Wenn das Leben stillsteht - Ehsan, Dr. Natour - E-Book

Wenn das Leben stillsteht E-Book

Ehsan, Dr. Natour

0,0

Beschreibung

Wie gehen wir mit Menschen um, die aus der Unversehrtheit, der Normalität gefallen sind, auch mit uns selbst? Darauf sind wir nicht vorbereitet – und das möchte der Herzchirurg Ehsan Natour ändern. Er hat in seiner langjährigen Klinikarbeit an Tausenden von Beispielen erfahren, wie wichtig es ist, stets den Menschen wahrzunehmen statt eines »Falls«. Denn dies hat gravierende Auswirkungen auf die Heilung und wie wir eine Krise meistern. Findet der Arzt einen seelischen Zugang zum Patienten, bilden sie ein Team und kümmern sich gemeinsam nicht nur um ein krankes Organ, sondern um den ganzen Menschen. Am Beispiel der Herzoperation führt uns Dr. Natour durch den gesamten Prozess einer Krise. Dazu hat er eine Kurve entwickelt, an der wir uns selbst »verorten« können. Denn Krisen beginnen in der Regel lange bevor wir es merken – und dauern oft länger, als wir es wahrhaben wollen. Der Autor navigiert uns durch die Phase, in der das Leben stillzustehen scheint. Sein Ansatz kann zu einer Win-win-Situation für alle führen: das Klinikpersonal, das mehr Sinnhaftigkeit erlebt, die Patienten, die schneller auf die Beine kommen, die Angehörigen, die in diesem System als wichtige Säulen nicht übersehen werden – eine Therapie für unser krankes Gesundheitssystem. Ein wichtiges Buch in der ethischen Diskussion um die Heilberufe!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 270

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Dr. Ehsan Natour

Shirley Michaela Seul

Wenn dasLebenstillsteht

Der Arzt, der das Herzseiner Patienten berührt

Dieses Buch ist kein medizinisches Lehrbuch. Die beschriebenen Patientengeschichten sind verfremdet und in ein fiktives Umfeld transplantiert. Ich schreibe meistens »der Patient«, damit ist auch die Patientin gemeint, und wenn, dann hat sie in der Regel einen Ehemann, keine Ehefrau. Es ist kompliziert geworden, aber ich bin sicher, Sie finden sich zurecht. Denn eines ist unbestritten: Sowohl Frauen als auch Männer haben ein Herz!

1. eBook-Ausgabe 2022

© 2022 Scorpio Verlag in Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Lektorat: Ulrike Strerath-Bolz, Friedberg

Layout & Satz: Margarita Maiseyeva, Donaueschingen

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95803-418-1

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten

www.scorpio-verlag.de

Für die Menschen, die mir ihr Herz anvertraut haben. Für meine liebe Familie. Und für Sie.

INHALT

Prolog

Eröffnung

Die weiße Schlange

Herzensangelegenheit

Das Leben ist schön

Wenn das Herz anklopft

Das Leben muss schön sein: Was ich nicht sehe, ist nicht da

Der Einbruch

Spezialisten retten Leben

Erste Hilfe

Der Absturz

Die Checkliste

Herzgespräch

Klarer Kopf in der Krise

Stress macht krank

Die Fallhöhe

Der Aufprall

Die fünf Phasen der Krankheitsverarbeitung

Der tiefgekühlte Patient

Präoperatives Gespräch

Differenzialdiagnose

Dr. Google

Patientenlatein

Diagnose Dogma

Vor dem Aufschneiden: Zuhören

Vor dem Anklicken: Zuwenden

Schonzeit

Das Herz ausschütten

Aus Liebe

Im Vakuum

Untersuchungshaft

Gute Geister

Rollenspiele

Die Nacht davor

Krankheitsbewältigung

Der Eingriff

Crew only

Herzklopfen

Tod auf dem Tisch

Abschiede

Intensiv bewusstlos

Das Durchgangssyndrom

Ganz der Alte?

Stippvisite zu Hause

Mein Schicksal ist kein Einzelfall – die Reha

Neugier auf das neue Normal

Dank

Quellen und Hinweise zum Weiterlesen

Hilfreiche Links

Die Stiftung

Ich wünsche mir, dass jede Mutter und jeder Vater ihr Kind darauf vorbereiten, wie sie ihre Kinder auch auf anderes im Leben vorbereiten, die Schule, die Liebe, den Beruf:

Eines Tages, mein Sohn, meine Tochter, wirst du in eine Situation geraten, die dir ausweglos erscheint. Es mag dir vorkommen, als würde dein Leben enden. Oder stillstehen. Weil du vor Liebeskummer nicht mehr weißt, wie du weiterleben sollst, weil deine Firma Konkurs anmelden muss, weil dein Partner gestorben ist oder du in einer für dich bedeutungsvollen Angelegenheit scheiterst. Vielleicht erfährst du auch eine beängstigende Diagnose, wirst betrogen oder verlassen. Das alles gehört zum Leben. Du hast deswegen kein besonders schweres Schicksal. Je länger du lebst, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass du Bekanntschaft mit Krisen machst.

Geh in diese Situationen mit Vertrauen. Mach dich frei von der Erwartung, dass du danach derselbe Mensch sein wirst wie davor. Sei offen für die Veränderung und nimm sie an. So wirst du sie leichter meistern! Du wirst dann nicht gegen die natürlichen Gegebenheiten kämpfen, deine Mitmenschen werden eher Zugang zu dir finden, deine Wunden werden ohne Komplikationen heilen, du wirst dir schneller ein neues Normal erobern, wenn du darauf verzichtest, am alten festzuhalten. Das Normale im Leben ist der Wandel. Es gibt kein Normal für immer. Und später, wenn du alles gut überstanden hast – und das wirst du, weil du gut vorbereitet bist –, wirst du andere Menschen besser unterstützen können, wenn sie einmal aus ihrem Normal fallen. Gemeinsam ist alles leichter und schöner und: gesünder.

PROLOG

In meiner Heimat heißt es, die Seele würde im Herzen und im Hirn wohnen. Es war ein Schock für mich, als ich während meiner Ausbildung in Köln das erste Mal einen geöffneten Brustkorb ohne Herz sah. Der Patient lag auf dem Tisch, riesengroß klaffte das Loch, wo das Herz hingehört. Es war aber nicht da. Der Chef legte es mir in die Hand, ein Oberarzt bereitete das neue Herz dieses Patienten vor. Die beiden erfahrenen Kollegen führten eine Choreografie auf, die mich mit Bewunderung erfüllte. Wie sicher sie auf der Schneide des Todes balancierten, ja fast tanzten auf der grünen Bühne mit all dem blitzenden Edelstahl. Wie souverän sie Entscheidungen trafen, die über das Weiterleben des Patienten bestimmten. Der schlief tief … bekam nichts mit. Oder doch? Wo weilte seine Seele? Im Herzen jedenfalls nicht, erkannte ich in diesem Moment, denn das hielt ich in der Hand und spürte nichts, was allerdings kein Beweis war. Es war ein müdes Herz, fettbesetzt, und es hatte sich nur noch mit äußerster Anstrengung durchs Leben geschleppt, war dabei immer größer und größer geworden und hatte es letztlich doch nicht mehr geschafft, seinen Körper gut zu versorgen. Wie ein alter, auf dem Sterbebett liegender Mensch kam mir dieses Herz vor – und es sprach zu mir mit heiserer, ja fast schon gebrochener Stimme: »Ich kann nicht mehr.«

Deshalb wurde es ausgetauscht. Mit oder ohne Seele? Wie viele Herzen stehen einem Menschen zu? Und wie lebt es sich mit einem neuen Herzen oder nach einem ähnlich schweren Eingriff; wie lebt es sich nach einem harten Schicksalsschlag? Wenn das alte Normal wie aus dem Leib herausgeschnitten scheint? Vielleicht kommt es einzig und allein darauf an, die Stimme des Herzens zu hören. Wenn wir das alle täten, wie sähe unsere Welt aus?

Diese Gedanken beschäftigen mich bis heute, und mit den Jahren habe ich Antworten auf viele meiner Fragen gefunden. Einige davon möchte ich auf den folgenden Seiten mit Ihnen teilen.

ERÖFFNUNG

Gleich werde ich den Brustkorb eröffnen. Nichts mehr ist für den Menschen vor mir auf dem Operationstisch normal. Das weiß ich, ohne mit ihm zu sprechen. Er könnte auch nicht sprechen, selbst wenn er wollte, denn er liegt in tiefer Narkose in dunkelgrüner steriler Landschaft. Allein der Brustbereich ist frei. Er sieht aber nicht mehr so aus wie am Badestrand, wo der junge Vater gestern noch mit seinen zwei Kindern herumtollte. Bevor ES passierte. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel, obwohl er noch keine vierzig Jahre alt ist. Jugend schützt nicht vor Krankheit.

Die Brust des Mannes, der über Nacht zum Patienten wurde, ist rasiert und über und über mit Desinfektionslösung eingepinselt. Rostorange zu Dunkelgrün. Und nun kommen meine Hände in beigefarbenen Handschuhen. Unter dem starken Licht der OP-Lampe blitzt das Skalpell. Etwas Ungeheuerliches wird gleich geschehen, etwas, das mir in Fleisch und Blut übergegangen ist nach vielen Tausend Operationen. Ich werde die Unversehrtheit der Haut mit dem Skalpell durchtrennen und danach mit der Knochensäge das Brustbein aufschneiden, um tief im Inneren des Körpers dieses Leben zu retten.

Jetzt liegt das Herz vor mir. So ein Herz ist für mich mehr als ein Organ. Es kommt mir vor wie ein lebendiges Wesen, und tatsächlich ist jedes anders. Es gibt Herzen, die wirken geradezu erleichtert, dass man mal nach ihnen schaut, andere wirken bedrückt, es gibt sportliche Typen und Moppelchen mit Fettansatz. Und sehr erschrockene Herzen wie das dieses Patienten, der etwas auf dem Herzen hatte, wie er vor der Operation zu mir sagte. Nämlich seine beiden Kinder, die ihm so sehr ans Herz gewachsen sind, und seine Frau, der das Herz brechen würde, wenn sie allein bliebe. Wir merken es gar nicht, wie oft wir das Herz auf der Zunge tragen; als Symbol für die Liebe ist es allgegenwärtig.

Es war schon spät, als ich am Vorabend am Bett dieses Patienten saß, doch ich wusste, er würde nicht schlafen. Vor schweren Eingriffen schläft fast keiner. Ich möchte immer gern wissen, wen ich operiere. In manchen Kliniken sehen die Chirurgen nur das Operationsfeld zwischen den grünen sterilen Tüchern. Ich möchte wissen, zu welchem Menschen das Herz gehört. Das klappt nicht immer, denn einige Herzoperationen sind Not-OPs; nicht selten werden die Patienten ohne Bewusstsein »eingeliefert«. Andere Operationen sind lange geplant: In sechs Wochen bekommen Sie eine neue Herzklappe, einen Bypass oder was auch immer, heißt es da. Auf Termin-OPs können sich alle besser vorbereiten. Auch die Angehörigen. Termin-OPs sind mir lieber, da kann ich meine Patienten und ihre Angehörigen kennenlernen, manchmal in mehreren Gesprächen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, und das ist auch in vielen Studien belegt, dass ein gutes Arzt-Patient-Verhältnis den Heilungsverlauf positiv beeinflusst. Davon abgesehen meine ich, dass die Patienten ein Recht darauf haben, zu erfahren, wer ihr Brustbein aufsägen, ihr Herz anstupsen oder was auch immer tun wird. Wer an ihrer Seite sein wird, wenn ihr Körper »tot« ist, mit Eisplatten heruntergekühlt auf fünfundzwanzig Grad, kein Herz schlägt mehr, die Herz-Lungen-Maschine ruht, die Aorta liegt offen. Allein das Gehirn wird weiter versorgt; ein kleiner Blutkreislauf erhält das Leben im Kopf, während es aus dem Körper gewichen ist. Kehrt es zurück?

Es ist immer wieder ein Gänsehaut-Moment für mich, wenn ein stillgelegtes Herz zurück ins Leben findet. Als wäre eine Komposition von einer Pause unterbrochen, die Herzmusik schweigt über viele Takte eines Satzes … und beginnt dann hoffentlich erneut, wenn der Dirigent den Stab hebt, der in diesem Fall die Gestalt eines Elektroschockers hat. Auch im OP ist die Spannung mit Händen zu greifen: Wird die Musik des Herzens abermals erklingen? Oder sind manche Instrumente verstimmt oder gar verstummt für immer? Doch das geschieht bei einer Operation nur selten. Kritisch ist die Zeit danach. Das wissen viele nicht, die glauben, wenn sie eine Operation überstanden haben, hätten sie das Schlimmste hinter sich.

Sie sind mutig, wenn Sie bis hierhin gelesen haben, und klug. Manche Menschen beschäftigen sich erst mit einem Problem, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht. Indem Sie dieses Buch lesen, bereiten Sie sich auf das Unbekannte vor. Es muss keine Herzoperation sein. Es reichen die Risiken, die das Leben für jeden von uns bereithält. Vielleicht stecken Sie selbst gerade jetzt in einer Krise; seit Corona befinden wir uns ja insgesamt im Krisenmodus. Wir hoffen, dass alles wieder normal wird, so schnell wie möglich. Erst nach und nach sickert in unser Bewusstsein, dass es kein Normal gibt, auf das wir ein Anrecht haben. Ja, dass dieses Beharren auf ein Normal das Leben enorm belastet. Es gibt einen besseren und deutlich gesünderen Weg: sich geschmeidig den Herausforderungen anpassen. Ein Stück dieses Weges gehen wir in diesem Buch gemeinsam. Am Ende werden Sie vielleicht meine Meinung teilen, dass unser Gesundheitssystem einige größere Eingriffe benötigt, um nicht nur den Körper, sondern auch die Lebensqualität eines Menschen im Auge zu behalten. Auch wenn wir in einer Leistungsgesellschaft als Leistungsträger perfekt funktionieren, ist niemand gefeit gegen die eine oder andere Unpässlichkeit, gegen Unfälle, Krankheiten, Unvorhergesehenes.

Wie begegnen wir Menschen, die aus unserer unversehrten, funktionierenden Mitte gefallen sind? Dazu möchte ich auch alle Gesunden zählen, die trotzdem nicht mehr weiterwissen – weil ihre berufliche Existenz zerstört oder ein nahestehender Mensch schwer erkrankt ist. Eine Krankheit trifft ja nicht nur einen Menschen. Wie eine Bombe kann sie eine vielköpfige soziale Landschaft erschüttern. Meiden wir die Betroffenen, weil wir nicht wissen, wie wir uns verhalten sollen? Je älter wir werden, desto wahrscheinlicher sind wir Angehörige und Freunde von Menschen, die einen harten Schicksalsschlag verkraften müssen. Von Menschen, die ein Gegenüber brauchen, dem sie einen Blick in ihr tiefstes Inneres gewähren können. Von Menschen, die das aushalten, weil sie sich damit auseinandergesetzt haben, weil sie nicht weglaufen, weil sie nicht auf ein längst vergangenes Normal beharren, sondern sich mutig und geschmeidig einer neuen Situation anpassen. Gelingt dies, ist es für alle leichter.

Doch natürlich ist es verlockend, so zu tun, als wäre man wieder »ganz der Alte«. Denn welcher Neue sollte man sein? Den kennt man ja noch gar nicht, und das macht einem Angst. Alles, was wir nicht kennen, macht uns Angst, wir lehnen es erst einmal ab. Wenn eine Gesellschaft insgesamt vor allem an einem reibungslosen Ablauf interessiert ist und daran, dass jeder wieder so schnell wie möglich so reibungslos wie möglich funktioniert, haben wir keine Vorbilder, wie es anders sein könnte. Funktionieren bedeutet, Rollen zu erfüllen. Der Ehemann muss zurück in seine Rolle als »Familienvorstand«, der Chef muss zurück in die Firma, Oma kümmert sich um alle, jemand hat immer einen Witz auf den Lippen, eine andere spielt weiter die Starke, die alles wuppt … Und was sagt das Herz dazu, unsere innere Stimme?

Mach mal langsamer.

Ist das wirklich wichtig?

Tut dir das gut?

Was brauchst du jetzt?

Über die Angst zu sprechen ist die einzige Möglichkeit, ihr beizukommen. Angst trennt. Vertrauen und Liebe verbinden. Wer über die Angst spricht, macht sie kleiner. Aber das müssen wir üben. Als Menschen … und auch als Ärzte.

Manche Ärzte haben Angst vor Gesprächen mit Patienten; das gibt es öfter, als man glauben möchte. Wer wünscht sich schon, einem Menschen zu sagen, dass er nicht mehr lange zu leben hat? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass auch in solchen Situationen die Verbindung zu einem Patienten der bessere Weg ist als die Trennung, zum Beispiel mithilfe von Medizinerlatein oder Outsourcing: »Kollegin, bitte erklären Sie dem Patienten den Befund.«

Manchmal fragt mich ein Kollege, warum ich mir den persönlichen Kontakt zu meinen Patienten »antue«. Ich könnte es doch viel einfacher haben. Aufschneiden, reparieren, zunähen und alles Weitere wird auf der Intensivstation erledigt. Operieren am Fließband; in großen Kliniken ist das der Alltag. Man fängt in OP eins an und arbeitet sich weiter bis OP vier, und überall sieht man nur von grünen Tüchern bedeckte Körper. Dort, wo das Tuch ein Loch hat, ist mein Job.

Auf den Intensivstationen unserer modernen Hochleistungsmedizin wird durchaus Gott gespielt, manchmal nicht zum Wohle der Patienten. Wenig scheint unmöglich. Geht nicht gibt’s nicht. Wir können alles. So endet der Mensch, der im Patienten steckt, der wiederum zu einem Fall geworden ist, gerade in der Herzchirurgie letztlich als Defekt, der repariert werden muss. In der Fixierung auf die Machbarkeit, ja vielleicht auch der Freude daran, wird leider mancherorts übersehen, dass es nicht nur eine Krankheit gibt, sondern eben auch einen kranken Menschen, und dieser kranke Mensch braucht etwas sehr Altmodisches: Er braucht Zuwendung, er braucht Zeit, um wieder Kraft zu schöpfen und gesund zu werden, wie auch immer das aussehen mag. Unsere moderne Medizin orientiert sich an den Naturwissenschaften und immer mehr an der Wirtschaftlichkeit. Kliniken sollen schwarze Zahlen schreiben, Patienten werden verwaltet, und noch bevor sie mit einem Arzt gesprochen haben, ist in der Fallpauschale schon festgelegt, wie lange ihr Genesungsprozess dauern darf, wie lange sie im Krankenhaus bleiben sollen. Viel Aufmerksamkeit und noch mehr Zeit muss vom medizinischen Personal für die Dokumentation aufgewendet werden. Zeit, die fehlt im Kontakt mit den Patienten. Stattdessen ist zu beobachten, dass das Gespräch verdrängt wird von Apparaten, von Messungen. Der kranke Mensch wird zum fehlerhaften Werkstück, das in vorgegebener Zeit repariert werden soll. Und genauso fühlen sich manche Patienten. Ja, ich beobachte sogar noch eine weitere Verschärfung: Immer mehr Patienten rechnen gar nicht mehr damit, dass sich ein Arzt ernsthaft für sie interessiert, ihnen wirklich zuhört. Sie sind verwundert, wenn sie untersucht werden, statt nur an Maschinen angeschlossen zu werden. Im Normalfall ist es ein bisschen so wie in der Kfz-Werkstatt. Da gibt es auch kaum mehr Mechaniker mit öligen Händen, sondern Diagnosecomputer.

Das merke ich, wenn Patienten bei der kleinsten Zuwendung regelrecht irritiert sind oder hervorheben, dass ein Arzt sie berührt habe: »Stell dir vor, er hat mich untersucht, also so richtig. Mit den Händen.«

Berührung ist unser aller primäre, fundamentale menschliche Erfahrung. Noch ehe der neugeborene Mensch sieht oder saugt, wird er berührt, von seinen Eltern zärtlich gehalten. In der Berührung schüttet der Organismus zahlreiche Hormone aus, darunter auch das sogenannte Kuschelhormon Oxytocin. Wir fühlen uns gemeint, geborgen, wertgeschätzt.

In der Wochenzeitung Die Zeit las ich in der Rubrik »Was mein Leben reicher macht« zu Ostern letztes Jahr von einer kleinen Geste, die von der Einsenderin als so außergewöhnlich erachtet wurde, dass sie sie an die Zeitung schickte. Und die Redaktion wiederum erachtete diese kleine Geste für so bemerkenswert, dass sie sie veröffentlichte. Als gute Tat wurde sie von einem Weißkittel an einer Patientin vollbracht:

»Ich musste mich einer Gallenblasen-OP unterziehen. Eine heikle Sache. ›Wie geht es Ihnen?‹, fragt mich der Oberarzt bei der ersten Visite nach der OP. ›Hatten Sie schon Stuhlgang?‹ Ich: ›Bei diesem laschen Kaffee kann ich keinen Stuhlgang haben.‹ Darauf er: ›Ich weiß, was Sie meinen, Sie brauchen einen schönen schwarzen Kaffee, den besorge ich Ihnen …‹ Und tatsächlich, nach der allgemeinen Visite kommt er mit einem doppelten Espresso zu mir ins Zimmer.«1

Ein Chirurg muss nicht unbedingt mit seinen Patienten sprechen, um einen guten Job zu machen. Aber ich glaube, dass es für die Patienten einfacher ist, wenn sie ihren Operateur kennenlernen. Für mich liegt im Kontakt mit den Patienten auch eine Erfüllung meines Berufes. Das ist vielleicht meinem Werdegang geschuldet. Geboren im Grenzland Palästina, als Grenzgänger arabisch-israelisch aufgewachsen, arbeite ich an der Grenze zwischen Leben und Tod. Ich mag Menschen, bin gern mit vielen zusammen, kein Wunder bei zehn Geschwistern und einer sehr großen Familie. Ich mag es … intensiv!

Die weiße Schlange

Nach dem Abitur in Israel bin ich nach Deutschland gezogen, wo bereits zwei meiner Brüder studierten – ohne Studiengebühren, wie sie in so vielen anderen Ländern üblich sind. Meine Familie hätte sich die Ausbildung so vieler wissbegieriger Kinder sonst nicht leisten können. Heute gibt es in unserer Familie einen Filmproduzenten, eine Schuldirektorin, zwei Schulsekretäre, zwei Sozialzentrumsdirektorinnen, zwei Ingenieure, zwei Ärzte und einen Professor. Meine erste Station in Deutschland war Heidelberg. Nach einem Jahr Sprachschule studierte ich in Kiel Medizin. Diese Zeit hat mich geprägt, da ich meinen Lebensunterhalt als Krankenpflegehelfer verdiente. Und sie hat vermutlich auch meine innere Uhr gestellt, denn seither bin ich an Nachtschichten gewöhnt. Die wurden seinerzeit am besten bezahlt, und ich sicherte mir zusätzlich zu den normalen Diensten auch mindestens eine Nachtschicht in der Woche. Dafür dauerte mein Studium ein Jahr länger als bei anderen Studierenden; irgendwann muss der Mensch ja mal schlafen. Wenn ich heute zurückdenke, weiß ich, dass viele meiner Erlebnisse auf der Neurochirurgie in Kiel meine Einstellung sowohl zu Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wie auch Patienten formte. Von der Pike auf habe ich gelernt. Wir Krankenpflegehelfer haben Betten gemacht, Patienten gewaschen, Essen eingegeben, Medikamente verabreicht. Und nicht selten waren wir, zusammen mit den Krankenschwestern und Krankenpflegern, die einzigen Zuhörer für die Seelennöte der Patienten, die sie oft viel mehr bedrückten als ein körperlicher Schmerz. Häufig dolmetschten wir, was der Herr Doktor oder die Frau Doktor gemeint hatte, und erklärten Fachbegriffe. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis ich selbst in der Position war, in der ich mich den Patienten umfassend, physisch und psychisch, zuwenden konnte.

Nach meinem Studium arbeitete ich als Arzt im Praktikum achtzehn Monate in Köln. Den Plan, Neurochirurg zu werden, hatte ich da schon aufgegeben. Chirurgie ja, aber Gehirn nein danke, so interessant die Jahre in Kiel auch waren. In Köln war ich Teil der Visite, wenn auch weit hinten in der Schlange. Es lief genauso wenig patientenfreundlich ab wie in Kiel. Dabei ist die Visite doch der Höhepunkt des Tages für die Patienten. Der Herr Professor kommt! Oder der Oberarzt! In ihren schlaflosen Nächten bereiten sich die Patienten vor, suchen die richtigen Worte, wie sie das, was ihnen auf der Seele brennt, am besten formulieren und vor allem schnell, man weiß doch, dass die Weißbekittelten immer unter Zeitdruck stehen. Auf keinen Fall möchte man sie aufhalten oder ihnen lästig sein.

Kommen Sie mit mir in ein Patientenzimmer mit drei Personen: Eine liegt am Fenster und schaut hinaus. Da oben im Baum sitzt eine Amsel, ach, wär ich doch draußen. Die mittlere Patientin sitzt auf dem Bett und im Geiste schon auf gepackten Koffern. Wann darf sie endlich nach Hause? Immerhin ist sie seit drei Wochen hier. An der Tür hat sich eine Patientin die Decke bis zum Kinn gezogen. Trotzdem friert sie. Gleichzeitig mit einem Klopfen wird die Tür aufgerissen, um 7.37 Uhr rauscht die Visite herein. Um 8.00 ist Stationsbesprechung, das wissen die Patienten nicht, sehr wohl weiß es aber die weiße Schlange, die dem Oberarzt folgt. Keine dreißig Minuten Zeit für dreißig Patienten. Und obwohl die drei in diesem Zimmer seit Stunden auf die Visite warten, sind sie nun überrascht und viel zu langsam, um das hohe Tempo mitzugehen. Die Patientin am Fenster, die so gern mit der Amsel im Baum tauschen würde, beginnt mühsam, sich umzudrehen. Es passen gar nicht alle Weißkittel in das Zimmer hinein, nur der Kopf der Schlange, der Rest bleibt auf dem Flur und versäumt also, genauso wie die Frau am Fenster, die Visite, denn bis sie sich mühsam zur Tür gewendet hat, ist die Schlange schon auf dem Weg ins nächste Zimmer.

»Was hat er gesagt?«, raunt ein junger Arzt auf dem Flur einer Assistenzärztin zu.

»Frau Meier, drei Bypässe gestern, alles gut.«

»Und die anderen?«

»Alles normal.«

»Ich wollte doch fragen, ob ich nach Hause darf«, erzählt die Patientin im mittleren Bett später bekümmert dem Krankenpfleger. Die ganze Nacht hat sie sich ihren Satz zurechtgelegt. Hin und her überlegt, ob sie das Enkelkind als Entlassungsbeschleuniger anführen soll oder ihren fürsorglichen Mann, der sich um sie kümmern wird. Doch es war keine Zeit, keine Zeit für nichts. Jetzt muss sie bis morgen warten, obwohl sie gut vorbereitet war, sie hatte schon geduscht und Zähne geputzt und sich frisiert, damit der Herr Oberarzt sieht, wie fit sie ist. Aber er hat sie gar nicht gesehen.

Ich bin nun schon seit Jahrzehnten im Krankenhaus tätig, und es ist nicht besser geworden seit meiner Zeit als Krankenpflegehelfer, im Gegenteil. Den Patienten ist nicht geholfen, wenn sie lediglich als Bypass oder Galle oder Karzinom betrachtet werden. Es hängen Menschen an den Krankheiten, und wenn ich den Menschen sehe, erschließe ich mir einen anderen Blick auf die Zusammenhänge. Ich bin kein Psychologe, doch ich frage mich, warum ein System, bei dem es beiden Seiten nicht gut geht, weiter perfektioniert werden soll. Denn nicht nur die Patienten leiden unter den Umständen, sondern auch Ärzte. Heute ist alles noch viel schneller geworden als damals, nicht nur im Krankenhaus, überall. Die Zeit scheint sich immer mehr zu beschleunigen, und jeder ist gestresst. Im Krankenhausalltag kommt man sich zuweilen regelrecht gejagt vor, und noch immer hetzen weiße Schlangen auf der Visite von einem Zimmer zum nächsten. Dabei kostet es vielleicht eine Minute, »Guten Tag« zu sagen und einen Blick auf die Wunde zu werfen. Ein paar Kleinigkeiten, und die Patientin fühlt sich gut aufgehoben. Ihr Puls beruhigt sich. Sie entspannt sich. Also genau das, was es braucht, damit sie sich erholt und wieder gesund wird.

Und ist das nicht auch genau das, was sich viele Ärzte wünschen? Manchmal frage ich mich, warum wir so oft vergessen, dass wir Menschen sind, mit menschlichen Bedürfnissen, alle miteinander, egal, auf welcher Seite wir stehen. Die einen wollen gesund werden, die anderen wollen gesund machen. Es ist bekannt, was förderlich für die Gesundheit ist und was nicht: Stress zum Beispiel. Und trotzdem wird der Stress immer größer. Das wirklich Gefährliche ist, dass wir uns daran gewöhnen. Und dann sind wir selbst nicht mehr in der Lage, einen Ausweg aus einer Krisensituation zu finden. Wir drehen uns im Kreis. Erhöhen stetig das Tempo, mit dem wir in eine Sackgasse rasen.

Viele Menschen, die sich beruflich zur Medizin hingezogen fühlen, verspüren eine hohe innere Motivation. Unzählige Male habe ich von Krankenschwestern und Krankenpflegern gehört, dass sie ihren Beruf gewählt haben, weil sie einen Sinn darin sehen, nach dem Motto: Hier kann ich etwas Gutes tun, etwas bewegen. Leider merken sie oft schon nach kurzer Zeit, dass das System, in dem sie arbeiten, diese Motivation nicht fördert, sondern schlimmstenfalls zerstört. Diese erschreckende Bilanz ist gesellschaftlich noch nicht durchgedrungen, sonst würden wir uns wohl kaum über den Schwund der so dringend benötigten Pflegekräfte wundern.

Eine Lösung läge darin, den Fokus auf das zu richten, was viele Menschen schildern, deren Motivation weiterhin hoch ist: Ich bekomme mehr zurück, als ich gebe. Es stimmt: Sogar in ihrer größten Not haben auf Hilfe angewiesene Menschen noch etwas zu geben. Das berührt mich sehr, und ich kenne diese Momente aus vielen Situationen. Sie sind ein Grund für dieses Buch. Ich möchte weitergeben, was mich meine Patienten gelehrt haben … und es damit für andere, die den Weg durch die Krise noch vor sich haben, leichter machen.

Immerhin kann ich es, mittlerweile am Kopf der Schlange, anders machen, doch ich weiß, dass es in vielen Kliniken bis heute kein »Guten Morgen« gibt. Dreißig Mal »Guten Morgen« und womöglich noch »Auf Wiedersehen«, was das Zeit kosten würde! Und Zeit ist Geld, das weiß doch jeder.

Aber stimmt das? Ist es nicht eher so, dass man mit einem Guten Morgen und einem Auf Wiedersehen ganz am Ende bei der Bilanz Geld spart, weil sich die Patienten gut aufgehoben fühlen? Im Gespräch lernt man sich kennen, so manche Fährte zu einer Diagnose wird hier gelegt. Kommunikation ist meiner Meinung nach eine der wichtigsten Aufgaben eines Arztes. Aber für viele ist es auch die schwierigste. Einigen jungen Medizinern ist gar nicht bewusst, dass der gute Kontakt zu ihren Patienten eine tragende Säule ihres Berufes ist. Dabei wissen wir aus der Psychoneuroimmunologie, die die Wechselwirkungen zwischen Körper und Seele erforscht, wie wichtig das Vertrauen für die Ankurbelung der Selbstheilungskräfte ist: Psychische Prozesse wirken unmittelbar auf unser Abwehrsystem und prägen dadurch unsere Widerstandsfähigkeit gegenüber infektiösen Erkrankungen und beeinflussen die Wundheilung positiv. Je entspannter ein Patient, je wohler er sich fühlt, je mehr Vertrauen er seinem medizinischen Umfeld entgegenbringt, desto größer sind seine Heilungschancen. Ich meine, dass ein »Guten Morgen« bei der Visite, verbunden mit einem »Wie geht es Ihnen?«, das absolute Minimum ist. Und man sollte jeden Patienten einmal berühren. Kurz eine Hand an den Körper legen. Allein dies beruhigt den Patienten, wie zahlreiche Studien zeigen. Ich schaue nach dir. Ich kümmere mich um dich. Bei mir bist du in guten Händen.

Zurück zu meinem Werdegang, denn so ein Arzt wollte ich werden, und dieses Ideal verlor ich auf keiner meiner weiteren Stationen, was mir manchmal ein wenig Ärger einbrachte, aber auch viel Zuspruch. Nach einigen Jahren in Köln wechselte ich nach Oldenburg, mittlerweile als Oberarzt und Facharzt für Herzchirurgie. In Oldenburg operierten wir viele Menschen, die auf ein Spenderherz warteten. Um die Zeit zu überbrücken, bekamen sie Kunstherzen. Außerdem wurde ich hier zum Spezialisten für Gefäßchirurgie. Die Aorta, am Herzen beginnend, reicht bis in die Leiste, sie zu erneuern ist eine langwierige Sache. Meine längste Operation dauerte sechsundzwanzig Stunden.

Als ich zum zweiten Mal Vater wurde, wechselte ich an eine Klinik in Groningen, weil in den Niederlanden die Arbeitsbedingungen menschenfreundlicher sind als in Deutschland. Meiner Meinung nach kann das deutsche Gesundheitssystem vom niederländischen viel lernen – zum Wohle von Patienten und Ärzten. In Holland wird mehr nach Lebensqualität gefragt: Verbessert sie sich durch diese oder jene Maßnahme? In Deutschland steht die Machbarkeit im Vordergrund. So kommt es nicht selten gerade auf Intensivstation zu überflüssigen Maßnahmen, die Patienten nicht nur unnötig belasten, sondern ihnen auch schaden können.2

Eine Studie an einer deutschen Uniklinik zeigte, dass jeder zehnte Krebspatient auf einer Intensivstation in der letzten Woche seines Lebens reanimiert wurde. Ist das ein Zugewinn an Lebensqualität oder nicht eher eine Verlängerung des Leidens? Das Gleiche findet man bei schwer dementen Patienten, die auf Intensivstationen aufgenommen und künstlich beatmet werden, ohne dass es einen positiven Effekt für sie hätte. Ich möchte, dass wir die Frage nach der Lebensqualität in den Vordergrund rücken, nicht die nach der Machbarkeit, denn Machbarkeit ist oft der Grund für Quälerei, das sehen wir auch in unserem Leben außerhalb der Kliniken.

In Groningen war ich Mitglied in einem Herz- und Lungentransplantationsteam. Legte die noch schlagenden Herzen hirntoter Patienten still, entnahm die Herzen und setzte sie anderen Patienten ein. Nach acht Jahren führte mich mein Weg nach Maastricht und Aachen. Heute operiere ich in beiden Städten.

Von Anfang an hat mich interessiert, wie das Leben der Menschen nach einem Eingriff weitergeht. Das erfährt der Chirurg normalerweise nicht, die verschiedenen Abteilungen sind voneinander getrennt. Meiner Ansicht nach sollten wir sie miteinander verbinden. Wir können ja nur lernen, wenn wir wissen, wie es »danach« weitergeht.

Wie sieht das Leben nach einer Operation aus, wie gehen Menschen mit einer zweiten Chance um? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es kein guter Weg ist, so schnell wie möglich zur Normalität zurückzukehren – und es funktioniert auch nicht. Wenn wir uns unter Druck setzen, dass schnell alles wieder so sein soll, wie es vorher war, verpassen wir eine große Chance und in Bezug auf eine Erkrankung womöglich das Leben. Diese Erkenntnis gilt bei Krankheiten und Krisen. Doch wir leben in einer Zeit, in der das Unmögliche allzeit machbar sein soll. Wir sind doch so unglaublich fortgeschritten! Wir erkunden das Weltall, transplantieren mehrere Organe gleichzeitig … und bei uns selbst? In den Grenzen unseres Körpers? Kommt es da auf on-the-top an? Wenn etwas geschieht, das uns sagen lässt:

»Das Herz ist mir stehen geblieben.«

Auf diesem schmalen Grat, wenn das Leben stillzustehen scheint, balanciert dieses Buch. Denn das Herz steht nicht nur bei einer Herzoperation still. Es befindet sich auch bei einem Autounfall, einer Krebserkrankung oder einer Lebenskrise in einem Schockzustand – und so nennen wir das auch: »Das Herz ist mir stehen geblieben.« Es ist mir stehen geblieben, es gibt mich noch anderswo, etwas in mir ist stehen geblieben.

Doch manchmal bleibt alles stehen. Für einige Sekunden, Minuten oder eine lange Zeit. Es ist, als würde ein luftleerer Raum entstehen, ein Vakuum. Und in diesem Vakuum tauchen Fragen auf.

Woran misst sich Lebensqualität?

Haben wir ein Recht auf Gesundheit?

Wie können wir als Gesellschaft mit der Angst vor Krankheit und Ungewissem umgehen?

Und als Einzelner?

Wie viel bin ich wert, wenn ich nicht mehr so viel leiste wie früher?

Wer bin ich, wenn ich mich mit meiner Krankheit identifiziere?

Und wenn nicht?

Was kann ich aus einer Krise lernen?

Und wann sollten wir aufhören, gegen den Tod zu kämpfen?

Herzensangelegenheit

Eine tiefgreifende medizinische Behandlung beeinflusst nicht nur den Patienten und sein Umfeld, sondern alle, die damit in Berührung kommen, auch die Ärzte und das Pflegepersonal. Vor allem, wenn das Herz stillgelegt wird, ruft dies bei allen Beteiligten Emotionen hervor, die den Rahmen des Normalen sprengen. Deshalb ist es so wichtig, sie zu analysieren und ihnen einen guten Platz zuzuweisen, damit sie nicht verdrängt werden und an der falschen Stelle womöglich Schaden anrichten können. Eine gute Verarbeitung ist die Vorbereitung für ein gutes Leben danach.

Seit vielen Jahren erforsche ich nun, wie Menschen mit Diagnosen umgehen, welches Verhalten förderlich und welches hinderlich ist, und bin dabei zu interessanten Ergebnissen gekommen, die in der aktuellen Medizin noch nicht in die Praxis umgesetzt sind. Vielleicht ändert sich das, wenn wir unsere Studienergebnisse publizieren: Seit letztem Jahr untersuchen wir an der Klinik in Maastricht, wie sich Ängste auf den Heilungsverlauf auswirken. Wir typisieren die Patienten und bieten eine maßgeschneiderte Therapie an: personalisierte Medizin. Ängstliche Patienten benötigen eine andere Therapie als emotional stabile. Je besser vorbereitet die Patienten in die Operation und vor allem die Zeit danach gehen, desto mehr Lebensqualität werden sie sich zurückerobern können. Vor allem haben sie dann verstanden, dass es nicht allein auf die Operation ankommt, sondern maßgeblich auf die Zeit danach. Die meisten Menschen denken lediglich bis zur Operation – dann habe ich alles hinter mir. Das ist ein verhängnisvoller Trugschluss. Die Operation mag die Weichen in ein neues Leben stellen, doch ob es Fahrt aufnimmt, hängt vom Patienten ab und von den jeweiligen Bedingungen, dem Umfeld. Wenn wir krank werden, verändert sich nicht nur unser eigenes Leben. Eine Krankheit hat auch Auswirkungen auf unser Umfeld, das dann wiederum auf unsere Wahrnehmung von uns selbst wirkt – alles ist miteinander verbunden. Deshalb ist es ein Irrtum, wenn man glaubt, Krankheiten isoliert betrachten und behandeln zu können.

Ich freue mich sehr, dass ich Mitstreiter gefunden habe für mein Herzensthema, das vor bald zwanzig Jahren geboren wurde. In Holland wurde 2019 die Stiftung Stilgezet gegründet, um das Thema international bekannt zu machen. Stilgezet ist ein niederländisches Wort und beschreibt einen vorübergehenden Stillstand, bedingt durch eine medizinische Diagnose oder eine Lebenskrise.

Dieses Buch ist der zweite Schritt, viele weitere werden folgen, nicht nur theoretisch, medizinisch, sondern vor allem künstlerisch. Denn in der Kunst können wir vieles beschreiben, wozu der Wissenschaft die Ausdrucksmittel fehlen. Die Künste können Unaussprechliches benennen, Bilder dafür finden und sie zum Beispiel in Musik umsetzen. Liebe und Tod, Angst, Wut, Traurigkeit, Ohnmacht – all das kann auch ein Herzchirurg nicht wegoperieren. Die Kunst kann uns zu Erkenntnissen führen, die dabei helfen, das Erlebte zu verarbeiten und die Einsicht zu gewinnen: Ich bin nicht allein. Und im nächsten Schritt mithilfe der künstlerischen Umsetzung in ein neues Normal zu finden.