Wenn dein Herz mich findet - FORBIDDEN HEARTS - Alisha Rai - E-Book
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Wenn dein Herz mich findet - FORBIDDEN HEARTS E-Book

Alisha Rai

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Beschreibung

Wenn der Mann, vor dem dich alle warnen, das Beste ist, das dir passieren kann ...
Evangeline Chandler weiß ein Geheimnis zu bewahren ... wie ihre jahrelange heimliche Schwärmerei für den heißen tätowierten Freund ihres Bruders. Schließlich ist sie eine Chandler, und Chandlers lassen sich nicht mit den Angestellten ein. Doch dann passiert etwas, das die Regeln ändert, und auf einmal scheint alles möglich.
Gabriel Hunter versteckt seine schmerzvolle Vergangenheit hinter einem Lächeln, aber die Gefühle, die er für plötzlich für die behütete kleine Schwester seines Freundes empfindet, kann er nicht verbergen. Doch Eve verdient eine gemeinsame Zukunft, und die kann er, der Sohn der Haushälterin, der Prinzessin der Stadt nicht bieten.
Auf einer Hochzeitsparty kommen die beiden sich näher als beabsichtigt ... und spüren, dass sie mehr verbindet als trennt.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumEinleitungWidmungKapitel 1GABEKapitel 2EVEKapitel 3GABEEVEKapitel 4EVEKapitel 5GABEKapitel 6EVEGABEKapitel 7EVEKapitel 8GABEEVEKapitel 9EVEGABEKapitel 10EVEKapitel 11GABEEVEKapitel 12EVEKapitel 13GABEKapitel 14EVEKapitel 15GABEKapitel 16EVEGABEKapitel 17EVEKapitel 18EVEGABEKapitel 19EVEKapitel 20EVEKapitel 21LIVVYKapitel 22EVEKapitel 23GABEKapitel 24EVEKapitel 25GABEEVEKapitel 26EVEKapitel 27EVEGABEKapitel 28EVEKapitel 29EVEGABEKapitel 30EVEEpilogTANIEVEGABEDanksagungen

Über dieses Buch

Wenn der Mann, vor dem dich alle warnen, das Beste ist, das dir passieren kann … Evangeline Chandler weiß ein Geheimnis zu bewahren … wie ihre jahrelange heimliche Schwärmerei für den heißen tätowierten Freund ihres Bruders. Schließlich ist sie eine Chandler, und Chandlers lassen sich nicht mit den Angestellten ein. Doch dann passiert etwas, das die Regeln ändert, und auf einmal scheint alles möglich. Gabriel Hunter versteckt seine schmerzvolle Vergangenheit hinter einem Lächeln, aber die Gefühle, die er für plötzlich für die behütete kleine Schwester seines Freundes empfindet, kann er nicht verbergen. Doch Eve verdient eine gemeinsame Zukunft, und die kann er, der Sohn der Haushälterin, der Prinzessin der Stadt nicht bieten. Auf einer Hochzeitsparty kommen die beiden sich näher als beabsichtigt … und spüren, dass sie mehr verbindet als trennt.

Über die Autorin

Alisha Rai ist eine erfolgreiche Autorin von Liebesromanen. Ihre Bücher standen auf den Bestenlisten der Washington Post, Entertainment Weekly, New York Public Library, Amazon, Kirkus, »O« the Oprah Magazine und dem Cosmopolitan Magazine. Eine beeindruckende Liste, die noch länger sein könnte, doch das würde den Rahmen sprengen. Wer mehr wissen will, schaut nach auf www.alisharai.com

Übersetzung aus dem amerikanischen Englischvon Nicole Hölsken

LÜBBE

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

»Hurts to Love You«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2018 by Alisha Rai

Published by arrangement with Avon Books, an imprint of HarperCollins Publishers

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Doreen Reeck, Köln

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock.com: kzww | Chinnapong

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0791-6

luebbe.de

lesejury.de

»Keiner weiß davon«, sagte er tonlos, und die Worte schienen geradezu übereinander zu stolpern.

»Es wird auch niemand erfahren«, flüsterte sie, obwohl sie ihm so etwas doch gar nicht versprechen konnte. »Ich behalte es für mich.«

Sein grobes Lachen klang bellend. »Und was soll ich jetzt tun? Dir einfach nur vertrauen?«

»Ja.« Sie legte ihm die Hand an die Wange. Ihre Beine baumelten noch immer in der Luft. Das war zwar nicht gerade bequem, dafür aber außerordentlich belebend. Adrenalin rauschte durch ihren Körper, und sie beugte sich näher zu ihm hin – getrieben von dem Wunsch, ihn zu trösten, ebenso wie von Begehren. »Ich bin eine Meisterin der Geheimhaltung.«

Er schüttelte den Kopf. »Du weißt …«

Sie schnitt ihm das Wort ab, indem sie ihre Lippen auf seine presste. Es war eine Mischung aus Panik, Verzweiflung und dem tief verwurzelten Bedürfnis, ihn zu beruhigen, die sie plötzlich dazu trieb. Ihre Lippen passten einfach perfekt zueinander, und sie liebkoste ihn, schmeckte einen Hauch von Minze in seinem Mund.

Endlich. Endlich. Jetzt wusste sie, wie es sich anfühlte, ihn zu küssen.

Es war perfekt.

Einen Moment lang war er wie erstarrt, aber dann drang ein Knurren aus den Tiefen seiner Kehle. Er packte sie fester, presste sie an sich und erwiderte den Kuss.

Für meine Familie: Blutsverwandte, Zufallsverwandte und Wahlverwandte. Ich liebe Euch und bin dankbar, dass es so viele Orte gibt, die ich Heimat nennen darf.

Kapitel 1

GABE

Gabriel Hunter kannte sich mit Frauen aus. Er hatte den weiblichen Körper erforscht, berührt, mit seiner Kunst geschmückt, darin geschwelgt, sich danach verzehrt. Brüste, Hintern und Schenkel bekam er quasi täglich zu sehen.

Der Anblick nackter Haut, egal welcher Körperpartie, brachte ihn daher so leicht nicht aus der Ruhe. Eigentlich barg der menschliche Körper keine Geheimnisse mehr für ihn.

Und doch ließen ihn die nackten Arme dieser Frau alles andere als kalt.

Gabe legte die Hand auf das makellose Leinen des Tischtuchs, und es juckte ihm in den Fingern, sie zu berühren. Ihre Haut war so rein, dass sie geradezu zu strahlen schien. Was war das nur für ein Ton? Nicht blass, nicht braun, nicht sonnengebräunt. Manch einer hätte sie vielleicht als olivfarben bezeichnet, aber in seinen Augen war das keine Farbe.

»Der Dulce de Leche ist einer unserer beliebtesten Kuchen, er ist mit goldbraunem Karamell durchzogen …«

Goldbraun, ja, das passte. Cremefarben und von einem goldbraunen Schimmer erfüllt, der aus ihrem tiefsten Innern emporzustrahlen schien. Auf ihrem Oberarm befand sich eine Narbe, die die glatte Fläche unterbrach, aber wie jeder gute Künstler hielt er nichts von Makellosigkeit. Kleinere Fehler machten ein Kunstwerk nur umso einzigartiger. Fälschungssicher.

Oh, Mann.

Beinahe hätte Gabe das Gesicht zu einer Grimasse verzogen, aber er beherrschte sich. Nur wenige Zentimeter trennten sie voneinander, doch genauso gut hätte sie auf dem Mars sein können, denn sie zu berühren stand nicht zur Debatte.

Immerhin war sie Evangeline Chandler. Ein gutes Dutzend Jahre jünger als er, die Schwester eines Mannes, den er als Freund betrachtete. Süß und schüchtern und unschuldig. Oh, und Erbin einer der reichsten Familien des Landes.

Und er? Er war Tattoo-Artist. Sohn einer Haushälterin. Der zudem ein Geheimnis hütete, das jede Verbindung zwischen ihnen so verdammt kompliziert machte. Zu freundlich und respektvoll Frauen gegenüber, um mit ihnen zu spielen, aber dennoch definitiv niemand für eine langfristige Beziehung.

Denk an den Mars, mein Sohn.

Eve hob den Blick und sah ihm in die Augen, und mit einem Ruck kehrte er in die Gegenwart zurück, wobei er gewissenhaft darauf achtete, dass seine Miene nichts preisgab außer höflichem Interesse. Sie legte den Kopf schief, sodass ihr das glatte, dunkle Haar, das von einem teuren Friseur zeugte, über die Schulter fiel. Das Licht der Deckenbeleuchtung fing sich in den Strähnen, ließ deren Mahagoni-, Kirsch- und Bronzetöne schimmern.

»Was hältst du davon?«

»Perfekt«, antwortete er, ohne nachzudenken.

Sie runzelte die Stirn. »Hast du ihn überhaupt probiert?«

Oh. Er blickte auf die Kuchenstücke herab, die vor ihm aufgereiht standen. Kuchen. Sie sprach von dem Kuchen.

Pflichtschuldig nahm er einen Bissen des dargebotenen Gebäcks und schluckte. Er hatte Mühe, nicht angewidert das Gesicht zu verziehen, als die übertriebene Süße auf seiner Zunge förmlich explodierte. Sogleich trank er einen großen Schluck Wasser. »Ist … okay.«

Der Mann, der neben ihrem Tisch stand, gab ein leises Schnauben von sich. Gabe hatte häufig genug mit reichen Leuten zu tun gehabt, um genau zu wissen, was dieses Schnauben zu bedeuten hatte: Ein unkultivierter Banause wie du hat hier verdammt noch mal nichts zu suchen. Hau bloß ab!

Da sie selbst wohlhabenden Kreisen angehörte, wusste Eve das Schnauben des Kellners zweifellos ebenfalls zu deuten, ging aber nicht weiter darauf ein. »Livvy, der schmeckt keinem von uns so wirklich.«

»Oh, das war meine erste Wahl«, ertönte eine weibliche Stimme aus dem Lautsprecher des Telefons, das auf dem Tisch lag. Nur, dass sie so erkältet war, dass die Worte sich anhörten wie Do, dat war bei erste Mal.

»Er ist ziemlich süß.«

»Ach, ich wünschte, ich könnte dabei sein.«

Jacques verschränkte die Hände vor der Taille. »Ich wiederhole, Ms. Kane, wir würden uns freuen, das Tasting bei Ihnen zu Hause abzuhalten.«

»Sie kann momentan überhaupt nichts schmecken«, erklärte Eve.

»Echt megatraurig«, schniefte Livvy.

»Und der Bräutigam?«, erkundigte sich Jacques taktvoll.

Gabe hätte am liebsten die Augen verdreht. Auch dieser Typ war eigentlich nur scharf auf Klatschgeschichten. Das Drama der Kanes und Chandlers war stets Stadtgespräch.

»Mein Bruder hat heute zu tun.« Eve warf dem Kellner einen forschenden Blick zu. »Was haben wir noch in der Auswahl, Jacques?«

Jacques stellte einen Teller mit einem Stück hellgelbem Kuchen vor sie hin. Das kleine, exklusive Restaurant war heute wegen dieses Tastings für den Publikumsverkehr geschlossen. Gabe war sicher, dass dieser Umstand nur dem Namen Chandler zu verdanken war. »Ein zartes Zitronen-Thymian-Aroma, Ms. Chandler. Abwechselnde Schichten aus Lemon Curd und exquisiter Vanille-Buttercreme, garniert mit Thymianzweigen und kandierten Zitronen.«

Gabe, der simple Speisen bevorzugte, fand allein die Vorstellung schon widerlich. »Sind nicht die meisten Hochzeitstorten aus Schokolade und Vanille?«

Livvy gab ein höhnisch-nasales Schnauben von sich. »Nichts an dieser Hochzeit ist traditionell. Wieso sollten wir da bei der Torte eine Ausnahme machen?«

Das stimmte. Die meisten Menschen in Rockville erwarteten das Unerwartete, wenn es um die Kanes und Chandlers ging.

Früher einmal waren beide Dynastien eng miteinander befreundet und sogar Geschäftspartner gewesen, wobei jeder Familie eine Hälfte der C&O-Supermarktkette gehört hatte. Vor zehn Jahren jedoch hatten sich gleich mehrere Tragödien abgespielt. Es hatte damit begonnen, dass Robert Kane und Maria Chandler in einem Autounfall an einem späten Winterabend ums Leben gekommen waren.

Kurz darauf hatte der eben erst verwitwete Brendan Chandler, der Vater von Nicholas und Eve, Livvys trauernde Mutter Tani um ihre Unternehmenshälfte betrogen. Und gleich danach war Livvys Zwillingsbruder Jackson unter Verdacht geraten, den Flagship-Store des C&O aus Rache dafür niedergebrannt zu haben.

Irgendwann in all diesem Chaos hatten Nicholas und Livvy sich getrennt. Die Liebe, die beide schon seit früher Jugend verband, schien zerbrochen. Aber vor acht Monaten hatten sie sich wieder miteinander versöhnt und schienen nun auf das glückliche Ende zuzusteuern, um das sie einst betrogen worden waren. Sie hatten beschlossen, an Livvys Geburtstag zu heiraten, sodass ihnen nach der Verlobung nur ein einziger Monat für die Hochzeitsvorbereitungen geblieben war.

Es hätte immer noch alles prima klappen können, wären Braut und Bräutigam in den letzten drei Wochen nicht buchstäblich vom Pech verfolgt worden. Der ursprünglich geplante Veranstaltungsort war von einem Sturm verwüstet worden. Nicholas hatte sich beim Basketball eine Rückenverletzung zugezogen. Livvys Kleid war auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Der Blumenladen war abgebrannt. Der Konditor, der mit der Hochzeitstorte beauftragt worden war, hatte aufgrund eines familiären Notfalls abgesagt. Zahlreiche Einladungen waren in der Post verloren gegangen.

Irgendwann war Livvy vollkommen aufgelöst in sein Tattoo-Studio gestürmt, in dem sie zusammen arbeiteten. Aber Gabe hatte sie getröstet. Nein, natürlich war das Gerede ihrer Mutter von einem Fluch Unsinn, versicherte er ihr. Alles würde gut werden. Er hatte einen Witz gemacht, sie hatte gelacht. Sie würden alle mit anpacken. Es würde schon klappen. Und zunächst schien es, als liege er richtig.

Bis Nicholas’ und Eves geliebter Großvater John, dessen Gesundheitszustand ohnehin nicht der beste war, sich eine Grippe eingefangen hatte. Livvys Mutter und Tante hatte es als Nächste erwischt. Alle hatten den Atem angehalten, aber John hatte sich wieder erholt, und Tani und Maile schnieften nur noch ein wenig vor sich hin. Gestern dann war Livvy krank geworden.

So etwas wie Flüche oder böse Vorzeichen waren natürlich Humbug. Dass die Braut eine Woche vor der Hochzeit krank wurde, war allerdings schon sehr miserables Timing seitens des Universums.

Der Kellner sprach lauter, damit Livvy ihn besser verstehen konnte. »Es handelt sich um keine gewöhnliche Torte, und sie wird Ihrem Hochzeitsempfang gewiss eine ganz besondere Note verleihen, Ms. Kane.«

»Guu…« Ein Niesen unterbrach Livvy. »Ach, Mist.«

Gabe beugte sich vor. »Liv, warum legst du dich nicht wieder ins Bett? Wir kriegen das schon hin.«

»Nein, nein.« Ein lautes Niesen. »Ich will dabei sein. Immerhin ist das meine Hochzeitstorte, verdammt.«

Also widmete Gabe sich dem Zitronenkuchen. Der Geschmack überraschte ihn dermaßen, dass er vergaß, schnell herunterzuschlucken. Die Säure der Zitrone hielt den Zucker in Schach, sodass er wirklich genießbar war. Er sah Eve an, und jetzt vergaß er sogar seinen eigenen Namen.

Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Wimpern lagen wie Fächer auf ihrer Haut. Die Gabel glitt aus ihrem Mund, wobei die Zinken Abdrücke auf ihrer Unterlippe hinterließen. Sie trug nicht allzu viel Make-up, aber ihre pinkfarbenen Lippen hatten auch gar keine Farbe nötig. »Mmh«, machte sie, ein Laut, der eher einem Stöhnen gleichkam, und ein winziger Teil von ihm gab den Geist auf.

So köstlich fand er den Kuchen nun auch wieder nicht, trotzdem nahm er noch einen Bissen, wenn auch nur, um das Gleiche auf der Zunge zu haben, was sie schmeckte und so sehr genoss.

Wie armselig.

Sie öffnete die Augen, und er wünschte sich, sie möge einfach weiter Kuchen essen. Zum Teufel, am liebsten hätte er ihr eine ganze Torte gekauft und sie damit gefüttert, bis sie ihm Zitronen- und Sahnereste von den Fingern leckte.

Wenn es nach ihm ginge, könnte sie nach Herzenslust alle Stellen an seinem Körper ablecken, auf die sie Lust hatte.

»Was denkst du?«, fragte Livvy.

»Fantastisch«, antwortete er heiser.

Eve zog eine Augenbraue in die Höhe. Sie waren das Dramatischste an ihr, dicht und geschwungen. »Wirklich? Das dürfte der erste Kuchen sein, der dir überhaupt schmeckt.«

Er mochte eigentlich überhaupt nichts Süßes, Punkt. Aber das konnte er ihr natürlich nicht sagen. Andernfalls hätte sie sich gefragt, warum er sie zu diesem Tasting hatte begleiten wollen. »Die anderen waren auch ganz okay.« Er versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, was der überhebliche Kellner über die restlichen Stücke gesagt hatte. »Aber bei dieser Torte war ich wirklich fasziniert von den Zitronenschichten, die den feuchten … Schwammteig durchziehen.« Okay, wahrscheinlich war das nicht ganz richtig.

Er konnte Jacques’ Schnauben mit Leichtigkeit ignorieren, denn ihre Lippen zuckten, und am liebsten hätte er triumphierend die Faust in die Luft gereckt. Eve lächelte selten und lachte sogar noch seltener, wie er festgestellt hatte.

Sie rückte das Handy zurecht. »Die Zitronentorte schmeckt uns beiden, Livvy.«

»Hmmm.« Am anderen Ende der Leitung raschelte Papier. »Die stand ebenfalls ziemlich weit oben auf meiner Liste. Dann wird es die.« Sie nieste noch ein paar Mal ausgiebig.

Nun nahm Eve das Heft in die Hand und nickte Jacques zu. »Wir nehmen also die Zitronentorte. Sie haben die Fotos erhalten, die ich Ihnen geschickt habe, ja?«

»Jawohl, Ma’am.«

»Hervorragend. Und bitte richten Sie dem Küchenchef aus, wie dankbar wir ihm sind, dass er so kurzfristig einen Termin für uns freimachen konnte.«

»Oh, nein, Ma’am. Er ist hocherfreut, Ihnen behilflich sein zu dürfen. Er übermittelt die besten Wünsche.« Der Blick des Mannes wurde weich. »Ihre Familien haben so viel für diese Stadt getan.«

Sowohl Eve als auch Livvy murmelten ein paar Dankesworte. Gabe schwieg. Er war im Haushalt der Kanes aufgewachsen, aber als Sohn der Haushälterin hatte er, obwohl man ihn stets gut behandelt hatte, die Welt der Reichen und Mächtigen immer nur von außen betrachten können.

Eve nahm ihr Handy zur Hand. »Livvy, ich rufe dich später an, um die anderen Details zu besprechen.«

»Alles klar. Bye, Leute. Gabe, ich kann dir gar nicht genug danken, dass du eingesprungen bist.«

Gabe legte seine Serviette auf den Tisch, erleichtert darüber, nicht noch mehr Süßkram herunterwürgen zu müssen. Kartoffelchips, ja, die konnte er täglich tütenweise essen. »Gern geschehen, Kleines.«

»Bislang hat sich noch niemand beschwert, weil ich die heutigen Termine abgesagt habe, oder?«

Erst heute Morgen hatte ihn eine entrüstete junge Kundin deswegen förmlich angeschrien. Er konnte es ihr nicht verübeln: Livvys Spezialität waren Watercolor-Tattoos, und die Leute kamen ihretwegen von weither. Aber das würde er der überforderten Braut jetzt wohl kaum erzählen. »Nope. Wir haben alles im Griff. Gute Besserung.«

Sie suchten ihre Habseligkeiten zusammen, und Eve schlüpfte in ein leichtes Jackett, das zu seinem Glück ihre appetitlichen Arme bedeckte.

Als sie in die Frühlingssonne hinaustraten, kniff Gabe die Augen zusammen. Der letzte Frost war verschwunden, und die Tage wurden langsam länger. Das perfekte Wetter für eine Wanderung, hätte Paul gesagt.

Gabe versuchte den schmerzhaften Stich zu ignorieren, den ihm dieser Gedanke versetzte. Beinahe zwei Jahre nach Paul Kanes Tod hätte ihn das alles eigentlich nicht mehr so dermaßen mitnehmen sollen. Aber die Erinnerungen an seinen alten Freund trafen ihn nach wie vor häufig völlig unvermittelt. Seit Pauls jüngere Geschwister wieder zu Hause waren, hatten sie an Intensität gewonnen. Zwar waren die beiden in ihrem Wesen anders, doch manche ihrer Gesten – wenn Livvy lächelte oder Jackson die Augen verdrehte – ließen Gabe unwillkürlich an Paul denken, sodass er sich einen Augenblick lang zurückziehen musste, um seine Trauer wieder in den Griff zu bekommen.

Eve sah von ihrem Handy auf. »Ich kann kaum glauben, dass wir so kurzfristig Chef Jose engagieren konnten.«

»Ist Jackson sauer, dass er die Torte nicht machen darf?« Jackson hatte eine starke Aversion gegen Menschenmengen, weshalb Gabe derjenige war, der auf der Hochzeitsfeier seinen Platz als Trauzeuge an Livvys Seite einnehmen würde. Jackson, seinerseits ein weltbekannter Koch, würde stattdessen das Essen für die Veranstaltung zubereiten.

»Jackson kümmert sich um sein Café, und seine Mutter und sorgt dafür, dass Sadia sich mit der Hochzeitsplanung nicht völlig verausgabt. Vermutlich ist er also mehr als beschäftigt. Er hat mich selbst gefragt, ob wir die Torte outsourcen könnten. Er will sich lieber auf die Speisefolge des Dinners konzentrieren.« Eve verstaute ihr Mobiltelefon in ihrer Handtasche. »Danke, dass du mitgekommen bist. Fällt schließlich nicht gerade in deinen Zuständigkeitsbereich.«

»Fällt die Auswahl der Torte denn in deinen Zuständigkeitsbereich?« Die Frage war ernst gemeint. Eve Einzelheiten über ihr Leben zu entlocken war, als versuchte man mit einem Plastikkeil eine Inschrift in eine Steintafel zu kratzen: zeitraubend und zugleich ein wenig hypnotisierend.

Obwohl er auf dem Anwesen neben dem der Chandlers aufgewachsen und sogar eng mit Nicholas befreundet gewesen war, so hatte er doch in ihrer Jugend aufgrund des Altersunterschieds wenig Notiz von ihr genommen.

Und dann war es zum Bruch zwischen den beiden reichen Familien gekommen. Obwohl sie in derselben Stadt lebten, hatte er bestenfalls sporadisch mit den Chandlers zu tun gehabt. In den vergangenen Jahren hatte er Eve nur zweimal gesehen – einmal, als sie mit einer Freundin in sein Studio gekommen war, und ein zweites Mal als betrunkene Studentin in einer Bar. Bei beiden Gelegenheiten war sie ihm eher wie ein junges Mädchen vorgekommen. Ein verlorenes, scheues, einigermaßen einsam aussehendes Kind.

Die erwachsene Eve war vor wenigen Wochen auf einem Lunch bei Livvy und Nicholas wieder in sein Leben getreten. Keine Spur mehr von Kindlichkeit. Sie hatte üppige Kurven und ein unschuldiges Gesicht, das durch die vollen Lippen und ihren verhangenen Blick eine gewisse erotische Ausstrahlung besaß. Sie war äußerlich wie innerlich total zugeknöpft: Nicht die Spur eines Gefühls oder einen Quadratzentimeter Haut zeigte sie.

Lust und Begierde hatten ihn sofort übermannt, aber er war ein erwachsener Mann, und so hatte er den Impuls verdammt noch mal unterdrückt. Während der letzten Wochen war sein Verlangen jedoch nur noch größer geworden. Und nun brachte ihn schon der Anblick ihrer nackten Arme beinahe um den Verstand.

Gut, dass ihre Knöchel verdeckt sind. Womöglich würdest du vor Lust auf der Stelle tot umfallen.

»Immerhin liebe ich Kuchen.«

Er blickte auf Eve hinunter. Sie besaß hübsche weibliche Rundungen, war aber erheblich kleiner als er. Kleine Frauen hatte er bislang nie sonderlich attraktiv gefunden, aber jetzt stellte er sich vor, wie perfekt sie in seinen Arm passen würde.

Träume sind Schäume. Er antwortete bewusst leichthin. »Ich liebe Burger. Müssen wir nicht vielleicht noch einen Hochzeitsburger aussuchen?«

Wieder zuckten ihre Lippen. »Bitte setz Livvy nicht auch noch Flausen in den Kopf. Wir haben nur noch eine Woche Zeit und sind echt schon an unserer Kapazitätsgrenze.« Ihre Stimme klang leise und kehlig. Sie strich über seine Nerven und Sinne und verhieß stürmische und lüsterne Freuden.

»Ich gebe mir Mühe.«

An ihrem Auto, einem gepflegten Audi, blieben sie stehen. Er war nichtssagend und ohne jede Spur von Persönlichkeit. Genau wie ihre Kleidung, eine braune Seidenbluse und eine weiße Hose. Sie war wie ein Gemälde, das man in einfaches Holz gerahmt hatte. Doch sie erstrahlte, egal was sie trug.

Du hörst dich an wie ein verliebter Idiot. Für so etwas bist du nun echt zu alt.

War er das? Nein, wahrscheinlich nicht. Aber er war definitiv zu klug dafür.

Eine Strähne mahagonifarbenen Haars wehte ihr in die Augen, und sie schob sie sich aus dem Gesicht. Angesichts ihrer weiblichen Rundungen war ihr Handgelenk überraschend zart. »Na ja, danke jedenfalls, dass du mich heute begleitet hast. Du hast bestimmt alle Hände voll damit zu tun, alles so weit vorzubereiten, dass dein Laden in der nächsten Woche auch ohne dich läuft.«

»Wird schon alles gutgehen. Der Laden lief diesen Monat sowieso nicht so toll. Junie und Rod kommen ein paar Tage auch ohne mich klar.« Angesichts der Größe dieser Stadt war sein Studio nicht gerade eine Goldgrube, aber er war gut und er engagierte ebenso gute Künstler. Durch die sozialen Medien und Mundpropaganda ging es ihnen nicht schlecht. Jedenfalls gut genug, dass er es sich leisten konnte, im Zweifel mal eine Woche Pause einzulegen.

»Okay.« Sie zögerte, etwas schien sie zu beschäftigen. Unwillkürlich trat er einen Schritt näher.

»Unser Treffen morgen im Haus steht noch, oder?« Nachdem ihre erste Location geplatzt war, hatten Nicholas und Livvy beschlossen, ihre Hochzeit auf einem großen Anwesen zu feiern, das einige Stunden entfernt lag. Sie hatten es für die ganze Woche vor dem Fest gemietet und geplant, dass die Hochzeitsgesellschaft – er selbst, Eve, Jackson, Livvys beste Freundin Sadia und deren Sohn Kareem – früher hinfahren sollte, um sich zu entspannen und vor den Festlichkeiten etwas herunterzukommen.

So zumindest der Plan, bevor alle krank geworden waren. Da sie für das Haus bezahlten, hatten Livvy und Nicholas darauf bestanden, dass alle anderen hinfuhren. Sie selbst würden nachkommen, sobald es Livvy besser ging.

»Ja.« Sie lächelte verhalten. »Ein wenig unkonventionell, wenn die Hochzeitsgesellschaft ohne Braut und Bräutigam feiert.«

Wie Livvy bereits gesagt hatte, war die gesamte Hochzeitsparty unkonventionell. »Es ist doch nur für ein paar Tage. Ich freue mich drauf.« Eine Woche mit Eve in Reichweite.

Wenn auch umgeben von anderen und irgendwann auch in Gesellschaft ihres großen Bruders.

Aber das war kein Problem. Er würde sich im Griff haben. Sogar wenn er zufällig einen Blick auf so etwas Skandalöses und Erotisches wie, sagen wir, ihre Knie erhaschen konnte.

»Ich auch«, antwortete sie. »Es gibt auch einen Indoor-Pool.«

Es erforderte ungeheure Willenskraft, sie sich bei diesen Worten nicht im Badeanzug vorzustellen. Er rieb sich den Nacken.

»Brauchst du mich sonst noch für irgendetwas?«

»Ähm, nein, ich bin … Ich sollte langsam los.«

»Heißes Date heute Abend?« Sein Ton war leichthin, aber das Gefühl, das ihn bewog, ihr Informationen zu entlocken, stachelte ihn an.

Mars.

»Nein. Ich muss zur jährlichen Stiftungsgala.« Sie zuckte mit den Schultern. »Die habe ich vor meiner Kündigung schon geplant.«

»Ah.« Eve hatte für die Maria-Chandler-Stiftung gearbeitet, eine von ihrer Mutter gegründete gemeinnützige Organisation. Doch im Herbst hatte sie hingeworfen.

Sie drückte auf den Autoschlüssel, und ihr Wagen gab einen Piepton von sich. »Und du?«

Fragte sie ihn jetzt ihrerseits ebenfalls, ob er ein heißes Date hatte? Beruhige dich. Sie ist nur höflich. »Vielleicht mache ich noch einen Abstecher ins O’Killian’s. Auf ein oder zwei Bier.« Er zwang sich zu einem Lächeln. Vor noch nicht allzu langer Zeit war ihm das Lächeln leichtgefallen, besonders bei einer hübschen Frau. Wenn er heute Abend genug trank, konnte er die fröhliche Fassade vielleicht zurückgewinnen, hinter der er jegliche Emotion verbarg. So gut, dass er kaum selbst daran dachte. »Viel Spaß bei der Gala.«

»Dir auch. Ich meine, nicht bei der Gala, aber …« Sie räusperte sich. »Schönen Abend noch.«

Er langte an ihr vorbei, um ihr die Tür zu öffnen, und seine Hand streifte ihren Arm. Obwohl ihre Haut stoffbedeckt war, durchfuhr ihn die Berührung wie ein Stromstoß. Ruckartig zog er die Hand zurück, unfähig, die Bewegung zu kontrollieren. Gott sei Dank schien sie es nicht zu bemerken, schlüpfte in ihr Auto und winkte ihm zum Abschied zu.

Sie hatte den Parkplatz bereits verlassen, da erst hob er die Hand. Er betrachtete seine Handfläche, die immer noch kribbelte. Weich. Warm. Als hätte das Sonnenlicht in ihrer Haut ihn berührt.

Er stieg in seinen Wagen und holte sein Tablet und den Digital Pen aus seiner Tasche. Einige Tattoo-Artists hatten stets Skizzenbücher dabei, aber er war es leid gewesen, dass überall wild verstreut irgendwelche Zettel herumlagen.

Er war bekannt für seine zarte Linienführung, die auch diesen Entwurf auszeichnete. Sonne und Mond, ineinander verwoben, nahmen unter seinen Fingern Gestalt an, trügerisch schlicht, aber so detailliert und fein, dass es auf schimmernder Haut dem Betrachter geradezu entgegenspringen würde.

Als er aufblickte, wurde ihm klar, dass er nun schon beinahe eine Stunde lang auf dem leeren Parkplatz gesessen hatte, ganz in seine Gedanken versunken. Er schüttelte seine Hand aus und verstaute das Tablet wieder in seiner Tasche.

So war es gut – er musste sein Verlangen nach Eve in andere Tätigkeiten kanalisieren, wie zum Beispiel das Zeichnen. Eine fröhliche Fassade aufrechtzuerhalten würde in der nächsten Woche schwierig genug werden, auch ohne seine Begierde nach einer Frau, die absolut nicht in seiner Liga spielte. Diese Hochzeit durfte nicht von noch mehr Komplikationen überschattet werden, schon gar nicht seinetwegen.

Er startete den Motor. Heute Abend würde er in die Bar gehen. Vielleicht traf er ja irgendein hübsches Mädchen. Eine, die erreichbar für ihn war und sich einfach nur amüsieren wollte.

Bei dem Gedanken, mit jemand anderem ins Bett zu gehen, überkam ihn plötzlicher Widerwille. Er verzog das Gesicht. Okay, das würde er also nicht tun. Aber er konnte seine Begierde in Alkohol ertränken.

Er musste sich nur immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass Eve ein Märchen war. Und im Moment? Hatte er mit der Wirklichkeit alle Hände voll zu tun.

Kapitel 2

EVE

Die Uhr würde gleich Mitternacht schlagen, und Evangeline Chandler hatte viel zu viel an.

Oder besser: Sie hatte das Falsche an. Seide und Satin, Gold und Diamanten waren für die Erbin eines Imperiums durchaus angemessen, aber für ihren nächtlichen Job waren sie ungeeignet.

Mit einer gekonnten Bewegung, die sie jahrelanger Übung im Umgang mit Ballkleidern verdankte, hob Eve beim Gehen diskret den Saum ihres Rocks an. Nicht zu sehr, damit die Leute nicht auf die Idee kämen, das Kleid sei ihr nicht auf den Leib geschneidert worden, aber doch genug, dass sie mehr als nur affektierte Minischritte machen konnte. Es gehörte sich für eine Dame nun mal nicht zu rennen, schon gar nicht in einem Ballsaal.

Je glamouröser und protziger sie daherkam, umso erfolgreicher galt eine Spendengala im Universum der gemeinnützigen Organisationen. Morgen würde dieses Fest als eine der besten Partys im ganzen Landkreis gepriesen werden, und obwohl ihr der Job als Eventmanagerin der Stiftung nie sonderlich Spaß gemacht hatte, spürte sie eine Woge der Befriedigung.

Diese Menschen gehörten derselben sozialen Schicht an wie sie selbst, waren von Geburt an ebenso wohlhabend wie sie, stammten aus einflussreichen Familien und besaßen jede Menge Treuhandfonds. Sie nannten mehr Ferienhäuser ihr Eigen, als sie zählen konnten, und mehr Transportmittel, als sie brauchten.

Niemand hier wusste, wer sie wirklich war, und das war Eve nur recht.

»Eve!«

Sie verzog die Lippen in der Andeutung eines Lächelns und sah der älteren Frau entgegen, die sich ihr schnell näherte. Als Teenager hatte sie eine Zahnspange getragen, was ihre schiefen Vorderzähne weitgehend korrigiert hatte, aber ihre Befangenheit hatte sie dennoch nie ganz abschütteln können. »Bernice.« Sie erwiderte die Luftküsse der Frau. Bernice war im Alter ihrer Eltern, aber ihre Haut war so glatt wie Eves. In zehn oder zwanzig Jahren würde Eve Nachforschungen anstellen müssen, bei welchem Dermatologen Bernice sich mit Botox behandeln ließ, er hatte jedenfalls hervorragende Arbeit geleistet.

Ihr silbern gefärbtes Haar, das von einem teuren Friseur zeugte, schwang nach vorn. »Alles ist ganz entzückend. Du hast hier eine wundervolle Gala auf die Beine gestellt.«

Sie wollte das Kompliment herunterspielen. Die Fähigkeit, Partys zu planen, war nicht unbedingt überlebensnotwendig, aber …

Sei ruhig stolz auf deine Leistung. Außer dir ist das nämlich so schnell keiner.

Livvys Worte spukten Eve nun schon seit Monaten im Kopf herum. Sie straffte die Schultern, als hätte ihre zukünftige Schwägerin ihr einen Knuff gegeben. »Wir haben viele Spenden zusammenbekommen.«

Bernice ergriff ihre Hand und drückte sie. »Deine Mutter wäre stolz auf dich.«

Nach außen hin ließ Eve sich nichts anmerken, sondern neigte nur sachte den Kopf. Bernice war keine boshafte Frau, aber Maria Chandlers Tod war in den letzten zehn Jahren stets ein beliebtes Thema für sensationslüsternen Klatsch und Tratsch gewesen. Schon als Kind hatte Eve gelernt, das Gerede nicht noch durch Gefühlsregungen anzustacheln. Freude, Trauer, Schmerz, Wut. Ein rachsüchtiger Mensch konnte aus all diesen Emotionen starke Waffen schmieden. Besser, man verbarg sie.

Dennoch freute sie sich darüber, dass sich jemand, der ihre Mutter wirklich gekannt hatte, an deren fröhliches, lebhaftes Wesen erinnerte, weshalb ihr »Danke« durchaus aufrichtig gemeint war.

Bernice nestelte an ihrer Perlenkette herum. »Ist dein Bruder hier?«

Na bitte, da war er. Der Grund, warum sie Eve aufgehalten hatte. »Nein, leider hat er es nicht geschafft. Er bedauert es zutiefst.« Die Maria Chandler Foundation und die Chandler Corporation waren voneinander unabhängig, aber der zukünftige CEO und aktuelle Geschäftsführer der Chandler’s-Handelskette hätte eigentlich auf jeden Fall hier sein müssen. Aber auch wenn Livvy nicht krank geworden wäre, wäre Nicholas heute nicht gekommen. In letzter Zeit hatte ihr großer Bruder seine öffentlichen Auftritte deutlich zurückgeschraubt. Er ging nicht gern ohne seine Verlobte irgendwohin, aber wenn eine Kane mit einem Chandler zusammen irgendwo auftauchte, erregte das meistens eine Art von Aufsehen, das weder Livvy noch Nicholas besonders schätzten.

Ihretwegen hoffte Eve, dass sich alle Welt daran gewöhnen möge, sie zusammen zu sehen. Ihr Leben würde ein ziemlicher Spießrutenlauf werden, wenn das Paar noch nicht einmal essen gehen konnte, ohne dass sie jeder darauf ansprach, wie die jahrzehntelange Fehde zwischen ihren Familien endlich ein Ende gefunden hatte.

Bernice wirkte enttäuscht. Normalerweise wäre Eve geblieben und hätte versucht, die Dinge wieder ins Lot zu bringen, aber im Moment brachte sie das einfach nicht fertig. Sie sah auf ihre diamantenbesetzte Uhr. Zwei Minuten vor Mitternacht. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Ja, sie hatte viel zu viel an. Ihre Haut kribbelte. »Es tut mir leid, Bernice, aber ich muss los. Verpflichtungen.«

Die Menschen in diesen Kreisen wussten, was mit »Verpflichtungen« gemeint war. Dieses Wort konnte alles bedeuten: eine Verabredung, ein Meeting, eine andere Party. Die Formulierung wurde selten hinterfragt, und auch jetzt nahm Bernice die Erklärung hin, ohne Fragen zu stellen: »Natürlich, natürlich.« Sie verabschiedeten sich mit erneuten Luftküssen, dann war Eve endlich frei.

Na ja, gewissermaßen.

Immer noch musste sie in aller Ruhe ihren Weg durch die Menge fortsetzen und dabei nicken und lächeln. Als sie sich dem Ausgang näherte, wurde ihr Schritt schneller. Niemand hielt sie auf. Der Flur war leer, und sie beeilte sich noch etwas mehr, rannte fast, als sie die Eingangstüren des Hotels erreichte. Sie schenkte dem Hotelangestellten ein geistesabwesendes Lächeln und reichte ihm das Ticket für ihr Auto.

Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, bis ihr Wagen gebracht wurde, aber in Wirklichkeit waren es wahrscheinlich nicht mehr als ein paar Minuten. Sie schlüpfte in den Audi und fuhr davon, zuckte zusammen, als die Reifen quietschten. Sie fuhr gern schnell, aber nicht, wenn andere das mitbekamen. Selbst ein Knöllchen wegen überhöhter Geschwindigkeit hätte ihren makellosen Ruf getrübt.

Sie fuhr nicht nach Hause, sondern zu der Garage, die sie für ihre Autos gemietet hatte, und stellte die behäbige Limousine in einer der Parklücken ab. Das taubenblaue Cabriolet aus den Sechzigern neben ihr war abgedeckt, damit seine makellose Lackierung keinen Schaden nahm. Den großen Range Rover daneben nahm sie, wenn sie mit Freunden unterwegs war.

Der fünf Jahre alte Camry zu ihrer Linken hingegen wirkte hier ein wenig deplatziert. Er war gut gepflegt, aber keineswegs bemerkenswert. Sie hatte ihn im Internet erstanden und bar bezahlt. Der Besitzer war begeistert gewesen, als sie ihn nur flüchtig inspiziert und wegen des Preises nicht gefeilscht hatte. Auch dem Kapuzenmantel und der Sonnenbrille, hinter der sie sich verborgen hatte, hatte er keine weitere Beachtung geschenkt. Zwar hatte sie den Wagen im benachbarten Landkreis gekauft, aber die Chandlers kannte man im Nordosten eigentlich überall.

Eve öffnete die Reisetasche auf dem Rücksitz. Im Licht der Deckenleuchte kämpfte sie sich aus ihrem Abendkleid, den hochhackigen Schuhen und der Shapewear, schlüpfte in lässige Jeans, ein bequemes weißes Hemd, das sie ihrem Bruder aus dem Schrank stibitzt hatte, und einen Hoodie. Sie setzte eine Baseballkappe auf, dann zog sie die Kapuze darüber, um ihr Gesicht und die komplizierte Hochsteckfrisur zu verbergen. Sie hatte keine Zeit, die ganzen Nadeln herauszuziehen, um sie zu lösen.

Sie warf einen prüfenden Blick auf ihr Spiegelbild im Autofenster und zog die Cap noch tiefer ins Gesicht. Eine alberne Verkleidung, aber bislang hatte sie funktioniert.

Stirnrunzelnd sah sie auf ihre Armbanduhr und verdrehte kurz die Augen, ehe sie den Verschluss ihrer Rolex aufschnappen ließ und sie in die Reisetasche warf. Anschließend stopfte Eve ihr schickes Kleid und die Schuhe ebenfalls in die Tasche und stellte sie in den Kofferraum. Sie stieg in den Camry und setzte rückwärts aus der Parklücke.

Sie spürte eine Aufregung in sich wie noch nie zuvor, und sie wusste nicht so genau, ob dies an ihrer superschnellen Geheimagenten-Verwandlungsaktion lag, ihrem Undercover-Job oder dem Mann, den sie bald treffen würde.

Natürlich liegt es an dem Mann.

Zweimal am selben Tag Gabe zu sehen? Das war wie Weihnachten.

Sie raste durch die Straßen, fuhr schneller, als sie es mit einem ihrer anderen Autos je gewagt hätte, aber dennoch nie mehr als knapp über der Geschwindigkeitsbegrenzung. Sie war vielleicht keine richtige Berühmtheit, aber dennoch musste sie damit rechnen, dass jeder Cop, der sie an den Straßenrand winkte, in ihr die Erbin des Chandler-Vermögens erkennen würde, was wiederum viel zu viele Fragen nach sich zöge. An Abenden wie diesem gab sie sich schließlich alle Mühe, nicht Evangeline Chandler zu sein.

Sie sauste aus ihrer Upperclass-Gegend dem schäbigeren Viertel der Stadt entgegen. Als sie in die Gasse hinter dem O’Killian’s einbog, musste sie ein paar Collegestudenten und ein paar Betrunkenen ausweichen. Schließlich konnte sie nicht vor der Bar parken. Das wäre viel zu offensichtlich gewesen. Aber dennoch musste sie in der Nähe sein, damit sie die Erste war, die benachrichtigt wurde, wenn Gabe sich einen Wagen rief.

Sie öffnete die Ryde-App auf ihrem Handy, checkte ein und klemmte das Gerät in seine Halterung. Dann lehnte sie sich zurück und wartete.

Der Job als Fahrerin war nicht unbedingt die berufliche Weiterentwicklung, die man von der Direktorin einer Non-Profit-Organisation erwartet hätte. Sie hatte ihre Arbeit bei der Stiftung in einem Anfall von Unabhängigkeitsstreben aufgegeben, hatte endlich die Flügel ausbreiten wollen, war aber dann auf ein Riesenproblem gestoßen.

Ihren Namen. Einfach jeder war bereit, sie einzustellen. Egal wie kompetent oder inkompetent sie für den Job sein mochte.

Zugegeben, das war ein Luxusproblem, aber dennoch ein Problem. Nach ihrer Kündigung hatte sie sich zwei Monate lang treiben lassen und war schon halb versucht gewesen, die wohlmeinenden Jobangebote ihres Bruders anzunehmen, obwohl sie sich eher mit einer Banane ein Auge ausgestochen hätte, als für das Familienunternehmen zu arbeiten.

Dann, während der Feiertage, als sie sich angesichts der Ziellosigkeit in ihrem Leben ganz besonders verloren und deprimiert gefühlt hatte, hatte ihre Mitbewohnerin sie gedrängt, sich zumindest mal wieder in die Welt hinauszuwagen.

»Arbeite doch einfach irgendwo ehrenamtlich«, hatte Madison gesagt.

Eve hatte an ihrem Pyjama herumgezupft. Es war schon Mittag, aber allein die Hose anzuziehen, hatte sie bereits überfordert. »Die Leute werden mich erkennen.« Sie war eine Chandler. Die jüngste, das Mädchen, das Baby. Das Anhängsel. Die Nutzlose.

Die Verzweiflung hatte sie niedergedrückt, auch wenn sie sich nichts hatte anmerken lassen, denn darauf achtete sie stets, selbst bei ihrer besten Freundin.

Vor allem wollte sie sich vor ihrem Namen verstecken. Jenem Namen, den sie insgeheim kaum glaubte, verdient zu haben.

Madison stupste sie an. »Dann sei nicht du selbst.«

Sie schnaubte. »Wie soll ich das denn anstellen?«

»Keine Ahnung. Aber zum Teufel, Eve. Du musst hier mal raus. Du bläst ja nur noch Trübsal. Werde Kellnerin. Oder von mir aus Ryde-Fahrerin. Eine Arbeit, bei der dich niemand allzu genau ansieht.«

Zuerst war ihr die Idee absurd vorgekommen, aber an diesem Abend hatte sie ihren Laptop aufgeklappt und hatte sich informiert, was notwendig war, um als Fahrerin für die populärste Mitfahrzentrale zu arbeiten. Es war beängstigend einfach, wie sie verblüfft festgestellt hatte.

Und was noch verblüffender war: Es gefiel ihr. Es war aufregend gewesen, Leute durch die Gegend zu fahren und sich mit ihnen zu unterhalten, ohne dass sie wussten, wer sie war. Manchmal schwieg sie auch einfach nur und lauschte ihren Gesprächen, am Handy oder miteinander. Streitende Paare oder Leute auf dem Weg zu ihrer Affäre. Mütter, die sich über ihre Söhne aufregten. Senioren, die darauf brannten, überhaupt mal mit jemandem zu reden.

Ihre Mutter hatte sie früher gern als Spionin bezeichnet, und genau das war sie. Sie liebte es, sich unsichtbar zu machen und Leute zu belauschen. Informationen zu sammeln, egal, ob sie sie jemals brauchte oder nicht.

Irgendwann hatte sich dieses Mittel zum Zweck, aus dem Haus zu kommen und sich zu beschäftigen, in etwas anderes verwandelt. Sie hatte sich intensiver mit den Fahrgästen unterhalten, hatte sich ihre Kümmernisse gemerkt. Sie hatte das Geld, das sie bei Ryde verdiente, zusammengerechnet, Steuern und Ausgaben kalkuliert. Abend für Abend hatte sie nach ihrer Heimkehr recherchiert, um herauszufinden, an welcher Stelle sie ansetzen müsste, um etwas verändern zu können.

Offensichtlich lag es nicht in ihrer Macht, Ryde zu verändern. Aber sie konnte sämtliche Erfahrungen dort als Marktforschung verbuchen. Und möglicherweise ein Konkurrenzunternehmen gründen.

Eve stammte aus einer Familie von Unternehmern und Geschäftsleuten und hatte immer angenommen, dass ihr Desinteresse am Familien-Business und der Stiftung sie zur Exzentrikerin machte. Aber befreit von der Last ihres Namens hatte sie festgestellt, dass auch in ihr eine Chandler steckte.

Eve überzeugte sich davon, dass ihre Türen abgeschlossen waren, und rieb die Hände aneinander. Sie ließ die App nicht aus den Augen, als könnte sie allein durch Willenskraft das verheißungsvolle »Ping« herbeizaubern. Kaum hatte sie begonnen, Businesspläne zu schmieden, hatte sie auch aufgehört, Aufträge zu übernehmen, aber Gabe stellte die Ausnahme dar. Gabe war immer die Ausnahme.

Vor ein paar Monaten, an einem kalten und stürmischen Februarabend, war sie in dieser Gegend herumgefahren, als die App einen Signalton von sich gab. Sie hatte einen Blick auf seinen Namen und sein Foto geworfen und hätte den Auftrag beinahe abgelehnt.

In ihrer Kindheit war Gabe ihr wie ein überlebensgroßer Gott vorgekommen. Mit der Pubertät regte sich eine erste Verliebtheit in ihr, aber dann war die Tragödie geschehen, und er hatte sie im Grunde genauso verlassen wie alle anderen. Trotzdem hatte sie ihn im Laufe der Jahre ein paar Mal gesehen, und an einem Abend in einer Bar hatte sie unter dem ungewohnten Einfluss von Alkohol sogar den Mut aufgebracht, ihn anzusprechen. Er hatte sie zurückgewiesen, was natürlich geschmerzt hatte.

Zu ihrer eigenen Überraschung hatte sie sich dann aber doch auf die Fahrt eingelassen. Er war aus genau jener bewussten Bar hinausgetaumelt und hatte sich auf ihren Rücksitz fallen lassen. Sie hatte die Cap tiefer ins Gesicht gezogen, um ihre Züge zu verbergen, und tatsächlich hatte er sie nicht erkannt.

Die meisten angetrunkenen Kerle, die sie so spät noch aufgabelte, waren es zufrieden, auf ihrem Handy herumzuspielen oder vor sich hin zu dösen. Er aber hatte seinen hochgewachsenen Körper auf ihren Rücksitz gefaltet und mit seiner leisen, tiefen Stimme: »’n Abend, Anne«, gesagt.

So hieß sie nicht, aber das spielte keine Rolle. Schnell war sie wieder in seinen Bann geraten. Ihre Unterhaltung war so banal gewesen, dass sie sich gar nicht mehr daran erinnerte. Allzu sehr hatte sie sich darauf konzentrieren müssen, ihren Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen und ihre Stimme zu verstellen. Aber die Themen hatten auch gar keine Rolle gespielt.

Viel bedeutsamer war das Gefühl gewesen, das er ihr vermittelte. Sie hatte sich besonders gefühlt. Erregt. Zum ersten Mal seit Langem von einem anderen Menschen angezogen. Das war das Wichtige gewesen.

Damals hatte sie nicht geahnt, dass sie beide irgendwann einmal Teil einer Hochzeitsgesellschaft sein würden, sonst hätte sie diesen Unsinn mit dem Doppelleben sicher noch mal überdacht.

Lügnerin. Du hättest niemals auf mehr Zeit in seiner Gegenwart verzichtet, egal mit welchem Namen er dich anspricht.

Und jetzt saß sie hier. Wartete auf einen Mann, der sie tagsüber als Eve kannte, die organisierte und hochgelobte Treuhandfond-Prinzessin-und-Eventmanagerin, und nachts als Anne, seine zuverlässige Ryde-Fahrerin.

Und er hatte keine Ahnung, dass beide Frauen in ihn verknallt waren. Mist, verdammter.

Ihre App ertönte, und sie zuckte zusammen. Beinahe hätte sie das Handy fallen lassen, als sie danach griff. Sie war kein religiöser Mensch, aber sie schickte ein kleines Stoßgebet zum Himmel, als sie die Anfrage checkte. Genauso gut konnte es jetzt auch jemand anders sein. Vielleicht war er heute Abend ja doch nicht ausgegangen. Vielleicht war er in eine ganz andere Bar gegangen statt in diese Spelunke, in der er sonst gern abhing.

Sie klickte auf den Fahrgast.

Ja!

Gabe. Abholstation: die Bar, hinter der sie momentan parkte. User-Rating 5,0, was ihr perfektionistisches Herz höherschlagen ließ. Ihre eigene Bewertung lag ebenfalls bei 5,0.

Sie nahm die Anfrage an und wollte sich gerade das Haar glatt streichen, als sie bemerkte, dass es unter ihrer Cap und der Kapuze verborgen war. Es war egal, wie sie aussah. Sie achtete peinlich genau darauf, dass er nichts davon sah. In letzter Zeit war er ohnehin immer noch betrunkener gewesen als sonst, wenn sie ihn abholte, was die Wahrscheinlichkeit, dass er sie erkannte, weiter verringerte.

Sie lenkte den Wagen aus der Gasse hinaus und hielt vor dem Eingang der Bar. Eine riesige Gestalt taumelte zur Tür hinaus.

Es war weniger als sieben Stunden her, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, aber die Zeitspanne spielte keine Rolle. Auch jetzt stockte ihr der Atem.

Gabe Hunter war sogar in betrunkenem Zustand eine Augenweide. Er war groß und muskulös, und auf seinem breiten Gesicht lag meist ein Lächeln. Er war jetzt fünfunddreißig, beinahe zwölf Jahre älter als sie, und um seinen Mund hatten sich tiefe Linien eingegraben, obwohl sie vermutete, dass dies eher Lach- als Sorgenfalten waren. Das Licht vom Neonschild über der Tür fing sich rot in seinem etwas zu langen, kastanienbraunen Haar, und sie wusste, dass seine grünen Augen klar dreinblicken und funkeln würden, sobald er näher kam.

Er trug enge Jeans, die seine trainierten Schenkel umspannten. Sein T-Shirt schmiegte sich an seinen flachen Bauch. Was hätte sie darum gegeben, dieses Shirt hochzuschieben und seinen Waschbrettbauch zu bewundern. Sie hatte durchaus schon einmal einen Blick darauf geworfen, aber sie versuchte, nicht zu oft an dieses überaus peinliche Erlebnis zurückzudenken.

Als er nah genug kam, um durchs Fenster blicken zu können, wandte sie sich rasch um und sah zur Windschutzscheibe hinaus. Mittlerweile kannte er ihren Wagen. Ihre Hintertür öffnete sich, und er schlüpfte hinein, sodass das Auto unter seinem Gewicht ein wenig schwankte.

Er war so stark, dass er sie jederzeit hätte überwältigen können, und sie hätte nichts dagegen gehabt, überwältigt zu werden. Sie presste die Schenkel zusammen.

»Anne«, erklang seine fröhliche Stimme. Tief und ein wenig schwerfällig stolperte seine Zunge über ihr Alias. »Schön, dich wieder hier zu sehen.«

»Guten Abend, Gabe.« Im Geiste versetzte sie sich bei dieser frostigen Begrüßung selbst einen Tritt. Evangeline hätte so reagiert, nicht Anne. Sie räusperte sich und fuhr los. »Hey.« Sie kam sich ein wenig lächerlich vor, als sie die Stimme verstellte, aber da er vor weniger als sieben Stunden noch mit Evangeline gesprochen hatte, wollte sie kein Risiko eingehen.

»Witzig, dass immer du es bist, die mich nach Hause fährt.«

So witzig nun auch wieder nicht. Sie hatte schon an ihrem zweiten Arbeitstag herausgefunden, dass der Algorithmus der App Fahrern einzig und allein aufgrund der Distanz Fahrgäste zuwies. Wenn sie in der Nähe seiner Stammkneipe herumlungerte, standen die Chancen gut, dass seine Anfrage an sie weitergeleitet wurde.

Wenn sie nicht eine so absolut harmlose Stalkerin gewesen wäre, hätte sie sich Sorgen gemacht, wie leicht es war, das System zu überlisten. Das würde sie als Allererstes verändern, wenn sie in dieses Metier einstieg. Schließlich liefen da draußen jede Menge Irre herum! Offensichtlich arbeiteten für Ryde nicht genug paranoide Frauen. »Ja. Echt witzig.«

»Lieblingsfilm.«

Ihre Schultern entspannten sich. Damit hatte er an ihrem ersten Abend begonnen, und sie liebte es. Die Menschen glaubten, alles über sie zu wissen. Niemand nahm sich je die Zeit, ihr ganz normale Fragen zu stellen. Trotz ihrer Maskerade antwortete sie stets aufrichtig. Schließlich würde er bei einem Torten-Tasting wohl kaum plötzlich innehalten, um Eve nach ihrem Lieblingsfilm zu fragen. »Meine Liedermeine Träume«.

»Klassiker. Aber findest du es nicht auch seltsam, dass Maria einen Witwer mit zehn Kinder heiraten musste, um ihre Probleme zu lösen?«

Sie schluckte ihr Lächeln herunter. »Ich glaube, es waren nur sieben Kinder.«

»Immer noch ziemlich viele.«

»Ist vielleicht tatsächlich nicht die feministischste Botschaft, stimmt. Aber ich habe den Film jedes Jahr mit meiner Mutter geschaut.« Ihre Mutter hatte den gleichen Namen wie die Hauptdarstellerin gehabt, was die junge Evangeline ohne Ende amüsiert hatte.

Er machte es sich im Sitz bequemer, und sein Knie stieß an ihren Ellbogen auf der Armlehne. Sie zuckte nicht zurück, ebenso wenig wie er. »Fragst du mich denn jetzt auch nach meinem Lieblingsfilm?«

Sie schob ihren Ellbogen eine Winzigkeit nach hinten, fand die Berührung erregend. »Ich weiß, was dein Lieblingsfilm ist.«

»Ach ja? Welcher?«

»Stirb langsam.«

Er lachte schallend. »Ich liebe Stirb langsam tatsächlich sehr, aber es ist nicht mein Lieblingsfilm.«

»Was dann?«

»Star Wars.«

»Nein.«

»Warum so überrascht?«

Sie warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. »Du kommst mir gar nicht vor wie ein Nerd.«

Er verschränkte seine kräftigen Arme über der Brust. »Uns gibt es in allen Schattierungen.«

»Sieht ganz so aus.«

Er gähnte, wobei er seine Zähne zeigte. »Ich lasse mich gern von dir fahren, Anne.«

Ihr Herz pochte schneller, und vergeblich ermahnte sie es, ruhig zu bleiben. Zweimal schon hatte sie ihn abgeholt und war Zeuge geworden, wie irgendwelche Frauen an ihm hingen. Er war ein Frauenheld. Flirten war für ihn genauso normal wie Atmen.

Sie fuhren durch ein Schlagloch, und er stöhnte auf.

»Sorry«, murmelte sie.

»Nein, mir tut es leid. Anscheinend habe ich heute Abend doch etwas zu viel Alkohol erwischt.«

Sie konnte es ihm nachempfinden. Es war schon legendär, wie wenig Alkohol sie vertrug, obwohl er wahrscheinlich deutlich mehr trank als das eine Glas Wein, das sie sich üblicherweise zugestand.

»Keine Sorge. Ich mache keine Schweinerei in deinem Auto, versprochen.«

»Ich mache mir keine Sorgen.«

Ihr Blick huschte zwischen ihm im Rückspiegel und der Straße vor ihr hin und her. Er ließ den Kopf kreisen, und sie räusperte sich. »Harte Woche?«

Er lachte humorlos. »Gab schon bessere.«

Da er mindestens zwei Tage der vergangenen Woche mit ihr verbracht hatte, war sie ein wenig beleidigt. Aber sie achtete weiterhin darauf, eine Oktave tiefer zu sprechen als sonst. »Willst du drüber reden?«

Einen Augenblick lang schwieg er. »Hast du dir jemals etwas gewünscht, was du nicht haben konntest?«

Ihr Herz pochte wie wild. Es war, als hätte er in ihre Seele geblickt und in einem Satz ihr ganzes Leben zusammengefasst.

Sie besaß einen Haufen Geld, aber die Dinge, die sie sich wünschte, konnte man nicht kaufen. Manchmal hatte sie das Gefühl, vor einem Vier-Gänge-Menü zu sitzen und trotzdem zu verhungern. Da sie sich Vier-Gänge-Menüs jedoch mühelos leisten konnte, beklagte sie sich niemals. Sie hatte nicht die Probleme, mit denen viele andere Menschen sich herumschlugen. Aber ja. Es gab viele Dinge, die sie sich wünschte, nach denen sie sich sogar sehnte, die sie aber nicht haben konnte. »Ja«, flüsterte sie und fügte dann lauter hinzu: »Ja, das kenne ich.«

»Wahrscheinlich kennen wir das alle.«

Im Verlauf des letzten Monats hatte sie zusammen mit diesem Mann Stühle und Torte ausgesucht und über Blumenarrangements diskutiert. Niemals hätte Eve bei diesen Treffen am helllichten Tag aufdringlich nachgebohrt. Damen waren nun mal nicht aufdringlich.

Aber jetzt war es dunkel. Sie war nicht Eve. Sie konnte fragen. »Was wünschst du dir denn?«

Er schwieg.

Sie überholte ein anderes Auto, widerstand aber dem Impuls, aufs Gas zu drücken. Je schneller sie fuhr, umso schneller war er zu Hause. »Das, was du dir wünschst … Was hält dich davon ab? Du selbst oder jemand anders?«

»Beides, schätze ich.«

Sie überlegte, was ihre Therapeutin oder ihre Freundin Madison jetzt sagen würden. »Das eigene Verhalten kann man ändern. Aber nicht das eines anderen Menschen.«

»Hm.«

Sie warf einen weiteren Blick in den Rückspiegel. Er hatte die Augen geschlossen und den Kopf zurückgelehnt. Sie vermutete, dass er eingeschlafen war, aber dann sprach er doch weiter. »Morgen mache ich eine Reise.«

Unwillkürlich umklammerte sie das Lenkrad. »Wie schön.« Ihr Herz setzte einen Schlag aus und pochte dann umso heftiger, denn seine Bemerkung führte ihr vor Augen, wie gefährlich diese Ryde-Aktion gerade war. In einer Woche würde sie diesem Mann an einem Altar gegenüberstehen. Zum Teufel, ab morgen würde sie die ganze Woche mit ihm verbringen, und zwar in ein und demselben Haus, das vier Stunden von Rockville entfernt lag und in dem sie ihm nicht aus dem Weg gehen konnte. Das Anwesen, das Livvy und Nicholas gemietet hatten, war nicht weit weg von dem Ort, wo sie alle in ihrer Jugend ihre Ferien verbracht hatten. Sie wusste genau, wie abgelegen es lag.

Wenn Gabe in ihr seine freundliche Ryde-Fahrerin aus der Nachbarschaft erkannte …

»Vielleicht finde ich ja dort, wonach ich suche.«

Wenn das, wonach du suchst, eine junge Frau ist, die du wie eine kleine Schwester behandelst und die schon seit einer Ewigkeit total verknallt in dich ist, dann findest du es genau hier und jetzt.

Aber das war töricht, denn offensichtlich suchte er nach nichts von all dem. »Machst du Urlaub, oder ist es eine Dienstreise?« Sie musste wirklich den Mund halten. Er konnte jeden Moment merken, wer sie war.

»Ein bisschen von beidem. Eine Hochzeit.«

Sie schluckte. »Aufregend.«

»Ja. Sie ist … Die Braut, sie ist so was wie meine Schwester.«

Evangeline wurde unwillkürlich wärmer ums Herz. Livvy und Gabe waren einander deutlich inniger zugetan als die meisten Arbeitgeber und Angestellten, aber so war das eben, wenn man zusammen aufwuchs. »Wird sicher romantisch.« Sie selbst hatte in den letzten drei Wochen geschuftet wie eine Verrückte, um den Tag für ihren Bruder und Livvy so besonders und romantisch wie nur irgend möglich zu machen.

Es war nicht leicht gewesen, zumal angesichts dieses Fluchs … beziehungsweise Nicht-Fluchs, der ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen versuchte.

»Bist du etwa eine Romantikerin?«

Sie wünschte, sie hätte es abstreiten können oder noch besser: ehrlich verneinen können. Doch sie liebte Romantik. Sie träumte von einem Mann, der sie in seinen Armen herumwirbelte, ihr einen Kuss auf die Stirn gab und in dessen Augen sie lesen konnte, wie sehr er sie anbetete.

Das konnte sie jetzt natürlich nicht sagen, denn starke Frauen outeten sich nicht als naive Romantikerinnen, nicht wahr? Und trotz ihres liebeshungrigen Herzens wünschte sie sich vor allem das: stark zu sein. Also zuckte sie nur mit den Schultern. »Ich glaube schon. Und du? Hast du nichts für Romantik übrig?« Er flirtete gern, das stand fest.

»Nein«, antwortete er nur kurz angebunden.

Oh. Sie sog ihre Lippen ein und presste sie aufeinander, um sich selbst davon abzuhalten, ihn angesichts dieser knappen Verneinung mit einer Million Fragen zu bombardieren.

Er verlagerte sein Gewicht, und wieder berührte sein Knie ihren Ellbogen. »Kannst du mich wecken, wenn wir zu Hause sind?«

Sein Zuhause, nicht ihr gemeinsames. »Klar.«

»Ich mag die Art, wie du manchmal redest«, murmelte er schläfrig, ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, dass ihr Herz bei diesem Geständnis in viele kleine Konfettischnipsel explodierte.

Er mochte nicht sie. Er mochte bestimmte Dinge an ihr, und das war nicht das Gleiche. Und noch nicht einmal das stimmte. Er konnte gar nichts an ihr mögen, denn er kannte sie ja nicht einmal.

Die restliche Fahrt über schwieg sie, fand Trost in seinen tiefen und gleichmäßigen Atemzügen.

Irgendwie ein bisschen pervers.

Das war es wohl. Seit Jahren war sie von Gabe wie besessen, insbesondere seit sie vor geraumer Zeit zufällig aufeinander getroffen waren. Aber sie hatte ihre Obsession zumindest darauf begrenzt, ihn gelegentlich in den sozialen Medien zu stalken und seine Website zu durchkämmen – Aktivitäten, die nicht ganz so krank waren wie das hier.

Vielleicht nur ein anderes Level von krank.

Auf jeden Fall war die bewusste Manipulation einer App, um ihn kennenzulernen, ein ganz neues Level von Besessenheit.

Aber da er schlief und weil sie nun mal ein bisschen pervers war, wählte sie den längeren Weg zu seinem Haus, der durch sich windende Straßen und eine ländliche Gegend führte, wo das Grün in den Gärten so langsam aus dem gefrorenen Erdreich hervorspähte. Viel zu schnell kam sie vor seinem ordentlichen, kleinen Backsteinhaus an.

Sie wandte sich gerade so weit zu ihm um, dass er nur ihr Profil sehen konnte. Nicht, dass es eine Rolle spielte. Er schlief tief und fest. Sie räusperte sich. »Gabe?« Aah, sie liebte die Art, wie sein Name auf ihren Lippen klang.

Er regte sich nicht. Im Licht, das von draußen ins Auto fiel, konnte sie die langen Wimpern erkennen, die auf seinen hohen Wangenknochen ruhten.

Das ist die Gelegenheit, um ihn zu kidnappen, flüsterte das Teufelchen auf ihrer Schulter. Schaffe ihn in dein Versteck und mach mit ihm, was du willst.

Wirklich total pervers. »Gabe?«, sagte sie ein wenig lauter.

Als Antwort kam nur ein Schnarchen.

Sie konnte ihn nicht die ganze Nacht in ihrem Auto liegen lassen. Ganz sicher würde er sie morgens erkennen.

»Gabe!«

Er schniefte und ließ dann den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite fallen. Sein Shirt spannte an den Knöpfen und gab den Blick auf ein winziges Stück weißen, gerippten Stoffes frei.

Viel zu lange starrte sie das kleine Baumwollstück an. Ein Unterhemd sollte eigentlich nicht sexy sein.

Außer … sie stellte sich vor, dass es ein Tanktop war. Wie er das Hemd auszog und dann nur noch dieses weiße, gerippte Tank anhatte, vielleicht sogar ein bisschen verschwitzt war, während ein aparter Schmutzstreifen auf seinem Gesicht prangte, als er sich an ihrem Auto zu schaffen machte. Wie sich seine Muskeln wölbten, als er sich vorbeugte, um nach einem Schraubenschlüssel zu greifen …

Du weißt doch nicht mal, ob er gern an Autos herumschraubt.

Sie schüttelte den Kopf und zog die Kappe noch tiefer ins Gesicht, um ihre Züge so gut es ging zu verbergen. Dann stieg sie aus und trottete um den Wagen herum, um seine Tür zu öffnen.

Ihre Hand schwebte über seiner Schulter. Es war eine Sache, ihn mehr oder weniger zu stalken. Eine andere war es, ihn tatsächlich zu berühren.

Nein, eigentlich ist alles, was ich tue, schrecklich.

Mit einem Finger tippte sie ihn kurz an der Schulter an.

»Gabe?«

Nichts. Sie wagte es, ihn an der Schulter zu packen, und versuchte auszublenden, wie heiß und hart sie sich anfühlte. »Gabe? Wir sind daheim.« Sie schüttelte ihn, und sein Kopf rollte nach hinten.

Blinzelnd öffnete er die Augen und sah zu ihr empor.

»Anne«, lallte er. »Was hast du nur für hübsche Lippen.«

Kapitel 3

GABE

Normalerweise war Gabe ziemlich gut darin, Frauen genau das zu erzählen, was sie hören wollten. Vermutlich, weil er seine Worte gewöhnlich ernst meinte. Aber jetzt wusste er sofort, dass er das Falsche gesagt hatte.