Wenn das Nachdenken ausfällt - Martin Urban - E-Book

Wenn das Nachdenken ausfällt E-Book

Martin Urban

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Beschreibung

Unser Weltbild besteht zu etwa 10 Prozent aus Fakten, die unsere Sinne wahrnehmen, zu 90 Prozent jedoch aus Bildern, die wir im Kopf entwickeln. Mit dem jüngsten Wissen der Naturwissenschaften erklärt Martin Urban, warum diese ›Bilder im Kopf‹ oft stärker sind als die Wirklichkeit ist, wir also Vorurteile haben. Was einst eine notwendige Voraussetzung für das Entstehen und Überleben des modernen Menschen war, der sich als Homo sapiens sapiens versteht, bildet heute einen Boden für radikale Positionen und stellt eine ernsthafte Gefahr für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt dar. Urbans Ziel ist, die Zusammenhänge unter den Gegebenheiten unserer Zeit – in ihren historischen Entwicklungen und Fehlentwicklungen – darzustellen und zu erklären. Mit dem Auftreten von Donald Trump beginnt das Thema besonders aktuell zu werden. Mittlerweile bilden Corona-Verschwörungsgläubige, Impfgegner/innen, Querdenker/innen, religiöse Fundamentalisten, Reichsbürger und immer wieder neue Gruppen Netzwerke, um mittels Vorurteile das Nachdenken zu ersetzen. Der Autor nutzt die jüngsten Erkenntnisse der Wissenschaften wider ihre Verächter von den Fake-News-Fronten. Das Ergebnis ist ein Votum für die Aufklärung, für eine moralische Verpflichtung, nach den Fakten zu fragen, wissen zu wollen.

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Martin Urban

Wenn das Nachdenken ausfällt

Baupläne für Vorurteile

Martin Urban

Wenn das Nachdenken ausfällt

Baupläne für Vorurteile

ISBN (Print) 978-3-96317-320-2

ISBN (ePDF) 978-3-96317-870-2

ISBN (EPUB) 978-3-96317-879-5

Copyright © 2022 Büchner-Verlag eG, Marburg

Umschlaggestaltung: DeinSatz Marburg | rn

Bildnachweis Umschlag: Silbermünze aus der Zeit 480–350 v. Chr., Fotografie von Tizian Sieber

Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den

Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags

unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,

Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in

elektronischen Systemen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

www.buechner-verlag.de

Inhalt

Einleitung

Voraussetzungen im Kopf

Das Vorurteil des Torwarts beim Elfmeter

Der entscheidende erste Eindruck

Handeln mit Bauchgefühl

Wie das Deuten die Sicht verstellt

Die verkörperte Kognition

Das Denken vermeiden

Verschwörungen im Kopf

Corona und die Verschwörungstheorie

Freude am Nachdenken

Selbsthilfe des Gehirns

Wenn das Gestern heute die Zukunft bestimmt

Fähigkeiten von Kindheit an

Wenn Bilder über Bildung siegen

Bild und Wirklichkeit verwechselt

Von mathematischen und sprachlichen Nullen

Die Zahl als Orientierungshilfe

Die Erfindung der Null

Ungewollte Worte

Prognosen – oder: Ich sehe was, was du nicht siehst

Der Computer macht sich selbständig

Vorurteile im Computer

Die Gefahren der Computer-Vorurteile

Wenn die Macht an Maschinen abgegeben wird

Wenn der Computer Nein sagt

Wie die Vernunft sich – zeitweilig – durchsetzt

Vom Schlaf der Vernunft zum aufgeweckten Denken – und zurück

Die Vorgeschichte

Kein Sinn für den Zufall

Bilder und Bedeutungen

Chiffren zu Weltbildern

Nährboden für Polarisierung

Rückwärts in die Zukunft

Auf dem Weg zur Entintellektualisierung

Zweifel säen als Geschäftsidee

Das Leiden der Konservativen

Rückgriff auf traditionelle Deutungen

Kalender-Geschichten

Die Erfindung der Demagogie

Automatisch problematisch

Beständiger Aberglaube

Fälschungen zu Weltbildern

Betrug mit der Leichtgläubigkeit

Verbaler Betrug

Angst vor der Wahrheit

Glaubenskampf um die Wahrheit

Gemeinsame Fiktionen in Kirche und Politik

Postfaktisch und präreflexiv

Der Glaube der eigenen sozialen Gruppe

Von der Parallelgesellschaft zur Parallelwirklichkeit

Frühe Welt-Deutungen

Parallele Wissenschaftswelten

Das neue Generationen-Problem

Aufklärung heute

Fazit

Bibliografie (Auswahl)

Einleitung

Jeder Mensch hat Vorurteile; das heißt, er bildet sich bereits ein Urteil, noch bevor er etwas weiß. Das ist für ihn überlebenswichtig, es ist eine fundamentale Fähigkeit seines Gehirns – und es kann doch, wenn das Nachdenken ausfällt, katastrophale Folgen haben. Von beidem soll in diesem Buch die Rede sein. Diese Zusammenhänge zu verstehen, gewissermaßen die Baupläne für die so mögliche Urteilsbildung zu erkennen, ist wichtig, um dem Menschen die Freiheit zu schaffen, selbstbestimmt zu leben. Und es sollte ihn motivieren, den heute spezifischer werdenden Bedrohungen, die – über das Individuum hinausgehend – auch die Demokratie gefährden, aktiv Widerstand zu leisten.

In homogenen Gesellschaften, wie sie sich hierzulande bis zum Beginn des Internet-Zeitalters insbesondere noch in ländlichen Gegenden fanden, verhinderten gemeinsame Vorurteile innergesellschaftliche Konflikte. Man wusste, was man tut und nicht tut, was »Sitte und Anstand« waren, ohne dies jeweils neu zu bedenken. Arzt, Pfarrer, Apotheker und Lehrer waren »Respektpersonen«. Und insbesondere die allen gemeinsame Religion, wo es sie mono-konfessionell gab, homogenisierte die Gesellschaft. Heute widerspricht zwar immer noch niemand dem Pfarrer auf der Kanzel, aber es geht auch kaum jemand mehr hin, wenn er predigt. Dennoch ist unsere christlich-abendländische Kultur, verbunden mit bis in die Steinzeit zurückreichenden Welt-Bildern für unser heutiges Weltbild immer noch maßgebend. Darüber sollte in einer sich ändernden Welt angesichts jeweils neuer Erfahrungen und Erkenntnisse kritisch nachgedacht und gesprochen beziehungsweise geschrieben werden.

In den frühen Jahren des Deutschen Fernsehens sorgte dieses für eine allgemeine Veränderung der Gesellschaft, ihres Geschmacks, förderte auch ihre Informiertheit, ohne jedoch die Homogenisierung zu durchbrechen. Die »Tagesschau«, »heute« und die Politmagazine sorgten für allgemeine politische Aufklärung. Aber auch die Unterhaltung egalisierte die Bundesrepublik, indem »das Fernsehen« Beiträge sendete, die, weil von allen gleichzeitig angeschaut, zur Erfindung des Schlagworts »Straßenfeger« führten.

Bereits das Privatfernsehen änderte dies. Dessen Einführung wurde von politisch-konservativer Seite gemeinsam mit wirtschaftlichen Interessenten gefördert. Hatte doch in Deutschland insbesondere die bayerische CSU Sorge vor einer Beeinflussung der eigenen konservativen Bevölkerung von »links«. 1988 erklärte der Staatsminister und Medienbeauftragte Edmund Stoiber schriftlich gegenüber Ministerpräsident Franz Josef Strauß: »Unsere Politik bezüglich RTL war immer darauf ausgerichtet, eine Anbindung von RTL an das konservative Lager zu sichern bzw. ein Abgleiten von RTL nach links zu verhindern« (Spiegel, 31.10.1988). Der Privatsender RTLplus begann einen Tag nach Sat.1 am 2. Januar 1984 seinen Sendebetrieb.

Das Internet und seine allgegenwärtige Nutzbarkeit via Smartphone hat nicht nur das Kommunikationsverhalten völlig verändert, die Entstehung der »Sozialen Netzwerke« verändert nun überdies global die Urteils- und Vorurteilsbildung – mit unabsehbaren Konsequenzen. Dieser faszinierenden und zugleich erschreckenden Entwicklung versuche ich in diesem Buch nachzuspüren, indem ich Zusammenhänge aufzeige und mögliche Folgen deute.

Das ist der Grundgedanke dieses Buches: Weil wir Vorurteile haben müssen, ist die Aufklärung darüber so wichtig, dass dies und warum dies so ist. Das Ziel ist, die Zusammenhänge unter den Gegebenheiten unserer Zeit und mit dem heutigen Wissen zu zeigen und zu erklären.

Voraussetzungen im Kopf

Das Vorurteil des Torwarts beim Elfmeter

Ich begann mit dem Satz: »Jeder Mensch hat Vorurteile. Das ist für ihn überlebenswichtig.« Ein Zauberkünstler, ein Missionar, aber auch ein Trickbetrüger lebt davon, gezielt »glauben machen« zu können. Davon lebt natürlich auch die Werbung, ob für eine Hautcreme oder für eine Partei. Die so provozierten Vor-Urteile sind das Ergebnis von Vorstellungen, von Bildern, die zu festen Überzeugungen werden können. Sind die Bilder bereits im Kopf als Ergebnis von Erfahrungen, können unbewusst auch richtige Handlungen entstehen; und vermutlich hat sich diese letztere Fähigkeit eben deshalb während der Evolution des Homo sapiens durchgesetzt.

Was es mit dieser besonderen Fähigkeit auf sich hat, will ich zunächst an einem Beispiel aus dem Sport erklären.

Ein Fußball benötigt vom Elfmeter-Punkt bis zur Torlinie, bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 120 Kilometern pro Stunde (wie sie bei der Europameisterschaft 1996 ermittelt wurde), nur eine drittel Sekunde, 330 Millisekunden. Vom Eintreffen des Sinnenreizes vom losgetretenen Ball auf der Augennetzhaut des Torwarts bis zu seiner bewussten Wahrnehmung vergehen bereits 80 bis 100 Millisekunden. Der Torwart hätte also bestenfalls eine viertel Sekunde, 250 Millisekunden Zeit, dem Zielpunkt des Balls entgegen zu springen, wenn er nicht zufällig bereits richtig stünde. Von der Mitte des Tors bis zu einer der oberen Ecken sind es 4,40 Meter. Nehmen wir an, der ausgestreckte Arm reicht bereits in 2,20 Meter Höhe, dann bleiben noch immer 2,20 Meter, die zu springen sind. Dazu muss der Torwart allerdings, was den Weg verlängert, zunächst in die Hocke gehen, und zwar nachdem er sich selbst dazu den Befehl gegeben haben muss, und dieser Befehl in etwa 100 Millisekunden vom Gehirn bis in die Beine gelangt ist. Diese rund 2,50 Meter zu rennen, benötigte ein Weltrekord-Sprinter bereits 250 Millisekunden. Sie zu springen gelingt gewiss nicht rascher. Das heißt: Der Ball ist für den Torwart unerreichbar. Bekanntlich aber wird auch ein Elfmeter immer mal gehalten, und nicht nur, wenn er direkt auf den Torwart geschossen wird. Wie ist das möglich?

Es liegt am gesunden Vor-Urteilsvermögen des menschlichen Gehirns. Das macht ständig Voraussagen, wobei es auf frühere Erfahrungen zurückgreift. Und so springt ein fähiger Torwart oft instinktiv richtig dem Ball entgegen, bevor er »wissen« kann, wohin dieser fliegen wird.

Dieses Vor-Urteilsvermögen war für unsere Ahnen überlebenswichtig. Ohne diese Begabung wären sie von den wilden Tieren gefressen worden. Sie waren jedoch zum Beispiel fähig, zwei Lichtreflexe im Gebüsch als die funkelnden Augen eines Raubtieres richtig zu deuten und rechtzeitig zu fliehen.

Offensichtlich steuert, wenn es keine Zeit zum Nachdenken gibt, das Unbewusste den Körper. Es »wählt dabei aus seiner gigantischen Datenbank jene Spielzüge aus, die sich in der Vergangenheit unter vergleichbaren Umständen bewährt haben« (Ute Eberle, Geo Kompakt, 1.3.2017).

Die Intuition ist keine angeborene, sondern eine angelernte Fähigkeit. Vor-Urteile nehmen uns das Denken ab. Das Gehirn erspart sich dadurch Arbeit. Das ist insbesondere dort wichtig, wo nicht genügend Zeit zum Nachdenken besteht. Das weiß auch jeder Autofahrer, wenn er in schwieriger Situation – glücklicherweise – spontan richtig reagiert hat. Auf seine Intuition zu achten, ist dann richtig, wenn man bereits Erfahrungen mit der jeweiligen Situation hat, und wenn es objektiv bedeutungsvolle Zusammenhänge gibt, die das Unbewusste erkennt.

Erfahrung etwa ist auch bei einem Torwart nötig. Nur der routinierte Torhüter kann »aus dem Bauch heraus« richtig entscheiden. Aber eben auch der Torschütze. Wer hier zunächst einmal anfängt, nachzudenken, ist schon verloren. Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 spielte am 30.6. in Berlin Deutschland gegen Argentinien. Es kam zum Elfmeterschießen. Der deutsche Torwart, Jens Lehmann, bekam zuvor von seinem Trainer, Andy Köpke, einen Zettel. Auf diesen Zettel schaute er, bevor der entscheidende Schuss von argentinischer Seite fiel. Der Schütze war dadurch so irritiert, dass er keine Chance hatte, Lehmann zu überlisten. Dabei war völlig gleichgültig, was denn, wenn überhaupt etwas, auf dem Zettel stand. Allerdings sind, anders als Einzelereignisse, hochkomplexe Gegebenheiten wie der Verlauf einer Fußball-Weltmeisterschaft, selbst mit noch so großer Erfahrung eben nicht vorhersehbar. Das zeigt auch das von den Experten nicht vorausgesehene abrupte Ende der Fußball-WM 2018 für die deutsche Nationalmannschaft.

Der entscheidende erste Eindruck

Im nicht so komplexen Individualfall ist das anders. Psychologische Tests zeigen, dass wir uns beim Anblick eines Unbekannten in Sekundenbruchteilen eine Meinung über ihn bilden. Dieses Vor-Urteil – »vor«, weil bereits in Unkenntnis der Person entstehend – war in der Geschichte der Menschheit notwendig, um einen Fremden möglichst rasch als »Freund« oder »Feind« identifizieren zu können. Diese Fähigkeit ist also ein Ergebnis der menschlichen Evolution. Offenkundig wichtig, um zu überleben in einer Welt, wo man einander gefressen hat. »Wenn wir Menschen begegnen, schätzen wir innerhalb von Sekunden ab, wer da vor uns steht«, so der Sozialpsychologe Klaus Fiedler (Universität Heidelberg). Wir können blitzschnell sagen, ob eine Person warmherzig, aggressiv oder dominant ist – und sortieren unsere Artgenossen in sympathisch oder unsympathisch (Übersichtsbeitrag Psychologie, Spiegel Wissen, 11.2.2020). Dabei ist nicht wichtig, ob wir unser Gegenüber eine Sekunde oder eine Minute lang beobachten. Und das ist auch verständlich, denn es galt, den lebenswichtigen richtigen Eindruck zu gewinnen. Eine zutreffende Prognose über das langfristige Verhalten eines Fremden war da zunächst nicht wichtig. Diese Fähigkeit hat sich bis heute nicht entwickelt. Und deshalb überschätzen wir leicht unsere Menschenkenntnis, denn wir haben dafür kein inneres Instrumentarium. Wir können zwar beobachten und schlussfolgern. Doch das Letztere kann auch daneben gehen.

Dennoch bleibt das Bedürfnis, den anderen zu verstehen. Bereits der um 1800 lebende schwäbische Arzt Franz Joseph Gall glaubte, man könne aus der Form seines Schädels Aussagen über den Charakter und die Intelligenz eines Menschen machen und entwickelte die »Phrenologie« – eine, wie wir heute wissen, pseudowissenschaftliche Irrlehre. Bis heute glauben Menschen auch, aus der Schrift einer Person Rückschlüsse auf dessen Charakter ziehen zu können, die Graphologen. Deren Methode geht von einem Vorurteil, einem, vorsichtig gesagt, wissenschaftlich nicht bewiesenen Glauben aus.

Heute kommt es oft darauf an, auf den Unbekannten Eindruck zu machen. »Der erste Eindruck ist mehr als wichtig. Er entscheidet auch im Job über den Erfolg.« So beschreibt die Wirtschaftswoche (27.10.2017) in einem zusammenfassenden Beitrag die heutige Situation. Coachs lehren, wie man einen positiven ersten Eindruck von sich vermitteln kann. Doch augenscheinlich lässt sich das gesunde Vorurteil nicht so einfach aushebeln. Eine der Lehren der Trainer lautet: Lächle! Bereits jeder aufmerksame Fernsehzuschauer kann freilich die Erfahrung machen, dass ein »immer nur Lächeln« relativ leicht als antrainiert identifiziert werden kann.

In unserer Gesellschaft ist das Vorurteil weit verbreitet, Frauen hätten die bessere Intuition als Männer. Der Psychologe Gerd Gigerenzer zitiert experimentelle Untersuchungen, wonach die Fähigkeit, zu erkennen, ob ein Lächeln echt ist oder vorgetäuscht wird, bei Männern praktisch genauso so gut ist wie bei Frauen. Jedoch: »Interessanterweise konnten Männer das echte Lächeln bei Frauen besser als bei Männern erkennen, während die Frauen schlechter abschätzen konnten, ob es die Vertreter des anderen Geschlechts ehrlich meinten« (Gerd Gigerenzer: Bauchentscheidungen, Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, 2007).

Und warum eigentlich sind Männer, etwa in der Wissenschaft, viel erfolgreicher als Frauen? Eine Untersuchung von gut sechs Millionen Fachartikeln der Jahre 2002 bis 2017 aus den Biowissenschaften und 100.000 aus der klinischen Forschung, über die das British Medical Journal berichtete, zeigte dies: Männer rühmen ihre Arbeiten ungleich häufiger als »exzellent«, »neuartig« oder gar »einzigartig«, als Frauen das tun. Die Beiträge voller Selbstlob werden dann auch häufiger (von Männern) zitiert (Werner Ludwig, Stuttgarter Zeitung, 16.1.2020). Offensichtlich zählen Deutungen mehr als Fakten.

Handeln mit Bauchgefühl

Unser natürliches Vorurteil kann man auch »Bauchgefühl« nennen. Der Erforscher des »Bauchgefühls«, der eben genannte Gerd Gigerenzer (Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin), betont immer wieder die Notwendigkeit von Erfahrung, um in kritischen Situationen sozusagen aus dem Bauch heraus (in Wahrheit natürlich mit Hilfe des Kopfes und den dort gespeicherten großenteils unbewussten Erfahrungen) die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Doch darüber hinaus geht es auch um eine zu erwerbende »Risikokompetenz«. Vielfach ist es nämlich wichtig, sich bewusst zu machen, worin die wahren und nicht etwa die eingebildeten Risiken bestehen. Gigerenzer verwies (in der Vor-Corona-Zeit) gerne darauf, dass das größte Risiko bei einer Flugreise die Fahrt mit dem Auto zum Flughafen ist. Und zur »Risikokompetenz« wiederum gehört, die eigenen Fähigkeiten, etwa des Autofahrens, richtig einschätzen zu können. Gesellschaftlich geht es darum, wahre Risiken zu identifizieren und scheinbare richtig einzuschätzen. Und zwar unabhängig zum Beispiel von politischer Propaganda.

In den letzten Jahren haben umfangreiche Experimente gezeigt, dass und wie unser Körpergefühl unser individuelles Urteil bestimmt (DIE ZEIT, 25.1.2018). Aufregungen unterschiedlichster Art lassen zum Beispiel unser Herz schneller schlagen. Das Laufen über eine schaukelnde Hängebrücke zum Beispiel lässt das Herz rascher pochen. Üblicherweise schlägt das Herz eines Mannes auch bei der Begegnung mit einer sehr attraktiven Frau schneller. Die Psychologen Donald Dutton und Arthur Aron (University of British Columbia) machten 1974 das folgende Experiment: Sie ließen männliche Versuchspersonen über eine schaukelnde Brücke laufen, andere über einen massiven Flussübergang. Am Ende trafen sie jeweils eine Frau, die sie befragte, angeblich für eine Studie über den Einfluss der Natur auf die Kreativität. Schließlich gab die Interviewerin den Wanderern ihre Telefonnummer mit dem Argument, ihnen das Experiment auch noch genauer erklären zu können. Am Ende riefen erheblich mehr befragte Männer von der schaukelnden Brücke an als jene vom bequemen Weg. Auf Männer reagierten die heterosexuellen Testpersonen neutral. Die Erklärung: Die Versuchspersonen deuteten ihren eigenen rascher werdenden Herzschlag fälschlich als Folge der großen Attraktivität der Interviewerin, auf die sie dann mit Anrufen reagierten, und nicht tatsächlich als Angstreaktion auf der schwindelerregenden Brücke.

Eine Reihe von anderen Experimenten, in denen Versuchspersonen über Kopfhörer von außen ein schneller oder ein langsamer Herzschlag unterlegt wurde, zeigte eindeutige Unterschiede im Verhalten. Sie beweisen, dass unser Körpergefühl Entscheidungen beeinflusst, indem es Vor-Urteile verursacht. Auch chemisch wurde dieser Zusammenhang nachgewiesen: Männer, denen etwas Adrenalin gespritzt wurde, fanden Frauen attraktiver als Männer, denen kein Stresshormon injiziert worden war.

Anscheinend lassen sich positive Vorurteile trainieren. Die Spiegel-Autorin Annette Bruhns fasste die Hinweise darauf unter einem speziellen Aspekt so zusammen: »Gutes vom Alter zu erwarten hält nachweislich jung« (Spiegel Wissen, 27.6.2017). Bruhns zitiert die Psychogerontologin Susanne Wurm (Universität Erlangen-Nürnberg) so: »(…) Wir wissen inzwischen, dass die, die sich jünger fühlen, nicht nur physisch davon profitieren – also dass diese Menschen fitter, mobiler und gesünder bleiben –, sondern sogar kognitiv.« Dabei geht es insbesondere um Personen, die tatsächlich gesund sind. Denn natürlich gibt es Menschen, die sich alt fühlen, eben weil sie nicht gesund sind. Es gibt jedoch inzwischen Langzeitstudien, die belegen, dass Senior*innen mit positiven Bildern vom eigenen Altern um Jahre länger leben als Pessimisten. Möglicherweise ist das, so vermute ich, eine autosuggestive Wirkung, die man in vielerlei Hinsicht als Placebo-Effekt kennt. Die Psychologie-Professorin an der Harvard University, Ellen Langer, stellte in zahlreichen Experimenten fest: Subtile Veränderungen unserer Denkweise, unserer Terminologie und unserer Erwartungen reichen aus, um eingefleischte Gewohnheiten abzulegen, die uns die Gesundheit und die Vitalität nehmen. »Gesund alt werden durch die heilsame Wirkung der Aufmerksamkeit« lehrt Ellen Langer in ihrem Buch »Die Uhr zurückdrehen?« (Paderborn, 2011).

Die australisch-amerikanische Molekularbiologin und Nobelpreisträgerin des Jahres 2009, Elizabeth Blackburn, sieht sogar einen Einfluss des Denkens auf die Fitness der Körperzellen. »Auch wenn wir mit einem bestimmten Set an Genen geboren werden«, so zitiert Annette Bruhns sie, »kann unser Lebensstil beeinflussen, wie sich diese Gene ausprägen.« Drei Denkmuster würden nachweislich zur (vorzeitigen) Zellalterung beitragen: feindseliger Zynismus, Pessimismus und Grübelei. Und da kann ein Betroffener, der dies zur Kenntnis nimmt, selbst bewusst gegensteuern, auch wenn das nicht immer leichtfällt. Das Wissen um diese Zusammenhänge und sie zu beachten, hilft tatsächlich zu einem gesünderen und damit längeren Leben. Die Vorstellung, dies sei »Schicksal«, ist ein Vorurteil.

Wie das Deuten die Sicht verstellt

Eine fundamentale Erkenntnis der Neurowissenschaften, die entscheidend ist für die Konstruktion unseres Weltbildes, insbesondere für die Genese der menschlichen Glaubensvorstellungen, ist diese: Unser Gehirn ist vor allem mit dem Deuten, viel weniger dagegen mit dem Beobachten der Welt beschäftigt. Denn das Einzige, zu dem unser Kopf unmittelbaren Zugang hat, sind seine eigenen inneren Zustände. Gut 90 Prozent der Impulse, die ins menschliche Sehzentrum, den primären visuellen Cortex, einlaufen, stammen nicht etwa aus der Sehbahn, sind also nicht einlaufende Nachrichten dessen, was wir tatsächlich sehen, sondern stammen aus anderen, übergeordneten Bereichen der Großhirnrinde, stecken also bereits vorher schon im Kopf (Manuela Lenzen: Gehirn & Geist, 4, 2013. In: Lars Muckli: International Journal of Imaging Systems and Technology 20, 2010). Unsere Vor-Urteile sind also entscheidend, nicht unsere tatsächlichen »Ansichten«.

Das heißt aber auch, wir müssen uns die Welt deuten. Das ist die tiefste Ursache für jede Religion und für alle Wissenschaften mit ihren Welt-Anschauungen.

Was unsere Fähigkeiten zur Selbsterkenntnis angeht, so gibt es offenkundig natürliche, wenngleich nicht unüberwindbare Grenzen. Etwa die Tendenz, zu glauben, sich selbst am besten zu kennen. Von außen beobachtet, lässt sich nämlich am Gegenüber manches sofort wahrnehmen, was dieser selbst nicht sieht; denn es gibt da etwas wie eine »Verzerrungsblindheit« im Glauben, sich selbst vorurteilsfrei erkennen zu können. Den Begriff bias blind spot, analog zum optischen »Blinden Fleck«, prägte die Sozialpsychologin Emily Pronin (Universität Princeton). Damit meint sie, wir hätten keinen privilegierten Zugang zum eigenen Ich. Denn wir blenden unsere eigene Voreingenommenheit aus. Die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis, der Introspektion, ist für Pronin eine Introspektions-Illusion. Wir glauben, negative Eigenschaften nicht zu haben, weil wir sie nicht haben wollen; zum Beispiel Vorurteile, die für andere Menschen offenkundig sind.

Die Psychologen haben den Begriff »kognitive Verzerrungen« geprägt und wenden ihn auf die unterschiedlichsten Verhaltensweisen an, meist ohne diese zu erklären. Zum Beispiel »Bestätigungsfehler« (Confirmation Bias). Das heißt, wir nehmen vor allem das wahr, was unsere Thesen bestätigt und so unsere Überzeugungen verfestigt. Quellen, die das eigene Denken bestätigen, werden nicht geprüft. Scheinbar Selbstverständliches anzuzweifeln, gehört jedoch in der Geschichte der Wissenschaften zu den Motoren des Fortschritts: Etwa wider den Augenschein die Rotation der Erde um die Sonne zu erkennen und nicht umgekehrt. Zu den kognitiven Verzerrungen zählt man den Effekt, das, was man selber «erlebt« hat, etwa die Bewegung der Sonne am Himmel, eher zu glauben, als es besser wissen zu wollen; was die Menschheit im Falle der Sonne mehr als die halbe Weltgeschichte lang praktizierte.

Etwas berechtigterweise in Frage zu stellen, gehört zu den großen menschlichen Fähigkeiten. Was die Wissenschaften betrifft, die, wie der Name schon andeutet, mit Wissen Schaffen Wollen zu tun hat, hat Albert Einstein es einmal so formuliert: »Wir wollen nicht nur wissen, wie die Natur ist (…), sondern wir wollen auch nach Möglichkeit das vielleicht utopisch und anmaßend erscheinende Ziel erreichen zu wissen, warum die Natur so und nicht anders ist« (zitiert nach Erhard Scheibe: Die Philosophie der Physiker, München, 2006). Als »sozusagen die religiöse Basis des wissenschaftlichen Bemühens« verstand Einstein die »höchsten Befriedigungen des wissenschaftlichen Menschen«, die darin liege, »die empirische Gesetzlichkeit als logische Notwendigkeit zu erfassen«, und zu erleben, dass »selbst Gott jene Zusammenhänge nicht anders hätte festlegen können (…) ebensowenig, als es in seiner Macht gelegen wäre, die Zahl 4 zu einer Primzahl zu machen.« Welch ein Unterschied zu jenen heutigen Geisteswissenschaftlern, die ganz zufrieden damit sind, sich mit Mythen aller Art zu beschäftigen, ohne zu fragen, welche Fakten die Ursachen solcher Weltbilder sind.

Zurück zu den Vorgängen im menschlichen Kopf: Im Gehirn verarbeitet die Sehrinde (der visuelle Cortex), was wir sehen, und leitet die Informationen von niedrigen Gehirnarealen in höhere Areale (»Bottom-up«). Forscher des Frankfurter Ernst Strüngmann Instituts (ESI) für Neurowissenschaften (Gründungsdirektor war Wolf Singer, von dem noch die Rede sein wird) haben festgestellt, dass die Sehrinde unterschiedliche Frequenzkanäle nutzt, je nachdem, in welche Richtung die Information transportiert wird (MPG [Max-Planck-Gesellschaft]-Mitteilung, 18.1.2016). »Das Gehirn benutzt bisherige Erfahrungen, um Informationen in den gegenwärtigen Kontext einzuordnen und auf dieser Basis Vorhersagen zu treffen«, so der Forscher Pascal Fries: Der Informationsstrom von oben nach unten dagegen (»Top-down«) »steuert damit unsere Aufmerksamkeit hin zu Dingen, die in der jeweiligen Situation wichtig sind. Das kann sowohl unbewusst, beispielsweise gelenkt durch das plötzliche Auftauchen einer Gefahr, als auch bewusst geschehen, wenn wir zum Beispiel etwas suchen oder Anweisungen folgen.« Der Bottom-up-Strom nutzt dabei ein Frequenzband rhythmischer Nervenzellaktivität um die 60 Hertz, der Top-down-Strom den Frequenzbereich zwischen zehn und 20 Hertz. Die Folge: »Ein gesunder Mensch kann zwischen realen Sinneseindrücken und ihrer in höheren Arealen entstehenden Interpretation gut unterscheiden. Er kann z.B. in einer Wolke die Züge eines Gesichtes sehen ohne die Wolke für ein Gesicht zu halten. Bei einem schizophrenen Menschen kann es dazu kommen, dass er das Gesicht (der Wolke) für real hält und damit wohl die Top-down vermittelte Information für einen Bottom-up vermittelten Sinneseindruck hält«, so Fries.

Wir sehen also auch mit offenen Augen und bei Licht nicht immer, was wir tatsächlich sehen, sondern was unser Gehirn uns sehen lässt. Dabei werden die eingehenden mit erwarteten Signalen verglichen. Das ist durchaus sinnvoll, denn es spart dem Gehirn Arbeit. So sind wir zum Beispiel fähig, einen völlig verschrobenen Text korrekt zu lesen, vorausgesetzt, der erste und der letzte Buchstabe eines Wortes sind richtig. Zum Beispiel diesen Text:

Afugrnud enier Sduite an enier Elingshcen Unvirestiät ist es eagl, in wlehcer Rienhelfoge die Bcuhtsbaen in eniem Wrot sethen, das eniizg wcihitge dbaei ist, dsas der estre und ltzete Bcuhtsbae am rcihgiten Paltz snid.

Dies gelingt natürlich nur Menschen, die so viel gelesen haben, dass die Wortbilder als Ganzes bereits in ihrem Kopf gespeichert sind. Denn nur, wofür man Worte hat, das kann man auch bedenken. Der amerikanische Linguist Benjamin Lee Whorf (1897–1941) formulierte als ein »linguistisches Relativitätsprinzip«, dass »nicht alle Beobachter durch die gleichen physikalischen Sachverhalte zu einem gleichen Weltbild geführt werden, es sei denn, ihre linguistischen Hintergründe sind ähnlich oder können in irgendeiner Weise auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden«. Der Titel der Quelle für dieses obige Zitat erklärt genauer, was gemeint ist: Die Irrmeinung von der Beziehungslosigkeit zwischen Sprache und Denken (mauthner-gesellschaft/verein der Sprachkritiker/1998).

Die verkörperte Kognition

Die Erfindung der Schriftzeichen und ihre Verwendung als »Keilschrift« auf Tontafeln, zunächst um Listen und Tabellen im Zusammenhang mit der Landwirtschaft herzustellen ist im sumerischen Uruk im Zweistromland im 4. vorchristlichen Jahrtausend nachgewiesen worden. Diese Erfindung war eine fundamentale geistige Leistung. Sie ermöglichte die »verkörperte Kognition«, wie man das neuerdings nennt. Das menschliche Gedächtnis wurde damit unendlich weit über das individuelle Leben und Erinnern ausgeweitet.

Allerdings droht nun mit dem elektronischen Kommunizieren etwas Wesentliches verloren zu gehen. Der Psychologe und Neurowissenschaftler Markus Kiefer vom Universitätsklinikum Ulm sagt: »Wir wissen heute, dass eben, wenn wir mit der Hand schreiben, motorische Spuren im Gehirn angelegt werden, weil wir beim Schreiben die Form des einzelnen Buchstabens nachvollziehen. Das führt dazu, dass wir auch Buchstaben oder Wörter wahrnehmen, dass das automatisch zu einer Aktivierung führt, in den Bereichen des Gehirns, die für Bewegung und für Motorik zuständig sind, obwohl wir ein Wort einfach nur lesen« (Titel Thesen Temperamente, ARD, 3.12.2018). Kiefer und Kolleg*innen haben Vier- bis Sechsjährige im Kindergarten jeweils acht Buchstaben erlernen lassen, die Hälfte von ihnen mit Hilfe von Stift und Papier, die andere Hälfte über eine Computer-Tastatur. Nach 16 Übungseinheiten wurde verglichen. Das Ergebnis, so Kiefer: »Die Kinder, die die Buchstaben über den Handschrifterwerb lernten, hatten einen deutlichen Vorteil« (Die Welt, 22.12.2018). Sie konnten die Schriftzeichen nicht nur besser erkennen und schreiben, sondern waren auch eher dazu in der Lage, ganze Wörter zu lesen und zu schreiben.

Studierende haben ebenfalls Vorteile, wenn sie sich in den Vorlesungen von Hand Notizen machen, statt mit dem Laptop. Von Hand fassen sie nämlich das Vorgetragene zusammen, stellen also bereits Sinn-Zusammenhänge dar, anders als per Laptop, wo sie wörtlich das Gehörte übertragen. »Das führt zu einer flacheren Verarbeitung und entsprechend zu einer schlechteren Gedächtnisleistung, als wenn ich beim Handschreiben, das notgedrungen langsamer ist als das Tippen, versuche, die Essenz herauszuarbeiten«, so Kiefer. Der technische Fortschritt ist offenbar in mancherlei Hinsicht oder situationsbedingt ein Rückschritt.

Auch die Idee, Kindern nur die Druckschrift beizubringen, ist nach wissenschaftlichen Erkenntnissen unvernünftig. Der Didaktiker der deutschen Sprache Wolfgang Steinig (Universität Siegen) verweist auf ein Experiment, das 2012 im kanadischen Quebec mit 715 Schüler*innen gemacht wurde. Die Kinder lernten entweder, wie in Deutschland üblich, erst die Druck- und dann die Schreibschrift, oder nur die Druck- oder gleich die Schreibschrift. Beurteilt wurden anschließend Schreibgeschwindigkeit, Rechtschreibung und Textproduktion. Die deutsche Variante schnitt am schlechtesten ab, vor allem was die Rechtschreibung angeht, Schreibschrift von Anfang an zeitigte die besten Ergebnisse. Steinig verlangt, einheitlich die ursprünglich in der DDR entwickelte »Schulausgangsschrift« »als die zur Zeit beste Schrift für unsere Kinder« zu lehren (Welt am Sonntag, 12.5.2019). Übrigens fällt uns die Konzentration leichter, wenn wir einen Text gedruckt auf Papier vor uns haben, als einen digitalen Text. Beim Lesen eines gedruckten Textes springen nämlich die Augen in Sakkaden (das sind Vorwärtssprünge des Auges während des Lesens einer Wortsprache zu einem folgenden Textabschnitt). Die Kombination der dabei aufgenommenen Buchstaben vergleicht das Gehirn mit bereits gespeicherten Mustern, was das Lesen beschleunigt (Volker Kitz, Spiegel, 14.12.21).

Neuerdings haben Gehirnforscher experimentell die Baupläne identifizieren können, nach denen unsere Erfahrungen im Kopf gespeichert werden. Bei jeder Erfahrung, die wir machen, und jeder Entscheidung, die wir treffen, arbeiten unterschiedliche Bereiche des Gehirns zusammen. Diese für jede Situation spezifische Gehirnaktivität erzeugt messbare neuronale Muster. Ein Forschungsteam aus Berlin und Princeton hat Versuchspersonen eine komplexe Aufgabe bearbeiten lassen, während ein Magnetresonanztomograph (MRT) ihre Gehirnaktivität aufzeichnete. Die Aufzeichnungen gingen in der anschließenden kurzen Ruhepause weiter. Und da zeigte sich Erstaunliches: Das gleiche spezifische neuronale Aktivitätsmuster wurde in der Ruhepause erneut messbar und zwar im Hippocampus, einem Bereich im inneren Rand der Großhirnrinde. »Während die Proband*innen in den Pausen zwischen den Aufgaben ruhig dalagen, spielte der Hippocampus die soeben erledigte Entscheidungsaufgabe erneut ab«, so Nicolas Schuck, Leiter der Forschungsgruppe NeuroCode am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. »Dabei konnten wir die Reihenfolge der zuvor stattgefundenen Erlebnisse beobachten. Unsere Ergebnisse lassen vermuten, dass diese Wiederholung im Gehirn beschleunigt – quasi im Zeitraffer – geschieht« (MPG-Newsletter, 4.7.2019). »Die Fähigkeit des Hippocampus, Erfahrungen im Zeitraffer durchzuspielen, scheint eine zentrale Rolle dabei zu spielen, dass aus Erfahrungen Repräsentationen im Gehirn werden, die uns wiederum dabei helfen, Entscheidungen zu treffen«, so die an den Experimenten beteiligte Neurowissenschaftlerin Yael Niv von der Princeton University. Zuvor fehlte eine Methode, solche Prozesse ohne ins Gehirn eingepflanzte Sensoren überhaupt messen zu können.

Das Denken vermeiden

Ohne seine Fähigkeit, zu denken, wäre die Evolution des Menschen, schlicht gesagt, bei den Affen im Urwald stehen geblieben. Jedoch ist das Denken eine anstrengende Angelegenheit. Pro Gewichtseinheit setzt die Hirnmasse 16-mal so viel Energie um wie das Muskelgewebe. Natürlicherweise beschränkt sich unser Denken deshalb auf das Allernotwendigste. Denn das dafür zuständige sogenannte Arbeitsgedächtnis ist in seiner Kapazität beschränkt. Wo immer es geht, arbeitet der Kopf deshalb energiesparend und automatisch. Diese Tatsache ist entscheidend für die Arbeitsweise unseres Gehirns. Das erklärt zum Beispiel den Effekt, dass jeweils der letzte Eindruck, etwa der, den der letzte Kandidat (wobei auch immer) hinterlässt, oder der Schlusssatz, gar die Schlusspointe bei einem Vortrag, die jeweils stärkste Wirkung zeitigt (SZ, 5.7.19).