Wenn dein Blick mich trifft - FORBIDDEN HEARTS - Alisha Rai - E-Book
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Wenn dein Blick mich trifft - FORBIDDEN HEARTS E-Book

Alisha Rai

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Beschreibung

Einmal im Jahr treffen sich Nicholas Chandler und Olivia Kane irgendwo auf der Welt für eine einzige leidenschaftliche Nacht - aber nicht für mehr. So lautet ihr unausgesprochenes Arrangement, denn nach einem schrecklichen Unfall sind die Familien Chandler und Kane verfeindet. Bis Olivia eines Tages nicht auftaucht und Nicholas sich fragen muss, ob seine Gefühle für sie nicht doch viel größer sind, als er dachte ...

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumEinleitungWidmungKapitel 1NICHOLASKapitel 2LIVVYKapitel 3NICHOLASKapitel 4LIVVYKapitel 5LIVVYKapitel 6NICHOLASLIVVYKapitel 7NICHOLASLIVVYKapitel 8NICHOLASKapitel 9LIVVYNICHOLASKapitel 10LIVVYKapitel 11NICHOLASKapitel 12LIVVYKapitel 13LIVVYKapitel 14NICHOLASKapitel 15LIVVYKapitel 16LIVVYKapitel 17NicholasKapitel 18LivvyKapitel 19NICHOLASKapitel 20LivvyKapitel 21LIVVYKapitel 22NICHOLASLIVVYDanksagungen

Über dieses Buch

Einmal im Jahr treffen sich Nicholas Chandler und Olivia Kane irgendwo auf der Welt für eine einzige leidenschaftliche Nacht – aber nicht für mehr. So lautet ihr unausgesprochenes Arrangement, denn nach einem schrecklichen Unfall sind die Familien Chandler und Kane verfeindet. Bis Olivia eines Tages nicht auftaucht und Nicholas sich fragen muss, ob seine Gefühle für sie nicht doch viel größer sind, als er dachte …

Über die Autorin

Alisha Rai ist eine erfolgreiche Autorin von Liebesromanen. Ihre Bücher standen auf den Bestenlisten der Washington Post, Entertainment Weekly, New York Public Library, Amazon, Kirkus, »O« the Oprah Magazine und dem Cosmopolitan Magazine. Eine beeindruckende Liste, die noch länger sein könnte, doch das würde den Rahmen sprengen. Wer mehr wissen will, schaut nach auf www.alisharai.com

Übersetzung aus dem amerikanischen Englischvon Nicole Hölsken

LÜBBE

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Hate to Want You«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2017 by Alisha Rai

Published by arrangement with Avon Books,an Imprint of HarperCollins Publishers

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Doreen Reeck, Köln

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Einband-/Umschlagmotiv: © shutterstock.com: kzww | Chinnapong

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0398-7

www.luebbe.de

www.lesejury.de

»Ich weiß, dass du nicht gut für mich bist. Trotzdem kann ich nicht aufhören, dich zu begehren.«

Es war okay. Oder? War sie nicht ebenfalls zu dem Schluss gekommen, dass er ihr nicht guttat? Was auch der Grund war, warum sie ihm nicht geschrieben hatte. Weil sie alles Schmerzhafte aus ihrem Leben verbannte.

Warum also tat es jetzt so weh, diese Worte aus seinem Mund zu hören?

»So ging es mir noch nie. Jedes Jahr kam ich von unseren … Treffen zurück und machte einfach weiter. Ich schlief, aß, traf Freunde und Bekannte, war wie sonst auch. Aber jetzt, da du hier bist, so nah …«

»Ich kann nicht wieder gehen«, unterbrach sie ihn.

»Ich habe nicht gesagt, dass du das sollst.«

Er stürzte sie in ein Gefühlschaos. Auf jedes Glücksgefühl folgte unweigerlich der Schmerz.

Aber war nicht ihre ganze Beziehung schon immer so gewesen?

Für die Heldinnen, bei denen ich aufwuchs:Aai & Aaji.Ich liebe Euch.

Kapitel 1

NICHOLAS

Eine Nacht. Keiner wird es erfahren.

So lauteten die Regeln.

Keine besonders romantischen Regeln, aber Nicholas Chandler hatte schon lange keiner mehr einen Romantiker genannt. Die Liebe besiegte nur selten alles, die wahren Schurken kamen fast immer ungeschoren davon, und glücklich bis ans Lebensende? Ha. Was ihn betraf, waren ihm lediglich ein paar verstohlene Augenblicke mit einer chaotischen Frau vergönnt. Einer schlechten Frau.

Nicholas schaltete den Motor seiner Limousine aus. Er bevorzugte eine klare Sprache, weshalb er normalerweise vor Adjektiven wie schlecht zurückschreckte. Schlecht konnte – gerade in Bezug auf eine Frau – alles Mögliche heißen.

In diesem Fall jedoch bedeutete es, dass sie schlecht für ihn war.

Im Fenster des Tattoo-Studios leuchtete das Open-Schild. Es dämmerte bereits, und die anderen Läden im Einkaufszentrum waren schon geschlossen. Außer seinem eigenen Wagen stand nur noch ein einziges weiteres Fahrzeug auf dem Parkplatz. Es war ein vierzehn Jahre alter, verrosteter Sportwagen. Dass der gelbe Mustang immer noch lief, erschien Nicholas einem Wunder gleich. Wenn er bedachte, wie weit seine Besitzerin von allem davongelaufen war, musste er die höchstmögliche Kilometerleistung längst überschritten haben.

Er umfasste den Schlüssel. Wenn er jetzt wieder wegfuhr, hätte er noch genug Zeit, um seinen allabendlichen Lauf zu absolvieren, bevor er sich mit einer ernährungsphysiologisch ausgewogenen Einzelportion zum Essen an seinen Küchentisch setzte. Außerdem liefe er keine Gefahr, dass ihm jemand hinterherschnüffelte und womöglich Gerüchte über seinen verdächtigen Aufenthalt in einer Gegend von Rockville verbreitete, die normalerweise fest in Arbeiterhand war.

Ein Schatten bewegte sich hinter dem hell erleuchteten Ladenfenster. Jeder Muskel seines Körpers spannte sich an. Insgeheim hatte er gehofft, dass der Klatsch, den man sich erzählte, Unsinn war. Sogar nachdem er ihr Auto erkannt hatte, hatte sich diese Hoffnung nicht verflüchtigen wollen. Aber so leicht hatte es ihm das Leben schließlich noch nie gemacht.

Livvy Kane war nach Hause zurückgekehrt.

Er beugte sich vor, aber sie war zu weit weg, um Einzelheiten erkennen zu können. Es spielte keine Rolle. Die ruhelose Energie, die ihr Körper bei jeder Bewegung ausstrahlte, der Schwung ihrer Hüften, die Art, wie sie ihr dunkles Haar in den Nacken warf. Das alles hatte sich ein für alle Mal in sein Gedächtnis eingebrannt.

Livvy blieb stehen, sodass sich ihr Profil im Neonlicht des Studios wie ein Schattenriss abzeichnete. Sie streckte sich, um ihre üppige Mähne zu einem hohen Haarknoten zusammenzufassen, wobei ihre vollen Brüste sich hoben. Er wusste genau, wie fest sie sich in seinen Händen anfühlten, dachte an die Stellen ihres Körpers, an der die hellbraune Haut in einen blasseren Ton überging, und den Geschmack ihrer kleinen, festen Brustwarzen in seinem Mund. Er hatte an ihnen gesaugt, hineingebissen, sie zwischen Daumen und Zeigefinger gedreht. Er wusste, wie viel Druck es brauchte, um ihr ein Seufzen zu entlocken, und wie er seinen Mund einsetzen musste, damit sie aufschrie.

Langsam ließ Livvy die Arme sinken. Sie wandte sich ab und ging außer Sichtweite.

Er holte tief Luft und lehnte sich zurück, der seltsame Bann war gebrochen. Livvy war zu Hause. In seiner Heimat, und genau genommen auch der ihren, obwohl sie diese Stadt seit zehn Jahren schon nicht mehr so nannte.

Er ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten wäre er sofort in den Laden gestürmt und hätte Antworten verlangt. Aber das Bedürfnis, einfach heimzufahren und zu vergessen, dass sie überhaupt hier war, war genauso stark. Zwei vollkommen gegensätzliche, unvereinbare Wünsche.

Sein Handy brummte, ruckartig hob er den Kopf und blickte auf das Armaturenbrett, an dem es befestigt war. Er brauchte einen Moment, um die Nachricht zu verstehen, die dort aufleuchtete. Er erkannte zwar die Nummer nicht, wohl aber den Ton.

KANN ICH DIR HELFEN?

Die freudige Erleichterung, die ihn angesichts einer Textnachricht von Livvy überkam, ähnelte der eines Süchtigen, der endlich wieder an seine Droge kam.

Doch der Erregung folgte sogleich Scham. Falls seine Geschäftsführerlaufbahn scheiterte, käme eine Karriere als Privatdetektiv als Alternative wohl kaum infrage.

Sein Handy brummte erneut.

HÖR AUF, MIR HINTERHERZUSPIONIEREN.

Nicholas runzelte die Stirn. Er spionierte ihr nicht hinterher. Er saß lediglich auf einem schlecht beleuchteten Parkplatz und beobachtete eine Frau durchs Fenster … Hitze stieg ihm ins Gesicht. Okay, ein Punkt für sie. Nicholas nahm sein Handy zur Hand. Die Daumen über dem Display, hielt er inne. Er wusste nicht, was er antworten sollte.

Während der letzten Jahre hatte er genau neun Textnachrichten von ihr bekommen, stets pünktlich zur selben Zeit des Jahres. Mit Ausnahme der allerersten waren sie sehr wortkarg gewesen, enthielten nur eine Uhrzeit, eine Zimmernummer sowie Längen- und Breitengrad des Ortes, an dem sie sich gerade aufhielt. Auf keine dieser Nachrichten hatte er antworten müssen.

Sein Handy vibrierte in seinen Fingern – Mahnung und Tadel zugleich.

WENN DU EIN TATTOO WILLST, MUSST DU SCHON HEREINKOMMEN.

Er wollte kein Tattoo. Er wollte sie. Das, was er nicht haben konnte. Sie ist schlecht für dich. Wie seine Schwäche für Süßigkeiten.

Er war sich der Ähnlichkeit zwischen seiner Zuckerabhängigkeit und der Sucht nach Livvy durchaus bewusst. Was das süße Zeug anging, riss er sich erbarmungslos zusammen und schaffte es immer wieder lange Zeit, einen Bogen um die Backwarenabteilung im Chandler’s zu machen. Bis er sich einfach nicht mehr beherrschen konnte und sich unversehens vor den Cannoli im Kühlregal wiederfand.

Er kaufte stets nur zwei – mehr gestattete er sich nicht. Ein Cannolo verschlang er immer schon gierig mit wenigen Bissen im Auto. Das andere nahm er mit nach Hause und verspeiste es langsam, genoss jedes Stückchen der frittierten, knusprigen Hülle mit der süßen Ricottafüllung, ließ die aromatische Creme auf seiner Zunge tanzen und gab sich dem Genuss ganz und gar hin.

Nicholas schüttelte den Kopf. Er verabscheute derlei blumige Gedanken. Heute ist nicht der Tag für Genuss. Deshalb durfte er auch nicht hineingehen.

Er durfte nicht hineingehen, wiederholte er bei sich, während er sich seine Schlüssel schnappte und aus dem Wagen stieg.

Er durfte nicht hineingehen, sagte er sich, als er die Stufen zum Eingang des Backsteinbaus emporstieg.

Er durfte nicht …

Fröhlich läutete die Klingel über der Tür, als er das Studio betrat. Sogleich schloss er sie leise und fest hinter sich, was die Glocke wieder verstummen ließ.

Seine Schuhe quietschten auf den sauberen Fliesen, als er ein paar Schritte in den verlassenen Empfangsbereich hinein machte. Der Laden war klein, aber ordentlich, warm und hell erleuchtet. Bunt zusammengewürfelte, bequeme Sessel standen gedrängt im Wartebereich. Auf dem Tisch lagen einige Zeitschriften ausgebreitet, angefangen von Better Homes and Gardens bis hin zu Car and Driver.

Der Vorhang, der den Rest des Studios vom vorderen Teil trennte, schwang leicht hin und her, als hätte ihn gerade jemand bewegt. Zweifellos wusste sie, dass er hier war. Aber sie hatte ihn noch nicht gesehen. Er konnte immer noch wieder verschwinden.

Ein Chandler läuft nicht so einfach weg.

Er zupfte die Manschetten seines Hemds zurecht, obwohl sie gar nicht verrutscht waren. Das Team Ich-muss-sie-sehen hatte die Mannschaft Ich-darf-sie-auf-keinen-Fall-sehen vernichtend geschlagen. Er war jetzt wild entschlossen. Es gab kein Zurück mehr.

Es war alles in Ordnung. Er würde sie schon nicht mit Haut und Haar verschlingen. Sondern ihr einfach nur … ein paar Fragen stellen. Als Geschäftsführer der Chandler’s-Ladenkette gehörte es schließlich zu seinen Aufgaben, potenzielle Probleme, die das Unternehmen in irgendeiner Weise beeinträchtigen könnten, in Augenschein zu nehmen und zu überprüfen.

Kalt. Förmlich. Geschäftsmäßig. Unter keinen Umständen durfte er zulassen, dass die Mauer, die er so sorgsam um seine Gefühle errichtet hatte, um sie auf Distanz zu halten, in sich zusammenfiel.

Er konzentrierte sich also auf dieses klar umrissene Ziel, straffte die Schultern und trat durch den Vorhang. Augenblicklich hatte sein klar umrissenes Ziel nur noch die Konsistenz von Wackelpudding.

Livvy saß auf einem Hocker und wandte ihm das Profil zu, während sie über einen Tisch gebeugt auf einem Blatt Papier herumkritzelte. Sie schien sein Eintreten nicht bemerkt zu haben. Ihr wippender Fuß klopfte im Takt zu seinem pochenden Herzen auf den Betonboden.

Livvys hübscher Körper glich einer bemalten Leinwand, die sie mit winzigen Stofffetzen einrahmte: ein rotes, bauchfreies Top und eine schwarze Lederhose. Bei jeder anderen Frau hätte er sich gefragt, ob sie sich verkleidet hatte. Bei ihr war ihm dieser Aufzug egal. Er hätte ihr die Klamotten ohnehin am liebsten direkt vom Leib gerissen.

Aus Jugendtagen erinnerte er sich noch an ihre natürliche Haarfarbe, ein wunderschönes Mitternachtsschwarz. Sie hatte eine ganze Woche Hausarrest bekommen, nachdem sie es zum ersten Mal mit Peroxyd aus dem Drogeriemarkt gebleicht und dann bunt gefärbt hatte. Bei der dritten oder vierten Farbe hatten ihre Eltern aufgegeben.

Sie trug ihr Haar zu einem unordentlichen Knoten am Hinterkopf zusammengefasst, die Farbe ein beinahe dezentes Dunkelbraun, durchsetzt mit weinroten Strähnen. Er wurde die Vorstellung einfach nicht los, wie ihre bis zur Taille reichenden Wellen wohl über ein Kissen ausgebreitet aussahen. Oder wie sie wie züngelnde Flammen an seinem Körper leckten, während Livvy an seiner Brust hinabglitt.

Sie beugte sich über ihre Zeichnung, wobei ihre nackte Taille über dem Hosenbund hervorblitzte. Ohne ihn anzusehen, sprach sie ihn an. »Wie ich sehe, hast du es aufgegeben, mich im Dunkeln zu verfolgen.«

Das letzte Mal, als er diese Stimme gehört hatte, war er tief in ihr gewesen. Die muskulösen Beine hatten seine Taille umklammert, während ihre Fingernägel blutige Kratzspuren auf seinen Schultern hinterließen. Nicht aufhören, hatte sie ihm ins Ohr geflüstert. Ich will es härter.

Er wusste nicht mehr, was er damals geantwortet hatte. Ihre Treffen gingen meist in einem Dunst aus Schweiß, Lust, schmutzigen Worten und noch schmutzigeren Taten unter. Nicholas nahm an, dass er ihr gehorcht hatte, denn am nächsten Tag hatte ihm alles wehgetan. Er hatte keine Ahnung, ob es ihr ähnlich ergangen war. Denn er verließ sie stets vor dem Morgengrauen, bevor sie aufwachte.

So waren die Regeln. Eine Nacht, wo auch immer sie sich gerade herumtrieb. Nach neun Jahren Sex im Verborgenen hatte er dies verinnerlicht.

Er musste zweimal schlucken, ehe er eine Antwort herausbrachte, registrierte aber erleichtert, dass man ihm seine Erregung nicht anhörte. »Ich habe dich nicht verfolgt.«

»Ich wusste gar nicht, dass Typen, die auf Parkplätzen herumlungern, Freiminuten haben, ehe sie als Spanner gelten.« Sie legte den Bleistift ordentlich neben den Block und erhob sich. Die schwarzen, kniehohen Schnürstiefel ließen sie locker zehn Zentimeter größer erscheinen als ihre winzigen Einmeterfünfzig. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ein Tattoo zierte ihre Schulter und ihren Arm, betonte ihre definierten Muskeln. Es war eine sich windende Ranke stacheliger, schwarzer Blumen. Und es war neu.

Er wollte es berühren – das jedenfalls war nicht neu. Er wollte sie immer berühren.

Einige Sekunden lang starrten sie einander schweigend an. Dann verzogen sich ihre Mundwinkel zu einem Lächeln. »Hallo, Nicholas.«

Er klammerte sich an die höfliche Unverbindlichkeit der Begrüßung wie an eine Rettungsboje. »Livvy. Gut siehst du aus.« Eine Untertreibung.

Ihr Blick brannte wie Feuer auf seiner Haut, als ihre kajalumrandeten Augen ihn von Kopf bis Fuß musterten. Er ertappte sich dabei, wie er die Schultern straffte. Blödmann. Gleich lässt du auch noch die Muskeln spielen, um ihr zu imponieren.

»Du auch. Neue Krawatte?« Sie klimperte mit den Wimpern.

Automatisch fuhr er sich mit der Hand über den Schlips, doch dann hielt er inne. Bei ihrem letzten Zusammentreffen hatte sie den Stoff gepackt und ihn dicht an sich gezogen, um ihren Mund auf den seinen zu pressen. Ob sie sich daran erinnerte? »Vielleicht. Weiß ich nicht mehr.«

»Hübsch. Bringt das Blau in deinem Blut zur Geltung.«

Ihre spitze Zunge hatte sie sich also bewahrt. »Mein Blut ist immer noch nicht blauer als deins«, bemerkte er. Sowohl ihr als auch sein Großvater hatten zur ersten Generation ihrer jeweiligen Familien gehört, die auf amerikanischem Boden zur Welt gekommen waren. Eine von vielen Gemeinsamkeiten, die die beiden Männer zu so guten Freunden und Geschäftspartnern gemacht hatten.

»Hm. Wahrscheinlich kommt dieser bläuliche Schimmer dann davon, dass du jeden Morgen in deinem Dagobert-Duck-Geldspeicher im Gold schwimmst.« Sie lehnte sich rücklings gegen den Tisch. »Von wem weißt du, dass ich hier bin?«

»Einer Cousine. Sie hat dich an einer Tankstelle gesehen.« Er hatte nicht lange gebraucht, um über Google herauszufinden, dass sie hier arbeitete. Nicholas schämte sich etwas, weil ihm ihre Social-Media-Kanäle dermaßen vertraut waren. Erheblich vertrauter, als es sich für einen Ex gehörte.

Sie fragte nicht weiter nach der Cousine, es spielte ohnehin keine Rolle. Er kannte ja selbst nicht mal alle Mitglieder seines Clans. Seine riesige, weitläufige Verwandtschaft hatte ein paar Dinge gemeinsam: Sie waren zum einen zwar liebenswürdig und gescheit, zum anderen aber nicht gerade lebenstüchtig. Weshalb sie allesamt im Familienunternehmen arbeiteten. Family First.

»Hätte nicht gedacht, dass sich Klatsch und Tratsch so schnell verbreiten. Ich bin doch erst seit einer Woche hier.«

»Du warst zu lange fort, wenn du das schon für schnell hältst.« Die Firma war der größte Arbeitgeber in Rockville, New York. Er hätte also gar nicht auf sein Familiennetzwerk zurückgreifen müssen, denn es gab mehr als nur ein paar Leute – verwandt oder nicht –, die ein persönliches Interesse am Privatleben der Chandlers hatten.

Soweit er wusste, hatte es noch niemand seinem Vater erzählt. Noch nicht. Es würde ihm sicher sofort zu Ohren kommen, wenn der alte Herr davon erfuhr.

»Wahrscheinlich.« Sie breitete die Hände aus, und ein spöttisches Lächeln umspielte ihre blutroten Lippen. »Na ja, jetzt hast du es ja mit eigenen Augen gesehen. Ta-daaa, die Hexe ist zurück.«

»Ich habe dich nie für eine Hexe gehalten.« Mit ihren spitzbübisch dreinblickenden Augen und ihren zarten Gesichtszügen hätte Nicholas sie eher als freche Punk-Elfe bezeichnet. Zumindest hätte er das gesagt, wenn er ein Mann mit Fantasie wäre – aber das war er nicht, nicht im Geringsten.

»Ach nein? Verrat das bloß keinem. Ich muss auf meinen Ruf achten, mein Freund.«

»Ich bin nicht dein Freund«, protestierte er automatisch. Er konnte nicht anders.

Ein harter Ausdruck trat in ihre schwarzen Augen. »War nur so eine Redensart. Erzfeind klingt nicht annähernd so höflich. Und wir wissen doch beide, wie viel dir Höflichkeit bedeutet.«

»Ich bin auch nicht dein Feind.« Jedenfalls nicht im eigentlichen Sinn. Er hatte keine Ahnung, was er und Livvy waren. Es gab kein Wort, mit dem man ihre Beziehung hätte beschreiben können.

»Kommt wahrscheinlich darauf an, wen man fragt.«

Wohl wahr. Kriminelle oder Betrüger – so würden es ohne Zögern ihre jeweiligen Familien ausdrücken. Je nachdem, wer gerade von wem sprach.

Livvy betrachtete eingehend ihre Nägel. »Muss allerdings sagen, ist schon seltsam, dass ein Typ, der weder mein Freund noch mein Feind ist, gleich hergerannt kommt und mich bespitzelt, kaum dass er erfahren hat, dass ich wieder in der Stadt bin.«

Er richtete sich auf. Zeit, bei dieser Unterhaltung wieder die Oberhand zu gewinnen. »Zuerst einmal: Ich habe dich nicht bespitzelt. Zum Zweiten: Ich bin nicht gleich hergerannt.« Er hatte vorher noch zwei Meetings durchstehen müssen. »Zum Dritten ist es absolut nicht merkwürdig, dass ich neugierig bin, warum du nach so vielen Jahren zurückgekehrt bist. Sicher wegen eines Jobs.« Ein Job bedeutete eine längerfristige Verpflichtung, oder? Er hatte während dieser endlosen, unnötigen Meetings lange darüber nachgegrübelt und war zu dem Schluss gekommen, dass es so sein musste.

Sie hielt drei Finger hoch. »Zum einen, ich bin nur als Gastkünstlerin hier.«

Er wusste nicht so genau, was das bedeutete, aber es klang eher vorübergehend. Gut. Er war erleichtert. Definitiv.

»Zum Zweiten: Natürlich hast du mich bespitzelt. Und drittens bin ich nicht zum ersten Mal nach all den Jahren wieder hier. Zu Pauls Beerdigung bin ich schließlich auch zurückgekommen.«

Nicholas fragte sich, ob sie nur deshalb so sachlich ihren toten Bruder erwähnte, um ihn aus dem Konzept zu bringen. Auf jeden Fall funktionierte es. Er trat von einem Fuß auf den anderen und wandte den Blick ab, um das schwarze Brett neben sich zu betrachten. Er brauchte einen Moment, um sich zu fangen. Ein paar Blätter waren wie zufällig an den unteren Rand geheftet worden, aus einem Notizbuch herausgerissene Seiten und billige Hochglanzdrucke von den tätowierten Körperteilen irgendwelcher Unbekannten. Die Zeichnungen waren künstlerisch und kühn, in leuchtenden Farben gehalten, manche wirkten eher wie Aquarelle und nicht wie unter die Haut gestochene Bilder.

»Ich meinte für länger«, antwortete er schließlich. Natürlich war sie zur Beerdigung nach Hause gekommen. Genau wie wahrscheinlich Jackson. Nicholas hatte es damals nach Kräften vermieden, allzu intensiv darüber nachzudenken und für das fragliche Wochenende sogar einen Ortstermin in einem anderen Bundesstaat anberaumt.

Sämtliche Medien hatten vor einem knappen Jahr über den tragischen Tod seines ehemals besten Freundes bei einem Wanderunfall berichtet. Die schmutzige Wäsche war erneut ans Tageslicht gezerrt worden, sie hatten ihn nicht aus den Augen gelassen und wie die Geier darauf gewartet, wie er sich nun wohl verhalten würde. Hätte Nicholas sich auch nur wenige Kilometer in der Nähe der Kirche sehen lassen, die Gerüchteküche wäre womöglich übergekocht.

Paul und Nicholas hatten C&O ursprünglich gemeinsam leiten sollen, aber dann, na ja, dann gab es diesen Unfall, und Brendan Chandler betrog Tani Oka-Kane um ihre Hälfte der Ladenkette, sodass die Kanes schließlich vor dem Nichts standen. Armer Paul.

Oder:

Paul und Nicholas sollten C&O zusammen leiten, aber dann, wissen Sie, dann passierte diese Tragödie. Tani Oka-Kane verkaufte ihre Hälfte der Firma an Brendan, und Pauls kleiner Bruder Jackson wurde so sauer, dass er den Laden niederbrannte, mit dem die Firma gegründet worden war. Armer Nicholas.

Eigentlich völlig egal, in welche Richtung der Klatsch und Tratsch gegangen wäre. Auch seine Beziehung zu Livvy wäre sicher irgendwann Thema gewesen, aber für Außenstehende war ihre Trennung wahrscheinlich der langweiligste und vorhersagbarste Teil der Saga.

Eine schief hängende Skizze fiel ihm ins Auge. Ein kapriziöser Kolibri in Blau und Grün flatterte vor einem pinkfarbenen Klecks. Am unteren Rand entdeckte er die Initialen L.K. Er schob die Zeichnung zurecht, sodass sie wieder gerade hing.

Obwohl ihm vor dem Thema ebenso graute wie vor den Gefühlen, die es auslöste, hatte er damals darüber nachgedacht, was er Livvy sagen wollte, wenn sie sich zu ihrem anstehenden Geburtstag, nur Monate nach Pauls Tod, wiedersehen würden. Normalerweise sprachen sie nicht viel miteinander, aber er hatte vorgehabt, von ihrem üblichen Muster abzuweichen, sich ein paar Sätze zurechtgelegt. Doch jetzt sagte er nur: »Tut mir leid wegen Paul.« Es klang steif und hölzern, aber das war nicht zu ändern. Ihm fehlte bei Beileidsbekundungen die Übung.

»Bisschen spät, oder?« Ihre Stimme war leise, gedämpft. Ganz untypisch für sie.

»Hätte ich meine Anteilnahme früher äußern sollen?« Wie wäre ein solches Gespräch verlaufen?

Während sie mit ihren Absätzen einen Rhythmus auf den Boden trommelte, konzentrierte sich Nicholas auf die Federn des Vogels, als könnten sie ihm sämtliche Mysterien des Lebens verraten, wenn er sie lange genug anstarrte.

»Habe ich nicht erwartet. So ist unsere Beziehung schließlich nicht, stimmt’s?« Ihr lieblicher Arm berührte beinahe das Revers seines Jacketts, und er sah sie prüfend an. Sie war ihm so nahe, dass er die Sommersprossen auf ihrem Dekolleté zählen konnte. Als junge Frau hatte sie diese kleinen Punkte gehasst, weil sie sich stets mit ihrer makellosen Mutter verglich. Im Gegenteil zu ihm: Wie oft hatte er seine Zunge von Sommersprosse zu Sommersprosse wandern lassen, hatte sie im Geiste miteinander verbunden und das perfekte Muster geschaffen? Viel zu oft, aber noch lange nicht häufig genug.

Sein Körper spannte sich an bei dem Gedanken, und die Erinnerung trieb seinen Puls in die Höhe. Das würde sich wohl nie ändern.

Sie legte den Finger genau auf die Stelle, an der sich eben noch der seine befunden hatte, und schob die Zeichnung des Vögelchens wieder in ihre ursprüngliche schiefe Position. Dann sah sie ihn mit klarem Blick an, herausfordernd und hart, ohne jede Spur von Verletzlichkeit. »Stimmt’s, Nick?«

Er wurde von allen Nicholas genannt. Sie war die Einzige, die ihm einen Kosenamen gegeben hatte. Allerdings war das nie Nick gewesen.

Er antwortete ihr in einem bewusst gewählten ruhigen und ausgeglichenen Ton. Sie hatte Recht. Ihre Beziehung basierte ausschließlich auf Lust. »Stimmt, Olivia.«

Ihr Stirnrunzeln war kaum wahrnehmbar, aber er wusste, dass er mit ihrem vollen Vornamen einen Treffer gelandet hatte. Er wusste es, und hasste sich dafür.

Sie warf einen Blick auf ihr nacktes Handgelenk. »Meine Güte, schon so spät. Sosehr ich diesen merkwürdigen Besuch auch genossen habe, ich habe noch einiges zu erledigen. Also wenn du hergekommen bist, um mir dein verspätetes Beileid auszusprechen …«

»Bin ich nicht.« Zugegeben, kurz hatte er sich ablenken lassen, aber nun drängte sein ursprüngliches Ziel umso stärker wieder in den Vordergrund: Wie lange würde er es mit dieser Unterbrechung in seinem perfekt aufgeräumten Leben zu tun haben? »Ich bin gekommen, um mit dir zu reden.«

Ihr amüsiert wirkendes Lächeln brachte die winzige Narbe an ihren Lippen stärker zum Vorschein. Ein Souvenir ihrer abenteuerlustigen Kindheit. »Um mit mir zu reden?«

Er konnte nicht widerstehen und rückte noch näher an sie heran. Ihr Duft nach Vanille und Zucker zog ihn magisch an. »Ja.«

»Normalerweise reden wir nicht allzu viel, wenn wir uns treffen. Und als ich das letzte Mal auf den Kalender geschaut habe, war es bis zu meinem nächsten Geburtstag noch acht Monate hin, also …«

Er zuckte zusammen. Dass sie so unverblümt ihr seltsames Arrangement erwähnte, traf ihn unvorbereitet. Obwohl er darauf hätte gefasst sein müssen – sie war stets geradeheraus.

»Ich weiß genau, wann du Geburtstag hast«, antwortete er schärfer als beabsichtigt. »Wahrscheinlich sollte ich dir nachträglich gratulieren. Immerhin war es dein Dreißigster, den ich verpasst habe.«

Eigensinnig reckte sie das Kinn. »Oh, hattest du erwartet, dass wir uns sehen?«

Natürlich hatte er das. So hatten sie es immer gehalten. Die ganzen letzten zehn Jahre.

Die ganzen letzten neun Jahre, korrigierte er sich. Das vergangene Jahr war ohne ihren alljährlichen Sexmarathon verstrichen. »Ich hatte es angenommen. Immerhin hatten wir eine gewisse Routine.« Wieder ein kleiner Schritt, sodass er ihr noch ein winziges Stück näher kam. Wieso roch sie nur so gut? Wie alles Köstliche, nach dem er sich sehnte und das er nicht haben konnte.

Livvy musste den Kopf in den Nacken legen, um ihm in die Augen zu sehen. Er hätte nur die Hand heben müssen, um sie zu berühren. Mein Gott, wie sehr er sich danach sehnte.

»Du weißt ja, dass ich äußerst ungern das mache, was man von mir erwartet«, hauchte sie. »Sorry, wenn ich dich habe warten lassen.«

Ihre Entschuldigung klang hohl. Mit Mühe unterdrückte er den Zorn, der hinter seiner bewusst kühlen Fassade brodelte. Bei jeder anderen Frau wäre er davon ausgegangen, dass sie ihn nur provozieren wollte, aber Livvy war viel zu ehrlich für derlei Spielchen. Zumindest war sie das früher gewesen. »Eine Entschuldigung ist nicht nötig«, antwortete er. »Das Leben geht weiter.«

»Tut es das?«

»Muss es ja.« Er hatte sich eingeredet, dass ihre Funkstille verständlich gewesen war, schließlich war der Tod ihres Bruders nur wenige Monate her. Die Ungeduld, mit der er auf ihre Textnachricht gewartet hatte … nachdem ihm aufgefallen war, dass er diesen Tag bereits in seinem Kalender geblockt hatte … es hatte ihn fast wahnsinnig gemacht.

Ihre Miene verdüsterte sich, und sie wandte den Blick ab. »Stimmt. Toll. Nun ja, ich fühle mich geehrt, dass Rockvilles Märchenprinz einen flüchtigen Gedanken für mich übrig hatte.«

Er hätte gern gelacht, brachte es aber nicht fertig. Ein flüchtiger Gedanken? Glaubte sie allen Ernstes, das war alles, was sie in all den Jahren für ihn gewesen war?

»Ich bin kein Prinz«, rief er ihr ins Gedächtnis. Ihnen beiden.

Sie wandte sich ab und ging ein paar Schritte, und sein Blick fiel auf ihr Gesäß. Seit ihrem letzten Zusammentreffen hatte sie zugenommen, und es stand ihr. Ihr Po war noch appetitlicher, wie gern hätte er ihn jetzt umfasst. Seine Finger zuckten bei der Erinnerung daran, wie diese Rundungen sich an seinen Schenkeln rieben.

»Wie du meinst. Wenn du mir irgendwas zu sagen hast, dann schreib mir«, sagte sie über die Schulter hinweg – jetzt wieder lebhaft und unbekümmert. »Du hast ja jetzt meine Nummer.«

»Wir können uns doch auch hier unterhalten.« Ihre Telefonnummer konnte sich morgen schon wieder geändert haben. In den ersten paar Jahren hatte er die Handynummern gespeichert, unter denen sie ihm Nachrichten geschrieben hatte. Und in schwachen Momenten – häufiger, als er sich eingestehen wollte – hatte er sie gewählt. Gott sei Dank waren die Rufnummern da bereits nicht mehr aktiv gewesen. Sie wechselte sie genauso häufig wie ihren Wohnort.

»Nein, danke.«

»Ich bestehe darauf.«

»Typisch Chandler«, antwortete sie kalt und ohne ihn anzusehen. Tonnenschwer hing die Erwähnung seines Nachnamens zwischen ihnen. »Egoistisch. Du nimmst dir einfach, was du willst.«

Da war es also. Zwar trennten sie nur wenige Meter, aber die Gefechtslinie war gezogen und schuf eine so breite Kluft, als ob Tausende von Kilometern zwischen ihnen lagen.

Ihre schroffen Worte trafen ihn mitten ins Herz. Es durchzuckte ihn wie ein Stromstoß, das Blut pulsierte geradezu in seinen Adern. Ein Zuckerschock war nichts dagegen. Bei ihr fühlte er sich so lebendig wie bei niemandem sonst. Als sei er eine Aufziehpuppe, die in ihrer Schachtel nur auf den Moment wartete, in dem sie endlich den Schlüssel drehte und ihn zum Leben erweckte.

»Typisch Kane«, antwortete er mit tödlicher Ruhe, und hasste sich für jedes einzelne Wort, denn schließlich glaubte er kein einziges davon. »Du läufst immer davon.«

Sie wirbelte herum. Die Spannung war beinahe greifbar. »Verpiss dich.« Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern, aber bedrohlicher als jeder Schrei. »Wie ich schon sagte, ich habe zu arbeiten. Wenn du also kein Tattoo willst, dann verschwinde einfach.«

Er sah sie an, starrte diesen perfekten und geradezu vor Wut vibrierenden Körper an. Wage es nicht, mich zu küssen, hatte sie bei ihrem ersten Date grinsend gesagt. Hatte gestichelt und gestochert, gefordert und geneckt, bis er sie gegen die Eingangstür gepresst hatte.

Auch wenn die Kratzer auf seinem Rücken jedes Jahr aufs Neue verblassten, würde er doch auf ewig ihre Spuren tragen. Und ihm würde immer jeder Grund gerade recht sein, der es ihm erlaubte, noch etwas länger ihre Gegenwart zu genießen und ein paar mehr dieser törichten Gefühle zuzulassen.

»Gut«, hörte er sich sagen. »Dann stich mir ein Tattoo.«

Kapitel 2

LIVVY

Eigentlich war Livvy nie lange wütend. Deshalb fiel es ihr auch so schwer, sich von gewissen Menschen fernzuhalten, die sie eigentlich von ganzem Herzen hätte verabscheuen sollen.

Sie lachte laut auf, als ihr Zorn aufrichtiger Belustigung wich. »Mach die Tür hinter dir zu, Nicholas. Und damit meine ich von außen.«

Bei ihrem Lachen erstarrte er, aber seine dunklen Augen blieben ausdruckslos. Manche Leute würden ihn wohl als unterkühlt bezeichnen, doch sie wusste, wie es hinter der Fassade aussah. Obwohl er drei Jahre älter war als sie, waren sie im Grunde zusammen aufgewachsen. Sie hatte ihn schon glücklich, bestürzt, untröstlich und zornig erlebt.

Seit ihrer Trennung allerdings nicht mehr. Seither war er immer nur cool und kontrolliert gewesen. Oder erregt, das Gesicht verzerrt vor wilder Lust, wenn sie sich im Bett wälzten. Dazwischen gab es nichts mehr. Und sie hatte ihm wiederum nie gezeigt, wie sehr sie all die anderen Gefühlsregungen vermisste.

»Du denkst, ich meine es nicht ernst?«, fragte er.

Sie verdrehte die Augen und kehrte an den Tisch zurück, plötzlich war ihr seine Nähe unerträglich. »Dass ich dich tätowieren soll? Natürlich glaube ich nicht, dass du das ernst meinst.« Sie wusste genau, warum er hier war, hatte es sich schon gedacht, als sie ihn in seinem Auto entdeckt hatte, das Gesicht im Schatten verborgen und dennoch unverkennbar. In Geschäftsdingen mochte dieser Mann brillant sein, aber geheime Missionen waren nicht sein Ding. Er hatte direkt unter einer Laterne geparkt.

Ordnung hatte schon immer eine wichtige Rolle für Nicholas gespielt. Schwarz und weiß. Vor allem aber war er mehr als loyal seiner Familie und C&O – oder Chandler’s, wie sich die Firma inzwischen nannte – gegenüber.

Geschah etwas Unerwartetes und brachte die hübsche Routine in seinem Leben durcheinander, ging er sofort in die Defensive, um genau diese beiden Dinge zu schützen. Und ihm war eingetrichtert worden, jedes Mitglied der Familie Kane – auch sie selbst, vielleicht sogar gerade sie selbst – als Bedrohung zu betrachten.

Unter keinen Umständen wollte sie ihn wissen lassen, wie sehr sie das verletzte. Also ließ sie ihn in dem Glauben, nicht mehr von ihm zu wollen als seinen Körper … und vielleicht noch nicht einmal mehr das.

Ein Muskel an seinem kantigen Kinn zuckte. Seine Züge waren zu herb und schroff, um ihn als hübsch zu bezeichnen. Aber er hatte etwas Faszinierendes an sich, wie eine erlesene Klinge. Scharf. Tödlich. Verheerend.

Er nestelte mit den Fingern am Knoten seiner Krawatte herum. Sie brauchte einen Moment, ehe sie registrierte, was er da tat.

Oh nein. Ihr Körper spannte sich an. Nein, nein, nein, nicht die Krawatte. Mist.

Wusste er es? Ahnte er womöglich, wie sehr sie es liebte, ihm dabei zuzusehen, wie er den Windsorknoten an seiner Kehle öffnete?

Livvy fuhr mit der Zunge an der Rückseite ihrer Zähne entlang. Sorgfältig wickelte er sich die Krawatte um die Hand, während sie sich die ihre am liebsten auf den Bauch gepresst hätte, als ihr Magen einen aufgeregten Hüpfer vollführte. Diese bewusst ordentliche Geste löste etwas in ihr aus.

Bei jedem ihrer Treffen im Laufe der Jahre hatte er den Abend so begonnen. Ordentlich. Bis sie jeden Funken Selbstkontrolle in ihm ausgelöscht und ihn auf sein blankes Verlangen nach ihr reduziert hatte.

Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie ihn so richtig wahrgenommen hatte. Damals hatte er einen dunkelgrauen Anzug getragen. Sie war fünfzehn gewesen, als er eines Tages mit ihrem Bruder zu ihnen nach Hause kam und noch die Firmenuniform von seinem Ferienjob im Familienunternehmen anhatte. Beim Anblick seiner schlaksigen Gestalt im Maßanzug hatte sie zweimal hingesehen, und dann noch ein drittes Mal.

An jenem Tag hatte er eine rote Krawatte umgehabt. Das wusste sie noch so genau, weil sie sich damals zum ersten Mal vorgestellt hatte, wie sie ihn damit an sich zog, um ihn zu küssen. Von einem Moment zum nächsten war er von einem Freund der Familie zum Objekt ihrer Teenagergelüste aufgestiegen.

Dieser Mistkerl hatte einen ziemlichen Eindruck hinterlassen. Weshalb sie nun beim Anblick seiner förmlich gekleideten Gestalt direkt zum hilflosen Häschen vor der Schlange mutierte.

Oh, ihm musste einfach klar sein, dass er sie nicht kalt ließ. So begriffsstutzig konnte man gar nicht sein. Würde er sonst so gelassen dastehen? Heiß. Im Anzug. Und, und, und … rieb er nicht genau deshalb mit dem Daumen über die Krawatte, weil er wusste, wie sehr sie sich wünschte, dass er ihren Körper damit liebkoste? Oder sie in seidene Fesseln legte.

Hör mit dem Gesabber auf.

Ordentlich verstaute Nicholas die Krawatte in seiner Tasche, schob sein Jackett auseinander und stemmte die Hände in die Hüften. Mistkerl! Was war denn das für eine sexy Angebertour? Und warum machte sie diese kleine Machtdemonstration überhaupt so an?

Es ist zehn Uhr. Sie hören Nachrichten. Frau vom Lande findet mächtigen, selbstbewussten Mann sexy. Weitere Topmeldungen: Wasser ist nass, und Welpen sind verdammt niedlich.

Sein Jackett umrahmte das weiße Shirt, das sich über seinen flachen Bauch spannte. Schnell wandte sie den Blick ab. Diszipliniert, wie er war, stand er wahrscheinlich immer noch jeden Morgen um fünf Uhr auf, um seinen Work-out zu absolvieren. Jedes Jahr hoffte sie aufs Neue, ihn endlich weniger attraktiv zu finden. Doch sobald sie ihm diesen verdammt appetitlichen Anzug auszog und seine festen, definierten Muskeln unter dem Stoff zum Vorschein kamen, war sie verloren. Zumindest für eine Nacht.

»Wo willst du mich haben?«

Überall. Genau das ist das Problem. Ich will dich überall, und das wird sich auch nie ändern.

»Lass das Katz- und Mausspiel. Wir wissen beide, dass ich vor nichts Angst habe.« Glatt gelogen. Sie hatte eine tierische Angst vor den Gefühlen, die er in ihr auslöste. Aber wenn sie nur allen immer wieder erzählte, wie mutig sie war, glaubte sie es sich irgendwann vielleicht sogar selbst.

»Ich spiele nicht Katz und Maus mit dir.«

»Ich auch nicht. Das hier wird dir unter die Haut gehen, Kleiner.« Noch mehr Lügen.

Er zuckte seelenruhig mit den Schultern. »Irgendwo muss ich ja anfangen. Du hast einen ziemlichen Vorsprung.«

Im Vergleich zu ihm definitiv. Sie hatte sich ihr erstes Tattoo mit siebzehn stechen lassen, ein winziger Topf voll Gold auf der Hüfte, den sie damals so schnell wie möglich im Bikini zur Schau stellen wollte. Vornehmlich hatte sie ihn Nicholas zeigen wollen, der ziemlich lange auf die Stelle gestarrt hatte, bevor ihm aufging, dass sie ihn dabei beobachtete. Er war tiefrot geworden, hatte irgendeine Ausflucht gemurmelt und war im Ferienhaus seiner Familie am See verschwunden.

Eine Woche später waren sie ein Paar. Als seine Hände auf dem Rücksitz seines Autos zum ersten Mal ihren Körper erforschten, hatte er sich sogleich auf das Tattoo konzentriert und es mit Fingern, Lippen und Zunge ehrerbietig liebkost. Diesem Talisman hatte sie eine Menge zu verdanken.

Zum Beispiel jahrelangen Kummer, Dummerchen. Sie schürzte die Lippen und versuchte trotz ihrer höchst ungelegen aufflackernden Lust einen klaren Gedanken zu fassen, um aus dem Schlamassel wieder herauszukommen.

Ihr war klar gewesen, dass es schwierig werden würde, ihm aus dem Weg zu gehen. Dennoch hatte sie nicht damit gerechnet, ihn so bald zu sehen. Sie hatte sich unauffällig verhalten, war nur zwischen ihrer Wohnung und der Arbeit hin und her gependelt, hatte sich nicht mit alten Freunden oder Bekannten getroffen. Wie naiv und dumm. Offensichtlich reichte es ja, dass eine einzige Person sie wiedererkannte, und schon verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer. Diese Stadt war im wahrsten Sinne des Wortes nicht groß genug für sie beide.

Du bist heimgekehrt, um die Vergangenheit hinter dir zu lassen.

Sie hatten nichts zu besprechen, es würde keine Zukunft für sie geben. Nur einen Teufelskreis aus Schmerz und Begierde, den sie in diesem Jahr eigentlich hatte durchbrechen wollen. Vielleicht hätte es sogar funktioniert, wenn sie nicht nach Hause hätte zurückkehren müssen. »Wenn du wirklich aufholen willst, hast du noch eine ganze Menge vor dir.«

Sie spielte mit einer losen Strähne ihres Haars, drapierte sie sich über die linke Schulter, sodass sie genau auf ihrem Herzen lag. Sie hatte ihr Leben lang ziemlich schlecht auf dieses törichte Organ aufgepasst. Es war an der Zeit, das zu ändern.

Nicholas’ Blick blieb an ihrer Haarsträhne hängen. Als sie vorhin sein Auto entdeckt hatte, war kurz Freude in ihr aufgeflackert. Die erwachte jetzt wieder zum Leben, als er auf sie zukam. Doch dann fiel ihr auf, wie zögerlich, geradezu widerwillig seine Schritte waren, und der Funke erstarb.

Offenbar wollte er nicht zu ihr kommen. Er sehnte sich vielleicht nach ihrem Körper, mehr aber auch nicht. Und vermutlich hasste er sich deswegen im gleichen Maße, wie sie sich selbst verabscheute, weil sie ihre Gefühle für ihn nicht im Griff hatte.

Jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich an, als er die Hand hob, doch er hielt über ihrem nackten Arm inne und ließ sie dann wieder sinken. »Das hier ist neu.«

Ihre Haut brannte und prickelte, als sei die Tinte der Ranke noch frisch. »Habe ich mir vor ein paar Monaten stechen lassen«, stieß sie mühsam hervor. Die Kletterpflanze in der Farbe ihrer Augen sollte sie stets daran erinnern, was sie niemals werden wollte: eine emotional abhängige Klette.

»Hm.« Sein Blick wanderte zu ihrem Dekolleté und nahm einen verträumten Ausdruck an. Sie trödelten nicht herum, wenn sie zusammen im Bett waren, und meist war das Licht ausgeschaltet, sodass er nie alle ihre Tattoos im Detail gesehen hatte. Ein Stück weit war das Absicht. Jeder einzelne Punkt Farbe hatte eine Bedeutung für sie. Sie wusste einfach nicht, ob sie damit hätte leben können, ihm so viel Intimes über sich zu offenbaren.

Nur in ihren Träumen spielten sie dieses wunderbare Spiel namens Erforsche Livvys Körper in aller Gründlichkeit. Ein schönes Spiel. Doch damit ist nun Schluss, du spielst es weder in deiner Fantasie noch in der Realität. Denn du übernimmst jetzt die Verantwortung für dein Leben und deine Zukunft, und – Himmelherrgott – er riecht so gut, nach Zimt und …

»Es ist hübsch. Was bedeutet es?«

Sie zögerte. »Es bedeutet, dass ich hübsche Dinge mag«, log sie.

Tiefe Furchen erschienen auf seiner Stirn. »Warum …?« Der Muskel an seinem Kinn zuckte erneut. »Warum bist du hier?«

Wieder zögerte er. Es schien ihm unangenehm zu sein, diese Frage überhaupt stellen zu müssen. Wahrscheinlich glaubte er als Sohn einer der reichsten Familien des Landes ein Recht darauf zu haben, alles zu erfahren, was um ihn herum vor sich ging.

Hatte er vom Unfall ihrer Mutter noch gar nichts mitbekommen? Sie hatte angenommen, dass er davon hören würde. Oder … ein scharfer Schmerz durchfuhr ihre Brust. Vielleicht wusste er es ja und hatte trotzdem nicht erwartet, dass sie auftauchen würde.

Wenn dies der Fall war, zeigte das umso mehr, wie sehr sie sich verändert hatten. Die Frau, die er vor all den Jahren gekannt hatte, hätte alles stehen und liegen lassen, um zu ihrer Mutter nach Hause zu kommen, nachdem diese sich die Hüfte gebrochen hatte. Nein, falsch, diese Frau wäre gar nicht erst fortgegangen.

Stopp, mit ihm über ihre Mutter zu reden fehlte ihr gerade noch. »Ich hab’s doch schon gesagt. Ich habe keine Zeit zu quatschen. Ich arbeite.«

Er beugte sich näher zu ihr, sodass sie noch einmal den köstlichen Hauch seines Aftershaves wahrnahm. »Und ich hab gesagt, ich lasse mir zur Not ein Tattoo stechen, wenn ich nur so Antworten von dir bekomme.«

Sie presste die Lippen aufeinander. Zorn brodelte in ihr empor. Ja, gut, Wut ist genau das Richtige jetzt. Mit ein bisschen Rumgezicke würde sie ihn schon loswerden. »Na schön.« Sie griff hinter sich, schnappte sich das Klemmbrett samt Formular und einen Stift. »Hier.«

Sie drückte ihm das Brett in die Hand. »Was ist das?«, fragte er.

»Eine Sicherheits- und Gesundheitsschutzerklärung und ein Haftungsausschluss. Da steht, dass du nicht betrunken bist und dir klar ist, dass ich es vermasseln und dich für immer entstellen könnte, sodass du zum abscheulichen Monster wirst, und die Horden von Frauen, die sich sonst nach dir verzehren, bei deinem Anblick ab sofort schreiend aus dem Schlafzimmer flüchten.« Sie lächelte charmant.

Er zog mit arrogantem Gesichtsausdruck die Augenbraue hoch, widersprach aber dem Teil mit den Frauenhorden keineswegs. »Machst du das häufiger? Männer verunstalten?«

»Dienstags gleich zweimal.«

»Ich würde dich nicht verklagen.«

»Das ist gut«, sagte sie schnippisch. »Ich habe nämlich nichts, womit ich dich entschädigen könnte.«

Sie hoffte, ihn mit der Anspielung auf ihr verlorenes Vermögen aus dem Konzept zu bringen. Die Chandlers hatten sich alles unter den Nagel gerissen und den Kanes war nichts geblieben.

Denn die Chandlers sind opportunistische, gierige, herzlose Miststücke, hörte sie plötzlich Paul in ihrem Kopf zischen.

Nicholas blickte auf das Klemmbrett herab und unterzeichnete hastig, ohne sich das Formular durchzulesen.

»Man sollte immer alles lesen, was man unterschreibt«, blaffte sie ihn an, seine Achtlosigkeit ärgerte sie zutiefst. »Ich hätte einen Blankoscheck dranklemmen sollen.«

»Brauchst du Geld, Livvy?«

Von ihm ganz sicher nicht, nein danke. »Nur das, was das Tattoo kostet. Aber Achtung: Ich bin verdammt teuer.«

»Ich weiß.« Er zuckte mit den Schultern, als sie ihm in die Augen sah. »Im Internet erfährt man eine Menge.«

Er hatte sie gegoogelt? Jetzt fang bloß nicht gleich an, wild zu pochen, du dummes Herz! Googeln ist wohl kaum ein Zeichen der Zuneigung. Weißt du, wer alles gelegentlich seinen Ex-Partner googelt? Jeder mit einer halbwegs funktionierenden Internetverbindung.

Sie zerrte ihm das Klemmbrett aus der Hand und riss die letzte Seite des Durchschlags ab. »Die Anleitung zur Nachbehandlung steht auf der Rückseite. Vielleicht willst du die ja behalten.« Sie deutete auf den Stuhl. Als Gastkünstlerin hatte sie in den letzten Jahren schon in unzähligen Tattoo-Studios gearbeitet. Es waren gute und weniger gute dabei gewesen. Dieser Laden hier gehörte zu den eher kleinen Salons, war aber peinlich sauber, was für sie die wichtigste Grundvoraussetzung darstellte.

Er schälte sich aus dem Jackett und drapierte es ordentlich über den einfachen Plastikstuhl in der Ecke, der für die Gäste der Kunden gedacht war. Dann ließ er sich auf dem gepolsterten Ledersessel nieder. Leider sah er verdammt gut aus auf ihrem Tätowierstuhl. »Wo willst du es machen?«

Ihr Schritt stockte. Um ihre Reaktion zu überspielen, ging sie zum Waschbecken hinüber und wusch sich die Hände. ›Es‹ wie in ›An welcher Körperstelle magst du mich tätowieren?‹, nicht wie in ›Wo wollen wir wilden Sex haben?‹, rief sie sich zur Ordnung. »Normalerweise entscheidet das der Kunde.«

Doch das würde sie heute anders handhaben. Livvy wusste genau, was für ein Tattoo sie ihm stechen wollte und wohin. Sie hatte es schon vor vielen Jahren einmal auf eine Cocktailserviette gekritzelt, so gegen drei Uhr morgens, während er neben ihr tief und fest geschlafen und ihr den nackten Rücken zugewandt hatte.

Sie hätte gern behauptet, diese Serviette weggeworfen und sich dieses Muster nicht immer mal wieder angesehen zu haben, um es zu perfektionieren. Aber das wäre eine dreiste Lüge gewesen.

Es ging um Kunst, redete sie sich ein. Sie warf nun mal keinen ihrer Entwürfe weg.

Sie trocknete sich die Hände ab, und als sie sich umwandte, öffnete er gerade die Manschette an seinem rechten Hemdsärmel. Oooh, wie gern sie ihm auch dabei zusah. Wenn er seine Krawatte und die Manschetten abgelegt hatte, war sie normalerweise schon vollkommen berauscht vor Lust. Heute jedoch nicht. Heute würde sie sich wie eine Erwachsene benehmen. Sie würde sich ganz und gar unter Kontrolle haben.

Nicholas krempelte seine Hemdsärmel hoch, entblößte den nackten Unterarm und platzierte ihn auf der Armlehne. Mit dem Fußknöchel zog sie ihren Hocker näher heran, sodass sie sich neben ihn setzen konnte. Nachdenklich betrachtete sie den Arm, als könnte er ihr etwas über die letzten Menschheitsrätsel verraten.

Sie würde das hinkriegen. Sie konnte ihn berühren und dabei ihre lästigen, niederen Gelüste unter Kontrolle halten. Livvy presste die Finger gegen die Haut seines Handgelenks.

Ihr Magen zog sich zusammen. Okay, vielleicht konnte sie es doch nicht.

»Da?«

»Gut.«

Sie ließ ihre Finger bis zur Mitte seines Unterarms hinaufwandern, ein bisschen Befriedigung durfte sie diesen niederen Gelüsten schließlich gönnen. Die olivfarbene Haut hatte er von seiner verstorbenen Mutter, die Griechin gewesen war, geerbt. Sie schluckte. »Oder hier?«

Er räusperte sich. Sie bemerkte, dass er seine Hand zur Faust geballt hatte. »Wie du willst.«

»Und was soll ich dir tätowieren?«

Er lockerte die Faust wieder, und sein Arm zuckte zurück. »Hab ich doch schon gesagt. Du entscheidest.«

Livvy ließ den Finger an seinem Arm hinabgleiten, wie zur Antwort zuckte der Muskel erneut. »Ein Tattoo ist für immer«, hob sie ohne aufzuschauen zu dem Vortrag an, den sie während des letzten Jahres in Boston immer bekifften Studenten hatte halten müssen.

»Ist mir egal.«

Von wegen. Sie wusste, wie wichtig ihm sein Körper war. Er behandelte ihn wie einen verdammten Tempel. Noch etwas, das er kontrollieren konnte. »Na dann, ich hab schon eine ganze Weile keine nackte Frau mehr gestochen.«

»Das würdest du nicht tun.«

Immer so selbstsicher. »Woher willst du das wissen?«

»Ich kenne dich.«

Bei diesen drei Worten hatte sie plötzlich einen Kloß im Hals, der sich nicht herunterschlucken ließ. Nein, er kannte sie nicht wirklich. Sie war nicht mehr das kleine Mädchen mit Zöpfen, das ihm und Paul auf Schritt und Tritt gefolgt war, weil sie unbedingt mit ihnen spielen wollte. Oder die junge Frau, die sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte und die ihm in einem luxuriösen Hotelzimmer in einer anderen Stadt ihre Jungfräulichkeit geschenkt hatte.

Alles war ihr damals so einfach vorgekommen. Perfekt. Sie waren ein zauberhaftes Paar. Junge, wohlhabende Königskinder, dazu ausersehen, zwei mächtige Familien zu vereinen.

Und dann war alles plötzlich vorbei gewesen.

»Einen Scheiß kennst du«, stieß sie hervor, dann schnappte sie sich einen Filzstift von ihrem Arbeitstisch.

Eine Weile lang schwieg er. »Wahrscheinlich hast du Recht.«

Sie nahm die Kappe des grünen Filzers ab und beugte sich über seinen Arm. Eine leere Leinwand. Eine gewisse Aufregung erfasste sie, das gleiche Kribbeln, das jeder Künstler verspürte, wenn man ihm theoretisch freie Hand ließ.

»Was machst du?«

»Zuerst zeichne ich den Entwurf auf«, log sie. Meist arbeitete sie freihändig, es sei denn, ihr Kunde wollte das Motiv vorab sehen. Dann benutzte sie Transferpapier, um es zunächst auf die Haut zu übertragen, ehe sie das endgültige Tattoo nachstach.

Sie hatte allerdings überhaupt nicht vor, Nicholas’ jungfräuliche Haut mit einer Nadel zu durchbohren. Sonst hätte sie die Stelle fachgerecht vorbereitet, sie rasiert und desinfiziert.

»Einmal nackte Frau, kommt sofort«, sagte sie stattdessen leichthin, und zeichnete den Kopf absichtlich viel zu groß auf die Innenseite seines Handgelenks.

Obwohl er vollkommen still saß und sie seinen Arm gar nicht festhalten musste, um die Zeichnung nicht zu verwackeln, ließ sie den Finger genau auf seinem Puls liegen. Sein regelmäßiger Rhythmus erinnerte sie an all die Male, in denen sie eng umschlungen dagelegen und ihre Herzen im Gleichklang geschlagen hatten. Nichts konnte ihn erschüttern, nicht einmal seine Jugendliebe und Ex-Geliebte, die dabei war, dauerhafte Spuren auf seiner Haut zu hinterlassen.

Livvy biss sich auf die Innenseite der Wange und machte sich auf einen empörten Aufschrei gefasst, während sie riesige Brüste malte. Als sie aufsah, bemerkte sie jedoch, dass seine Augen geschlossen waren. Er hatte den Kopf zurückgelegt, und seine dichten Wimpern flatterten leicht. Wie unfair, dass ein Mann solche Wimpern hatte, während sie jeden Morgen mit ihrer Mascara-Bürste kämpfte, um ihre kurzen Härchen wenigstens halbwegs verführerisch in Form zu biegen.

Wenn sie darüber nachdachte, gab es nichts, was sie an diesem Gesicht nicht mochte. Zwar war es nicht perfekt, aber sie verzehrte sich nach jedem Detail, von den buschigen Augenbrauen über seine zweifach gebrochene Nase und die hohen Wangenknochen bis hin zu den bereits erwähnten Wimpern. Sie wollte in seinen Augen ertrinken und von seinen grausamen Lippen wiederbelebt werden.

Sie zeichnete der Lady züchtig überkreuzte Beine, um wenigstens ein bisschen Anstand zu wahren – Livvy hätte zwar kein Problem damit gehabt, sie entsprechend naturgetreu auszustatten, aber diese hastige Kritzelei auf seinem Arm würde wohl kaum Raum für Details lassen, und wenn es ums weibliche Geschlecht ging, verstand sie keinen Spaß. Während sie arbeitete, warf sie ihm immer wieder verstohlene Blicke zu. Sie entdeckte neue Falten an seiner Stirn und um seinen Mund, als ziehe er jetzt viel häufiger ein grimmiges Gesicht. Er war dreiunddreißig, was man wohl kaum als alt bezeichnen konnte, trotzdem waren seine Schläfen von Silberfäden durchzogen.

»Warum bist du wirklich hier?«

Sie konzentrierte sich intensiver als nötig auf ihre blöde Zeichnung. »Meine Mom hat sich die Hüfte gebrochen. Wo also sollte ich sonst sein?«

Da er schwieg, blickte sie auf. Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. »Tut mir leid. Das wusste ich nicht. Wie geht es Tani?«, brachte er schließlich hervor.

Zumindest schaffte er es, ihren Namen auszusprechen. »Sie wird wieder gesund. Sie braucht jetzt nur Hilfe.«

Das stimmte nicht ganz. Tani war nämlich keineswegs allein. Sie wohnte bei ihrer Schwägerin und verfügte zudem über ein gutes soziales Netz.

Aber Livvy wünschte sich, dass Tani sie brauchte.

Seit ihr geliebter Vater vor etwas mehr als zehn Jahren gestorben und alles um sie herum zusammengebrochen war, hatte Livvy nie mehr als vierundzwanzig Stunden am Stück in ihrer Heimatstadt oder in der Gesellschaft ihrer Mutter verbracht. Das selbst auferlegte Exil war damals reiner Selbstschutz gewesen. Aber das hatte sich geändert.

Aus einer Laune heraus fügte Livvy der üppigen Frau noch zwei große Flügel am Rücken hinzu.

»Ist dein Bruder auch zurückgekehrt?«

Ihre Hand zuckte bei seinem scharfen Ton. Dies war die erste echte Emotion, die Nicholas offen zeigte und die nichts mit Lust zu tun hatte.

Sie wusste, dass sich bei ihm bezüglich ihres verstorbenen Vaters viele Gefühle angestaut hatten, trotzdem glaubte sie nicht, dass er sie oder ihre Mutter hasste. Wahrscheinlich verabscheute er nicht einmal Paul, obwohl der von seiner Verbitterung allen Chandlers gegenüber geradezu zerfressen gewesen war. Nicholas betrachtete ihre Familie womöglich lediglich als Kollateralschaden, den die Ereignisse nach dieser Tragödie zur Folge gehabt hatten, als Menschen, mit denen er nichts zu schaffen haben und an die er nicht denken wollte, weil das zu schmerzhaft war.

Aber ihr Zwillingsbruder? Der Mann, den man verhaftet hatte, weil er den Original-Chandler’s-Laden niedergebrannt hatte? Er war ein leichtes Ziel für seine Wut. »Nein«, sagte sie deshalb nur kurz angebunden.

Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Ich bin froh, zu hören, dass es ihr gut geht.«

»Ach ja?«

Nicholas verlagerte sein Gewicht, und sein muskulöser Schenkel streifte ihr Bein. Sie rückte auf ihrem Hocker zurück. Diese Schenkel waren gefährlich. »Natürlich.«

Sie summte, wünschte, die höhnische Frage zurücknehmen zu können. Lass es hinter dir. Vor zehn Jahren war sie davongelaufen, statt in dieser Fehde die dramatische Rolle der verschmähten Geliebten zu spielen. Und das würde sie auch jetzt nicht tun.

»Natürlich«, wiederholte er mit Nachdruck. »Ich würde ihr nie etwas Böses wünschen.«

Sie beendete ihr Werk und lehnte sich zurück. »Ja. Klar.«

»Glaub es mir oder lass es, Livvy.« Seine Stimme war jetzt nahezu eisig. »Ich bin kein Monster.«

»Meine Familie sieht das anders.« Mit einer energischen Bewegung setzte sie die Kappe wieder auf den Stift, stand auf und warf ihn auf den Arbeitstisch.

»Und was sagst du?«

Dass ich es nie fertiggebracht habe, dich zu hassen, wie ich es wohl sollte. »Ich sage nichts.«

Sein Blick fiel auf ihre Hände, und plötzlich merkte sie, dass sie diese unruhig knetete. Sofort wandte sie sich ihrem Tisch zu und begann, die wenigen Hilfsmittel, die dort herumlagen, aufzuräumen. Auch wenn in ihrem Leben gewöhnlich das Chaos regierte, war sie am Arbeitsplatz eine Ordnungsfanatikerin.

Hinter ihr quietschte das Leder, als Nicholas sich erhob. Er machte keinen Laut, als er sich ihr näherte, doch sie spürte seinen Körper hinter sich. »Livvy …«

»Ich habe wirklich viel zu tun«, unterbrach sie ihn. »Du kannst gehen.«

»Ich bin noch nicht fertig mit Reden.«

»Nun ja, ich bin es.«

Lange schwieg er. »Du hast mein Tattoo nicht fertiggestellt.«

Bei diesem lächerlichen Einwand schloss sie die Augen. »Verdammt noch mal. Es wird kein Tattoo geben.«

Sie knickte als Erste ein; er hatte das Katz-und-Maus-Spiel gewonnen. Mal wieder. Sie war eben ein feiges Mäuschen, pieps, pieps. »Es gibt nichts mehr, worüber wir reden müssten. Ich bin höchstens einen Monat lang hier, bis meine Mom wieder allein klarkommt. Du kannst also in Ruhe mit deinem Leben weitermachen und …« Ihr entfuhr ein Keuchen, als er ihre Schultern packte und sie zu sich herumwirbelte.

Oha.

Er war jetzt unglaublich nah, stemmte die großen Hände zu beiden Seiten ihrer Hüften auf den Tisch. Metall presste sich an ihren Hintern, als er seinen Körper dicht an sie drückte. Mit der Pin-up-Fee, die sie auf seinen Arm gekritzelt hatte, hätte er lächerlich wirken müssen, aber auch sie konnte seine Attraktivität nicht schmälern. Er war zu nah, zu groß, zu sehr … er.

Bei der Berührung seiner harten Brust zogen sich ihre Nippel unter ihrem Top zusammen. Ohne nachzudenken, spreizte sie die Beine, schuf Raum für ihn. Der Stoff ihrer Klamotten zwischen ihnen konnte die dicke Wölbung seines Penis nicht verbergen. Quälend nah spürte sie ihn an ihrer dahinschmelzenden Mitte.

»Meinst du wirklich, ich könnte einfach so weitermachen, solange du hier bist?«

Sein heiseres Flüstern liebkoste ihr Ohr und all ihre Sinne. Willenlos ließ sie den Kopf in den Nacken fallen, entblößte ihre Kehle. »Ja.«

Er senkte den Kopf, sodass seine Lippen nur noch ein kleines Stück von der Wölbung ihres Halses entfernt waren. »Warum hast du mir in diesem Jahr nicht geschrieben?«, fragte er.

Mit dieser Frage hatte sie rechnen müssen, so unangenehm sie auch war. Schwarz und Weiß. Sie hatte das geschätzte Muster in seinem ordentlichen Hirn durcheinandergebracht.

Livvy hätte ihm irgendeinen Mist erzählen können, aber dann hätte er nicht lockergelassen. Also würde sie ihn mit einer Halbwahrheit abspeisen. Genug, um ihn zufriedenzustellen. »Es war mein Dreißigster.«

»Ich weiß, wie alt du bist.«

»Zehn Jahre.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wünschte sich, es wäre die seine. »Mit dem Treffen hätten wir sozusagen den zehnten Jahrestag unseres seltsamen Arrangements gefeiert.« Er hatte die Beziehung zwei Monate vor ihrem zwanzigsten Geburtstag beendet. Zwei Wochen nach dem Unfall, durch den sie beide ein Elternteil verloren hatten, und einen Tag, nachdem sein Dad ihre Mutter um die Hälfte von C&O betrogen hatte.

Die Fäden, aus denen die Chronik ihrer komplizierten Vergangenheit gewoben war, bildeten in Wirklichkeit einen verfilzten Knoten.

Ich kann das nicht mehr. Wir können unmöglich zusammenbleiben, hatte Nicholas ihr damals mit steinerner Miene erklärt.

»Ich dachte, nach zehn Jahren wären wir langsam mal fertig miteinander.« Zehn Jahre sind lang genug, um nicht von einem Mann lassen zu können, der das Gefühl, mich zu begehren, verabscheut. Und den ich trotz alledem immer noch mehr begehre, als ich ihn zu hassen imstande bin.

Er hob den Kopf. »Hat es funktioniert? Bist du über mich hinweg?«

»Bist du denn über mich hinweg?«, konterte sie.

Statt einer Antwort hob er die Hand und strich ihr über die Hüfte, berührte sie dabei kaum. Dann ließ er die langen, starken Finger auf ihre nackte Haut zwischen Top und Hosenbund gleiten. Unwillkürlich zuckte sie mit den Hüften und keuchte angesichts der Explosion von Lust, die sie durchströmte, als seine Erregung ihre Mitte streifte.

Du wolltest aufhören, dachte sie mit wachsender Verzweiflung. Tu dir das nicht an. Das ist nicht gesund.

Sie nahm seine Lust, denn mehr konnte sie von ihm nicht haben. Sie wusste, dass es schon bald wieder vorbei sein würde, und doch verzehrte sich ein Teil von ihr danach.