusammenhänge zwischen ökonomischen Zwängen und Hoffnungen der Betroffenen und zeigt die Handlungsspielräume von Bundesregierung, Landesregierung und Treuhandanstalt auf. Auf der Basis bislang unveröffentlichter Quellen zeichnet sie erstmals ein konzises, empirisch fundiertes Bild eines komplexen, konfliktbehafteten Prozesses, der bis heute nachwirkt. 

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Über das Buch

Mit Volldampf in die Marktwirtschaft?

Positive Prognosen für den Schiffbau in Mecklenburg-Vorpommern gab es nach 1989 zunächst viele. Mit vollen Auftragsbüchern wollten die Werftbeschäftigten »mit Volldampf in die Marktwirtschaft« starten. Auch im politischen Diskurs dominierte die Meinung, die maritime Branche habe gute Überlebenschancen. Dennoch entwickelte sich die Privatisierung der ostdeutschen Werften zu einer der »schwierigsten Aufgaben der Treuhandanstalt«. Eva Lütkemeyer untersucht Kontroversen der Transformation, analysiert Zusammenhänge zwischen ökonomischen Zwängen und Hoffnungen der Betroffenen und zeigt die Handlungsspielräume von Bundesregierung, Landesregierung und Treuhandanstalt auf. Auf der Basis bislang unveröffentlichter Quellen zeichnet sie erstmals ein konzises, empirisch fundiertes Bild eines komplexen, konfliktbehafteten Prozesses, der bis heute nachwirkt. 

Über Eva Lütkemeyer

Eva Lütkemeyer, 1990 in Berlin geboren, studierte Geschichte, Französisch und Sprache-Literatur-Kultur mit dem Schwerpunkt Russisch in Oldenburg, Bremen und München. Von 2014 bis 2021 war sie am Institut für Zeitgeschichte München–Berlin beschäftigt, zuletzt als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt zur Erforschung der Geschichte der Treuhandanstalt.

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Eva Lütkemeyer

Wendemanöver

Die Transformation der ostdeutschen Werftindustrie 1989/90–1994

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Vorwort der Herausgeber

Einleitung

Die Werftenprivatisierung – Eine der »schwierigsten Aufgaben« der Treuhandanstalt

Methodischer Ansatz – Analyseebenen

Forschungsstand

Quellenbasis

Aufbau der Arbeit

I. Erwartung(en)

1. »Zum Glück bauen wir keinen Trabant« – Volle Auftragsbücher im DDR-Schiffbau

Das Prinzip Hoffnung

Wissensasymmetrien

Wissenstransfer

2. »Gestärkter gesamtdeutscher Schiffbau«? Die Werftindustrie zwischen Kooperation und Konkurrenz

Kooperationsbestrebungen

»Machtwirtschaft statt Marktwirtschaft«

Erwartungsmoment Subventionspolitik

3. Die Deutsche Maschinen- und Schiffbau AG: Neuer Name, alte Struktur?

»Mit Volldampf in die Marktwirtschaft«?

Erwartungsmoment Altlasten

Sanierungspläne

II. Erwartungstransformation(en) und Krisenmanagement

1. Entsicherung: Auswirkungen der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion auf die Werftindustrie

Krisenmoment – Erfahrungsräume und Krisenwahrnehmung

Erwartungstransformation – DMS-Auftragsbestand

»Grand Old Man der Sanierung«

Krisenmanagement – 6 Milliarden DM Altlasten

2. Tauziehen um Transformationsvorstellungen

Unternehmenskonzepte

Standortsicherung als politisches Versprechen

»Großsanierungen am Markt vorbei«

Sanieren versus Privatisieren

Kompentenzkonflikt(e)

3. Hoffnungsträger Bremer Vulkan? Privatisierungverhandlungen über die sogenannten DMS-Kernbetriebe

Gegenwind

Privatisierungsbestrebungen

»Verwirrung auf hohem Niveau«

»Riesiger politischer Wirbel«

Privatisierungsentscheidung von März 1992

EG – Das Zünglein an der Waage

III. Ent-Täuschung(en) und Neuverhandlung

1. Neuverhandlung – Folgen des Krisenmanagements

Folgen DMS- und Treuhand-intern: »Scherbenhaufen«?

Neptun

2. Desillusionierung und Deindustrialisierung

Erfahrung der Arbeitslosigkeit

Beschäftigungsproblematik

Deindustrialisierung oder Neuanfang?

3. Illusion einer abgeschlossenen Transformation – Kontinuität von Neuanfängen

Abgeschlossene Privatisierungen?

Sorgenkind Bremer Vulkan

Die unendliche Geschichte

Schlussbetrachtung: Wendemanöver – Brüche, Umbrüche, Aufbrüche

Anhang

Chronik. Die Transformation der ostdeutschen Werftindustrie im Kontext der deutschen Vereinigung im Zeitraum 1989–1994

Abkürzungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Archivalien

Zeitungen und Zeitschriften

Gedruckte, digitale Quellen und Erinnerungsliteratur

Video- und Audioquellen

Forschungsliteratur

Personenregister

Dank

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Vorwort der Herausgeber

Noch in der Spätphase der DDR gegründet, entwickelte sich die Treuhandanstalt zur zentralen Behörde der ökonomischen Transformation in Ostdeutschland. Ihre ursprüngliche Aufgabe war die rasche Privatisierung der ostdeutschen volkseigenen Betriebe (VEB). Sehr bald aber wies ihr die Politik zahlreiche weitere Aufgaben zu. Sukzessive sah sich die Treuhandanstalt mit der Lösung der Altschuldenproblematik, der Sanierung der ökologischen Altlasten, der Mitwirkung an der Arbeitsmarktpolitik und schließlich ganz allgemein mit der Durchführung eines Strukturwandels konfrontiert. In ihrer Tätigkeit allein ein behördliches Versagen zu erkennen wäre daher ahistorisch und einseitig, auch wenn die Bilanz der Treuhandanstalt niederschmetternd zu sein scheint. Denn von den etwa vier Millionen Industriearbeitsplätzen blieb nur ein Drittel übrig. Das öffentliche Urteil ist daher ganz überwiegend negativ. Die Kritik setzte schon ein, als die Behörde mit der Privatisierung der ersten VEBs der DDR begann. Bis heute verbinden sich mit der Treuhandanstalt enttäuschte Hoffnungen, überzogene Erwartungen, aber auch Selbsttäuschungen und Mythen. Außerdem ist sie eine Projektionsfläche für politische Interessen und Konflikte, wie die Landtagswahlkämpfe 2019 in Ostdeutschland deutlich gemacht haben. Umso dringender ist es erforderlich, die Tätigkeit der Treuhandanstalt und mit ihr die gesamte (ost-)deutsche Transformationsgeschichte der frühen 1990er-Jahre wissenschaftlich zu betrachten. Dies ist das Ziel der Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt, deren Bände die Umbrüche der 1990er-Jahre erstmals auf breiter archivalischer Quellengrundlage beleuchten und analysieren.

Die Privatisierung der ostdeutschen Betriebe brachte für viele Menschen nicht nur Erwerbslosigkeit, sondern auch den Verlust einer sicher geglaubten, betriebszentrierten Arbeits- und Lebenswelt. Insofern ist die Erfahrungsperspektive der Betroffenen weiterhin ernst zu nehmen und in die wissenschaftliche Untersuchung ebenso zu integrieren wie in die gesellschaftspolitischen Konzepte. Der mit der Transformation einhergehende Strukturwandel hatte Folgen für Mentalitäten und politische Einstellungen, die bis in die Gegenwart hineinreichen. Dabei wurden die individuellen und gemeinschaftlichen Erfahrungen und Erinnerungen stets von medial geführten Debatten über die Transformationszeit sowie von politischen Interpretationsversuchen geprägt und überlagert. Diese teilweise miteinander verwobenen Ebenen gilt es bei der wissenschaftlichen Analyse zu berücksichtigen und analytisch zu trennen. Der erfahrungsgeschichtliche Zugang allein kann die Entstehung und Arbeitsweise der Treuhandanstalt sowie die Privatisierung der ostdeutschen Wirtschaft nicht hinreichend erklären. Vielmehr kommt es darauf an, die unterschiedlichen Perspektiven miteinander in Relation zu setzen und analytisch zu verknüpfen, um so ein differenziertes und vielschichtiges Bild der Umbrüche der 1990er-Jahre zu erhalten.

Diese große Aufgabe stellt sich der Zeitgeschichte erst seit Kurzem, denn mit dem Ablauf der 30-Jahre-Sperrfrist, die für staatliches Archivgut in Deutschland grundsätzlich gilt, ergibt sich für die Forschung eine ganz neue Arbeitsgrundlage. Das öffentliche Interesse konzentriert sich auf die sogenannten Treuhandakten, die im Bundesarchiv Berlin allgemein zugänglich sind (Bestand B 412). Sie werden mittlerweile auch von Publizistinnen und Publizisten sowie Journalistinnen und Journalisten intensiv genutzt. An dieser Stelle sei aber daran erinnert, dass schon sehr viel früher Akten anderer Provenienz allgemein und öffentlich zugänglich waren – die schriftliche Überlieferung der ostdeutschen Landesregierungen oder der Gewerkschaften, um nur einige Akteure zu nennen. Darüber hinaus können seit einiger Zeit auch die Akten der Bundesregierung und der westdeutschen Landesverwaltungen eingesehen werden. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Bei aller Euphorie über die quantitativ wie qualitativ immer breiter werdende Quellengrundlage (allein zwölf laufende Aktenkilometer Treuhandüberlieferung im Bundesarchiv Berlin) sollte allerdings nicht aus dem Blick geraten, dass Historikerinnen und Historiker die Archivalien einer Quellenkritik unterziehen müssen. Dies gehört grundsätzlich zu ihrem Arbeitsauftrag. Da die Erwartungen der Öffentlichkeit an die Aussagekraft vor allem der Treuhandakten hoch sind, sei dieser Einwand an dieser Stelle ausdrücklich gemacht. So gilt es, einzelne Privatisierungsentscheidungen der Treuhandspitze zu kontextualisieren und mit anderen Überlieferungen abzugleichen. Zur Illustration der Problematik mag ein Beispiel dienen: Treuhandakten der sogenannten Vertrauensbevollmächtigten und der Stabsstelle Recht enthalten Vorwürfe über »SED-Seilschaften« und »Korruption«, die sich auch in der Retrospektive nicht mehr vollständig klären lassen. Die in Teilen der Öffentlichkeit verbreitete Annahme, die Wahrheit komme nun endlich ans Licht, führt daher in die Irre und würde ansonsten nur weitere Enttäuschungen produzieren. Es gibt eben nicht die historische Wahrheit. Stattdessen ist es notwendig, Strukturzusammenhänge zu analysieren, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen, Widersprüche zu benennen und auch auszuhalten. Dazu kann die Zeitgeschichtsforschung einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie mit quellengesättigten und methodisch innovativen Studien den historischen Ort der Treuhandanstalt in der Geschichte des vereinigten Deutschlands bestimmt, gängige Geschichtsbilder hinterfragt und Legenden dekonstruiert.

Im Rahmen seines Forschungsschwerpunktes »Transformationen in der neuesten Zeitgeschichte« zu den rasanten Wandlungsprozessen und soziokulturellen Brüchen der Industriegesellschaften seit den 1970er-Jahren hat das Institut für Zeitgeschichte München–Berlin (IfZ) im Frühjahr 2013 damit begonnen, ein großes, mehrteiliges Projekt zur Geschichte der Treuhandanstalt inhaltlich zu konzipieren und vorzubereiten. Auf der Grundlage der neu zugänglichen Quellen, die erstmals systematisch ausgewertet werden konnten, ging das Projektteam insbesondere folgenden Leitfragen nach: Welche politischen Ziele sollten mit der Treuhandanstalt erreicht werden? Welche Konzepte wurden in einzelnen Branchen und Regionen verfolgt, und was waren die Ergebnisse? Welche gesellschaftlichen Auswirkungen haben sich ergeben? Wie ist die Treuhandanstalt in internationaler Hinsicht zu sehen?

Bei der Projektvorbereitung und -durchführung waren Prof. Dr. Richard Schröder und Prof. Dr. Karl-Heinz Paqué unterstützend tätig, denen unser ausdrücklicher Dank gilt. Über Eigenmittel hinaus ist das IfZ-Projekt, das ein international besetzter wissenschaftlicher Beirat kritisch begleitet hat, vom Bundesministerium der Finanzen von 2017 bis 2021 großzügig gefördert worden. Auch dafür möchten wir unseren Dank aussprechen. In enger Verbindung hierzu standen zwei von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Einzelprojekte von Andreas Malycha und Florian Peters.

Dierk Hoffmann, Hermann Wentker, Andreas Wirsching

Einleitung

Die Werftenprivatisierung – Eine der »schwierigsten Aufgaben« der Treuhandanstalt

20.15 Uhr, Eröffnungsszene eines Spielfilms. Das Bild eines tristen, in die Jahre gekommenen Werftgeländes, bewölkter Himmel, Möwengeschrei. Aus dem Off ertönt eine Stimme mit der Tonalität eines Nachrichtensprechers: »Heute morgen gab der Panosc-Konzern bekannt, dass die Arunia-Werft geschlossen werden soll. Dabei hatte sich die Panosc erst vor Kurzem verpflichtet, genau das nicht zu tun, trotz der krisenbedingt schwierigen Wirtschaftslage. Im Gegenzug hatten die 800 Angestellten Gehaltskürzungen und höhere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich in Kauf genommen.«

Die beschriebene Szene gibt den Anfang des 2021 gezeigten ARD-Films Polizeiruf 110: Sabine[1]  wieder, der die Folgen und Spätfolgen der Privatisierung der ostdeutschen Werften nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in der DDR zum Thema hat. Die dargestellte Werft ist fiktiv, wie auch der Eignerkonzern und die Erzählung im Detail. Dennoch lässt sich die traditionsreiche Neptunwerft in Rostock in der »Arunia-Werft« erkennen – darauf verweist auch das fiktive Firmenzeichen der Werft: ein Dreizack wie jener von Neptun, dem römischen Gott des Meeres. Jenseits der Fiktion verdeutlicht der Film mit den Mitteln künstlerischer Freiheit doch die Ambivalenzen, welche die Transformationsgeschichte der ostdeutschen Werften in der Realität hervorgebracht hat. Eine Transformationsgeschichte, die bis heute nicht an Aktualität eingebüßt hat, und die nach Meinung der Filmemacher ausreichend Stoff für einen Krimi bietet. Denn zur Realität gehören diese im Film aufgezeigten Widersprüchlichkeiten; auf der einen Seite die individuelle Wahrnehmung einer ehemaligen Werftbeschäftigten, die als »Wendeverliererin« bezeichnet werden kann, und auf der anderen Seite makroökonomische Faktoren, deren Einordnung in Kategorien wie »Erfolg« oder »Misserfolg« nicht ohne Weiteres möglich ist.

Abbildung 1: Standorte der ostdeutschen Werftindustrie. Eigene Darstellung

Zu dieser Realität gehört auch, dass der Schiffbau in Mecklenburg-Vorpommern trotz der massenhaften Entlassungen in den 1990er-Jahren auch 30 Jahre nach der »Wende« noch immer existiert und schwimmende Giganten produziert, es aber dennoch nicht aus der Dauerkrise herausschafft. Nachdem der chinesisch-malaysische Konzern Genting im Jahr 2016 die Werften in Rostock-Warnemünde, Stralsund und Wismar für 240 Millionen Euro übernommen und zu den MV Werften zusammengefasst hatte, überschlugen sich die Erfolgsmeldungen. Die Frankfurter Rundschau berichtete 2019 über das »Wunder der drei Werften«:

»Es ist schon eine sehr erstaunliche Geschichte, die sich da gerade, im Rest der Republik bislang kaum bemerkt, im Nordosten des Landes vollzieht. Jahrelang standen die Werften in Mecklenburg-Vorpommern für Tristesse und wirtschaftliche Dauerkrise. Kurze Momente der Hoffnung wechselten mit langen Phasen fortschreitender Depression. Auch in Westdeutschland hatten die Werften Probleme. Aber die Schiffbauhallen in Wismar, Rostock und Stralsund schienen wie übergroße Symbole der ökonomischen Schwierigkeiten im Osten.«[2] 

Zum dreijährigen Jubiläum der MV Werften bezeichneten die führenden Politiker der Region die neueste Entwicklung als »Glücksfall«, als »Erfolgsstory«, gar als »Gottesgeschenk«.[3]  Diesmal sollte, wenn es nach den Politikern ginge, alles anders sein. Schließlich seien alle »hier gebrannte Kinder, was Menschen und Konzerne mit dickem Geld angeht«, so die Frankfurter Rundschau weiter.[4]  Doch mit den neuen Schiffbauprojekten von Genting schien es tatsächlich endgültig bergauf zu gehen. 2021 sollte das 342 Meter lange Luxus-Kreuzfahrtschiff »Global Dream« vom Stapel laufen, das größte der Welt, bemessen nach der Passagieranzahl.[5]  Doch seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie, dem damit verbundenen Einbruch des Marktes für Kreuzfahrten und der Insolvenz der MV Werften zu Beginn des Jahres 2022 stand auch die sichergeglaubte Zukunft der Werften in Mecklenburg-Vorpommern zum wiederholten Mal auf Messers Schneide.[6] 

Seit der Entstehung der ostdeutschen Schiffbauindustrie nach 1945, die maßgeblich durch Reparationsansprüche der UdSSR geprägt war, haben die Werften im heutigen Mecklenburg-Vorpommern eine mehr als wechselhafte Geschichte mit zahlreichen Krisen durchlebt. Eine der elementarsten Krisen hatte die Branche infolge des Systemumbruchs 1989/90 zu bewältigen. Die Werftindustrie, die das ehemalige Kombinat Schiffbau und eine Vielzahl zugehöriger Betriebe (ab dem 1. Juli 1990: Deutsche Maschinen- und Schiffbau AG Rostock, DMS AG) umfasste, war die strukturgebende Branche einer ganzen, ansonsten industriearmen und vornehmlich agrarisch geprägten Region. Inmitten der gravierenden politischen, ökonomischen und soziokulturellen Umwälzungen im Zuge der deutschen Einheit[7]  hatte die Transformation der Werftindustrie erhebliche Auswirkungen auf die Bevölkerung: Über 55 000 Beschäftigte standen vor 1990 im maritimen Sektor Schiffbau in Lohn und Brot, allein in Rostock waren über 22 000 Arbeitsplätze von den Werften und den Zulieferbetrieben abhängig.[8] 

Neben ihrer ökonomischen Bedeutung hatte die Restrukturierung und Privatisierung der ostdeutschen Schiffbauindustrie, die durch Netzwerke verschiedenster Akteure sowie durch strategische Entscheidungen und Handlungskonzepte beeinflusst wurde, erhebliche gesellschaftliche und kulturelle Folgewirkungen auf die Lebenswirklichkeiten der Menschen in der Region. So barg die Werftindustrie mit ihrer enormen Anzahl an Beschäftigten ein hohes gesellschaftliches Konfliktpotenzial, welches nicht zuletzt an Demonstrationen, Massenprotesten und Streiks in den Werftbetrieben sichtbar wurde.

Rückblickend bezeichneten beteiligte Akteure die Privatisierung der ehemaligen DDR-Werften als eine der »schwierigsten Aufgaben«, welche die Treuhandanstalt zu bewältigen hatte.[9]  Die Treuhandanstalt (THA), bereits im März 1990 durch einen Beschluss des Ministerrats der DDR gegründet, war als zentrale und gleichzeitig bis heute umstrittene Institution verantwortlich für den Transformationsprozess der ostdeutschen Wirtschaft von der Plan- zur Marktwirtschaft. Mit den komplexen Vorgängen der Privatisierung ehemaliger volkseigener Betriebe (VEB) betraut, kam ihr als Akteurin in den rasanten Wandlungsprozessen der frühen 1990er-Jahre eine Schlüsselrolle zu. Ihre gigantische Aufgabe war von zentraler makroökonomischer Bedeutung für die Umstrukturierung der sogenannten neuen Länder. Als Eigentümerin von rund 8500 ehemals volkseigenen Betrieben mit insgesamt vier Millionen Beschäftigten war ihr Handlungsrahmen ab Juli 1990 auch gesetzlich abgesteckt: Die Treuhandanstalt sollte nicht weniger als die gesamte DDR-Wirtschaft für den freien Markt umbauen und wettbewerbsfähig machen.[10]  Der komplexe Anpassungsprozess mit seinen weitreichenden mittel- und langfristigen Auswirkungen zeigt sich nicht zuletzt in der problembehafteten öffentlichen Wahrnehmung der Umbrüche und insbesondere der Arbeit der Treuhandanstalt bis in die Gegenwart hinein.[11] 

Während die deutsche Einheit nach einer Vereinbarung zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland im Februar 1990, eine Kommission zur Vorbereitung einer Währungs- und Wirtschaftsreform einzurichten, jedoch spätestens seit den Volkskammerwahlen in der DDR von März 1990 absehbar geworden war, blieb die Zukunft der einzelnen Betriebe und Branchen höchst ungewiss. Das VEB Kombinat Schiffbau Rostock (KSR) wurde im Sommer 1990 in eine Aktiengesellschaft namens Deutsche Maschinen- und Schiffbau AG (DMS) umgewandelt und vereinte sämtliche Werften zwischen Wismar und Wolgast und die ihnen zugehörigen Zulieferbetriebe unter einem Dach. Die ostdeutsche Schiffbauindustrie hatte nach dieser Umwandlung in marktwirtschaftliche Wirtschaftseinheiten zumindest gesellschaftsrechtlich mit der sozialistischen Ära abgeschlossen. Dies war der erste Schritt zur Transformation der ostdeutschen Werftindustrie. Doch um den Sprung in die Marktwirtschaft tatsächlich zu schaffen, bedurfte es noch vieler weiterer Schritte. Über die Gangart in diesem historisch beispiellosen Prozess[12]  mussten sich die maßgeblichen Entscheidungsträger jedoch erst einmal einig werden.

Hinter den Privatisierungsentscheidungen um die ostdeutschen Werften stand ein vielschichtiges wirtschaftliches und politisches Interessengeflecht, das auf den marktwirtschaftlichen und strukturellen Charakteristika einer Branche in einer allgemeinen und globalen Krise beruhte. Die Frage danach, worauf sich die Erwartungshaltungen vor dem Hintergrund der ökonomischen und wirtschaftspolitischen Entwicklungen im Vorfeld der Privatisierungen gründeten und wie diese sich im weiteren Verlauf entlang komplexer Kooperations- und Konfliktlinien veränderten, ist das zentrale Anliegen der vorliegenden Arbeit. Dabei wird angenommen, dass die Werftindustrie einen wesentlichen Ort der Transformation bildete, in dem die Akteure vor dem Hintergrund ihres eigenen Erfahrungswissens und im Kontext regionaler und überregionaler Interessen agierten. Die damit einhergehenden Widersprüchlichkeiten von Wahrnehmung und Erwartung, von Machbarkeit und Zwangslagen stehen dabei im Fokus des Erkenntnisinteresses.

In diesem Zusammenhang werden die Handlungsspielräume der Entscheidungsträger beleuchtet und es wird untersucht, welche makroökonomischen, fiskalischen, politischen und gesellschaftlichen Zwänge der Vereinigung die Wirtschaftspolitik am regionalen Beispiel des ostdeutschen Schiffbausektors maßgeblich lenkten. Es wird der Frage nachgegangen, inwiefern das Erfahrungswissen der beteiligten Akteure, sowohl aus Ost- als auch aus Westdeutschland, für die Herausbildung von Erwartungshaltungen bei allen Betroffenen entscheidend war. Im Verlauf der Untersuchung soll herausgearbeitet werden, welche Erwartungen die (wirtschaftlichen und politischen) Akteure auf der Entscheidungsebene sowie die Betroffenen vor Ort an die bevorstehende Transformation knüpften und wodurch oder durch wen diese Erwartungen geweckt wurden. Darüber hinaus wird untersucht, inwiefern sich die Erwartungshaltungen im Verlauf des Privatisierungsprozesses veränderten. Welche Rolle spielten dabei die zentralen staatlichen Institutionen und welche Funktion übernahm insbesondere die Treuhandanstalt? Wie wirkten sich die Strukturveränderungen und konkreten wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf die Wahrnehmung der Beteiligten und auf die regionalen bzw. schiffbauspezifischen Erfahrungsräume aus? Nicht zuletzt ist die – auch gegenwärtig noch häufig gestellte – Frage, welche Privatisierungsoptionen im Fall der Werften von den maßgeblichen Akteuren diskutiert wurden, ebenfalls von erkenntnisleitendem Interesse.

Der Untersuchungszeitraum umfasst die Phase, in der das Kombinat Schiffbau von der Plan- in die Marktwirtschaft überführt wurde. Dieser Zeitraum deckt sich mit der Wirkungsphase der Treuhandanstalt in den Jahren 1990 bis 1994. Darüber hinaus werden einige Schlaglichter auf die Entwicklung der Werftindustrie vor dem Systemumbruch 1989 und auf die Zeit nach 1994 geworfen, um so die vier Jahre der intensiven Privatisierungstätigkeit in einen größeren Sinnzusammenhang einzuordnen.

Methodischer Ansatz – Analyseebenen

Die Arbeit verortet sich an der Schnittstelle von Wirtschafts- bzw. Unternehmensgeschichte einerseits und Erfahrungsgeschichte andererseits. Bei der Untersuchung der makroökonomischen Rahmenbedingungen, in denen sich die Treuhandanstalt und ihr gesetzlicher Auftrag bewegten, werden die überregionalen Zusammenhänge mit einbezogen. Des Weiteren werden die regionalen und betrieblichen Transformationsprozesse am Beispiel des Schiffbausektors analysiert. Mit einem akteurszentrierten Ansatz wird der Blick auf die Handlungsspielräume der Entscheidungsträger, ihre Netzwerke sowie Macht- und Einflussstrukturen gerichtet. Die multiperspektivische Betrachtung ermöglicht eine fundierte Analyse der Transformationsprozesse des vormaligen Kombinats Schiffbau im Zusammenhang mit der Geschichte der Treuhandanstalt und der deutschen Vereinigung.

Den analytischen Hebel zur Untersuchung von wirtschaftlichen, politischen und soziokulturellen sowie kommunikativen Aushandlungsprozessen während des Umbruchs im ostdeutschen Schiffbau bildet die Trias: (I) Erwartungen an die bevorstehende Transformation, die sich vor dem Hintergrund spezifischer Erfahrungsräume bzw. von Erfahrungswissen formierten, (II) Erwartungs- und Krisenmanagement im Zuge des Transformationsprozesses und (III) daraus resultierenden (neuen) Erfahrungen und Erwartungen und nicht zuletzt Enttäuschungen.[13] 

Davon ausgehend, dass die Diskrepanzen zwischen verschiedenen Erwartungshaltungen an die bevorstehende, politisch unvermeidbar gewordene Systemtransformation erst mit Blick auf die Privatisierungspraxis zutage treten, werden die Analyseebenen dahingehend ausgerichtet. Angeknüpft wird dabei an Reinhart Kosellecks theoretisches Konstrukt von »Erwartungshorizont« und »Erfahrungsraum«. Koselleck definiert dieses Begriffspaar als komplementär und voneinander in Abhängigkeit stehend: »Keine Erwartung ohne Erfahrung, keine Erfahrung ohne Erwartung«.[14] 

Neben der allgemeinen Bedeutung von Erwartung als »vorweggenommene Vorstellung« oder auch »zuversichtliche Annahme«[15] , hat der Erwartungsbegriff auch eine ökonomische Dimension. So verweisen wirtschaftswissenschaftliche Definitionen auf die Bedeutung als Prognose für zukünftige wirtschaftliche Entwicklungen:

»Da bei zukunftsbezogenen Entscheidungen meist viele für die Entscheidungsfindung wichtige Größen unbekannt bzw. unsicher sind, können nur Erwartungen über die unbekannten Größen herangezogen werden. [Es] sind zwei grundsätzlich verschiedene Entscheidungssituationen zu unterscheiden: (1) solche, zu denen zumindest subjektive Wahrscheinlichkeiten vorliegen (Risiko, messbare Unsicherheit) und (2) solche, in denen dies nicht der Fall ist (echte Unsicherheit), weil die Informationsbasis zu schmal ist.«[16] 

Das Schwerpunktprogramm (SPP)»Erfahrung und Erwartung« der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) widmet sich seit 2015 der Untersuchung der Thematik Erfahrung und Erwartung im Kontext ökonomischen Handelns aus historischer Perspektive.[17]  Den Forschern des SPP zufolge sind Prognosen über zukünftige Entwicklungen elementar für die wirtschaftliche Entscheidungsfindung. Obwohl in fast allen ökonomischen Modellen Erwartungshypothesen behandelt werden, sei es bislang wirtschaftswissenschaftlich umstritten, welche Faktoren zur Erwartungsbildung von Akteuren führen.[18]  Außerdem seien die Auswirkungen von Krisen auf die Umformung von Erwartungen unklar: »Rekurrieren Akteure angesichts wachsender Prognosefehler zunehmend auf vergangene Erfahrungen oder verwerfen sie diese, weil sie sich als falsch erwiesen haben? Und sind Krisen nicht primär als Phasen zu begreifen, in denen sich kognitive Regelsysteme verändern, weil die vorhandene Erwartungsstabilität erodiert?«[19] 

Ferner steht der Begriff der Erfahrung im Fokus der Analyse dieser Arbeit, vor dessen Hintergrund sich subjektiv Erfahrenes, welches als Deutungswissen verstanden werden kann, sowohl auf die Wahrnehmungen als auch auf die Handlungsmuster der Akteure auswirkt.[20]  Diese Handlungs[21] -, Kommunikations- und Erfahrungsräume sind stets eng miteinander verbunden. Koselleck liefert folgende Definition für den Begriff der Erfahrung:

»Erfahrung ist gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können. Sowohl rationale Verarbeitung wie unbewußte Verhaltensweisen, die nicht oder nicht mehr im Wissen präsent sein müssen, schließen sich in der Erfahrung zusammen. Ferner ist in der je eigenen Erfahrung, durch Generationen oder Institutionen vermittelt, immer fremde Erfahrung enthalten oder aufgehoben.«[22] 

Vor dem Hintergrund der Prämisse, dass die verschiedenen Akteure immer aus ihrem eigenen, individuellen oder kollektiven Erfahrungsraum heraus agieren, ist es naheliegend, dass auch die Erwartungshaltungen divergieren, da auch soziale und kulturelle Faktoren, zusammengefasst als Erfahrungswissen, als grundlegend für persönliche (oder kollektive) Erwartungshaltungen gelten können. Ist dieses Erfahrungswissen nicht auf die gegebenen, neuen oder bevorstehenden (ökonomischen) Bedingungen anzuwenden, kann es aufgrund des vorliegenden Informationsdefizits[23]  zu fehlerhaften Prognosen oder Vorstellungen über zukünftige Entwicklungen kommen, die nicht zuletzt eine Kollision von Erwartung und Erfahrung nach sich ziehen. Daher bietet der Rückgriff auf Erfahrungswissen notwendige Anhaltspunkte und Handlungsempfehlungen in Umbruchszeiten, die als krisenhaft empfunden werden. Die Erweiterung der Analyse um einen hermeneutischen Krisenbegriff soll darauf Bezug nehmen. So stellen Janina Barth und Andrea H. Schneider-Braunberger zum »Nutzen von Erfahrungswissen in Krisen« fest, dass »[d]ie Besonderheit einer extremen Krisensituation, welche vertraute Handlungsmuster obsolet werden lässt und die Planbarkeit selbst der unmittelbaren Zukunft untergräbt […] Menschen in Politik und Wirtschaft geradezu [zwingt], in die Vergangenheit zu blicken, wo sich Orientierungshilfen durch Erfahrungswerte vermuten lassen«.[24]  Hinsichtlich der Werftindustrie als »ewige Krisenbranche«[25]  ist der Begriff »Krise« hier sowohl im engeren wirtschaftlichen Sinn (»Werftkrise«) gemeint als auch auf die erfahrungsgeschichtliche Dimension abzielend.

Erweitert man die Analyse um die Frage nach den Folgewirkungen, die aus einem Transformationsprozess »ohne historisches Vorbild«[26]  wie jenem nach 1989 nicht zuletzt aufgrund dieser »fundamentalen Ungewissheit«[27]  resultierten, bzw. nach den Reaktionen auf ein Abweichen von positiver Erwartung und möglicherweise negativer Erfahrung, erweist sich Enttäuschung als eine zentrale Kategorie historischer Erfahrung. Enttäuschung als Analysekategorie für die zeithistorische Forschung ist inzwischen erfolgreich erprobt worden. So sind aus der Leibniz Graduate School »Enttäuschung im 20. Jahrhundert. Utopieverlust – Verweigerung – Neuverhandlung« des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin und der Ludwig-Maximilians-Universität München eine Reihe von Arbeiten hervorgegangen, die sich der Analyse der Kategorie Enttäuschung anhand unterschiedlicher Untersuchungsgegenstände widmen.[28] 

In Anknüpfung an die theoretischen Überlegungen von Bernhard Gotto und Anna Ullrich im 2021 erschienenen Sammelband zu dem genannten »Enttäuschungs-Projekt«, die den Begriff der Enttäuschung bzw. das Konzept der Enttäuschung als analytische Kategorie für die historische Forschung aufzubereiten suchen, soll der zugrunde liegende Enttäuschungsbegriff dazu dienen, »den Blick auf die Vielfalt von Erwartungen im Sinne von gedachten und gewollten Möglichkeiten zu lenken, deren Erfüllung für die Akteurinnen und Akteure noch ausstand. ›Enttäuschung‹ als Kategorie kann daher davor bewahren, Erwartungen, die sich nicht erfüllt haben, im sicheren Wissen um den weiteren Verlauf rückblickend als ›utopisch‹, ›illusorisch‹ oder ›unrealistisch‹ abzuqualifizieren.«[29] 

Schließlich ist es nicht im Interesse der vorliegenden Arbeit, Enttäuschung als Resultat der Transformation vorauszusetzen und damit der Untersuchung einen teleologischen Stempel aufzudrücken. Vielmehr wird angenommen, dass Enttäuschung nur eine der möglichen Folgewirkungen von historischem Wandel neben anderen ist. Schließlich wird die individuelle Bewertung einer erfahrenen Entwicklung oder das Resultat einer Entwicklung je nach Erfahrungshintergrund immer auch unterschiedlich vorgenommen bzw. wahrgenommen und wird aus dem eigenen Kontext heraus, vor dem Hintergrund der individuellen oder kollektiven Wissensbestände, wiederum zu unterschiedlichen Verhaltensweisen, Einschätzungen und Handlungsstrategien führen. Zu prüfen ist hier mit Blick auf den Untersuchungsgegenstand, ob und in wieweit bestimmte, nicht erfüllte (Zukunfts-)Erwartungen gegenüber der neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung tatsächlich zu Enttäuschung führten. Die Diskrepanz zwischen der Erwartung und der davon abweichenden Erfahrung wird in der Regel als negativ wahrgenommen und geht häufig einher mit einer Veränderung des Deutungswissens sowie einer Erwartungstransformation.

Enttäuschung als Kategorie historischer Erfahrung bildet einen analytischen Hebel, mit dessen Hilfe herausgearbeitet werden kann, inwieweit die Systemtransformation zu »Wende«-bedingten Krisen und Identitätskonflikten führen konnte. Die Kulturwissenschaftlerin Irene Götz befragte für ihre Arbeit über »Selbstbilder und Identitäten« Zeitzeugen aus Ost- und aus Westdeutschland. Hier zeigte es sich, dass die Ostdeutschen mehrheitlich die Zeit der Wiedervereinigung als »biografische Krise« wahrnahmen, auch, wenn »sie in materieller Hinsicht, wie sie selbst betonen, relativ gesehen, eigentlich nicht zu den Wendeverlierern gehörten«.[30]  Die hier festgestellten persönlichen und kollektiven Aushandlungsprozesse, die sich in Handlungs- und Kommunikationsräumen konstituieren, können sich auch laut Bernhard Gotto nachhaltig auf das soziale Gefüge auswirken: »Dies gilt für Entfremdung als Folge von Enttäuschung über eine andere Person, aber auch über die Verletzung von Wertideen und Verhaltensnormen, von deren Anerkennung die Zugehörigkeit zu einer Gruppe abhängt.«[31] 

Es wird deutlich, dass sich auch krisenhafte Umbruchssituationen als »Wahrnehmungsphänomene« charakterisieren lassen. So arbeitet Thomas Mergel heraus, dass »die reale und die wahrgenommene Krise [häufig] nicht deckungsgleich« sind.[32]  Darüber hinaus sind Krisen, folgt man Thomas Mergel weiter, Beschleunigungsprozesse innerhalb eines umbruchhaften Übergangs und somit »Momente, in denen plötzlich die Zukunft als ungewiss empfunden wird, man aber nicht viel Zeit hat, um sich ein genaues Urteil zu bilden und in Ruhe entscheiden zu können. […] Ohne diese Zeitlichkeit sind Krisen nicht zu denken.«[33]  Und so sind auch die Folgen nicht als linear zu begreifen, sondern Ergebnis eines komplexen Aushandlungsprozesses, an dem verschiedene Akteure beteiligt sind, deren Handlungsmöglichkeiten und Strategien dieses Ergebnis mit beeinflussen. Der Umgang mit veränderten Erwartungen innerhalb eines historischen Wandels verbunden mit den Auswirkungen eines individuellen Krisenmanagements bietet sodann erst die Möglichkeit eines Lernprozesses und einer darauffolgenden Neuverhandlung bestehender Erfahrungshorizonte und Handlungsmuster.

Forschungsstand

Historisch-analytische Untersuchungen, welche sich mit der Umstrukturierung der ostdeutschen Werftindustrie nach 1989 beschäftigen – insbesondere solche, die die wirtschaftspolitischen Vorgänge im Zusammenhang mit der Treuhandanstalt im Rahmen der Vereinigung der beiden deutschen Staaten mit Begriffen und Konzepten über die Erwartung, Wahrnehmung oder Erfahrung der direkt oder indirekt Beteiligten verknüpfen –, stellen in der geschichtswissenschaftlichen Forschung ein Desiderat dar. Die Bearbeitung solcher Fragestellungen war bislang aufgrund eines eingeschränkten Quellenzugangs ohnehin nur in begrenztem Maß möglich.

In den Nachbardisziplinen sind wenige Arbeiten zum Schiffbausektor und der Privatisierungspraxis der Treuhandanstalt erschienen, die einen guten Zugang zum Thema bieten. Zu den weiterhin grundlegenden Arbeiten gehört Wolfgang Seibels Verwaltete Illusionen aus dem Jahr 2005.[34]  Als politische Institutionsgeschichte angelegt, konzentriert die Studie sich auf die Entwicklung der Verwaltungsstrukturen innerhalb der politischen Rahmenbedingungen. Regionalwirtschaftliche und soziale Auswirkungen des »Treuhandregimes« kommen nur insoweit zur Sprache, als sie eine Bedeutung auch für die politische Funktion der Treuhandanstalt und ihrer Nachfolgeeinrichtung hatten. Die Publikation knüpft an die Studie von Jörg Raab Steuerung von Privatisierung an, die ebenfalls die zentralistisch-verwaltungstechnischen Steuerungsstrukturen zum Gegenstand hat.[35]  Die industriegeografischen Untersuchungen zur Treuhandanstalt und dem ostdeutschen Schiffbausektor von Marion Eich-Born halten trotz des technischen, industriepolitischen Ansatzes grundlegende Anknüpfungspunkte zum Thema bereit.[36]  Die Studie von Michael Christian Ensser: Sensible Branchen, bereits 1997 erschienen, behandelt die Privatisierungen mit einem Schwerpunkt auf der Bedeutung der Europäischen Gemeinschaft (EG) bzw. Europäischen Union (EU) für die Werften an der Ostseeküste. Der Autor, ehemaliger Vorstandsassistent der Treuhandanstalt und späterer Leiter des Vorstandsstabes der Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS), identifiziert hier mithilfe seines Insiderwissens und auf der Basis von Presseberichterstattung Schlüsselakteure und deren Handlungsweisen.[37]  Darüber hinaus ist 2004 ein Sammelband über die Entwicklung des ostdeutschen Schiffbaus seit 1945 und seine Transformation in die Marktwirtschaft erschienen, in dem hauptsächlich ehemalige, größtenteils zu DDR-Zeiten aktive Beteiligte zu Wort kommen. Ein darin enthaltener Aufsatz über die Umstrukturierung der Werftindustrie im Zuge der »Wende« wurde von dem ehemaligen Kombinatsdirektor selbst sowie einem weiteren Angehörigen des Leitungskaders des DDR-Schiffbaus verfasst. Beide waren – zumindest zeitweise – auch in der Geschäftsführung der Deutschen Maschinen- und Schiffbau AG tätig. Ihr Bericht, in erster Linie als chronologischer Abriss der Ereignisse aufgebaut, spiegelt die individuelle Sicht zweier Zeitzeugen wider und ist daher sehr viel mehr noch als das Buch von Ensser der Erinnerungsliteratur zuzuordnen.[38]  Auch ein bereits 1992 erschienener Aufsatz von Harald Hückstädt über die Neptunwerft und ihre Umstrukturierung ist nicht zuletzt aufgrund der zeitlichen Nähe mehr als Quelle zu betrachten denn als Forschungsliteratur.[39]  Darüber hinaus sind in den letzten drei Jahrzehnten sowohl einige unternehmensgeschichtliche Publikationen erschienen, die sich mit der ostdeutschen Werftindustrie beschäftigen, als auch soziologische Studien, die sich beispielsweise mit dem Wandel der Arbeitermilieus auseinandersetzen.[40] 

Insgesamt ist die Forschungsliteratur, die sich der Geschichte der Systemtransformation der frühen 1990er-Jahre im Allgemeinen und der Geschichte der Treuhandanstalt im Speziellen widmet, zunehmend umfangreich.[41]  Auf der einen Seite gibt es einen »Pool« an Arbeiten, von denen ein erheblicher Teil älter als zehn Jahre ist und viele bereits aus den 1990er-Jahren stammen. Dazu gehören beispielsweise soziologische Arbeiten sowie wirtschafts- oder rechtstheoretische Arbeiten zu Transformationsprozessen im Zusammenhang mit der Treuhandanstalt. Auch eine Vielzahl an Erfahrungsberichten von Zeitzeugen aus Politik und Wirtschaft ist zum großen Teil älteren Datums. Diese Berichte enthalten häufig eine Bewertung der Rolle der Treuhandanstalt, je nach Blickwinkel, als Erfolg oder Misserfolg und sind zudem eher als zeitgenössische Quellen zu betrachten. Die hauptsächlich von politischen Akteuren verfassten Werke sind mit besonders (quellen-)kritischem Blick zu lesen. Die Bandbreite der Verfasser reicht von Angehörigen der obersten Leitungsebene der Treuhandanstalt bis zu links-sozialistischen Gegnern, die der Treuhandanstalt Missmanagement bis hin zu kapitalistischer Ausbeutung der DDR-Volkswirtschaft vorwerfen.[42]  Auf der anderen Seite hat in den letzten Jahren das Interesse an der Treuhandanstalt und ihrem Wirken auch innerhalb der Geschichtswissenschaften erheblich zugenommen. So sind allein aus dem Projekt zur Erforschung der Geschichte der Treuhandanstalt am Institut für Zeitgeschichte München–Berlin, dem auch die vorliegende Arbeit zuzuordnen ist, drei Sammelbände und zehn Monografien hervorgegangen, von denen acht bislang veröffentlicht worden sind.[43] 

Quellenbasis

Der Quellenkorpus, auf den sich die vorliegende Arbeit stützt, umfasst gedruckte und ungedruckte Quellen, Korrespondenzen zwischen der Treuhandanstalt und potenziellen Investoren, Bundesministerien, der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern und sonstigen öffentlichen und privaten Akteuren, Unternehmenskonzepte und andere betriebsbezogene Unterlagen und wird ergänzt durch Audio- bzw. Filmquellen des Medienarchivs des Norddeutschen Rundfunks (NDR).

Der weite historisch-empirische Blick auf die Transformationsprozesse der frühen 1990er-Jahre wird überhaupt erst jetzt, nach dem Ablauf der Sperrfrist für Archivalien in öffentlichen Archiven, unter Einbeziehung neuer Quellen möglich. Hierbei handelt es sich insbesondere um sehr umfangreiche, in einem eigenen Erschließungsprojekt des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde neu zugänglich gemachte Archivalien aus den Akten der Treuhandanstalt, die sich hinter der Signatur B 412 verbergen.[44]  Für die Bearbeitung der Werftenprivatisierung wird man dabei fündig insbesondere in den Akten des THA-Verwaltungsrates und des THA-Vorstandes, sowie in den Beständen des Vorstandsmitglieds Klaus-Peter Wild, der Präsidenten Detlev Karsten Rohwedder und Birgit Breuel, der Generalbevollmächtigten Wolfgang Mueller-Stöfen und Norman van Scherpenberg, der Beratergruppe/Überprüfung von Unternehmenskonzepten (U1 U) (Beratergruppe Werften), der Vorstandsmitglieder Gunter Halm und Günter Rexrodt, der Beratergruppe Leitungsausschuss, der Abteilungen Bund/Internationale Beziehungen, des Büros Bonn und der Revision sowie in der umfangreichen Sammlung der Unternehmensakten, in denen sich zu jedem einzelnen Betrieb des ehemaligen Kombinats Schiffbau Unterlagen über das Unternehmen selbst sowie den Privatisierungsprozess finden.

Für die Sicht auf den Transformationsprozess vonseiten der Bundesregierung wurden Akten des Bundesministeriums der Finanzen (BMF), des Bundesministeriums für Wirtschaft (BMWi) und des Bundeskanzleramtes – ebenfalls teilweise nach langwierigen Genehmigungsverfahren – eingesehen und ausgewertet. Dieser Quellenkorpus befindet sich, ebenso wie das aufschlussreiche Diensttagebuch des Treuhandvorstandsmitglieds Klaus Schucht, das unter anderem die Auseinandersetzungen um die Werften thematisiert und gleichzeitig höchst subjektive Einblicke in die internen Arbeitsweisen ermöglicht, im Bundesarchiv in Koblenz.

Im Landeshauptarchiv in Schwerin konnte für die vorliegende Arbeit zahlreiches Material ausgewertet werden, so jenes des Sozialministeriums, des Wirtschaftsministeriums, der Staatskanzlei und des Landtages von Mecklenburg-Vorpommern. Die Bestände ermöglichen einen Einblick in die Perspektive der Schweriner Landesregierung, die Zusammenarbeit zwischen Bund, Land und Treuhandanstalt und offenbaren zudem eine Parallelüberlieferung zahlreicher Dokumente und Korrespondenzen, was auch Aufschluss über den Kenntnisstand der jeweiligen Behörden gibt. Die Quellen des Landtags ermöglichen die für die Untersuchung der Erwartungshaltungen der Akteure unabdingbaren Einblicke in die Unterlagen des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (PUA) »Vertragsabschlüsse Schiffbau und Schiffahrt«. Die hierin enthaltenen Protokolle liefern die Aussagen zahlreicher Akteure im Zusammenhang mit den sogenannten Ultimoverträgen, jenen später als äußerst problematisch erachteten Schiffbauverträgen, die westdeutsche Reeder kurz vor der Währungsunion mit den ostdeutschen Werften geschlossen hatten.

Das Unternehmensarchiv des Bremer Vulkan ist nach dessen Insolvenz an das Staatsarchiv Bremen übergeben worden. Die Auswertung der hier enthaltenen Dokumente beispielsweise aus den Vorstandssitzungen, den Vorstandsbereichen Schiffbau oder des Vorstandsvorsitzenden Friedrich Hennemanns, stellt eine wichtige Ergänzung der oben genannten Quellen dar, liefert sie doch Einblicke in die Arbeit und Entscheidungsfindungsprozesse eines der wichtigsten Investoren an der Ostseeküste.

Das Stadtarchiv Rostock beherbergt den Bestand »Schiffbaugeschichtliche Sammlung Joachim Stahl«, die einige relevante Quellen, die in die Zeit vor 1989 zurückreichen, in sich versammelt und dadurch kompensiert, dass auf den Bestand des VEB Kombinats Schiffbau, der im Landesarchiv Greifswald unbearbeitet, unsortiert und vor allem nicht zugänglich lagert, nicht zurückgegriffen werden konnte.

Die gedruckten Quellen umfassen neben den Drucksachen der gesetzgebenden Körperschaften wie des Landtags Mecklenburg-Vorpommern, des Bundestags und der Bremer Bürgerschaft auch jene der Bundesregierung und der Europäischen Kommission sowie die Geschäftsberichte und Protokolle der IG-Metall-Gewerkschaftstage der Jahre 1989 bis 1995. Darüber hinaus hat die Treuhandanstalt selbst eine 15-bändige Quellenedition (Dokumentation 1990-1994)[45]  mit zentralen Dokumenten herausgebracht, die es unter Berücksichtigung der Tatsache, dass es sich um eine Auswahl der Behörde selbst handelt, hinzuzuziehen lohnt.

Ergänzt wird die Quellenbasis durch ausgesuchte Artikel sowohl der ost- als auch der westdeutschen Tages-, Wochen- und Fachpresse, welche die Schiffbauprivatisierung über den gesamten Betrachtungszeitraum hinweg aufmerksam beobachtet und kommentiert hat. Zudem wurden die Betriebszeitungen der ostdeutschen Schiffbauunternehmen ausgewertet. Sie befinden sich zu großen Teilen in der Landesbibliothek in Schwerin und in der Bibliothek der Universität Rostock. Darüber hinaus konnte in die private Sammlung eines ehemaligen Werftbeschäftigten Einsicht genommen werden, der zudem vieles über die Umbruchszeit zu berichten wusste. Dies wurde mit einem Tonträger aufgenommen, ausgewertet und als exemplarische, persönliche Perspektive mit spezifischen Wahrnehmungen und Erfahrungen zur Ergänzung der allgemeinen Entwicklungen hinzugezogen. Als Quelle für die zeitgenössische Einschätzung und Wahrnehmung der Transformation wurde zudem auf das Medienarchiv des NDR zurückgegriffen, das zahlreiche Sendungen aus der ersten Hälfte der 1990er-Jahre aufbewahrt, die sowohl die Privatisierung der ostdeutschen Werftindustrie als auch Aspekte wie den Strukturwandel oder Maßnahmen gegen die Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit zum Inhalt haben.

Aufbau der Arbeit

Der Aufbau der vorliegenden Arbeit orientiert sich an der zuvor genannten Trias und besteht daher aus drei Hauptkapiteln, die sich an diese Einleitung anschließen:

I: Erwartung(en),

II: Erwartungstransformation(en) und Krisenmanagement,

III: Ent-Täuschung(en) und Neuverhandlung.

Das Kapitel I beschäftigt sich mit den Erwartungshaltungen, die zwischen Herbst 1989 und Juli 1990 der unmittelbar bevorstehenden bzw. gerade beginnenden Umstrukturierung der Werftindustrie entgegengebracht wurden. Es fragt danach, auf welchen Annahmen sich der anfängliche Optimismus begründete. So werden verschiedene Erwartungsmomente ausgemacht, deren Hintergründe in diesem Kapitel beleuchtet werden, wie zum Beispiel die scheinbar gute Auftragslage der Schiffbaubetriebe, welche nach Ansicht der Schiffbauer den Sprung in die Marktwirtschaft ermöglichen würde. Auch die Annahme, dass die Kooperationsbereitschaft der westdeutschen Werften und der bundesdeutschen Politik zur Sicherung des Bestandes ausreichend groß sein würde, sowie die Erwartung, dass mit der Überführung in marktwirtschaftliche Rechtskörperschaften der ostdeutsche Schiffbau nahezu in seiner alten Struktur bestehen bleiben könne, werden als Erwartungsmomente analysiert.

Das Kapitel II beschäftigt sich mit der Frage nach den Auswirkungen der Währungsumstellung im Juli 1990 auf die neu formierte Deutsche Maschinen- und Schiffbau AG (DMS). Zum einen wird untersucht, wie und warum sich die Erwartungen der Beteiligten veränderten bzw. wie auf die neue Krisensituation reagiert wurde. Zum anderen werden die unterschiedlichen Konzepte zur Umstrukturierung der Branche und die diskursive Auseinandersetzung damit beleuchtet. Die konkreten Privatisierungsbemühungen und -verhandlungen, die schließlich im März 1992 in die Privatisierungsentscheidung durch die Treuhandanstalt über den Verkauf wichtiger Schiffbaubetriebe mündeten, werden ebenfalls in diesem Kapitel behandelt.

Die Folgen der voranschreitenden Privatisierungsaktivitäten und das damit verbundene Krisenmanagement der verantwortlichen Akteure werden sodann in Kapitel III analysiert. Die Erfahrungen des Transformationsverlaufs der ersten zwei Jahre machten zwangsläufig eine Neuverhandlung des Krisenmanagements notwendig. So stehen sowohl die späteren Privatisierungen im Fokus des Kapitels als auch die strukturpolitischen Maßnahmen und individuellen Konsequenzen, die mit den strukturellen Veränderungen einhergingen. Abschließend wird der Frage nach der weiteren Entwicklung der verkauften Unternehmen des ehemaligen Kombinats Schiffbau nachgegangen.

I. Erwartung(en)

1. »Zum Glück bauen wir keinen Trabant« – Volle Auftragsbücher im DDR-Schiffbau

Das Prinzip Hoffnung

»In einer Schlüsselbranche der DDR-Industrie herrscht noch das Prinzip Hoffnung«, beschrieb die Süddeutsche Zeitung die Situation der ostdeutschen Werftindustrie im Frühjahr 1990.[1]  Damit kam eine Stimmungslage zum Ausdruck, die in der ersten Zeit nach dem Aufbruch in eine neue Zukunft im Herbst 1989 an der Ostseeküste allgegenwärtig zu sein schien. Sie war geprägt von positiven Erwartungen, Zukunftsoptimismus und Hoffnung. »Der Werftdirektor ist mit einem guten Gefühl aus Emden im äußeren Nordwesten der BRD wieder nach Hause gekommen und jedem von uns wäre es nicht anders gegangen. Der Vertrag über den Bau von 14 Küstenmotorschiffen bringt Arbeit für unsere Werft und damit einen Arbeitsplatz für die meisten der Kollegen.«[2]  Eine Nachricht wie diese über den Vertragsabschluss von mehr als einem Dutzend Schiffsneubauten war im März 1990 für die ostdeutsche Werftindustrie durchaus ein Grund für Optimismus. Insbesondere für die Peene-Werft in Wolgast, die diesen Auftrag erhielt, schien nicht nur die Produktion bis 1992 und damit auch ein Großteil der Arbeitsplätze gesichert, sondern gleichzeitig auch der Sprung in den zivilen Schiffbau geschafft. Zum Jahreswechsel 1989/90, als noch ausschließlich Marineschiffbau auf dem buchstäblichen »Plan« stand, hatten einige der Werftbeschäftigten in ihrer Betriebszeitung Bullauge ihre Wünsche und Erwartungen an das neue Jahr zum Ausdruck gebracht: Neben Frieden im Land und Strafverfolgung der SED- und Stasi-Funktionäre war die Stabilisierung der Wirtschaft bei vielen der größte Wunsch. Ein Schlosser der Werft wünschte sich beispielsweise »[f]ür die Arbeit hier in der Werft […] mehr Kontinuität, damit wir hier in unserer Werkstatt immer genügend Teile haben und termingerecht liefern können«.[3] 

Neben den Neubauaufträgen für die Peene-Werft konnten die Verantwortlichen zu diesem Zeitpunkt auch für die anderen Werften des Kombinats Schiffbau auf gut gefüllte Auftragsbücher und damit auf eine Auslastung bis in die Mitte der 1990er-Jahre hinein verweisen. Man baue schließlich keinen Trabant, betonte Erwin Kleba, stellvertretender Kombinatsdirektor, gegenüber der Süddeutschen Zeitung und stufte in der Konsequenz die Produkte der Schiffbaubranche als zukunftsträchtig ein. Als Beleg dafür, dass die DDR-Schiffe auf dem Weltmarkt gefragt seien, führte Kleba die auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1990 abgeschlossenen Verträge für 28 Schiffsneubauten im Wert von über 400 Millionen US-Dollar mit Reedern aus der Bundesrepublik, Zypern und Liberia an, sowie vereinbarte Auslieferungen von 81 See- und Binnenschiffen für die UdSSR.[4]  Letztgenannte waren in einem Regierungsabkommen zwischen der UdSSR und der DDR am 24. Januar 1990 für den Zeitraum bis 1995 festgeschrieben worden.[5]  Dass die Messe in Leipzig im März 1990 für das Kombinat Schiffbau eine der besten überhaupt war, war auch in den Betriebszeitungen der Werften zu lesen. Da neben den 14 Küstenmotorschiffen von der Peene-Werft in Wolgast auch sechs Schiffe von der Mathias-Thesen-Werft in Wismar und vier von der Warnowwerft von westlichen Reedern bestellt worden waren, zeige dies, »wie zeitgemäßen Reederanforderungen und Markterfordernissen entsprochen wird«.[6] 

Ob der Sprung in die Marktwirtschaft gelingen würde, schien zudem eine Frage zu sein, deren Antwort sich in der Vergangenheit finden ließ; schließlich konnte man seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf eine Entwicklung zurückblicken, die sich aus DDR-Sicht als Erfolgsgeschichte darstellte. An der Ostseeküste hatte es vor der Zeit des Zweiten Weltkriegs, abgesehen von wenigen Ausnahmen wie der 1850 in Rostock gegründeten Neptunwerft, keine Werftindustrie gegeben. Die wichtigsten Standorte der maritimen Wirtschaft im ehemaligen Deutschen Reich waren mehrheitlich an der Nordseeküste – in Hamburg und Bremen –, aber auch an der Ostsee in Kiel, Lübeck sowie Stettin und Königsberg angesiedelt. Lediglich zwei Prozent der deutschen Gesamtkapazität von 1939 entfielen auf Mecklenburg und Vorpommern.[7]  Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) hatte nach Kriegsende zunächst die Demontage aller (rüstungsrelevanten) Industriebetriebe angeordnet und baute im weiteren Verlauf, ab 1945 vereinzelt und ab 1948 gezielt, Werften zum Zweck umfangreicher Reparationsleistungen auf.[8]  Nachdem damit die Voraussetzungen für einen nennenswerten regionalen Industriezweig geschaffen worden waren, beschloss der Ministerrat der DDR am 17. August 1950, die bisherigen Reparaturbetriebe in Warnemünde und Wismar für den Neubau von Schiffen auszubauen sowie die Werften in Rostock, Stralsund und Wolgast zu erweitern.[9]  Eine organisierte Zuliefererindustrie gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht; die benötigten Produkte wurden hauptsächlich von den industrialisierten Standorten im Süden der DDR geliefert.[10]  1959 wurde die ostdeutsche Werftindustrie mit ihren Werften und Zulieferbetrieben zu einer Vereinigung Volkseigener Betriebe (VVB) zusammengefasst. Hier waren in dieser Zeit etwa 38 500 Menschen beschäftigt.[11]  Aus der Tatsache, dass der Schiffbauverband räumlich breit aufgestellt war – allein sechs der elf Zulieferer befanden sich außerhalb der drei Nordbezirke der DDR –, ergaben sich enorme Ineffizienzen in den Material- und Produktionswegen. Um dem entgegenzuwirken, wurden die VVB unter dem damaligen Generaldirektor umstrukturiert, sodass sich in der Folge die Betriebe hauptsächlich in den Bezirken Rostock, Schwerin und Neubrandenburg konzentrierten. Auf diese Weise sollten die Lieferwege optimiert und Dopplungen in den Produktionserzeugnissen verhindert werden. Beispielhaft erkennbar wird dies an der Verlagerung aller Decksmaschinen-Produktionsstätten von sieben unterschiedlichen Standorten nach Schwerin in die Klement-Gottwald-Werke (KGW), die in den 1970er-Jahren erfolgte.[12] 

Seit Beginn der 1950er-Jahre waren zunehmend große Frachtschiffe und Trawler gefertigt worden, zudem steigerte der DDR-Schiffbau seine Exportquote erheblich. In den folgenden zwei Jahrzehnten avancierte die Branche zu einem der bedeutendsten Industriezweige des Landes. Neben Polen entwickelte sich die DDR zu einer der wichtigsten Schiffbaunationen innerhalb des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Seit 1979 waren die ostdeutschen Schiffbauunternehmen, die mittlerweile den prägenden Industriezweig der drei nördlichsten Bezirke der DDR bildeten, im Zuge mehrerer Zentralisierungsschübe durch das SED-Regime in der planwirtschaftlichen Einheit eines Kombinates organisiert. Die gesetzliche Grundlage dafür bildete die »Verordnung über die volkseigenen Kombinate, Kombinatsbetriebe und volkseigenen Betriebe« vom 8. November 1979,[13]  welche das Ziel einer weitreichenden Umstrukturierung der Wirtschaft verfolgte. Durch die direkte Integration der schiffbaurelevanten Forschungs-, Erzeugnis- und Rationalisierungsbetriebe in das neue Kombinat war es auf der Leitungsebene möglich, den gesamten Produktionsprozess zentral zu planen. Zwar blieben die Kombinatsbetriebe rechtsfähig, den Generaldirektoren der neu geschaffenen, nach Produktionsschwerpunkten gegliederten Kombinate wurden allerdings weitreichende Aufgaben mit großer Entscheidungsbefugnis »nach dem Prinzip der Einzelleitung und persönlichen Verantwortung« übertragen.[14]  Die Leitungsebene wurde direkt vom zuständigen Industrieminister berufen; im Fall des VEB Kombinat Schiffbau Rostock (KSR) unterstanden sämtliche Betriebe, abgesehen von der Marineschiffe produzierenden Peene-Werft in Wolgast und dem Außenhandelsbetrieb (AHB) Schiffscommerz, dem Minister für Schwermaschinen- und Anlagenbau.[15]  Dieser entschied auch, dass »der Generaldirektor des VEB Kombinat Schiffbau mit Wirkung vom 1.8.1988 den VEB Schiffswerft ›Neptun‹ in Personalunion« leiten sollte.[16]  Der Neptunwerft, die 1989 die Funktion als Stammbetrieb des Kombinats übernommen hatte, kam demnach eine besondere Bedeutung innerhalb der Kombinatsstruktur zu.[17]  Dabei waren es auch die staatlichen Instanzen, die darüber entschieden, wie viele sogenannte Werktätige in welchen Bereichen der Betriebe arbeiteten.[18]  Da das Kombinat Schiffbau laut Statut »gegenüber dem sozialistischen Staat und der Gesellschaft die Verantwortung für die Erfüllung der begründeten Bedarfsforderungen an Schiffen und Schiffbauerzeugnissen entsprechend der volkswirtschaftlichen Zielstellung« zu erfüllen hatte, sollte es zur »weiteren Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen die Arbeitsproduktivität ständig [erhöhen].«[19]  Mit über 55 000 Beschäftigten war es eines der größten Kombinate der DDR.[20]  Sowohl in Rostock, Wismar und Stralsund als auch in Wolgast lag der Anteil derjenigen Industriebeschäftigten, die im Kombinat Schiffbau tätig waren, bei über 50 Prozent.[21]  Unter dem Namen VEB Kombinat Schiffbau mit Stammbetrieb in Rostock umschloss es neben den See- und Binnenwerften auch die maritimen Zulieferer-, Forschungs- und Außenhandelsbetriebe.

Angesichts der Entwicklung, die der Schiffbau in der Geschichte der DDR genommen hatte, sollte er im Rahmen der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR 1989 als Paradebeispiel sozialistischer Planwirtschaft hervorgehoben werden. Vor diesem Hintergrund fand auch die sogenannte Erste Traditionskonferenz des Zulieferbetriebs VEB Kühlautomat Berlin (KAB) am 25. April 1989 statt:

Abbildung 2: Struktur des VEB Kombinat Schiffbau 1989.

Eigene Darstellung nach: LHAS, 8.10-1 Landtag Mecklenburg-Vorpommern, Nr. 1549, Bl. 4270–4279, hier Bl. 4270 f., Statut des VEB Kombinat Schiffbau vom 1.1.1989.

»Unser Betrieb, der sein 40jähriges Jubiläum vorbereitet, hat sich in dieser Zeit genau wie unsere Republik erfolgreich und kräftig entwickelt. Mancher Sturm war in diesen Jahren zu überstehen, vieles ist Erinnerung der ›Alten‹ geworden, mancher kam und ging wieder. Stolz sind wir auf den Anteil derjenigen, die seit vielen Jahren ›ihrem‹ Betrieb die Treue hielten und halten. Sie verkörpern Traditionen und Erfahrungen, die es gilt aus der Sicht der heutigen Anforderungen zu bewahren und zu nutzen.«[22] 

Auch die Berichterstattung über die Ernennung der Neptunwerft zum Stammbetrieb des Kombinats Schiffbau zu Beginn desselben Jahres hebt die Bedeutung der Industrie an der Ostseeküste deutlich hervor:

»Die guten Wünsche zum Jahresanfang haben in der Rostocker Schiffswerft ›Neptun‹ zweifellos einen besonderen Stellenwert: Sie gelten natürlich dem einzelnen, und sie gelten dem neuen Stammbetrieb des Kombinates Schiffbau! So wird der 1. Januar 1989 als ein entscheidender Tag in die Betriebs- und Kombinatsgeschichte eingehen. Wer von den Schiffbauern wüßte das nicht! Und so sind sich nicht nur jene, die zum Sechs-Uhr-Meeting in die Schiffbauhalle kamen […] einig, daß das Jahr 1989 eines der wohl bedeutungsvollsten in der Werftgeschichte wird«.[23] 

In welchem Maße das Jahr 1989 nicht nur für die DDR-Werftgeschichte, sondern für die deutsch-deutsche Geschichte insgesamt bedeutungsvoll sein würde, konnte die Autorin des Artikels, der zu Beginn des Jahres in der Ostsee-Zeitung erschien, nicht erahnen. Die Erwartungen an das bevorstehende Jahr sind offensichtlich und spiegeln sich in einer positiven Grundstimmung, die vor dem Erfahrungshorizont der Beteiligten nachvollziehbar erscheint. Der Zeitungsartikel widmet sich weiterhin im charakteristischen Duktus der DDR-Presse dem Aufruf zur Erfüllung sozialistischer Pflichten und mahnt an:

»daß der ’89 Plan eine anspruchsvolle und reale Aufgabe ist, daß Engagement und Leidenschaft erforderlich sind für die notwendige Leistungsentwicklung im Schiffbau. […] Fünf Stapelläufe sind im 40. DDR-Jahr zu realisieren, sechs Schiffe sind zu übergeben, 17 000 Kühlschränke für die Konsumgüterproduktion sind zu bauen. Unter anderem! […] Alles in allem – der Start der Neptunwerft ins neue Jahr hatte gute Vorzeichen. Jetzt, so Generaldirektor Jürgen Begemann resümierend, jetzt gilt es, gemeinsam die Bedingungen für höchste Arbeitsergebnisse mit niedrigstem Aufwand zu schaffen.«[24] 

Auch der hier zur Planerfüllung aufrufende Kombinatsdirektor Begemann konnte nicht wissen, dass der ostdeutsche Schiffbau vor einem sehr viel grundlegenderen Umbruch stand als zunächst angenommen. Das Ziel der SED-Führung bestand zu diesem Zeitpunkt darin, die eigene Wirtschaft aus der desolaten Lage zu führen, in der sie sich befand.[25]  Mehr Produktivität, mehr Effektivität – mit diesen gebetsmühlenartig wiederholten Schlagworten sollte eine wirtschaftliche Erneuerung des »real existierenden Sozialismus« erreicht werden, sollte eine »Wende«, eine neue Ära eingeläutet werden. Zu Beginn des Jahres 1989 war es jedoch geradezu unvorstellbar, dass diese neue Ära die Einführung der Marktwirtschaft mit sich bringen würde und mit der deutschen Einheit 1990 das Ende der Gesellschaftsform, die die Ostdeutschen seit 40 Jahren kannten.

Die sich überstürzenden Ereignisse im Herbst 1989 hatten nicht zuletzt die Frage zur Folge, wie die Zukunft des DDR-Schiffbaus aussehen würde. Die Idee der demokratischen Selbstbestimmung als Leitgedanke der Friedlichen Revolution und die Erfahrung, durch eigene Initiative und Schaffenskraft weitreichende gesellschaftliche Veränderungen erwirken zu können, prägten auch die Erwartungen an den Verlauf einer angestrebten Reformierung der Branche. Der Schiffbau sei schließlich Eigentum des Volkes und der Übergang zur Marktwirtschaft sei somit nur mit vereinten Kräften zu schaffen, lautete der Tenor in den Betriebszeitungen der Werftindustrie. Entsprechend des neuen Zeitgeistes versuchten die Leiter des Kombinats, sich öffentlichkeitswirksam betont demokratisch und wirtschaftlich reformerisch zu positionieren. Jürgen Begemann versprach im Februar 1990 in der Werftzeitung der Mathias-Thesen-Werft: »Wie sich der Industriezweig Schiffbau entwickelt, welchen Weg die Werften und Betriebe unseres Kombinates gehen, auch das bestimmen wir nunmehr selbst.« Jedoch gelte, »was wir nicht selbst erarbeiten, wird uns nicht gehören. Keine Bank und kein Konzern dieser Welt wird den Werktätigen des Industriezweiges Schiffbau etwas schenken. Aber auch wir werden einen Ausverkauf unserer Werte nicht zulassen.« Als Generaldirektor des Kombinats Schiffbau sprach er sich aus für eine »Wirtschaftsvereinigung und Währungsunion mit der Bundesrepublik Deutschland« und die Unterstützung all jener, »die mit Blick auf das europäische Haus« nach »Frieden, soziale[r] Sicherheit und demokratische[m] Fortschritt« streben.[26] 

Begemann hatte sich bereits im Oktober 1989 – und somit innerhalb der kurzen Zeitspanne zwischen den Feierlichkeiten zum 40-jährigen Jubiläum der DDR und dem Fall der Mauer, als in allen gesellschaftlichen Bereichen über die notwendigen Veränderungen im Land diskutiert wurde – in einem umfangreichen Interview der Ostsee-Zeitung zu der Frage geäußert, wie es im DDR-Schiffbau weitergehen sollte. Positive Aussichten stellte er der Werftindustrie vor dem Hintergrund aus, dass nicht nur die Auftragsbücher bis 1993gefüllt seien, sondern darüber hinaus die Nachfrage die Produktionsmöglichkeiten der DDR-Werften übersteige. Ein zu erwartender globaler Nachfrageaufschwung, ausgelöst durch eine überalterte Welthandelsflotte, komme noch hinzu und die Entwicklung neuer Schiffstypen garantiere gewinnbringenden Absatz. Begemann betonte die erforderliche Neuausrichtung auf die globalen Marktbedingungen, die eine Rationalisierung des Produktionsprozesses und der Betriebe generell notwendig mache. Zwar sei der sowjetische Markt wichtig, aber, um dem Ungleichgewicht in der Auftragsbeschaffung zu begegnen, müsse eine gezielte Anpassung an das marktwirtschaftliche System erfolgen. Ingesamt aber habe die Schiffbauindustrie »ausgezeichnete Absatzchancen«.[27] 

Der Leiter der Kombinats-Pressestelle, Dieter Strobel, betonte zu Beginn des Jahres 1990 in der Ostsee-Zeitung nochmals die Leistungsfähigkeit der volkseigenen Betriebe und die »solide Auftragslage« der Branche:

»Im abgelaufenen Jahr gelang es dank konkurrenzfähiger Schiffstypen, vertragstreu erbrachter Leistungen und gezielter Marktbearbeitung den Vertragsvorlauf solide auszubauen. Gestützt auf einen Stamm von 55 000 Mitarbeitern, eine seit Jahren bewährte und weiterentwickelte horizontal und vertikal gegliederte Unternehmensstruktur, international gefragte Erzeugnisse und eine Schiffahrtskonjunktur wie lange nicht, stellt sich das Kombinat Schiffbau dem internationalen Wettbewerb. Für 1990 bedeutet dies, in erster Linie 34 Neubauten in 14 Typausführungen für Kunden aus sieben Ländern fertigzustellen.«[28] 

Doch spätestens seit dem demokratischen Aufbruch im Herbst 1989 und den damit einhergehenden Umwälzungen im ganzen Land hatte sich auch Sorge und Skepsis unter die Zukunftserwartungen der Schiffbauer gemischt. Selbst der optimistische Artikel in der Ostsee-Zeitung verwies trotz aller positiven Aspekte wie der gefüllten Auftragsbücher auf »instabile Kooperationsbeziehungen«, die als »belastend« bewertet würden.[29]  Eine Gruppenleiterin der Peene-Werft sagte gegenüber der Betriebszeitung Bullauge vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen:

»Ich erwarte 1990 aber auch klare Aussagen zu meinem Arbeitsplatz in der Werft, denn derzeit weiß ich nicht, ob ich noch gebraucht werde. Des weiteren sind republikweit Aussagen notwendig zu staatlichen Subventionen, wo bleiben sie bestehen, wo fallen sie weg. In meinem Interesse ist es nämlich nicht, wenn die bisher erreichte soziale Sicherheit auf der Strecke bleibt. Ja, ich wünsche mir weiterhin, daß unsere Wirtschaft erstarkt und viele noch offene Kundenwünsche erfüllt werden können. […] Unserem Betrieb wünsche ich Erfolg beim Beginn der Eigenerwirtschaftung der Mittel, weil dieser sich auch für mich als Beschäftigte der Werft auszahlen würde.«[30] 

Der aufkeimenden Unsicherheit darüber, was die neue Ära der Marktwirtschaft für den eigenen Arbeitsplatz und den Fortbestand des Betriebs bedeuten würde, begegneten die Vorgesetzten mit betontem Optimismus. Trotz der offensichtlichen Probleme innerhalb des Kombinats Schiffbau, wie beispielsweise überalterte Produktionsstätten und Materialknappheit, solle ein »Gesundschrumpfen« des Industriezweigs unbedingt vermieden werden. Arbeitsplätze sollten laut Erwin Kleba, dem stellvertretenden Leiter des Kombinats, nicht nur erhalten bleiben, sondern sogar neue geschaffen werden.[31]  Die ostdeutsche Werftindustrie müsse effektiver werden, um eine Gewinnerwirtschaftung zu erzielen, beschwor auch Begemann in der Betriebszeitung der Mathias-Thesen-Werft Kompass. Neben einer besseren Materialwirtschaft müsse unter anderem dafür gesorgt werden, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen in allen Kombinatsbetrieben gesichert würden.[32]  Gleichzeitig betonte Begemann die gute Auftragslage:

»Wir können diese Rationalisierung durchführen über vollen Auftragsbüchern. Das ist ein Vorteil, um den uns viele Betriebe beneiden. Ich kann Ihnen sagen, daß wir gegenwärtig, einschließlich der Abschlüsse in den vergangenen Monaten, einen Auftragsbestand haben von 122 Schiffen und Wasserfahrzeugen mit einem Vertragsvolumen von rund 1,4 Mrd. DM für westliche Kunden und ca. 1,4 Mrd. Rubel, die mit Aufträgen von sowjetischen Kunden belegt sind. Dazu kommen gemäß dem Schiffbauabkommen mit der Sowjetunion rund weitere 40 Schiffe mit einem Wertumfang von rund 850 Mio. Rubel für den Zeitraum von 93, 94, 95, d. h. zusammengefaßt bis 93 haben wir Aufträge und darüber hinaus einen Vorlauf in Form von Abkommen mit unseren sowjetischen Partnern bis 1995.«[33] 

Mit diesem Auftragspolster in der Hinterhand gaben sich die Schiffbauer im Hinblick auf den Weltmarkt gelassen. Der Schiffbau sei schließlich traditionell eine globale Branche, weitgehend unabhängig vom Wirtschaftssystem, und somit sei der ostdeutsche Schiffbau im Gegensatz zu anderen Industriezweigen der DDR immer schon mit dem Weltmarkt konfrontiert gewesen.[34] 

Tatsächlich war die Exportquote der Branche vergleichsweise hoch, was nicht zuletzt politische Gründe hatte – schließlich brachten die verkauften Schiffe dringend benötigte Devisen.[35]  Obwohl die Schiffbauverantwortlichen der DDR gerne hervorhoben, dass sich der Kundenstamm international zusammensetzte, so waren es doch die Aufträge aus der Sowjetunion, die die Werften zu großen Teilen auslasteten. Die Volkswerft in Stralsund und die Binnenwerften in Boizenburg und Roßlau lieferten zeitweise sämtliche ihrer vom Stapel laufenden Schiffe an die UdSSR.[36]  Die sowjetische Nachfrage nach immer neuen Schiffen war dafür verantwortlich, dass sich der DDR-Schiffbau auf die Bedürfnisse dieses Großabnehmers eingestellt hatte. Für beide Seiten bedeutete dies langfristige Planbarkeit und somit für den DDR-Schiffbau weitgehende Auftragssicherheit. Zwischen 1984 und 1989 wurden im Durchschnitt 60 Prozent der Schiffsneubauten an die UdSSR verkauft.[37]  Im Jahr 1989 produzierte die DDR nur 6 Prozent der Schiffe für den eigenen Bedarf, 70 Prozent gingen an die Sowjetunion, der Rest an Liberia, die Niederlande und Malta.[38] 

Gleichwohl wurde die selbstbewusste Gesamteinschätzung auch durch Bewertungen auf internationaler Ebene gestützt: Im weltweiten Ranking platzierte das renommierte Lloyd’s Register of Shipping die DDR am Ende der 1980er-Jahre auf dem siebten Platz der Schiffbaunationen. Zudem erschien sie auf dem dritten Platz als Produzentin von Frachtschiffen und sogar auf dem ersten Platz für Fischereifahrzeuge.[39]  Die Auftragssituation für die DDR-Werften erschien außerordentlich gut, lag doch die Nachfrage nach Schiffen innerhalb des RGW-Raumes höher als die vorhandenen Produktionskapazitäten. So befand man sich in der vergleichsweise komfortablen Situation, keine neuen Märkte erschließen zu müssen. Innerhalb des abgeschirmten Wirtschaftsraums konnten die Produkte ohne besondere technische Neuerungen in Serie produziert werden, besonders weil der Absatz in die Sowjetunion kalkulierbar war.[40] 

In der Bundesrepublik steckte neben anderen traditionellen Industriezweigen auch der Schiffbau seit den 1970er-Jahren in einer schweren Krise, die mit dem Zusammenbruch des internationalen Währungssystems von Bretton Woods in den Jahren 1971–1973 und dem Ölpreisschock 1973/74 zusammenhing. Der davon ausgelöste Einbruch des Marktes für Öltanker hatte ein regelrechtes Werftensterben in den westlichen Industrienationen zur Folge. Die Marktführer in Europa wurden schließlich von der staatlich hochsubventionierten Schiffbauindustrie in Japan und später Südkorea überholt.[41] 

Die DDR-Führung sah die internationalen monetären Turbulenzen als ein Indiz für die systemimmanenten Mängel des Kapitalismus und deutete sie als einen weiteren Beweis der Überlegenheit des planwirtschaftlichen Systems. Tatsächlich sanken innerhalb des geschützten, sozialistischen Wirtschaftsraums (RGW) in der ostdeutschen Werftindustrie in den 1970er-Jahren weder die Beschäftigtenzahlen, noch gab es Einbrüche in der Auftragslage.[42]  Während also sich die westliche Wirtschaftswelt seit den 1970er-Jahren in einem Prozess befand, der allgemein als Strukturwandel bezeichnet wird, hielt die SED-Parteiführung in der DDR an den grundlegenden Parametern der Planwirtschaft fest und ignorierte dabei sogar zunächst die wachsende Westverschuldung ihres Landes. Insgesamt muss aber konstatiert werden, dass sich durch mangelnde Investitionen die wirtschaftliche Substanz der DDR zunehmend verschlechterte. Wirtschaftshistoriker bewerten die Reaktionen der SED-Führung auf die Herausforderungen eher als akutes Krisenmanagement und Aktionismus denn als nachhaltige Kurskorrektur.[43] 

Die gravierende Unwirtschaftlichkeit der sozialistischen Betriebe wird am Beispiel der Roßlauer Schiffswerft deutlich: Der spätere Eigentümer der Werft, der Bremerhavener Stahlbauer Heinrich Rönner, berichtete später in einer Reportage des MDR, wie selbst die großen, offenen Schiffbauhallen mit Fernwärme beheizt wurden – in Gang gesetzt mit nur einem einzigen Schalter für die Beheizung der gesamten Werft. Aus diesem Grund, so Rönner, betrug die Heizkostenrechnung nach seiner Übernahme der Werft und vor der Modernisierung für den Monat Januar 1993 allein 172 000 DM.[44] 

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