Wenn das Leben dir eine Schildkröte schenkt - Heike Duken - E-Book
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Wenn das Leben dir eine Schildkröte schenkt E-Book

Heike Duken

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Beschreibung

Eine Familie, die manchmal keine sein will, eine Schildkröte, die sie 40 Jahre begleitete und ein Geheimnis, das wohl oder übel ans Licht kommen muss ...

»Charly ist tot. Ich kann nichts dafür.« Mit diesen Worten lädt Großmutter Frieda die Familie in den Garten der alten Villa in Murnau zur Beisetzung ein. Charly, das war die Schildkröte der Familie, mit der vor über 40 Jahren alles begann. Denn Heinrich, der Großvater, der eigentlich gar nicht der Großvater ist, brachte Charly damals als Geschenk mit für die Kinder von Frieda, in die er sich gerade verliebte. Doch dass Heinrich auch Geheimnisse mitbrachte, die er länger hüten würde, als Charly am Leben sein sollte, ahnte damals keiner. Und er ist nicht der Einzige in diesem zusammengewürfelten Clan, der mit sich und seinen Mitmenschen zu kämpfen hat. Doch alle machen sich auf den Weg, um Charly die letzte Ehre zu erweisen. Es wird ein Tag, an dem alle etwas zu Ende bringen wollen und sich dennoch ein neuer Anfang entwickelt …

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Das Buch

Charly ist tot, und Großmutter Frieda lädt in den Garten der alten Villa in Murnau zur Beisetzung ein. Charly, das war seit mehr als 40 Jahren die Schildkröte der Familie, mit der eigentlich alles begann. Denn Heinrich, der Großvater, der eigentlich gar nicht der Großvater ist, brachte Charly damals als Geschenk für die Kinder von Frieda mit, die er heiraten wollte. Doch dass Heinrich auch Geheimnisse mitbrachte, die er länger hüten, als Charly am Leben sein würde, ahnte damals keiner. Und er ist nicht der Einzige in diesem zusammengewürfelten Clan, der mit sich und seinen Mitmenschen zu kämpfen hat. Doch alle machen sich auf den Weg, um Charly die letzte Ehre zu erweisen. Es wird ein Tag, an dem alle etwas zu Ende bringen wollen und sich trotzdem ein neuer Anfang entwickelt …

Die Autorin

Heike Duken, geboren 1966 in München, studierte Psychologie und arbeitet in Nürnberg als Psychotherapeutin in ihrer eigenen Praxis. Sie schreibt, seit sie die Buchstaben kennt, ihr erstes Werk war eine Piratengeschichte in der dritten Klasse. Ihr Romanprojekt »Wenn das Leben dir eine Schildkröte schenkt« wurde mit einem Stipendium des Deutschen Literaturfonds gefördert.

Heike Duken

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Arbeit der Autorin an diesem Roman wurde vom Deutschen Literaturfonds e.V. gefördert. Alles ist erfunden und alles war ganz anders.

Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2019 bei Limes Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © 2019 by Blanvalet, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München

JB · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München ISBN978-3-641-23212-2 V003

www.limes-verlag.de

Für Doris und Herbert

Prolog

Frieda 2016

CHARLYISTTOT. WERZURBEISETZUNGERSCHEINENWILL, SOLLTESICHAUFDENWEGMACHEN. ICHWOLLTESIEAUSDEMWINTERSCHLAFHOLEN, ABERSIEWARNICHTMEHRAMLEBEN. ICHKANNNICHTSDAFÜR

Frieda drückte auf SENDEN.

»Weißt du noch?«, fragte sie. »Der Tag, an dem du Charly mitgebracht hast? Du hast gemeint, sie kann noch leben, wenn die Kinder erwachsen sind, und du hattest recht.«

»Die Mädchen haben sich so gefreut. Sie haben sie sogar mit ins Bett genommen«, sagte Heinrich.

»Und du hast es ihnen auch noch erlaubt. Eine Schildkröte!«

»Sie haben trotzdem zwei Tage lang nicht mit mir geredet, Mattis auch nicht und du auch nicht.«

»Du weißt, warum.«

»Ja, ich weiß alles noch ganz genau. Das ist meine Strafe – bis zuletzt bleibe ich klar im Oberstübchen. Ich vergesse nichts, gar nichts.«

»Das solltest du aber. Das ist unser Vorteil, dass wir langsam gaga werden und vergessen.«

Heinrich antwortete nicht. Er packte nur die Schildkröte in eine Plastiktüte und machte ein Fach in der Gefriertruhe für sie frei. Er sah so traurig aus. Es kam Frieda unnormal vor, wie traurig er war. Nur wegen Charly.

1. Teil

An Wildschweinen sterben mehr Menschen als an Haien

Nele 1975

Der erste Mann nach dem Tod meines Vaters kam an einem Sonntag in die Familie. Meine Mutter hatte uns vorbereitet. Sie habe jetzt einen Freund. Heinrich.

»Er hat eine ganz schlimme Kindheit gehabt, auf dem Dorf, weit weg von der Mutter«, erzählte sie uns.

Ich lauschte gespannt wie bei einer gruseligen Gutenachtgeschichte.

»Sein Vater ist gefallen. Im Krieg.«

»Hingefallen?«

»Im Krieg gefallen bedeutet gestorben. Und später hat Heinrich eine Frau geheiratet, die ist verrückt geworden. Sie ist in ein Krankenhaus gekommen, und da ist sie geblieben.«

»Für immer?«

Sie nickte.

Ich glaube, sie wollte uns damals gnädig stimmen. Diesen Mann mit der verrückten Frau und der ganz schlimmen Kindheit, den sollten wir nicht zu sehr auf die Probe stellen. Wir drei, das waren Mattis, der Große, Karen, die Mittlere, und ich, die Kleine.

Ich hatte Mitleid mit Heinrich, noch bevor ich ihn kennenlernte. Und beschloss für mich, er sollte es von jetzt an besser haben im Leben. Ich würde dafür sorgen. Es war gut, dass dieser Mann zu uns kam. Alles würde nun anders werden für ihn. Und für meine Mutter auch.

»Er ist da! Heinrich ist da!«, rief ich, als es klingelte. Ich rannte zur Haustür und hüpfte auf und ab, auf und ab, bis Mutter endlich öffnete, und da stand er. Der arme Mann. Er beugte sich zu mir hinunter.

»Du bist die Nele, stimmt’s?«

Ich nickte. Ganz ernst und feierlich.

»Du hast ja wirklich so schöne Augen!« Er lächelte.

Ich nahm seine Hand und zog ihn ins Zimmer. Der Tisch war schon gedeckt, es gab süße Teilchen, dazu Kaffee für die Erwachsenen und Limonade für uns Kinder. Das kriegten wir sonst nicht zu sehen, Gebäck und Limonade. Wir stürzten uns darauf wie ausgehungert.

Ich schaute sie die ganze Zeit an, meine Mutter und ihn. Wie vorsichtig sie miteinander umgingen und wie zuvorkommend.

Mein Vorhaben festigte sich. Heinrich würde es gut bei mir haben. Er würde alles vergessen und glücklich werden, bei mir, der kleinsten von allen. Meine Beine baumelten über dem Sofarand, und ich trank meine Limo, für die ich sogar einen Strohhalm bekommen hatte.

Später brachen wir auf. Wir saßen zu dritt hinten in Heinrichs Auto, meine Mutter vorne. Er konnte gut Auto fahren. Ich wusste, Heinrich würde niemals einen Unfall bauen.

Unser letzter Ausflug lag lange zurück. Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern. Ein Auto hatten wir nie gehabt. Ich schaute aus dem Fenster, ich sah ein Pferd und eine Herde Schafe.

Wir liefen durch einen Wald, und Mattis tat so, als würde er sich auskennen. Er erklärte alles Mögliche: Das wären Buchen und das Eichen und das Wildschweinspuren …

»Wildschweine, die sind gefährlich, Nele, die rennen dich um. Und die Eber, die rammen dir die Hauer in den Bauch. Das ist tödlich, verstehst du?«

»Hör auf, Mattis!«, befahl meine Mutter, aber er dachte gar nicht daran.

»An Wildschweinen sterben mehr Menschen als an Haien. Das ist eine Tatsache.«

Heinrich nahm meine Hand. »Ganz so schlimm ist es nicht«, beruhigte er mich. Ich ging eine Weile an seiner Hand. Er machte viel größere Schritte als ich, passte aber immer auf, dass ich mitkam. Wir waren schon sehr weit gelaufen, und meine Füße taten weh.

»Kannst du denn noch?«, fragte Heinrich.

Ich schüttelte den Kopf.

Er hob mich hoch und setzte mich auf seine Schultern. Da oben konnte es ruhig noch viel weiter sein.

»Pscht!«, machte er plötzlich und blieb abrupt stehen. »Ganz ruhig alle!«

Ich hatte furchtbare Angst. Die Wildschweine. Jetzt waren sie da. Mattis hatte auch Angst, ich sah es ihm an, und das machte es noch schlimmer. Karen versteckte sich hinter meiner Mutter.

»Schaut mal, da vorne!« Heinrich deutete auf einen kleinen Sonnenfleck, nur ein paar Meter entfernt, aber ich sah nichts Besonderes.

»Schaut doch, auf dem Stein. Seht ihr sie?«

Wir suchten, zuckten aber mit den Schultern.

»Zwei Kreuzottern. Sie sind ineinander verschlungen. Auf dem Stein.«

Jetzt sah ich sie. Zwei Schlangen.

»Ja, da!«, rief ich, und endlich entdeckten die anderen sie auch. Wir staunten. Sie waren so nah. Ich hatte noch nie eine echte Schlange gesehen. Irgendwie hatte Heinrich sie heraufbeschworen, für mich. Und auf seinen Schultern war ich vor ihnen in Sicherheit und konnte sie einfach so beobachten.

»Sie lieben sich«, sagte Heinrich und sah meiner Mutter dabei in die Augen. Sie schaute nicht weg und hielt es lange aus, ohne zu blinzeln.

Als es weiterging, waren wir alle noch aufgekratzter, wegen der Schlangen, wegen Heinrich und allem. Karen beschwerte sich, sie könne jetzt auch nicht mehr laufen, sie wolle jetzt auch mal eine schöne Aussicht haben.

»Also gut, gerecht muss es sein.«

Heinrich hob mich herunter und stemmte Karen auf seine Schultern. Ihre Beine hingen ganz lang an ihm herunter, weil sie schon viel zu groß für so was war. Mattis verdrehte die Augen, das war für ihn Mädchenkram. Er kam mit einem Stein an.

»Das ist ein Kreuzotternei, seht ihr?«

»Tatsächlich!«, meinte Heinrich. »Das ist sehr selten, Mattis, pass gut darauf auf.«

»Ich nehme es mit, und zu Hause lassen wir die Babys schlüpfen. Die dürfen dann in deinem Zimmer schlafen, Nele.«

Ich hüpfte im Kreis herum. »Das macht mir nichts, ich hab keine Angst!«

Wir Kinder rannten voraus und wieder zurück, wir sahen überall Schlangen und Schlangeneier, hoben Stöcke auf und schlugen damit gegen Baumstämme, immer wilder wurden wir, die Gesichter rot, die Köpfe verschwitzt.

»Treibt es nicht zu bunt!«, rief meine Mutter, aber wir hörten nicht auf sie. Mattis hob einen schweren Prügel hoch und schwenkte ihn über dem Kopf.

»Heinrich, kannst du das auch?«, brüllte er.

Heinrich lief ein Stück ins Unterholz und suchte nach einem Stock für sich, Mattis hinter ihm her. Er heulte wie ein Indianer und drehte sich im Kreis, beide Hände an seinem Prügel; Heinrich bückte sich, Mattis drehte sich weiter, aber dann bekam er zu viel Schwung und konnte den schweren Ast nicht mehr halten. Er flog durch die Luft, und als Heinrich sich gerade erhob, traf ihn der Prügel mit einem dumpfen Geräusch am Hinterkopf.

Einen ganz kleinen Moment lang war es vollkommen still, sogar die Vögel verstummten und hielten die Luft an.

Und dann passierte es. Alles ging wahnsinnig schnell. Heinrich rannte los, zu meinem Bruder hin, holte aus und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Mattis flog nach hinten, viele Meter weit, so kam es mir vor, wie in einem Film. Er machte dabei ein kurzes, schlimmes Geräusch, es kam aus seinem Hals.

Ich starrte zu ihm hin. Er lag auf dem Waldboden und hatte Dreck und Blätter in den Haaren. Jetzt setzte er sich auf. Er schaute so verwirrt und erschrocken drein, dass er mir leidtat wie verrückt. Er langte sich ans Kinn. Seine Lippe blutete.

Ich fing an zu weinen.

Heinrich stand da. Er tastete seinen Hinterkopf ab und betrachtete dann die Hand, ob Blut daran war. Kein Blut.

Das war nicht gerecht.

Trotzdem, er tat mir auch leid.

Auf der Rückfahrt nach Hause sagte keiner ein Wort. Die Knöchel der Hand, mit der Heinrich Mattis geschlagen hatte, leuchteten ganz rot. Mein Bruder saß neben mir. Seine Arme hingen wie tot herunter. Karen summte leise vor sich hin. Ich tat, als würde ich schlafen.

Als wir anhielten, öffnete ich die Augen und sah, dass Heinrich seine Hand hinüber zu meiner Mutter legte. Auf ihr Bein. Sie bewegte sich nicht, starrte nur geradeaus. Keiner stieg aus. Karen summte nicht mehr.

»Heinrich?«, fragte meine Mutter, ohne ihn anzuschauen.

»Ja?«

»Meine Kinder werden nicht geschlagen.« Sie war vollkommen ruhig.

Heinrich antwortete nicht.

»Überleg dir, ob du das schaffst. Überleg es dir gut«, sagte sie.

Er stieg nur aus und öffnete mir von außen die Tür.

Ich kletterte hinaus.

»Tschüss, Nele«, sagte er.

»Tschüss.«

Dann legte er Mattis etwas in die Hand.

»Dein Schlangenei.«

Mattis schaute auf den Stein wie auf etwas Seltsames, Fremdes.

Spät abends schlüpfte ich noch einmal aus dem Bett und ging zur Toilette, obwohl ich gar nicht musste. Durch den Türspalt sah ich meine Mutter im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen.

Im blauen Flimmerlicht sah sie bleich aus.

Xie Xie

Nele 1999

Der Schmerz kam schlagartig und sofort mit voller Wucht. Er fühlte sich anders an als alles, was ich kannte. Als würde mein Unterleib sich zur Faust ballen und gewalttätig werden.

Nach einer Aspirin und einer Stunde, die ich gekrümmt auf dem Sofa verbracht hatte, versuchte ich, Bert zu erreichen. Aber er war nicht im Büro, sondern unterwegs auf einer der Baustellen. Das kannte ich schon.

Wen konnte ich anrufen? Wen denn? Unsere einzigen Freunde hier wohnten außerhalb in Happy City, siebzig Kilometer entfernt. Und sie beherrschten ja auch nur ungefähr zehn chinesische Wörter, genau wie ich.

Blieb nur Greta, meine Assistentin. Sie war es gewohnt, am Sonntag angerufen zu werden. Wir waren es alle gewohnt. Aber Greta kam gerade heute nicht infrage. Auf keinen Fall.

Als hätte mein Körper das eingesehen, gab er plötzlich Ruhe. Schweigen da unten. Vielleicht bekam ich doch nur meine Tage. Vielleicht reagierte ich über, wieder einmal allein in dieser absurd großen Wohnung, gefangen zwischen Fensterscheiben, die sich nicht öffnen ließen. Ein Aquarium.

Ich sah hinunter auf das neue Shanghai. Novembersmog. Winzige Autos bewegten sich durch den gelblichen Nebel, aus dem halbfertige Hochhäuser ragten wie schlechte Zähne. Der Himmel darüber seit Wochen konstant grau und tief durchhängend, eine apokalyptische Lebensfeindlichkeit, so kam es mir vor. Am Horizont prangte grellrot leuchtend die Coca-Cola-Werbung, ein einsames Signal, eine letzte Assoziation: zu Hause.

Was mir am Freitag mit Greta passiert war, wäre vor ein paar Wochen noch undenkbar gewesen. Aber mein Heimweh hatte die letzte wütende Phase erreicht. Man fing an, alles zu hassen, wirklich alles zu verabscheuen, vollkommen beliebig. Jede Kleinigkeit nur ein weiterer Beweis für dieses Exil, moderne Sklaven waren wir, verschleppt in der Business Class.

Greta hatte in der Datei für die Präsentation wieder das falsche Logo verwendet, in dem das V mit dem W vertauscht war, sodass unsere schöne deutsche Marke, in der ganzen Welt mit solider Wertarbeit assoziiert, der Lächerlichkeit preisgegeben war. Diese Verballhornung hielt sich hartnäckig in den Dateien und brachte sämtliche Chefs und Chefchefs in null Komma null eins Sekunden auf hundertachtzig.

»Diese unendliche chinesische Blödheit!«, brüllte ich durchs Großraumbüro, außer Kontrolle geraten, eine Rassistin war ich. Und die Adressatin, Greta, stand auf, eine Chinesin, die sich ihren absurden Vornamen selbst verliehen hatte, aus Ehrfurcht vor den deutschen Vorgesetzten. Das war so üblich.

»Oh, vergessen«, flötete sie und trippelte auf ihren zehn Zentimeter hohen Lackpumps und in ihren Rüschenhotpants um den Schreibtisch herum. Sie war besonders umgänglich und bemüht in den letzten Tagen, weil es um ihre Hochzeit ging. Auch das war üblich, die Vorgesetzten erschienen zur Hochzeit und hielten Lobreden.

»Ich werde nicht zu deiner Hochzeit kommen«, herrschte ich sie an. »Und merk dir das endlich mit dem Logo. Merk es dir, Greta, hörst du?«

Ich konnte es nicht fassen. Was war aus mir geworden? Aber auch das war ja nur eine klägliche und eigennützige Reue.

Greta hatte gelächelt, sich umgedreht und war gegangen. Vielleicht hatte sie auf dem Klo geweint. Bestimmt sogar: Dieses Hochzeitsding war einfach extrem wichtig.

Der Schmerz kehrte zurück, und diesmal blieb mir die Luft weg. Ich bekam richtige, kalte, schweißnasse Angst. Und wählte doch Gretas Nummer, denn jetzt war es schon egal. Meine Assistentin ging jedoch nicht ran. Dieses eine Mal übernahm der Anrufbeantworter.

»Greta, hier ist Nele. Ich muss zum Arzt. Bitte, kannst du mich fahren und übersetzen? Es ist dringend, glaube ich.«

Ich wartete. In der Küche, über die Spüle gebeugt, ständig ganz kurz davor, mich zu übergeben. Ich trank ein Glas Wasser.

Wie sterbensallein sie war, diese Frau in der Küche im neununddreißigsten Stock, mit dem Glas Wasser in der Hand. Sie war mir fremd.

»Ich bin’s noch mal, Nele. Es tut mir leid, Greta! Melde dich, wenn du das hörst, bitte! Ich fahre jetzt mit dem Taxi ins Blaue Krankenhaus. Vielleicht ist Dr. Mayers da.«

Im Krankenhaus – ein Gebäude mit blauen Stahlstreben innen wie außen – tummelten sich Menschen jeden Alters, klein und schwarzhaarig, mit Plastiktüten voller Essen am Arm und mit Kindern im Schlepptau. Ein Tresen weiter vorne war anscheinend so etwas wie die Anmeldung. Ich musste drängeln, alle drängelten dorthin, alle wollten ja nur drankommen und wedelten mit Geldscheinen. Ohne Geld wurde hier niemand behandelt. Niemand. Ein Mann schubste mich, ich schubste zurück. Endlich vorne beim Tresen präsentierte ich ein Bündel Geldscheine und hielt eine Karte hoch mit dem chinesischen Wort für Schmerzen. Eine Karte für »Unterleib« hatte ich nicht, deshalb musste ich darauf deuten, eine Frau neben mir wegdrücken und wieder auf meinen Unterleib zeigen.

»Dr. Mayers? Ist Dr. Mayers da?«, fragte ich.

Keine Antwort. Nur eine Armbewegung, das hieß wohl nach oben, und ich ging nach oben. Die Treppe wollte gar nicht mehr aufhören, in meinem Unterleib ein schwerer Stein. Aber tatsächlich, da stand ein Wort, das ich lesen konnte: Gynecology. Ein Wartezimmer war auch da, dort war es merkwürdig still nach dem Tumult in der Eingangshalle. Frauen saßen auf Bänken, alle schauten auf den Fußboden. Blau. Nichts passierte. Ab und zu holte eine Schwester eine der Frauen ab, und eine neue Frau setzte sich dazu.

Ob es irgendwo ein Telefon gab? Wie sollte ich Bert erreichen? Vielleicht war er von der Baustelle schon zurück in seinem Büro.

Doch dann spürte ich die Feuchtigkeit. Ich sah an mir herunter. Ein dunkler Fleck breitete sich aus. Wurde größer und größer. Ich brauchte eine Toilette. Jetzt. Unbedingt. Ich hetzte den Gang entlang und suchte. Aus der Feuchtigkeit wurde Nässe, meine Socken sogen sich voll, die Turnschuhe, und dann gab es schon eine rote Spur; erst Tropfen, dann Schlieren.

Das Toilettenschild. Der Gestank wie eine Wand. Putzmittel, alter Urin und frische Exkremente. Nichts als eine Rinne, über die man sich hockte. Es war nur eine weitere Frau da. Sie hockte schon. Sah nicht auf. Ich zog meine Hose herunter und hockte mich auch hin. Ein hellroter Strahl lief aus mir heraus, als hätte man einen Hahn aufgedreht. Ich sah das Blut die Rinne entlangfließen, und die Frau neben mir entleerte sich. Sie war hochschwanger. Sie hatte sich einen Einlauf gemacht, die Utensilien lagen vor ihr auf dem Fußboden.

Was sollte ich tun? Unten suchten mich in Wellen die Krämpfe heim, es gab ja nur noch unten, oben war ich nicht mehr da, oben war ich leer. Und dann spürte ich mit einem Schwall ein Etwas aus mir herausschwemmen, ein Klümpchen. Es wurde ruhiger in mir ohne dieses Etwas, der Schmerz ließ nach, obwohl das Blut weiterfloss, immer weiter.

Ich fing an zu schreien. Die Frau neben mir schaute in die Rinne, und Entsetzen machte sich auf ihrem Gesicht breit. Sie jammerte etwas, ich verstand sie nicht und schrie weiter. Die Frau stand auf, säuberte sich hastig und kam zu mir her.

»Holen Sie Hilfe!«, flehte ich sie an.

Aber sie blieb da, nahm ein Stofftuch aus ihrem Bündel, zog mich hoch und presste mir das Tuch zwischen die Beine. Dann deutete sie auf sich und machte die Zahl drei mit der Hand, bevor sie auf meine Scham zeigte und wieder die Zahl drei machte. Sie hatte das drei Mal erlebt? War das ihre Botschaft? Standen mir noch zwei Mal bevor?

Die Frau lächelte jetzt und zeigte auf ihren hochschwangeren Bauch. Der Nabel war bereits ausgestülpt, es konnte nicht mehr lange dauern bis zur Geburt. Sie nahm meine Hand und legte sie auf ihren mächtigen Leib. In dem Moment wusste ich es. Erst jetzt kam bei mir an, was passiert war, der gespannte Bauch unter meiner Hand. Dr. Mayers hatte prophezeit, ich könne nicht schwanger werden. Zu wenig Hormone. Und doch war es geschehen. Und doch floss meine Schwangerschaft mit den Ausscheidungen dieser Frau den Abguss hinunter. Jetzt wusste ich auch, was sie mir hatte sagen wollen. Ich packte ihre Hand, sie war ein Mensch, der letzte in einer menschenleeren Welt. »Xie Xie.« Danke. Mehr schaffte ich nicht mehr. Ich sackte zusammen, landete auf dem Boden, die Fußgelenke von der Hose gefesselt, Brechreiz bis zum Hals.

Die Frau rannte hinaus und holte eine Schwester. Die zerrte mich auf einen Rollstuhl, immer noch die Hose unten, und schob mich in einen Saal, in dem etliche Gynäkologenstühle nebeneinander aufgereiht standen. Auf allen bis auf einen warteten Frauen, die Beine gespreizt. Auf diesen einen wurde ich gehievt, eine Schüssel zum Auffangen des Blutes unter mir. Die Tropfen machten beim Aufschlagen auf das Plastik ein Geräusch, dann ein anderes, als die Schüssel sich langsam füllte.

Ich sah ein Telefon, unendlich weit weg auf einem Tisch. Neben mir gab ein Gerät die Herztöne eines Fötus wieder, und ich wurde ruhiger. Der Blutfluss hatte nachgelassen. Ich sah auf meine Füße, die nassen Socken, die Waden auf den Halterungen des Gynäkologenstuhls.

Und dann tauchte ein glitzernder Pandabär zwischen diesen Füßen auf, auf einem pinkfarbenen T-Shirt, eine schwarze Brille und eine Bärchenhaarspange.

Ich fing sofort an zu weinen. Greta umarmte mich.

»Chefin!«, rief sie. »Chefin!« Sie drückte mich fest. »Dr. Mayers kommt, ich habe gesagt, Sie sterben. Und Mann kommt auch, ich habe alle verrückt gemacht, und sie haben ihn gefunden.«

Ich schluchzte immer lauter und zitterte und hatte meine Stimme nicht mehr im Griff. »Greta, es tut mir so leid.«

Sie wischte das mit einer Handbewegung weg. »Das waren nur Hormone. Nicht Sie, Chefin, Hormone. Das sind Biester!«

Ich bemühte mich zu lächeln, heulte aber weiter wie ein kleines Mädchen. »Ich werde auf deiner Hochzeit …«

»Schluss damit. Erst Ausputzung, dann Hochzeit.«

Jetzt lächelte ich tatsächlich. »Ich war schwanger«, sagte ich plötzlich ganz ruhig.

Greta biss sich auf die Lippe, streichelte eine Weile über meinen Arm, beugte sich dann über mich und flüsterte: »Einmal schwanger, immer wieder schwanger. Sie müssen nur Sex haben. Bald!«

Sie kicherte. Und hielt einfach meine Hand.

Aber wenn es stimmt?

Max 2009

Ich heiße Max und gehe nicht auf eine normale Schule. Ich gehe auf eine Schule für Idioten. Meine Mutter sagt, ich soll das nicht sagen. Aber wenn es stimmt? Ich kenne keinen auf meiner Schule, der kein Idiot ist. Sogar Manuel ist ein Idiot, und er ist Klassenbester. Ich bin außerdem dick. Ich habe eine Brille und komische Zehen, die alle aus meiner Klasse eklig finden, ich auch. Deshalb darf ich keinen Sport machen. Ich darf nur Fahrrad fahren, und ich hasse Fahrrad fahren. Ich hasse Obst. Ich mag alle Süßigkeiten, die es gibt, wirklich alle. Ich stopfe sie in mich hinein, ich kann nicht anders. Mit Wurstbroten ist es genauso. Das einzige Essen, das ich mag und das meine Mutter auch gut findet, ist ein Schokomüsli, allerdings das knusprige. Sie freut sich, wenn ich wenigstens das esse, obwohl sie weiß, dass es fast genauso ungesund ist wie Nutella. Für sie ist es eben immer noch ein Müsli. Dass meine Mutter sich über mich freut, kommt nicht gerade oft vor. Sie hat wahnsinnig viele Probleme mit mir. Tja. Das sagt meine Oma Frieda immer: Tja. Ich muss jede Woche zur Ergotherapie und in die Beratung und alles. Ich bin nämlich verhaltensgestört. Wirklich. Sie haben es in der Schule gesagt, und meine Cousine Lena hat es auch zu mir gesagt. Weil ich sie in den Schwitzkasten genommen habe. So schlimm finde ich das auch wieder nicht, das macht Robin mit mir jeden Tag in der Pause, und er hält mich auch nicht viel kürzer fest als ich Lena damals, nämlich die ganze Pause lang. Dann habe ich keine Zeit mehr, was zu essen, und ich muss es im Unterricht machen. Na und? Aber sie petzen wieder bei meiner Mutter. Ehrlich gesagt: Was kann sie denn dafür, wenn ich im Unterricht esse? Und ich muss wieder zur Beratung, dabei ist es in Wahrheit Robin, der verhaltensgestört ist, weil sein Vater ihn schlägt. Robins Vater ist ein Arschloch. Mein Vater ist weg. Ich weiß, warum. Meine Mutter sagt, ich soll das nicht sagen, aber wenn es stimmt? Sie weiß es eigentlich auch. Mein Vater ist wegen mir ausgezogen. Das ist klar wie Kloßbrühe. Das sagt meine Oma Frieda immer: Klar wie Kloßbrühe. Ich habe sie streiten hören, meine Eltern, und es ging immer um mich. Einmal hat mein Vater gesagt: Es war eben ein Fehler. Tja. Und dann hat meine Mutter gesagt: Dann geh doch! Und er hat sofort seine Sachen gepackt und ist ungefähr eine halbe Stunde später aus dem Haus gegangen. Ich weiß das, weil die Simpsons immer noch liefen. Er ist nicht mehr wiedergekommen, nur ein einziges Mal, als er noch mehr von seinen Sachen geholt hat. Ich denke nicht daran, ihn zu besuchen. Er hat bloß darauf gewartet, dass meine Mutter sagt: Dann geh doch! Er WOLLTE, dass sie das sagt. Ich vermisse ihn kein bisschen. Die Idioten in meiner Schule haben alle keinen Vater, außer Lisa und die bescheuerte Anna-Marie, die überhaupt keinen Vater verdient hat. Also vor der würde ich als Vater erst recht davonlaufen.

Wahrscheinlich können bloß Mütter bei Kindern bleiben, die Idioten sind. Sogar Adoptivmütter. Ich bin nämlich adoptiert. Manche Eltern holen sich ein Kind aus einem anderen Land, weil sie selber kein richtiges Kind machen können und weil es dort Leute gibt, die ihr Kind nicht haben wollen. Meine Mutter – ich nenne sie immer meine Mutter, obwohl sie mich nur adoptiert hat, die andere nenne ich Schlampe. Also meine Mutter sagt immer, ich soll das nicht sagen: SCHLAMPE. Und dass die Schlampe mich nicht haben wollte. Aber wenn es stimmt? Meine Mutter sagt, die Schlampe konnte mich nicht gut versorgen, weil sie Probleme hatte, und sie wollte nur, dass ich es gut habe. Aber als Kind hat man es nicht gut, wenn man adoptiert ist. Das sollte mal im Fernsehen kommen. Man kann das als Kind nämlich nicht verheimlichen. Alle wissen es. Der ist ja bloß adoptiert! Und wenn es Stress gibt, sagen sie, du hast ja nicht mal eine richtige Mutter. Kein Wunder, dass die Schlampe dich nicht haben wollte.

Meine Mutter tut so, als würde es ihr nichts ausmachen, dass ich nicht auf einer normalen Schule bin und außerdem fett. Und wieso weint sie dann? Ich hab gesehen, wie sie geweint hat. Tja. Da holen sich Eltern ein Kind aus einem anderen Land, und es ist sehr teuer, das Kind, und dann ist es ein Idiot und verhaltensgestört. Das haben die sich bestimmt anders vorgestellt. Wahrscheinlich dachten sie, ich gehe mal aufs Gymnasium wie alle meine Cousins und dass ich Fußball spiele. Oder Geige wie Lena. Meine Zehen waren allerdings schon verkrüppelt, als meine Eltern mich geholt haben. Ich weiß es, denn ich hab meine Mutter gefragt. Ich hätte an ihrer Stelle dann ein anderes Kind genommen. Ich hab auch gefragt, warum meine Zehen verkrüppelt sind und eklig aussehen. Meine Mutter hat nur gesagt, ich soll das nicht sagen, und mir keine Antwort gegeben. Ich weiß trotzdem, warum. Es war die Schlampe. Sie hat das gemacht. Sie ist nämlich wahnsinnig böse. Zum Glück dürfen die richtigen Eltern die Kinder nicht mehr sehen, wenn sie erst einmal adoptiert sind. Die richtigen Eltern dürfen dann gar nichts mehr. Nicht zum Geburtstag und nicht zum Schulanfang kommen und keine Geschenke bringen, nicht einmal anrufen. Die Schlampe würde mich eh nie anrufen, sonst hätte sie mich ja nicht ins Heim gesteckt. Das wäre unlogisch.

Vielleicht bin ich auch schon verkrüppelt auf die Welt gekommen. Das könnte sein. Und die Schlampe hat sich das Baby angeschaut, das aus ihr herausgekommen ist, so ganz blutig und verschrumpelt, und sie hat die Arme gesehen, die Finger, die Beine – und dann die Zehen. Ich kann mir das total gut vorstellen. Sie ist ganz starr geworden und hat die Augen aufgerissen wie die Frau in dem Film mit dem Menschenfresser. Und die Schlampe hat sofort gerufen, dass sie das Kind mit diesen ekligen Zehen nicht haben will.

Wer sein Kind ins Heim bringt, sollte eine Giftspritze kriegen wie in Amerika. Oder auf dem elektrischen Stuhl landen. Da kommen die Augen herausgequollen, das habe ich bei Robin in einem Film gesehen. Ich muss immer daran denken. Ich habe oft Angst, weil ich mir vorstelle, wie die Augen so herausquellen. Das war das Ekligste, was ich je gesehen habe. Außer der Frau, die vom Teufel besessen ist. Das war noch ekliger, und ich habe oft Angst, weil ich daran denken muss. Mit Robin schaue ich immer Filme an. Ich sage meiner Mutter, ich gehe Rad fahren, aber dann schiebe ich bloß zu Robin rüber und stelle mein Rad bei ihm in den Hauseingang. Robins Vater hat auch Sexfilme. Man kann alles genau sehen. Die Schlampen in den Filmen kriegen es so richtig besorgt. Das hat Robin gesagt. Und dass ich es bei ihm genauso machen soll, aber ich habe bloß die Hand genommen. Ich will keine Schwuchtel sein wie Thomas, mein Cousin, der Bruder von Lena. Er hat es selbst zugegeben, sie hat es mir erzählt. Oder ist es mit der Hand auch schwul? Ich weiß nicht. Wenn es jemals irgendwer erfährt, muss ich jedenfalls sofort Harakiri machen, wie der japanische Krieger in dem Film. Das ist klar wie Kloßbrühe. Dann werden alle sagen, der war ein schwuler Idiot und hatte verkrüppelte Zehen, aber: RESPEKT – DERHATSICHAUFGESCHLITZT!

Ich habe oft Albträume. Jemand ist hinter mir her und hat ein Schwert oder eine Bohrmaschine oder eine Säge, und ich kann mich nur ganz langsam bewegen, ich komme nicht vorwärts. Wie ein Faultier. Ich habe eins im Fernsehen gesehen, es war auf einer Straße und wollte wegrennen, das war wahnsinnig gefährlich auf der Straße, aber das Faultier ist das langsamste Säugetier der Welt, es kann überhaupt nicht wegrennen, es kann sich nur in Zeitlupe bewegen. Und so ist das in meinem Traum auch, ich bin dann das langsamste Säugetier der ganzen Welt. Ganz kurz, bevor ich aufgeschlitzt oder aufgebohrt oder zersägt werde, wache ich auf und schreie, und meine Mutter kommt zu mir ins Zimmer und beruhigt mich. Manchmal schreie ich auch einfach so, nur damit sie kommt. Sie kommt immer. Sie redet ganz leise und riecht gut und streichelt mich. Aber das muss sie auch, sie ist ja meine Adoptivmutter. Da kann sie nicht sagen, sie lässt das Kind halt schreien, wenn es Albträume hat, weil sie lieber weiterschlafen will. Das geht nicht. Da käme das Jugendamt und würde ihr sagen, dass sie keine gute Adoptivmutter ist. Zu meinem Adoptivvater ist das Jugendamt nicht gekommen, glaube ich, aber der ist ja nur der Adoptivvater. Der kann ruhig abhauen. Sogar Manuels Vater ist abgehauen, und Manuel kann nächstes Jahr vielleicht auf die normale Schule. Nur Lenas Vater, der würde wahrscheinlich nicht abhauen, weil der ist ein Vater wie in den Filmen, die ich mit meiner Mutter anschauen darf. So Familienfilme halt. Da gibt es immer einen total netten Vater. Damit werden die Kinder, die sich das anschauen, für dumm verkauft. Lass dich nicht für dumm verkaufen