Wenn deine Hand mich hält - FORBIDDEN HEARTS - Alisha Rai - E-Book
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Wenn deine Hand mich hält - FORBIDDEN HEARTS E-Book

Alisha Rai

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Beschreibung

Verlieb dich niemals in die Witwe deines Bruders ...
Vor zehn Jahren wurde Jackson Kane eines Verbrechens bezichtigt, das er nicht begangen hatte, und ließ alles zurück: Heimat, Familie, Freunde. Nun ist er zurück: älter, weiser, reicher und härter - aber immer noch zu schwach, die Frau abzuweisen, die er nie aufgehört hat zu lieben, selbst als sie seinen Bruder heiratete.
Sadia Ahmed wehrt sich mit aller Macht gegen die Gefühle, die ihr geheimnisvoller Ex-Schwager in ihr weckt. Doch als sie seine Hilfe braucht, ist er zur Stelle. Und sie stellt fest, dass der Junge, den sie liebte, zu einem Mann wurde, dem sie nicht widerstehen kann.
Eine gemeinsame Zukunft ist unmöglich, aber die gegenseitige Anziehung ist übermächtig. Sadia und Jackson müssen entscheiden, ob sie trotz all der Lügen und Geheimnisse, die zwischen ihnen stehen, stark genug sind, sich der Vergangenheit zu stellen ...

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Seitenzahl: 459

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumEinleitungWidmungKapitel 1SADIAKapitel 2JACKSONKapitel 3SADIAKapitel 4JACKSONSADIAKapitel 5JACKSONSADIAJACKSONKapitel 6SADIAKapitel 7SADIAJACKSONKapitel 8SADIAKapitel 9JACKSONKapitel 10SADIAJACKSONKapitel 11SADIAKapitel 12SADIAJACKSONKapitel 13SADIAJACKSONKapitel 14SADIAKapitel 15JACKSONKapitel 16SADIAKapitel 17SADIAJACKSONKapitel 18SADIAKapitel 19JACKSONKapitel 20SADIAKapitel 21JACKSONKapitel 22SADIAKapitel 23SADIAEpilogSADIAJACKSONSADIA

Über dieses Buch

Vor zehn Jahren wurde Jackson Kane eines Verbrechens bezichtigt, das er nicht begangen hatte. Nun ist er zurück: älter, weiser und reicher. Und er trifft auf die Frau, die er nie aufgehört hat zu lieben, selbst als sie seinen Bruder heiratete. Auch Sadia fühlt sich zu ihm hingezogen. Allerdings wehrt sie sich mit aller Macht gegen die Gefühle, die ihr geheimnisvoller Ex-Schwager in ihr weckt. Eine gemeinsame Zukunft ist eigentlich unmöglich, aber die gegenseitige Anziehung ist übermächtig. Sadia und Jackson müssen entscheiden: Sind sie stark genug, sich der Vergangenheit zu stellen?

Über die Autorin

Alisha Rai ist eine erfolgreiche Autorin von Liebesromanen. Ihre Bücher standen auf den Bestenlisten der Washington Post, Entertainment Weekly, New York Public Library, Amazon, Kirkus, »O« the Oprah Magazine und dem Cosmopolitan Magazine. Eine beeindruckende Liste, die noch länger sein könnte, doch das würde den Rahmen sprengen. Wer mehr wissen will, schaut nach auf www.alisharai.com

Übersetzung aus dem amerikanischen Englischvon Nicole Hölsken

LÜBBE

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Wrong to Need You«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2017 by Alisha Rai

Published by arrangement with Avon Books,an Imprint of HarperCollins Publishers

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Doreen Reeck, Köln

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Einband-/Umschlagmotiv: © shutterstock.com: kzww | Chinnapong

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0785-5

luebbe.de

lesejury.de

Er kannte sich in der engen Küche aus, was sie einmal mehr daran erinnerte, dass dieses Café für ihn in seiner Kindheit ebenso vertraut gewesen war wie der Supermarkt auf der Straßenseite gegenüber. Vielleicht sogar mehr noch als für Paul, den man von Anfang an darauf vorbereitet hatte, als Co-CEO der C&O-Handelskette in die Fußstapfen seines Vaters zu treten.

Er gab Gruyère auf das Brot, und beim Anblick des schmelzenden Käses lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Als Nächstes warf er ein paar in Scheiben geschnittene Pilze in die Pfanne, schwenkte sie in Butter und ein paar Kräutern, ehe er in einem weiteren Tiegel ein Ei aufschlug.

Er füllte die mit Käse überbackenen Brotscheiben mit den Pilzen und goss die Béchamelsauce, die auf dem Ofen vor sich hin geköchelt hatte, darüber. Gekrönt wurde das Ganze von dem Spiegelei. Automatisch wischte er den Rand des bereits blitzblanken Tellers ab und stellte ihn mit wenigen fließenden Bewegungen vor sie hin, legte das Besteck daneben und lehnte sich gegen die Theke.

Jegliche Verlegenheit, die sich hätte einstellen können, weil er ihr beim Essen zusah, verflog, als sie den ersten Bissen in den Mund schob.

Dies war verdammt noch mal das himmlischste Grilled-Cheese-Sandwich, das sie seit Langem gegessen hatte.

Für Tai, Ash und Pinky.

Kapitel 1

SADIA

Manche Frauen fanden eine Stimme besonders verführerisch, eine Berührung oder einen Blick. Bei Sadia Ahmed waren es die Hände.

Oder zumindest … seine Hände.

Sie waren groß, geradezu perfekt, um ihren Po zu umfangen und sie an sich zu pressen. Oder um sich an ihren Nacken zu schmiegen, während seine Daumen die Mulde ihrer Kehle liebkosten. Oder um ihre Brust zu umfassen und seine Lippen auf die Spitze zu drücken.

Sadia nahm sich ein Glas und fing an, es mit präzisen und langsamen Bewegungen abzutrocknen. Ihrer Miene ließ sie mit keiner Regung anmerken, dass sie sich insgeheim ausmalte, wie sie mit einem der Gäste der Kellerbar Sex hatte. Auch wenn ihre Libido auf Hochtouren lief, gab sie sich nach außen hin kühl. Sie war Mutter, zudem Witwe. Wie sie hatte feststellen müssen, war es das, was die meisten Leute in erster Linie in ihr sahen. Nicht Sadia, die Frau.

Sie ließ den Leuten ihre Illusionen. Zum einen machte dies ihr Leben leichter, zum anderen war sie von Natur aus kein Rebell. Sollten andere die Welt schockieren – Hauptsache, sie konnte sich ungestört ihren Tagträumen hingeben.

Verstohlen musterte sie die Hände des unbekannten Mannes. Da er eine Baseballcap tief ins Gesicht gezogen trug und es in der Bar ziemlich dunkel war, konnte sie sich lediglich an den Konturen seines Körpers ergötzen. Was ihr vollauf genügte.

Seine Finger waren lang und elegant. Sie waren breit genug, dass er sie mit einem einzigen hätte erfüllen können, aber sie würde zwei einfordern. Sie spürte ein Ziehen in ihrem unter der weichen Baumwolle ihres Shirts verborgenen Bauch. Es waren die Hände eines Künstlers. Und doch besaß er den Körper eines Kriegers.

Sie ließ den Blick über seine Gestalt gleiten. Breite Brust, starke Schultern, Schenkel wie Baumstämme, und dieser Bizeps – wow!

Verdammt sexy.

Sorgsam stellte Sadia das nun trockene Glas ab und nahm das nächste zur Hand. In der letzten Woche hatte sie die Kunst, ihren geheimnisvollen Gast während ihrer Schichten heimlich zu beobachten, geradezu perfektioniert. Am Montag hatte sie ihn zum ersten Mal in einer dunklen Ecke ganz hinten in der Bar bemerkt. Am Mittwoch hatte er sich einen besser beleuchteten Platz gesucht, hell genug, sodass ihr seine Hände auffielen. Seither hatte sie gar nicht mehr aufhören können, sich seine Finger auf und in ihr vorzustellen.

Heute Abend war zwar viel los gewesen, aber dennoch hatte sie bewusst nach ihm Ausschau gehalten. Nachdem die Flut der Gäste an diesem Donnerstagabend langsam verebbt war, hatte er ihren Blick wie magisch angezogen. Wieder saß er in einer dunklen Ecke, wieder verbarg eine tief in die Stirn gezogene Kappe sein Gesicht. Er war allein und hielt sich seit einer Ewigkeit an dem Ginger-Ale fest, das er bestellt hatte. Seine stille, in sich gekehrte Haltung unterschied ihn deutlich von den lärmenden Gästen, die sonst die Bar bevölkerten.

»Hey, Sadia.«

Sadia schreckte auf. Hastig riss sie sich zusammen und schenkte ihrem Boss ein fröhliches Grinsen, das hoffentlich ihre sündigen Gedanken überspielte. »Hey, was gibt’s?« Michael war der Besitzer des O’Killian’s, und zwar schon mindestens so lang, wie sie hier arbeitete, also – mit ein paar Unterbrechungen – seit ihrem einundzwanzigsten Geburtstag.

»Ich wollte dir noch mal danken, dass du diese Woche so viele Schichten übernommen hast.«

Sie warf sich das Geschirrhandtuch über die Schulter. »Kein Problem. Du weißt doch, dass mir Überstunden immer gelegen kommen.« Die Trinkgelder waren gut, und als Mutter eines kleinen Sohnes konnte Sadia das Geld brauchen. Außerdem wollte sie ihr Können als Barkeeperin immer auf dem neuesten Stand halten.

Das alles sagte sie jedenfalls, wenn sie jemand fragte, warum sie immer noch in der Bar arbeitete, obwohl sie doch alle Hände voll mit dem Café zu tun hatte, das sie von ihrem Ehemann geerbt hatte. Und es war nicht gelogen.

Aber es war nicht die volle Wahrheit, denn die hätte bei ihren Mitmenschen wohl für einiges Stirnrunzeln gesorgt.

Mein Mann hatte Schulden, von denen er mir nichts erzählt hat. Vom Trinkgeld kaufe ich Lebensmittel.

Ich habe Angst, dass das Café unter meiner Leitung pleitegeht, und brauche eine alternative Einnahmequelle für den Notfall.

Und es gab noch einen weiteren guten Grund, aber den konnte sie nun wirklich niemandem verraten. Der war ihr Geheimnis.

»Ich weiß. Wirklich fantastisch, wie flexibel du bist.« Mit der Hand fuhr Michael sich über seinen kahlen Schädel. Er war schon älter, klein und gedrungen, freundlich, ein Mann der leisen Töne. Es gefiel ihr, hier eine Atempause von ihrer Chefinnenrolle im Café zu haben und für jemand anders zu arbeiten. Zumal dieser Jemand ein anständiger Mensch war. »Hör mal, ich muss dich etwas fragen.«

Sie nickte und hoffte, dass er nicht vorhatte, den Dienstplan für nächste Woche zu ändern. Da sie Kinderbetreuung und Personalbesetzung fürs Café organisieren musste, war es wichtig für sie, ihre Schichten so früh wie irgend möglich in Stein gemeißelt zu wissen. Veränderungen auf den letzten Drücker waren ein Albtraum für sie und kaum zu bewältigen.

Verstohlen sah er sich um und rückte näher. »Na ja, meine Frau liegt mir damit ständig in den Ohren, und ich weiß, dass es nicht sonderlich professionell ist, aber … stimmt es, dass Nicholas Chandler einen Himmelsschreiber und eine Blaskapelle engagiert hat, um Livvy Kane zurückzugewinnen?«

Sadia blies die Wangen auf. In ihre Erleichterung mischten sich Belustigung und Ärger.

Das ging jetzt schon die ganze Woche so. Das Kane-Chandler-Drama war von jeher das Stadtgespräch gewesen. Kein Wunder, dass alle neugierig waren.

Sadia würde ein ernstes Wörtchen mit ihr reden müssen, wenn Livvy von dort zurückkehrte, wo auch immer sie mit ihrer alten Flamme hingeflüchtet war. Als Livvys beste Freundin und Ex-Schwägerin war sie natürlich die Erste, die die Leute fragten, was in Gottes Namen beim berüchtigtsten Paar der Stadt passiert war, sodass aus Todfeinden wieder die wie einst in ihrer Jugend glücklich Verliebten geworden waren. Doch Sadia musste die Leute enttäuschen. »Ich bin ziemlich sicher, dass weder Skywriting noch eine Blaskapelle im Spiel waren.«

Michael wirkte enttäuscht. »Aber er hat sie doch nach Frankreich entführt, oder? Das hat meine Frau von ihrem Friseur erfahren.«

Sadia zuckte mit den Schultern. Soweit sie wusste, war ihre Freundin tatsächlich in Frankreich. Livvy hatte ihr eine Nachricht geschrieben, dass sie und Nicholas sich an einen geheimen Ort zurückziehen wollten, um ihre Probleme zu lösen. Zunächst war Sadia besorgt gewesen. Doch dann hatte sie mit Livvys Tante Maile gesprochen. Die hatte Livvy angerufen, hatte etwas von miserablem Empfang gesagt, aber immerhin verkündet, sich sobald wie möglich wieder melden zu wollen.

Immerhin hatte Livvy also ein Lebenszeichen von sich gegeben, und das war erst einmal die Hauptsache. Sadia würde wohl auf eine ausführliche Erklärung nach ihrer Rückkehr warten müssen. Also hatte sie ihr zurückgeschrieben, dass sie happy sei, solange Livvy das war, und jederzeit ein offenes Ohr für ihre Freundin habe. Allerdings musste sie sich selbst hart am Riemen reißen, sich das auch selbst abzunehmen. Denn insgeheim war sie ein wenig verschnupft. Immerhin hatte sie von Livvys Romanze nicht als Erste, sondern zusammen mit dem Rest der Stadt in dem Moment erfahren, als Nicholas sich in aller Öffentlichkeit zu seiner Liebe zu ihr bekannt hatte.

Livvy war ihre beste Freundin, verdammt noch mal, auch wenn sie in den letzten zehn Jahren nicht mehr ganz so viel Kontakt gehabt hatten. Eigentlich hätte Sadia vor allen anderen wissen müssen, was in Livvys Leben los war.

Du hast Livvy ja auch nicht alles über deine Ehe erzählt.

Weil sie mit ihrem großen Bruder verheiratet gewesen war, zu dem Livvy schon damals ein schwieriges Verhältnis gehabt hatte. Sadia hatte kein Öl ins Feuer gießen wollen. »Ich habe wirklich keine Ahnung, wo sie oder Nicholas stecken. Oder ob sie überhaupt zusammen losgezogen sind«, fügte sie hinzu.

»Oh, ich kapier’ schon. Du willst nicht tratschen. Feiner Zug.«

Sadia nickte. Diese Begründung war so gut wie jede andere, also würde sie wohl kaum widersprechen. Unterhaltungen wie diese führte sie jetzt bestimmt zum fünfzehnten Mal.

Dafür, dass du einfach abgehauen bist, ohne mir wenigstens eine offizielle Version der Ereignisse zu hinterlassen, darfst du ab sofort ganz häufig abends bei mir babysitten, Livvy.

Michael betupfte sich die Stirn mit einem Taschentuch. »Wie auch immer, noch mal Sorry, dass ich überhaupt gefragt habe, aber meine bessere Hälfte war neugierig.«

Ja klar. Die bessere Hälfte.

»Du kannst jetzt Feierabend machen, wenn du willst.«

»Bist du sicher?« Sie zerrte sich schon das Handtuch von der Schulter.

»Wir machen sowieso gleich dicht, und hier ist nichts los. Guck, dass du ein bisschen Schlaf kriegst. Wahrscheinlich ist dein Sohn morgen in aller Herrgottsfrühe schon wieder wach.« Ihr Boss lächelte, und Sadia musste ihre ganze Willenskraft aufbieten, um nicht buchstäblich zusammenzuzucken, als sie das Mitleid in seinem Blick las.

Wie oft hatte sie ihrem Mann vorgeworfen, allzu stolz zu sein. Stets hatte er dann mit dem Finger auf ihr Rückgrat getippt und geantwortet: Das hier, das ist aus reinem Stahl.

Na gut, sie hatte ebenfalls ihren Stolz, und Mitleid war ihr verhasst. Allerdings hatte sie sich seit Pauls Tod vor über einem Jahr an traurige Blicke, verständnisvolles Tätscheln und Sonderbehandlungen leider gewöhnen müssen. Die Leute meinten es gut, deshalb akzeptierte sie diese Gesten zähneknirschend, egal, wie sehr sie sich innerlich dagegen sträubte. »Ja, Kareem ist ein Frühaufsteher. Mach ich.«

Michael schlenderte davon, um sich mit dem anderen Barkeeper, Jason, zu unterhalten. Wahrscheinlich wollte er in Erfahrung bringen, ob Sadia ihm irgendwelche pikanten Details anvertraut hatte.

Während sie sich aus dem Computer ausloggte, spürte sie plötzlich ein Prickeln im Nacken.

Irgendjemand beobachtete sie.

Beiläufig und wider alle Wahrscheinlichkeit hoffend, dass der Gegenstand ihrer heimlichen Fantasien dieses Gefühl ausgelöst hatte, sah sie sich nach Mr. Perfect Hands um. Der ruckartig den Kopf abwandte und die Wand anstarrte.

Ihre Handflächen wurden feucht. Natürlich musste das nichts zu bedeuten haben, aber immerhin zeigte er zum allerersten Mal Interesse an ihr.

Sadia sah auf ihre Armbanduhr. Es war kurz vor zwei. Sie konnte sich durchaus ein paar Minuten für sich selbst abzwacken.

Hitze durchflutete ihren Körper. Sie war bereit zur Jagd. Sie jagte zwangsläufig immer nur kurz, aber das Objekt ihrer Begierde zu verfolgen bereitete ihr fast genauso viel Vergnügen wie der Sex selbst.

Sie sah sich um. Die wenigen Gäste, die noch in der Bar saßen, waren alle in ihre eigenen Eroberungen oder Gedanken vertieft, und die Mitarbeiter waren damit beschäftigt, sich auf den Feierabend vorzubereiten.

Mit flinken Bewegungen goss sie Whiskey, frischen Limonensaft und Ahornsirup in einen Shaker mit Eis und gab die Flüssigkeit in ein Glas. Dann garnierte sie den Cocktail mit einer Limettenzeste.

Mit jedem Schritt, den sie fort von der Bar und auf Mr. Perfect Hands zu machte, wurde sie ruhiger und ihr Schritt selbstbewusster.

Das war es. Das war der geheime Grund, warum sie an diesem Job festhielt, der Grund, von dem ihre Familie, ihre Verwandten, die Angestellten im Café und die übereifrigen Vollzeitmütter der Schulkameraden ihres Sohnes nie etwas erfahren durften.

Ich kann mir hier fremde, erwachsene Menschen suchen, die sich um meine körperlichen Bedürfnisse kümmern, ohne großartige emotionale Gegenleistungen zu erwarten.

Natürlich kamen viele Einheimische in die Bar, aber sie hatte ihr Lebtag in Rockville verbracht und wusste, wie man ihnen am besten aus dem Weg ging. Es gab genug Fremde, mit denen sie flirten konnte. Mit denen sie Sex haben konnte.

Erst vor wenigen Monaten war ihr aufgegangen, wie sehr sie sich nach menschlicher Berührung verzehrte. Schon vor seinem Tod hatten sie und Paul beinahe ein Jahr lang nicht mehr miteinander geschlafen, und sie kam sich vor wie eine Verhungernde. Die Krankenpflegerin, die ihre Dürreperiode beendet hatte, war angesichts ihres Appetits zwar zunächst etwas verblüfft gewesen, hatte sich aber schnell auf sie eingelassen.

Nach ihr hatte Sadia weitere Männer und Frauen getroffen, ausschließlich solche, in deren Gesellschaft sie sich wohlfühlte. Sie besaß eine gute Menschenkenntnis, Charakternullen hatten bei ihr nicht den Hauch einer Chance. Niemals nahm sie ihre Eroberungen mit nach Hause – auf gar keinen Fall. Normalerweise ging sie mit zu ihnen, landete also meist in irgendeinem Hotelzimmer.

Die Begegnungen waren hastiger Natur, gerade lang genug, dass beide Seiten auf ihre Kosten kamen, ehe sich Sadia in Windeseile davonmachte. Es war wie ein Juckreiz, der ihre Aufmerksamkeit einforderte, also kratzte sie, und zwar so unauffällig wie möglich. Und das auch nur in der Zeit, in der sie sich ohnehin nicht um ihren Sohn kümmern konnte, sodass sie ihm gegenüber kein schlechtes Gewissen haben musste. Wenn sie in der Bar arbeitete, schlief Kareem bereits, warm eingekuschelt in seinem Bett, während eine ihrer Schwestern in ihrem Haus übernachtete und auf ihn achtgab.

Niemand durfte davon wissen. Das hier gehörte ihr und ihr allein. Das einzige Vergnügen, das sie sich gönnte.

Sie näherte sich dem Mann in der Ecke, und er regte sich. Seine Armmuskeln traten hervor und entspannten sich wieder. Bei jedem anderen Mann hätte sie vermutet, dass er das rote Henley-Shirt eine Nummer zu klein gekauft hatte. Doch bei diesem Kerl fragte sie sich, ob es für ihn überhaupt eine passende Größe gab. Vermutlich hatte er mit sämtlichen Kleidungsstücken zu kämpfen.

Ein Kampf, den sie sich durchaus gern einmal angesehen hätte.

Er blickte nicht auf, auch nicht, als sie an seinem Tisch stehen blieb. Leise räusperte sie sich und stellte den Drink vor ihm hin, neben das längst vom schmelzenden Eis verwässerte Ginger-Ale. »Hi«, sagte sie, wobei sie einen möglichst leisen, heiseren Ton anschlug. Obwohl er diese blöde Baseballmütze so tief in die Stirn gezogen hatte, dass sie seine Züge fast vollständig verbarg, war das, was sie von seinem Profil erkennen konnte, perfekt. Volle Lippen, ausgeprägtes Kinn, die Nase schmal wie eine Klinge.

Sie wünschte sich, dass er aufblicken möge, damit sie ihn richtig in Augenschein nehmen konnte, aber diesen Gefallen tat er ihr nicht. Er nahm ihre Anwesenheit nicht mal zur Kenntnis.

»Den habe ich für dich gemixt. Ich hoffe, er schmeckt dir«, versuchte sie es ein weiteres Mal und schob ihm das Glas zu. Aus der Nähe entdeckte sie kleine Narben auf seiner Haut, winzige weiße Spuren, die das warme Hellbraun durchzogen, als habe man ihm mehrere Schnittwunden beigebracht. Doch der Schönheit dieser verdammten Hand tat das keinerlei Abbruch.

Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Enttäuschung überkam sie, als er sich immer noch nicht rührte. Sie wollte sich gerade wieder abwenden, als er antwortete. »Ich habe nichts bestellt.«

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Oh Mann, diese Stimme. Eine Stimme wie aus feinem Schmirgelpapier, eingehüllt in Samt. Sie war heiser und leise, als komme sie nicht häufig zum Einsatz.

Allein diese Stimme wäre imstande, ihr einen Höhepunkt zu bescheren, ohne eine einzige Berührung, einfach indem sie ihr schmutzige Dinge ins Ohr flüsterte. Falls er sich auf sie einließ, würde sie womöglich sogar genau das von ihm verlangen. Nervös nestelte sie an ihrem Pferdeschwanz herum. »Geht aufs Haus.«

Geplänkel. Flirten. Tanzen. Sie trat einen weiteren Schritt näher. Da sie direkt ihre Highschool-Liebe geheiratet hatte, hatte sie nie wirklich an ihren Flirtkünsten feilen müssen, aber nun, im reifen Alter von fast dreißig, war sie langsam recht gut in diesem Spiel. »Er heißt Revolving Door«, fügte sie hinzu und schlug bewusst einen ebenso ruhigen Ton an wie er. Sie hätte ihm sogar das genaue Jahr nennen können, in dem der Drink erfunden worden war – 1929 –, aber man wusste schließlich nie, wie ihr Faible für historische Cocktail-Details bei dem jeweiligen Gegenüber ankam, also hielt sie den Mund.

Wenn sie mit dem Kerl schlafen wollte, musste er schließlich nicht alles an ihr lieben. Er musste lediglich ihren Körper genauso begehrenswert finden wie sie den seinen.

»Ich trinke keinen Alkohol.«

Das nahm ihr den Wind aus den Segeln. Wer bitte ging in eine Bar, um Softdrinks zu schlürfen? »Dafür hast du dir ja einen seltsamen Ort ausgesucht.«

Keine Antwort. Kein Augenkontakt. Ach, was soll’s. Sie hatte den ersten Schritt getan, und wenn er nicht darauf reagierte, war es nicht zu ändern.

Sie verzog die Lippen und nahm das Glas wieder an sich. »Na, dann gute Nacht.«

Sie erstarrte, als er ihre Hand mit der seinen umfasste. Sie spürte die Schwielen seiner Handflächen auf ihrer Haut, und ihr Herz machte einen Satz. Oh Gott. Wie gut sie sich auf ihrem Körper anfühlen würden.

Sie leckte sich über die Lippen. »Gibt’s ein Problem, Sir?« Sie ließ das »Sir« so verführerisch wie möglich klingen, versuchte, ihm so unsägliche Lust und sinnliche Freuden zu verheißen.

Na ja, jedenfalls so viel Lust und Freuden, wie man in eine Dreiviertelstunde hineinpacken konnte. Es war schon spät, und sie musste morgen früh raus.

Sein Griff wurde fester. »Sadia.«

Sie fuhr zusammen und starrte seine Kappe an. Eigentlich hätte ihr unbehaglich sein sollen, weil er ihren Namen kannte. Doch es war vielmehr die Art, wie er ihn aussprach, die ihr Herz schneller schlagen ließ.

Als sei ihr Name ihm schon eine Million Mal über die Lippen gekommen, auf eine Million unterschiedliche Arten. Als kenne er sie.

Ein Verdacht kroch in ihr hoch, doch sie schüttelte kurz den Kopf, um sich davon zu befreien. Nein, das war unmöglich. Dieser Mann war so viel größer als der Junge, den sie einst gekannt und geliebt hatte. Ja, er war damals schon groß gewesen, aber mager, und seine unfertigen Züge waren stets von seinem langen Haar verdeckt gewesen.

Dieser Junge hatte nach einer Reihe von Tragödien die Stadt verlassen und war nie zurückgekehrt. Nicht einmal ihretwegen. Obwohl sie ihn darum gebeten hatte.

Livvy hatte erzählt, dass er in der Stadt gewesen war, dass er zurückkommen würde.

Aber Livvy war jetzt nicht hier, oder?

Sie musterte seine wunderschöne, perfekte Hand. Die Narben waren neu, ebenso wie die Schwielen. Aber diese Finger, nun, da sie sie genauer betrachtete …

Er drehte die Hand um. Am Handgelenk prangte eine Narbe. Sie war dabei gewesen, als er sie sich eingehandelt hatte, damals, in der dritten Klasse auf dem Schulhof, wo sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Er hatte ihretwegen Schläge eingesteckt. Der andere hatte ihn gegen einen Zaun gestoßen. Und ein Nagel hatte seine Haut aufgeschlitzt.

Er hob den Kopf, und mit einem Mal blickte sie in ein Paar dunkler Augen, die ihr mehr als vertraut waren.

Sie waren denen von Paul bemerkenswert ähnlich. Und das war kein Wunder, denn dieser Mann – jener Mann, nach dem sie sich verzehrt hatte, den sie während der gesamten letzten Woche im Geiste ausgezogen hatte, mit dem sie unbedingt hatte schlafen wollen – war der Bruder ihres verstorbenen Mannes.

»Jackson?«, flüsterte sie.

Kapitel 2

JACKSON

Das war nicht geplant.

Wären die vergangenen paar Wochen Kapitel im Buch seines Lebens gewesen, hätten sie vermutlich genau diesen Titel getragen: Das war nicht geplant.

Zunächst einmal hatte er nicht so lang in dieser Stadt bleiben wollen. Zumal seine Schwester, die immerhin der Grund für seine Rückkehr war, nicht einmal hier war. Und ganz bestimmt hatte er nicht vorgehabt, seine Schwägerin zu stalken.

Ex-Schwägerin? Frühere Schwägerin? Wie lautete die korrekte Bezeichnung für die Witwe des eigenen Bruders?

Tabu.

»Jackson?«, wiederholte sie.

Er war ohnehin aufgeflogen. Also nutzte er Sadias Schockstarre, um sie genau zu betrachten. Die flüchtigen, verstohlenen Blicke, die er sich bislang gegönnt hatte, waren ihm nicht mal annähernd genug gewesen.

Sie wirkte weicher, als hätte jemand das Bild, das er von der neunzehnjährigen Sadia Ahmed im Kopf gehabt hatte, verwaschen. Früher war ihr Haar so lang gewesen, dass sie auf den dunklen Strähnen hätte sitzen können, doch jetzt trug sie es kürzer. Sie hatte die glatte braune Mähne zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengefasst, dessen Spitzen über ihre Schulter fielen. Sämtliche Angestellten der Bar trugen eine schwarze Hose oder Jeans und ein eng anliegendes schwarzes Shirt. Der Stretch-Stoff ihrer Hose schmiegte sich perfekt an ihre üppigen Kurven. Der weite Ausschnitt ihres Tops gab den Blick frei auf goldbraune Haut, ein paar Schattierungen dunkler als die seine.

Die anderen Kellnerinnen hier gaben sich freizügiger als sie, aber wenn Sadia in der Nähe war, nahm er ohnehin keine andere Frau wahr. Das war immer schon so gewesen. Und hatte sich nicht geändert.

Er hatte sich eingeredet, dass er sie aus reiner Neugier beobachtet hatte. Dass hier in der Bar herumzusitzen eigentlich nichts anderes war, als in den sozialen Medien nach Leuten zu stöbern, mit denen man in der Vergangenheit mal zu tun gehabt hatte. Aber das war gelogen. Denn vor langer Zeit, in einer weit, weit entfernten Galaxie, hatte er Sadia von ganzem Herzen und mit ganzer Seele geliebt.

Auch sie hatte ihn geliebt. Als Bruder. Als besten Freund.

Aber das war vorbei. Er hatte schon so lange niemanden mehr geliebt, dass er kaum noch wusste, wie das ging. Seine Beziehung zu seiner Schwester war der beste Beweis. Und Sadias Miene zufolge quoll auch sie nicht gerade vor Liebe zu ihm über.

Sie schüttelte den Kopf, und er runzelte die Stirn, als er bemerkte, dass sie zitterte. »Sadia.« Ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, veränderte er den Druck seiner Hand, streichelte ihre Finger. Ihre Haut war so weich.

Sie gehörte zu den wenigen Menschen, die er nicht nur gern berührt hatte, sondern von denen er sich auch hatte berühren lassen. Er ging mit Frauen ins Bett, ja, aber es gab keine Umarmungen. Sie hatten Sex miteinander, rau und ohne emotionale Beteiligung. Dann trennten sich ihre Wege wieder, und weder er noch die Frauen schauten jemals zurück.

»Hey.« Er streichelte ihren Daumen, aber sie zitterte nur noch mehr.

Ihre Augen schimmerten feucht, und er zog die Hand zurück. Gespräche und Umarmungen fielen ihm schwer genug, aber mit Frauen, die in seiner Gegenwart in Tränen ausbrachen, konnte er noch viel weniger umgehen.

Doch dann vernahm er verblüfft ein tiefes, knurrendes Geräusch ihrerseits. »›Hey‹? Mehr hast du mir nicht zu sagen? ›Hey‹?«

Er sah sich um, aber in der Bar war es so laut und dunkel, dass keiner auf sie achtete. »Beruhige dich.«

Sie riss die Augen auf. »Wie bitte?! Ich soll mich beruhigen?! Das kann nicht dein Ernst sein!«

Er musterte sie. Doch, genau das hatte er gemeint, aber es schien sie nur wütender zu machen. Das Gegenteil von ruhig.

»Du willst also, dass ich mich beruhige.« Sie nickte. »Klar, warum eigentlich nicht, Jackson? Warum beruhige ich mich nicht einfach? Wo ich doch auch gar keinen Grund habe, mich aufzuregen? Du warst ja nur zehn Jahre wie vom Erdboden verschluckt, hast keine meiner E-Mails beantwortet und nicht nur die Geburt deines Neffen ignoriert, sondern es war dir auch egal, wie schlecht es deiner Schwester und deiner Mutter ging. Sogar die Beerdigung deines eigenen Bruders hat dich nicht interessiert.«

Er zuckte zusammen. Dass er in einer Gefängniszelle gesessen hatte, als sein Bruder vor etwas mehr als einem Jahr gestorben war, war geradezu Ironie des Schicksals gewesen. Damals war ihm die allerdings entgangen.

Im Grunde hatte sie Recht. Nur ein Ungeheuer konnte es fertigbringen, jedes einzelne Wort, das sie ihm in den letzten zehn Jahren geschrieben hatte, zu übergehen. Und jemand, der nach dem Tod ihres Mannes – seines Bruders – noch nicht einmal den Anstand gehabt hatte, wenigstens anzurufen, konnte nur ein gefühlloser grober Klotz sein.

Genau das war er, genau das wollte er sein. Am Leben, aber bar jeglicher Gefühle. Sein Herz schlug, sein Blut pulsierte, seine Organe taten ihren Dienst. Das war’s. Das genügte.

Zumindest glaubte er das.

»Aber ich soll mich beruhigen. Kein Grund zur Aufregung.« Tränen hingen zitternd an ihren unteren Wimpern. »Verflucht, du egoistisches …«

»Nutzloses, mieses Arschloch«, beendete er leise den Satz, womit er die Worte ihrer letzten E-Mail zitierte.

Jetzt rannen ihr die Tränen die Wangen herab. »Und verdammt sollst du sein, weil du mir nie geantwortet hast. Nicht einmal, als ich dich explizit darum bat.«

Oh.

Der Eisklumpen in seiner Brust hatte sich noch nie gegen Sadias Trauer bewähren müssen. Jede einzelne Träne, die ihr die Wangen hinabrann, verätzte seinen Schutzwall wie Säure. »Sadia. Hör auf zu weinen.«

Sie riss die Augen noch weiter auf. Ach Mist, er hatte schon wieder das Falsche gesagt. »Sag mir nicht, was ich tun soll.« Sie schnappte sich den Cocktail und schüttete ihm das Getränk mit einer schnellen Bewegung ihres Handgelenks ins Gesicht.

Dann wirbelte sie herum und stampfte davon, zerrte am Knoten ihrer Schürzenbänder, die gleich über ihrem Po zusammengebunden waren. Diesem runden, appetitlichen Hintern, den er so gern umfangen, geknetet …

Er riss seinen Blick los. Um Himmels willen! Er durfte auf keinen Fall an ihren Hintern denken. Oder an ihre Schenkel, die bei jedem Schritt erbebten.

Er leckte sich über die Oberlippe. Der Drink tropfte ihm am Hals hinab, floss in seinen Kragen. Er trank nicht allzu häufig Alkohol, aber was immer sie ihm da gemixt hatte, hatte ein rauchig-süßes Aroma. Genau wie sie.

Meine Güte, in seinen kühnsten Träume hätte er sich kaum ausmalen können, welche Anziehungskraft von einer zur Frau erblühten Sadia im Flirtmodus ausging … nein, das musste er aus seinem Gedächtnis tilgen, genau wie so viele andere Dinge.

Jackson tupfte sich, so gut es ging, das Gesicht trocken, zog seine Kappe tiefer ins Gesicht und erhob sich.

Sein Motorrad hatte er in der äußersten Ecke des Parkplatzes abgestellt, weitab von dem Lichtklecks, den das zerborstene Neonschild der Bar auf den Parkplatz warf. Er lehnte sich an die Maschine aus Metall und Chrom und wartete. Nach etwa einer Viertelstunde hörte er das Motorengeräusch eines Autos hinter dem Café, dann verließ ein gepflegter Crossover den Parkplatz.

Dass Sadias Wangen von Tränen feucht waren, als sie davonfuhr, bildete er sich wahrscheinlich nur ein, oder?

Er sank gegen sein Bike und vergrub den Kopf in den Händen, rieb sich die Augen. Keine Tränen. Er hatte nicht mehr geweint seit … nun ja, seit seiner Kindheit, die er in genau dieser Stadt verbracht hatte.

Langsam streifte er Jacke und Helm über, stieg auf die Maschine und schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Am liebsten wäre er ihr gefolgt, aber das Motorrad wäre in ihrem topgepflegten Wohnviertel allzu sehr aufgefallen. Was er deshalb so gut wusste, weil er schon häufiger an ihrem Haus vorbeigefahren war.

Ein Wunder, dass noch niemand die Cops auf dich gehetzt hat.

Sich dauernd in ihrer Nähe herumzutreiben war ein ziemlich riskantes Spiel, zumal die hiesigen Gesetzeshüter nicht gerade viel von ihm hielten.

Jackson ließ den Motor aufheulen und bog scharf nach links ab, sodass das Licht seines Scheinwerfers die nachtschwarze Finsternis durchschnitt. Nur ganz vereinzelt beleuchteten Laternen die Straße, aber die brauchte er eigentlich gar nicht. Er hätte sich mit verbundenen Augen in dieser Stadt zurechtgefunden. Auch ein Jahrzehnt selbst auferlegten Exils änderte nichts daran.

Er war in Rockville geboren worden. Als zweiter Sohn einer einflussreichen Familie und Enkel eines Mannes, der dazu beigetragen hatte, einem verschlafenen Fleckchen im Hinterland von New York Zivilisation einzuhauchen. Seine Kindheit und Jugend waren wie im Bilderbuch gewesen – bis auf die letzten paar Wochen, die er hier verbracht hatte. Eine Gefängniszelle war nun mal kein Zuckerschlecken, und schon gar nicht für einen Jungen, der in privilegierten Verhältnissen aufgewachsen war.

Er bog nach rechts ab, würdigte die Bibliothek, in der er nach der Schule stundenlang herumgehangen hatte, genauso wenig eines Blickes wie den exklusiven Blumenladen, in dem er Sadia einen Ansteckstrauß für den Abschlussball gekauft hatte.

Zum ersten Mal seit seiner Rückkehr atmete er tief ein. Die Luft roch nach Holzspänen und Äpfeln, was schon fast verloren geglaubte Erinnerungen in ihm zum Leben erweckte. Es duftete nach Heimat. Und doch wollte er nicht hier sein, in der einen Stadt auf der Welt, in der er unerwünscht war.

Jackson drosselte das Tempo, als er sich dem Hauptplatz der Stadt näherte. Er sah erst nach links, dann nach rechts.

Ein einzelnes Auto sauste über die Kreuzung, und er wusste, dass er sich nur einbildete, dass der Fahrer ihn eindringlich musterte. Dennoch kauerte er sich tiefer nach vorn, wie um sich zu verstecken. Von einem der Stadtbewohner erkannt zu werden war nun wirklich das Letzte, was er wollte.

Du wirst es nicht glauben, Jan. Ich glaube, ich habe heute Jackson Kane auf der Straße gesehen. Nein, Pauls kleinen Bruder. Weißt du nicht mehr? Er hat den C&O niedergebrannt. Na ja, die Anklage wurde fallengelassen, aber trotzdem wussten alle, dass er es war. Gleich danach verließ er die Stadt. Er wäre doch nicht abgehauen, wenn er nicht schuldig gewesen wäre.

Er konnte die Stadt wieder verlassen. Jetzt sofort.

Wenn er hier rechts abbog, gelangte er direkt zur Auffahrt auf den Highway. In ungefähr sieben Stunden würde er in New York City sein. In einem knappen Monat stand dort ohnehin ein Gig für ihn an. Seine Reisetasche und sein ganzer Kram befanden sich zwar noch in seinem schäbigen Hotelzimmer, aber eigentlich bedeuteten ihm all seine Sachen nichts. Er konnte sie problemlos hier zurücklassen.

Hinter ihm näherte sich ein Auto, und er winkte das Fahrzeug vorbei. Dann hielt er den Atem an. Der Wagen überholte und bog links ab.

Er sah den roten Rücklichtern hinterher. Nach links zu fahren kam für ihn nicht infrage. Denn dann würde er ins Stadtzentrum kommen. Innerhalb von drei Minuten wäre er an dem Supermarkt angelangt, der einst seiner Familie gehört hatte. Und an dem Café, das jetzt Sadia leitete.

Jackson erschauerte. Der Wind pfiff durch seine Lederjacke hindurch, und trockenes Laub wurde auf der Straße aufgewirbelt. Trotzdem war ihm nicht kalt. Im Gegenteil: Auf seiner Oberlippe hatten sich ein paar Schweißperlen gebildet.

Er setzte den Blinker nach rechts. Sah sich auf der leeren Kreuzung um, als halte er nach jemandem Ausschau, der ihm sagen würde, was zu tun war.

Der Blinker tickte im Gleichklang mit dem Pulsieren seines Bluts. Er löste die Bremse. Schlitterte einen halben Meter nach vorn. Dann noch einen.

Dann bog er links ab.

Zweieinhalb Minuten später manövrierte er seine Maschine zwischen den beiden Bauten hindurch, die das Vermächtnis seiner Eltern darstellten. Als er das große Gebäude auf der einen Seite zum letzten Mal gesehen hatte, war es bis auf die Hälfte abgebrannt gewesen.

Ein Molotowcocktail konnte verdammt viel Schaden anrichten, wenn er auf eine Gasleitung traf. Aber man hatte es wieder aufgebaut – größer. Und an der Vorderseite prangte ein anderer Name.

Chandler’s.

Früher hieß der Laden C&O. Der Vater seiner Mutter, Sam Oka, hatte zusammen mit seinem besten Freund, John Chandler, den Grundstein dafür gelegt. Die Chandlers und die Oka-Kanes waren seit zwei Generationen sowohl geschäftlich als auch privat miteinander verbunden gewesen. Bis zu jener eisigen Nacht vor zehn Jahren, als Jacksons Vater geradewegs gegen einen Baum gefahren war. Mit Maria Chandler, Nicholas’ Mutter, auf dem Beifahrersitz. Beide waren gestorben.

Statt den trauernden Witwer zu spielen, hatte Brendan Chandler die Gelegenheit genutzt, um die deprimierte Tani Oka-Kane um ihre Hälfte des C&O-Imperiums zu betrügen.

Aus Rache, so erzählte man es sich in der Stadt, habe Jackson daraufhin das Aushängeschild der Handelskette niedergebrannt.

Er wandte den Blick ab und fuhr auf den leeren Parkplatz des Cafés. »Kane’s Café« stand dort in roten, von hinten beleuchteten Lettern, deren Neonfarbe sich auf den Asphalt ergoss.

Er stellte den Motor ab und nahm den Helm ab, fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das er ungewohnt kurz trug. Im Gegensatz zu dem neuen Bau, der nun anstelle des alten C&O hinter ihm prangte, wirkte dieses kleine, gedrungene Gebäude eher gemütlich als grandios. Die Eltern seines Vaters waren sehr beliebte, gesellige Menschen gewesen. Sie waren aus Hawaii hierher gezogen, als Robert Kane noch ein Baby gewesen war. Die Stadtbewohner waren allesamt entzückt gewesen, als der einzige Sohn der Kanes sich in die damals amtierende Prinzessin des C&O-Imperiums verliebt hatte.

Jackson stieg von seinem Motorrad und ging auf das Gebäude zu. Er sah sich hastig um, dann umrundete er den Bau und wandte sich der Hintertür zu. Der schwarze magnetische Schlüsselhalter unter der Regenrinne befand sich auch nach all den Jahren immer noch dort. Sein Großvater war nun mal verdammt vergesslich gewesen.

Er öffnete die Hintertür und trat ein, wartete mit angehaltenem Atem auf einen womöglich ausgelösten Alarm, aber alles blieb still.

Er ging in den vorderen Raum, sorgsam darauf bedacht, dass der Schein seiner Handy-Taschenlampe nicht im Fenster zu sehen war. Das Café sah immer noch so aus wie in seiner Erinnerung: die roten Sitzecken, die weiße Theke, die fröhlichen, stets wechselnden Werke lokaler Künstler an der Wand.

Er fuhr mit dem Finger über den goldenen Schriftzug des Café-Namens auf einer der Speisekarten neben der Kasse. Jackson war sicher, dass es Paul eine diebische Freude bereitet hatte, dass ihr Name zumindest in einem kleinen Teil der Stadt präsent blieb. Der ausgerechnet genau gegenüber dem Chandler’s lag. Es hatte ihn fertiggemacht, dass sie ihren Anteil am C&O verloren hatten. Bis zu jenem Abend, an dem ihre Mutter ihre Hälfte des Unternehmens abgetreten hatte, war Paul der goldene Thronerbe gewesen, der zukünftige Co-CEO der Lebensmittelkette.

Überrascht registrierte Jackson einen stechenden Schmerz in der Brust. Normalerweise ging er den Geistern seiner Vergangenheit geschickt aus dem Weg. Er war nicht allzu glücklich, verspürte aber auch keinen Schmerz.

Er ließ die Hand auf dem Schriftzug ruhen, befühlte den Apostroph im Namen Kane’s, der die Besitzverhältnisse deutlich machte. Auch wenn Paul tot war, dieses Café war seins. Erstaunlicherweise steigerte dieser Gedanke Jacksons Schmerz sogar noch. Alles gehörte Paul. Dieses Unternehmen, diese Stadt. Die Frau, der er wie ein Idiot hinterherspionierte.

ICHVERMISSEDICH.

ICHDENKEDIEGANZEZEITANDICH.

ICHLIEBEDICH.

KOMMZURÜCK.

Unwillkürlich rieb er mit dem Finger über den Bildschirm seines Handys. Jede einzelne E-Mail, die seine einst beste Freundin ihm im Laufe der letzten zehn Jahre geschickt hatte, war darin gespeichert, und er kannte sie alle auswendig. Sie waren der Grund, warum er überhaupt so ein Ding besaß, damit er sein E-Mail-Postfach überall mit hinnehmen konnte. Es war die moderne Variante eines mit einem Band verschnürten Stapels Briefe.

Sie hatte kurz nach seiner Flucht damit begonnen, ihm Mails zu schreiben. Manchmal mehrere in einer Woche, manchmal mit längeren Pausen dazwischen. Vor einem Jahr war der Strom dann ganz versiegt, und zwar mit wenigen Worten. JACKSON. PAULISTTOT.

Vor ein paar Wochen aber war er in Hongkong aufgewacht, hatte nach seinem Handy gegriffen und wäre beinahe vom Bett gefallen, als er Sadias Namen in seinem Posteingang entdeckte. ALSO,DUMISTKERL.ICHWILLDIRNURMITTEILEN,DASSDEINESCHWESTERWIEDERZUHAUSEISTUNDSICHGANZALLEINMITALLENMÖGLICHENPROBLEMENHERUMSCHLÄGT: MITDEINERMOM,MITNICHOLAS,MITSEINERBESCHEUERTENFAMILIE.WENNSIEDIRAUCHNURDASGERINGSTEBEDEUTET,KÖNNTESTDUDICHVIELLEICHTMALBEIIHRMELDEN.ABERMIRISTKLAR,WIEUNWAHRSCHEINLICHDASIST,DENNDUBISTEINEGOISTISCHES,NUTZLOSES,MIESESARSCHLOCH,DASSICHFÜRNIEMANDENINTERESSIERT,AUSSERFÜRSICHSELBST.

WENNSIEDIRAUCHNURDASGERINGSTEBEDEUTET …

Als er sich freiwillig aus seiner Heimatstadt ins Exil begeben und alle zurückgelassen hatte, die er einst geliebt hatte, hatte er geglaubt, jegliche Weichheit, jegliches Mitgefühl weitgehend aus seinem Inneren verbannt zu haben. Zum Selbstschutz war das notwendig gewesen. Gefühle konnte man manipulieren. Stein nicht.

Aber damit hatte er sich selbst etwas vorgemacht. Wie viel ihm seine Schwester bedeutete, war ihm klar geworden, als er erfahren hatte, dass Livvy sich in Nicholas’ unmittelbarer Nähe befand. Seine Angst um seine Zwillingsschwester war förmlich greifbar gewesen. Dieser Mann hatte ihr seinerzeit so übel mitgespielt, dass sie hatte sterben wollen.

Er hatte geglaubt, seiner Rolle gerecht geworden zu sein. Dass sie nicht zu Nicholas zurückkehren würde, dass sie sich erholen würde und sie alle getrennter Wege gehen konnten. Aber er hatte sich getäuscht. Er musste die Sprachnachricht, die seine Zwillingsschwester ihm vor einer Woche hinterlassen hatte, nicht nochmals anhören, um sich Wort für Wort daran zu erinnern.

»Hey, ich bin’s … Livvy. Ich, ähm, wollte dir sagen, dass Nicholas und ich eine Weile fortgehen werden. Ein paar Wochen vielleicht. Ich weiß, diese Kehrtwende kommt ziemlich plötzlich, aber er, äh … jedenfalls reden wir miteinander, mehr nicht. Ich ruf dich an, wenn ich kann. Mach dir keine Sorgen um mich.« Ihre Stimme wurde weich. »Ich erwarte nicht, dass du meinetwegen in der Stadt bleibst. Vielleicht bist du ja auch schon fort, und das ist okay. Ich liebe dich, Jackson.«

Er starrte zur vorderen Fensterfront hinaus. Ich erwarte nicht, dass du meinetwegen in der Stadt bleibst.

Kein Wunder. Auch wenn er es gewesen war, der Livvy vor vielen Jahren im Arm gehalten hatte, als sie geschrien hatte, dass sie sterben wolle, hatte er sich seither rar gemacht. Nach Pauls Tod hatte sie erneut eine schwere depressive Episode durchgemacht, wie sie ihm letzte Woche erzählt hatte. Bis dahin hatte er davon noch nicht mal gewusst.

Ist das nicht genau das, was du wolltest? Du kannst problemlos wieder abhauen. Hier gibt es niemanden, der zu dir gehört. Niemand erwartet von dir, dass du bleibst. Es ist niemand da, der dich braucht.

Sein Blick glitt zu dem Schild, das im Fenster hing. Das Spiegelbild im Glas war leicht lesbar.

KOCHGESUCHT

Er kniff die Augen zusammen und öffnete den Webbrowser seines Handys. Er brauchte nur wenige Augenblicke, um eine Restaurantbewertung zu finden – eine gewisse Sally R. aus Rockville ließ sich traurig darüber aus, dass der langjährige Koch das Kane’s verlassen hatte und die Kochkünste der Besitzerin eine Menge zu wünschen übrig ließen. Jackson checkte das Datum. Der Eintrag war zwei Wochen alt.

Rick hatte gekündigt? Bei ihm hatte Jackson Kochen gelernt.

Er scrollte sich durch ein paar weitere Beurteilungen. Sein Stirnrunzeln wurde immer größer, als er die Beschwerden über angebrannte Backwaren und mittelmäßigen Lunch las. Falls in den letzten Tagen kein Wunder geschehen war, konnte Sadia immer noch nicht kochen.

Aber er konnte es.

Er hatte sich schon gefragt, warum sie in der Bar arbeitete. Das Café würde nie die Gewinne des C&O einbringen, schon gar nicht, solange man es nicht modernisierte. Aber es hatte seinen Großeltern – und, wie er annahm, auch Paul und Sadia – durchaus ein geregeltes Einkommen verschafft. Brauchte sie das zusätzliche Geld?

Im Geiste sah er Livvy vor sich, die Arme vor ihrer zierlichen Gestalt verschränkt. Sie hat immer an deiner Seite gestanden. Du bist ihr was schuldig, Jackson. Sie braucht dich.

Oh, Fuck.

Es gab ein paar Dinge, die offenkundig auf der Hand lagen:

Sadia brauchte einen Koch.

Er war ein Koch.

Sie hasste ihn, und das zu Recht, denn er hatte sie mies behandelt. Was wiederum hieß … dass er ihr tatsächlich etwas schuldig war, und zwar in einem Ausmaß, von dem Livvy nicht mal ansatzweise etwas ahnte.

Es wäre eine praktische und logische Entscheidung, zu bleiben und Sadia hier zur Hand zu gehen, in dem alten Café seiner Familie, während er auf Livvys Heimkehr wartete. Wahrscheinlich war er der letzte Mensch auf dieser Welt, der diesen Ort genauso gut kannte wie seine Großeltern.

Und, verdammt noch mal, er wollte ja bleiben.

Er stopfte sein Handy in die Tasche und neigte den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite, um seine Nackenmuskeln zu lockern. Wie gut, dass er nie viel Schlaf brauchte. Eine schnelle Mahlzeit, eine Dusche, eine Rasur, und schon würde er zurück sein, bereit, gegen Sadia in die Schlacht zu ziehen, um sich das Privileg zu erobern, ihr helfen zu dürfen.

Er fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe, schmeckte den Whiskey, den sie ihm ins Gesicht geschüttet hatte. Es würde zweifellos ein harter Kampf werden.

Kapitel 3

SADIA

Sadia keuchte und riss die Augen auf. Noch ehe sie überhaupt klar sehen konnte, griff sie schon nach ihrem Handy, das auf dem leeren Kissen neben ihr lag. Sie hielt es sich dicht vors Gesicht und versuchte blinzelnd, die Uhrzeit zu erkennen.

Sie stieß die Luft aus, und ihre Panik klang etwas ab. Früher hatte sie es genossen, langsam aufzuwachen, sich bedächtig durch jede einzelne Schicht des Schlafes an die Oberfläche zu arbeiten. Seit Pauls Tod hatte sich das geändert. Jetzt kam sie täglich mit einem Ruck zu sich, voller Angst zu verschlafen.

Der Tag hatte nun mal nur eine begrenzte Anzahl an Stunden, und sie hatte so viel zu erledigen. Sie konnte es sich nicht leisten, die Zeit mit Schlafen zu vertrödeln.

Sadia stellte den Wecker aus, der erst in zwanzig Minuten hätte klingeln sollen, und starrte an die Decke. Von draußen kroch das erste Licht der noch nicht angebrochenen Dämmerung durch die Vorhänge. Ihre Augen waren verklebt und müde. Sie hatte schon lange nicht mehr schlaflos wach gelegen. In letzter Zeit war sie so erschöpft, dass sich der Schlaf beinahe unter Garantie einstellte. Besonders nach den Spätschichten in der Bar.

Andererseits war der gestrige Abend ohnehin alles andere als normal verlaufen.

Denk nicht dran.

Sie hatte sich lange hin und her gewälzt, wobei ihre Unruhe sich mit jedem Blick auf die Uhr gesteigert hatte, weil ihr Hirn automatisch nachgerechnet hatte, wie viel Schlaf sie jetzt noch bekommen würde. Drei Stunden, dann zwei, dann eine. Endlich war sie eingedöst. Ihre schweren Lider hatten ihr Gedankenkarussell niedergerungen.

Sie hatte gehofft, am nächsten Morgen so tun zu können, als wäre die Begegnung mit Jackson lediglich ein Traum gewesen, aber das erwies sich als unmöglich. Zwei Minuten. Sie würde sich noch zwei Minuten gestatten, um darüber nachzudenken, dann würde sie aufstehen. Diese zwei Minuten konnte sie innerhalb ihres Tagespensums erübrigen.

Sadia reckte sich. Die Muskeln ihrer Schultern schmerzten von der gebeugten Haltung, die sie tagsüber entweder am Herd oder am Schreibtisch einnahm. Seit Pauls Tod stand sie ständig unter Strom, und mit jedem noch so winzigen Rückschlag wurde der innere Druck größer. Und Jackson wiederzusehen war solch ein Rückschlag.

Sie hatte versucht, Verständnis für ihn aufzubringen, als er damals, gleich nachdem er aus dem Gefängnis entlassen worden war, aus der Stadt verschwunden war. Aber sie waren schon so lange beste Freunde gewesen, dass sie den unbändigen Drang verspürte, mit ihm zu reden. Also schrieb sie Mails. Als sie nach einem Jahr noch immer keine Antwort erhalten hatte, hatte sie vermutet, dass ihre Mails ins Leere gingen. Die Briefe waren inzwischen zu einer Art Ventil für sie geworden, eine Möglichkeit, Gedanken zu formulieren, die sie nicht laut aussprechen konnte oder wollte. Erst nach Pauls Tod hatte sie damit aufgehört, denn nun blieb ihr keine Zeit mehr, alberne Nachrichten zu schreiben, die ohnehin niemand las.

Dann aber hatte sie erfahren, dass er auf Livvys E-Mails, die diese an die gleiche Adresse schickte, durchaus antwortete. Das bedeutete, dass er auch die ihren erhalten haben musste.

Du hast keine meiner E-Mails beantwortet und nicht nur die Geburt deines Neffen ignoriert, sondern es war dir auch egal, wie schlecht es deiner Schwester und deiner Mutter ging. Sogar die Beerdigung deines eigenen Bruders hat dich nicht interessiert.

Aber was sie am meisten getroffen hatte, hatte sie ihm verschwiegen: Er hatte sie ignoriert.

Zorn und Schmerz tobten in ihrem Innern. Sie hatte ihn so sehr geliebt, und sie hatte geglaubt, dass er diese Liebe erwiderte. Aber letztlich war es ihm leichtgefallen, sie zu ignorieren und aus seinem Leben zu verbannen.

Sie ließ den Schmerz ganz nah an sich heran. Er fühlte sich gut und ehrlich an, und offen gesagt war sie lieber wütend, als über die vielen Stunden nachzugrübeln, als er für sie noch ein unbekannter heißer Typ in der Bar gewesen war und sie sich vorgestellt hatte, wie seine Hände sie berührten.

Auf gar keinen Fall! Sie verdrängte den Gedanken daran ein für alle Mal. Sie hoffte nur inständig, dass er nicht bemerkt hatte, dass sie mit ihm geflirtet hatte. Das wäre megapeinlich.

Wieder warf sie einen Blick auf ihr Handy. Ihre zwei Minuten waren vorüber. Wie gern hätte sie sich die Decke über den Kopf gezogen – wie damals als Kind, als sie sich vor der Schule gefürchtet hatte. Aber sie war jetzt erwachsen und musste sich auch wie eine Erwachsene benehmen.

Das war das Schlimmste.

Widerstrebend wälzte sie sich aus dem Bett, zog die Leggins und das T-Shirt aus und warf sie auf dem Weg ins Bad in den Wäschekorb. Im Morgengrauen aufzustehen war nicht gerade ihr Hobby – schon gar nicht nach einer schlaflosen Nacht –, aber bis sie einen Koch gefunden hatte, der so vertrauenswürdig und zuverlässig war wie Rick, der seit der Eröffnung des Kane’s zum Inventar gehört hatte, würde sie diese Tortur in aller Herrgottsfrühe auch weiterhin auf sich nehmen müssen.

Sie duschte nur kurz, kaum lang genug, um die Schläfrigkeit oder ihre Unruhe zu vertreiben. Paul hatte immer schon einen größeren Warmwasserboiler in diesem Haus einbauen wollen, aber es hatte ihnen stets an Zeit oder Energie gemangelt, und sie scheute davor zurück, jetzt Geld dafür auszugeben. Das heiße Wasser reichte für Kareems Bad am Abend. Das war vorerst gut genug.

Ihre Hände wurden langsamer, während sie ihre Brüste einseifte. Kritisch musterte sie ihren Körper. Jackson wirkte nach all den Jahren wie aufgepumpt – ein einziger Muskelberg. Seine Arme waren so riesig, dass man ihnen eine eigene Postleitzahl verpassen könnte. Sie selbst war nie besonders grazil gewesen, aber nach Kareems Geburt war sie noch fülliger geworden. Sie piekte den Finger in ihren weichen Bauch und runzelte die Stirn.

Was tust du denn da?

Sie schüttelte den Kopf und seifte ihren restlichen Körper ein. Sie hatte schließlich schon zwei Minuten damit verschwendet, an Jackson zu denken, und diese spontane Unsicherheit sah ihr so gar nicht ähnlich. Ihr Körper war gesund und fit und – wie sie wiederholt festgestellt hatte – in der Lage, nicht nur Lust zu empfangen, sondern auch zu schenken. Sie war froh, dass sie ihn hatte. Ein paar Speckröllchen hin oder her.

Sie achtete kaum darauf, was sie anzog. Ihre Garderobe bestand mittlerweile vornehmlich aus bügelfreien Klamotten, die sich leicht kombinieren ließen. Das war effizienter, und Effizienz war zu ihrer absoluten Priorität geworden. Ihr schärfstes Schwert in diesem Kampf: Listen, Planer und Stifte.

Und wenn sie ihr Leben bis auf die letzte Minute durchorganisieren musste, dann würde sie das eben tun. Das gehörte zu ihren zahlreichen Waffen in ihrem endlosen Bemühen, sich selbst und der Welt zu beweisen, dass sie die erfolgreiche Sadia Ahmed war und auf keinen Fall eine Versagerin.

Nachdem sie angezogen war, öffnete sie die kleine Schachtel auf ihrem Schminktisch. Auch dafür hatte sie einen festen Platz in ihrer Morgenroutine vorgesehen. Im Deckel war ein Bild von ihr und Paul eingelassen, das auf ihrem Senior-Prom-Ball aufgenommen worden war. Paul war attraktiv und sah auf jene für ihn typische sorglos-arrogante Art äußerst selbstgefällig drein. Sie trug ein funkelndes silbernes Kleid und lächelte strahlend in die Kamera. Kareem liebte dieses Bild, und sie tat es ebenfalls. Sie waren damals wahnsinnig verliebt ineinander gewesen und sich ihres Platzes in der Welt absolut sicher: sie das mittlere Kind zweier erfolgreicher Mediziner, die absolut vernarrt in ihre Kinder waren; er der Erbe eines Vermögens und zukünftiger Co-CEO eines landesweit erfolgreichen Unternehmens.

Drei Jahre später hatten sie sich verlobt. Immer noch wahnsinnig verliebt. Aber ihre Welt war nicht mehr dieselbe gewesen.

Liebevoll strich sie über die einzigen anderen Gegenstände in der Schachtel: ihre Eheringe. Sie und Paul hatten vielleicht keine Bilderbuchehe geführt, dennoch hatte sein Tod eine Lücke in ihrem Leben hinterlassen. Mehr als einmal hatten ihr wohlmeinende Menschen versichert, dass sie trauern müsse. Daraufhin hatte sie höflich gelächelt und genickt. Sie verstanden es nicht. Sadia hatte keine Zeit, ununterbrochen zu trauern. Ihr blieben hin und wieder ein paar Minuten. »Ich vermisse dich. Ich tue mein Bestes«, flüsterte sie. Einen Herzschlag später stellte sie die Schachtel wieder ab und ließ den Deckel zuschnappen.

Sie streifte gerade ihre Socken über, als sie hörte, wie sich am Ende des Flurs eine Tür öffnete. Schnell schnappte sie sich den Rucksack mit ihrem Kram für den Tag und der Kleidung für abends. Wenn sie viel Glück hatte, würde sie noch Zeit finden, nach der Schule nach Hause zu rennen, um Kareem bei den Hausaufgaben zu helfen und ihm etwas zu essen zu machen. Aber falls sie das nicht schaffte, musste sie Wechselklamotten dabeihaben, um sich in Windeseile in eine Barkeeperin zu verwandeln. Ähnlich wie Wonderwoman, die mit einer superschnellen Pirouette auf magische Weise in ihr Kostüm schlüpfte, in dem sie es mit jedem Verbrecher aufnahm. Nur dass Sadia die erschöpfte Version der Superheldin – Marke alleinerziehende Mutter – war.

Sie trottete die Treppe hinab und zog eine Augenbraue in die Höhe, als sie Ayesha lesend am Frühstückstisch entdeckte, während Jia gerade eine Kapsel in die Kaffeemaschine gab. Wenn sie abends in der Bar arbeitete, blieb stets eine ihrer jüngeren Schwestern bei Kareem. Da sich Sadia in letzter Zeit aber schon auf den Weg ins Café machte, noch bevor er aufstand, übernachteten sie entweder oder schauten morgens noch schnell vorbei und kümmerten sich um ihn, bis er in den Schulbus stieg.

Ohne ihre Schwestern wäre sie verloren gewesen. »Hey«, flüsterte sie. »Jia, wann bist du gekommen?« Als sie gestern Abend das Haus verlassen hatte, war Ayesha diejenige gewesen, die es sich auf der Couch mit ihren Unibüchern und ein paar Chips gemütlich gemacht hatte. Die medizinische Fakultät, an der Jia und Ayesha studierten, war nicht weit von Sadias Haus entfernt, weshalb es für sie ganz praktisch war, hier zu schlafen.

Ayesha schloss ihr Lehrbuch, verdrehte die Augen und antwortete ebenfalls leise: »Die hier«, sie deutete mit dem Finger auf ihre Zwillingsschwester, »hat ihre Autobatterie gekillt. Sie ist gerade erst angekommen. Hat sich ein Taxi genommen, damit ich sie nicht auch noch abholen muss.«

»Ich kapiere nicht, warum im Kofferraum ein Licht ist. Schließlich vergisst man doch so leicht, ihn zu schließen.« Jia sah vom Kaffeeautomaten auf. Ihre kajalumrahmten Augen weiteten sich. »Wow, schlechte Nacht gehabt?«

Sadia kniff die Augen zusammen, während sie die unschuldige, arglose Miene der Vierundzwanzigjährigen musterte.

Ayesha stieß die Luft aus. »So etwas sagt man nicht. Das ist unhöflich.«

Jia blickte von einer zur anderen. »Aber normalerweise sieht sie nicht so aus. Ist also eigentlich doch ein Kompliment. Dachte ich zumindest.«

»Nein«, antwortete Sadia. »Definitiv unhöflich.«

»Es liegt vornehmlich an den Tränensäcken«, schob Jia hinterher.

Ayesha stand auf. »Jia, halt einfach den Mund.«

Sadia rieb sich mit dem Finger die Partie unter einem Auge. »Konnte nicht so recht schlafen.«

»Da kann ich etwas gegen tun. Ich habe meinen Make-up-Koffer dabei«, bot Jia an.

Sadia zögerte. Normalerweise hätte sie Einwände erhoben, aber dann dachte sie an den kurzen Augenblick der Unsicherheit unter der Dusche. Es konnte nicht schaden, wenn sie ihr Selbstbewusstsein ein wenig aufpolierte. Sie sah auf ihr Handy. »Schaffst du das in drei Minuten?«

Jia schnaubte. Die meisten Medizinstudentinnen sahen um fünf Uhr morgens wahrscheinlich nicht wie Modepuppen aus, aber in dem hübschen, langen blau-weißen Kleid und der schwarzen Jacke aus Lederimitat wirkte ihre kleine Schwester, als sei sie gerade dem Cover eines Modemagazins entsprungen. Sogar ihr Hidschab passte zu ihrem Kleid – zwei Schals, die im Zickzackmuster um ihren Kopf geschlungen waren. »Ich schaffe ein komplettes Gesicht in zweieinhalb Minuten.«

Das bezweifelte Sadia keine Sekunde. Auf dem College hatte Jia einen Blog mit Make-up- und Fashion-Tipps gestartet, zu dem sich schon bald Videos und Podcasts hinzugesellten. Sie ließ sich also auf einen Stuhl an der Theke plumpsen, während Jia in ihrem Designerrucksack herumkramte.

Ayesha ging derweil zum Kühlschrank und griff sich eine Milchtüte. Dann holte sie die Packung Rosinen-Cornflakes heraus, die Sadia für ihre jüngeren Schwestern immer im Haus hatte. »Hör mal«, begann Ayesha. »Du musst uns unbedingt sämtliche schmutzigen Details über die Chandlers erzählen. An der Uni fragen uns alle ständig danach.«

Jia näherte sich ihr mit einem kleinen Make-up-Beutel. »Und wir stehen da wie die Ahnungslosen, obwohl unsere Schwester mit der Familie verwandt ist.« Sie betupfte Sadias Augenringe großzügig mit Concealer und verteilte ihn dann sorgfältig auf ihrer Haut.

»Ich bin nicht mit den Chandlers verwandt.« Sie schloss die Augen, als Jia ihren schwarzen Eyeliner herausholte.

»Du bist mit Livvy verwandt, und Livvy ist offenbar wieder mit Nicholas zusammen, also im Grunde schon.« Mit einem Klirren stellte Ayesha zwei Schüsseln auf die Kücheninsel.

»Don sagte …«