Wenn der Schatten kommt - Carmen Mayer - E-Book

Wenn der Schatten kommt E-Book

Carmen Mayer

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Beschreibung

KONRAD BERGMANN UND TESSA PLANK ERMITTELN "Ich habe keinen von ihnen vergessen. Ich mache mich auf die Suche nach ihnen. Sie werden für ihr Tun büßen. Einer nach dem anderen." Eichstätt hat eine neue Kriminalpolizei-Inspektion. Schon nach wenigen Tagen haben Hauptkommissar Konrad Bergmann und seine Kollegin Tessa Plank einen ersten Mordfall. Eine alte Dame liegt tot in der Altmühl. Alles deutet zunächst auf einen natürlichen Tod hin. Aber: Wer ist diese Frau und wie kommt ihre Leiche in die Altmühl? Erste Spuren führen zu Birgit Scherer, deren Ohrring am Tatort gefunden wurde. Dann verschwindet plötzlich Tessa Plank und zwei weitere Senioren werden ebenfalls tot aus der Altmühl geborgen. Während der Polizeiapparat auf Hochtouren läuft, um die verschwundene Kollegin zu finden und die Morde aufzuklären, findet Konrad Bergmann ein Tagebuch mit verstörendem Inhalt … Geht es bei den Morden um ein dunkles, bedrohliches Geheimnis und um Angst und Verständnislosigkeit, die sich schließlich in Wut und Rachegedanken umkehren? Geht es um den Schatten eines Mörders, der nicht verblassen will und zu immer neuen Opfern führt? Ist Birgit Scherer die Frau, die sie vorgibt zu sein? Und was, wenn am Ende doch alles ganz anders war, als es scheint? Konrad Bergmann und seine Kollegen ermitteln in einem Fall, bei dem es um mehr geht als um Leben und Tod.

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Carmen Mayer

Wenn der Schatten kommt

Kriminalroman

 

Über das Buch

Konrad Bergmann und Tessa Plank ermitteln

Ich habe keinen von ihnen vergessen. Ich mache mich auf die Suche nach ihnen. Sie werden für ihr Tun büßen. Einer nach dem anderen.

Eichstätt hat eine neue Kriminalpolizei-Inspektion. Schon nach wenigen Tagen haben Hauptkommissar Konrad Bergmann und seine Kollegin Tessa Plank einen ersten Mordfall. Eine alte Dame liegt tot in der Altmühl. Alles deutet zunächst auf einen natürlichen Tod hin. Aber: Wer ist diese Frau und wie kommt ihre Leiche in die Altmühl?

Erste Spuren führen zu Birgit Scherer, deren Ohrring am Tatort gefunden wurde. Dann verschwindet plötzlich Tessa Plank und zwei weitere Senioren werden ebenfalls tot aus der Altmühl geborgen. Während der Polizeiapparat auf Hochtouren läuft, um die verschwundene Kollegin zu finden und die Morde aufzuklären, findet Konrad Bergmann ein Tagebuch mit verstörendem Inhalt …

Geht es um den Schatten eines Mörders, der nicht verblassen will und der zu immer neuen Opfern führt? Konrad Bergmann und seine Kollegen ermitteln in einem Fall, bei dem es um mehr geht als um Leben und Tod.

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

 

Copyright © 2022 by Maximum Verlags GmbH

Hauptstraße 33

27299 Langwedel

www.maximum-verlag.de

 

1. Auflage 2022

 

Lektorat: Dr. Rainer Schöttle

Korrektorat: Herwig Frenzel

Satz/Layout: Alin Mattfeldt

Covergestaltung: Alin Mattfeldt

E-Book: Mirjam Hecht

 

Druck: Booksfactory

Made in Germany

ISBN: 978-3-948346-43-0

Inhalt

Über das Buch

Impressum

Widmung

Tagebuch der Irene Ott

1

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Tagebuch der Irene Ott

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Tagebuch der Irene Ott

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Tagebuch der Irene Ott

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Tagebuch der Irene Ott

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Tagebuch der Irene Ott

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Tagebuch der Irene Ott

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Nachwort

Die Autorin Carmen Mayer

Weitere Bücher von Carmen Mayer

Die Trilogie um den Dreißigjährigen Krieg

Der zweite Teil

Das Ende

MAXIMUM Kriminalromane

MAXIMUM Spionage-Krimis

Widmung

Für meine Kolleginnen und Kollegen vom KID.

Tagebuch der Irene Ott

Der Raum ist mir plötzlich so fremd, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Dabei kenne ich ihn, seit ich denken kann. Es ist mein eigenes kleines Reich, ein winziges Kämmerchen direkt neben der Küche, in dem außer einem Bett, einem Stuhl und einem zweitürigen Schrank nichts Platz hat. Es war wohl einmal als Abstellraum gedacht, deshalb kann man es nicht heizen. Die Mutter lässt an kalten Abenden die Tür immer ein wenig offen stehen, damit warme Luft aus der Küche hineinziehen kann.

Jetzt ist die Tür zu, und es ist schrecklich kalt.

Von der Küche aus kann man auch in das Schlafzimmer der Eltern gehen, das neben meinem Zimmer liegt. Außerdem gibt es ein Wohnzimmer, das man vom Flur aus betreten kann und in dem ein Kohleofen steht. Das Wohnzimmer wird allerdings nur genutzt, wenn Besuch kommt. An Weihnachten oder an Mutters und meinem Geburtstag. Eine Vitrine steht darin, ein altes, abgenutztes Plüschsofa, ein Tisch in der Mitte des Raums unter einer Hängelampe, vier Stühle drum herum, das ist alles.

Unser Geld reicht gerade für die Miete und das, was wir täglich zum Leben brauchen, sagt die Mutter immer, wenn ich mal was extra haben möchte. Möbel stehen, wenn überhaupt, ganz unten auf der Liste.

Die kleine Wohnung liegt im zweiten Stock eines Dreifamilienhauses, in dem außer mir und der Mutter ein Ehepaar im Erdgeschoss und eine alleinstehende Frau im Dachgeschoss wohnen. Zu denen haben wir aber kaum Kontakt, die Mutter mag das nicht. Die im Erdgeschoss seien unverbesserliche Nazis, sagt sie, und das muss als Erklärung reichen. Dabei weiß ich überhaupt nicht, was Nazis sind. Und die da oben, sagt sie, das sei eine Schlampe, wie man selten eine sieht. Dauernd habe sie Männer da, und die Geräusche, die man von oben hört, seien eindeutig.

Ich mache mir meinen eigenen Reim auf alles. Verstehen kann ich es nicht. Dabei finde ich die Frau aus dem Erdgeschoss richtig nett, weil sie ab und zu ein freundliches Wort für mich findet, mir über den Kopf streicht und ‚Kleines‘ zu mir sagt. Das allerdings auch nur, wenn ihr Mann nicht in der Nähe ist. Ihr Mann übersieht mich immer, und das, wie mir scheint, mit voller Absicht. Er hat nie ein Wort zu mir gesagt, seitdem ich ihn kenne, und antwortet auch nicht, wenn ich ihn freundlich grüße. Nur einmal hat er was zu mir gesagt, und daran erinnere ich mich nicht gern. Er hat vor meinen Augen einen Wurf Katzen in der Regentonne ersäuft, während die Katzenmama schreiend nach ihren Jungen gesucht hat. „So müsste man es mit allen Schmarotzern machen!“, hat er mir zugerufen, als er mich entdeckt hat. Ich weiß zwar nicht, was Schmarotzer sind, aber dass man so mit niemandem umgeht, nicht einmal mit kleinen Katzen, das weiß ich dagegen sehr gut. Seitdem gehe ich ihm lieber aus dem Weg.

Die von der Mutter als ‚Schlampe vom Dachgeschoss‘ Bezeichnete wirft mir schon mal mitleidige Blicke zu, und oft gibt sie mir auch ein Stück Schokolade. Das lasse ich immer ganz schnell im Mund verschwinden, bevor es die Mutter sieht. Ich kann mir ausmalen, was sie dazu sagen, oder noch schlimmer, wie sie darauf reagieren würde.

Die Mutter arbeitet in der Brauerei unweit unserer Wohnung. Was sie dort genau macht, weiß ich nicht, weil sie selten mit mir über irgendetwas redet. Sie ist überhaupt immer sehr verschlossen, und ich habe längst aufgegeben, ihr von meinen kleinen Befindlichkeiten zu erzählen. Es würde sie nicht interessieren.

Der Vater ist vor ein paar Monaten ausgezogen, weil er woanders eine besser bezahlte Arbeit gefunden hat, wie er sagt. Aber das glaube ich ihm nicht. Ich denke vielmehr, dass diese Frau mit der aufgetürmten Frisur und dem gelben Pullover dahintersteckt, mit der ich ihn einmal beobachtet habe.

Das war unten am Fluss gewesen. Ich hatte mich in mein geheimes kleines Versteck unter einem Haselnuss-Strauch zurückgezogen, um unbeobachtet den Riegel Schokolade essen zu können, den mir die Schlampe vom Dachgeschoss vor ein paar Minuten zugesteckt und den ich in meiner Jackentasche verborgen hierhergebracht hatte. Zuerst hörte ich nur die Stimme des Vaters, steckte erschrocken das Restchen Schokolade in den Mund und schluckte es beinahe unzerkaut hinunter vor Angst, damit erwischt zu werden. Niemand sollte erfahren, was für ein kleines Geheimnis mich mit der Schlampe von oben verbindet, deren Namen ich auf dem Klingelschild entziffern konnte, nachdem ich endlich lesen gelernt hatte: Renate Reichert.

Ich hatte mich ganz in meine kleine Höhle zurückgezogen, die das Gebüsch mir bot, damit der Vater mich nicht entdecken konnte. Ich wollte noch ein wenig allein sein, bevor ich zum Abendessen gerufen wurde. Wobei – er schien mich gar nicht zu suchen. Er unterhielt sich leise mit der Mutter, während er neben ihr zum Fluss hinunterging. Was wollten die denn hier? Sie suchten mich nicht, sonst hätten sie bestimmt nach mir gerufen. Außerdem wussten sie ja, dass ihre Tochter wie immer pünktlich und brav zum Sechsuhrläuten abends nach Hause kommen würde, und fragten nie danach, wo ich mich den Nachmittag über herumgetrieben hatte.

Dann konnte ich die beiden sehen. Ich hielt den Atem an. Das war nicht die Mutter, das war eine fremde Frau. Eine mit einer modisch aufgetürmten Frisur und einem gelben Pullover über einem schwarzen Rock. Und sie trug altmodische Perlonstrümpfe mit einer schnurgerade gezogenen Mittelnaht, wie sie Filmschauspielerinnen früher mal anhatten. Das kenne ich aus der Hör Zu, die der Vater immer ‚Funki‘ nannte. Ich liebe diese Zeitschrift, vor allem wegen der Zeichnungen über die Abenteuer des Igels Mecki.

Eigentlich darf ich keine dieser Schundblätter lesen, wie die Mutter alle Illustrierten nennt, und es gibt auch keine in ihrem Haushalt. Selbst die Tageszeitung hält sie vor mir verborgen, weil da sowieso nur Unsinn drinstehe, der mich ihrer Meinung nach nichts angeht. Verderbtes Zeug, das ich noch früh genug zu lesen bekäme. Bilder seien da ohnehin keine drin, und wenn, ginge mich das nichts an. Nachdem der Vater die Zeitung morgens beim Frühstück kurz überflogen hatte, nahm die Mutter sie immer an sich und steckte sie in ihre Stofftasche, in der sie auch ihr Pausenbrot und eine Thermoskanne mit Tee zur Arbeit mitnahm. Warum sie den Schund las, vor dem sie mich bewahren wollte, habe ich wie so vieles nicht verstanden. Seitdem der Vater weg ist, holt sie die Zeitung immer aus dem Briefkasten, bevor sie zur Arbeit geht.

Wenn ich zum Schuhmacher muss, um die neu besohlten Schuhe abzuholen, muss ich oft ein wenig warten. Der Schuhmacher hat immer einen ganzen Stapel uralter Illustrierten in einer Ecke liegen, die er zerreißt, um Schuhe damit auszustopfen oder darin einzupacken, wenn man ihre Reparatur bezahlt hat und sie wieder mitnehmen kann. Da setze ich mich dann immer gern auf den kleinen Hocker daneben und schaue mir die Zeichnungen an und die Fotos von den hübschen Filmschauspielerinnen. Der Schuhmacher hat nie was dagegen, sondern lacht mit mir über die Witze, die ich ihm aus den Zeitschriften vorlese. Es ist eine schöne Zeit so bei ihm. Ganz anders als bei mir zu Hause, wo selten jemand lacht. Schon gar nicht, wenn ich mal etwas Lustiges erzähle. Mutter findet das nur abartig, wie sie sagt, und als Vater noch bei uns gelebt hat, sagte er lieber nichts dazu, bevor es wieder Ärger gab. Und den gab es oft.

Überrascht beobachtete ich jetzt, wie sich mein Vater und diese fremde Frau ganz in der Nähe ins Gebüsch verzogen. Dort taten sie etwas, das ich bislang nur einmal gesehen hatte, als ich nachts weinend aufgewacht bin und zu den Eltern ins Bett kriechen wollte. Mein Vater lag schnaufend auf der Mutter und schob sie unter sich hin und her, während die Mutter mir mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen bedeutete, schleunigst in mein Bett zurückzukehren. Das Geräusch, das ich aus dem Zimmer der Eltern hörte, war ziemlich genau dasselbe, das von oben immer zu hören ist, wenn die Schlampe wieder einen Mann dahat.

Worin liegt der Unterschied? Ist die Mutter auch eine Schlampe?

Einordnen konnte ich das alles bislang nicht, aber als ich jetzt sah, dass mein Vater dasselbe mit dieser fremden Frau machte, dämmerte mir: Das da im Gebüsch war nicht richtig.

Ich hielt mir erschrocken den Mund zu und hoffte, die beiden würden mich nicht entdecken.

Dann hörte ich plötzlich das Sechsuhrläuten und wusste, dass ich mich schleunigst auf den Nachhauseweg machen musste. Aber wie, ohne von den beiden da drüben gesehen zu werden?

Vorsichtig kroch ich aus meinem Versteck und huschte wie ein Wiesel die Böschung hinauf. Oben blieb ich atemlos stehen und schaute Richtung Fluss hinunter, dorthin, wo ich den Vater und die fremde Frau hinter den Büschen wusste. Wobei ich mir nicht sicher war, wer besser nicht ertappt werden sollte: die beiden oder ich?

Die Situation überforderte mich völlig.

Schnell lief ich nach Hause und kam genau gleichzeitig mit der Mutter an, die noch etwas für das Abendessen eingekauft hatte.

„Du hast dich wieder mal dreckig gemacht. Kannst du nicht wenigstens einmal auf dein Zeug aufpassen?“, schimpfte sie, und bevor ich etwas sagen konnte, hatte ich mir eine Backpfeife eingefangen.

„Wasch dir die Hände, du Schmutzfink. Und dann sieh zu, dass du zum Abendessen kommst.“

Während ich mir die Hände wusch, hörte ich die Mutter weiter sagen: „Du gehst morgen mit dem dreckigen Zeug in die Schule. Glaubst du vielleicht, ich hätte Zeit, dauernd deine Klamotten zu waschen?“ Sie knallte zwei Teller auf den Tisch. „Ich möchte nicht wissen, wo du dich wieder herumgetrieben hast!“

Ich setzte mich schweigend auf meinen Platz und wartete, bis die Mutter mir ein belegtes Brot auf den Teller legte und ein Glas Wasser danebenstellte. Mein Blick wanderte zu der Stelle, auf der Vaters Gedeck stehen müsste. Aber der Platz war leer.

„Der kommt heute nicht zum Abendessen“, sagte die Mutter gereizt und setzte sich mir gegenüber. „Muss heute länger im Werk bleiben, sie haben einen großen Auftrag bekommen, den sie abarbeiten müssen.“

Ich schaute sie mit großen Augen an.

War das am Fluss am Ende gar nicht mein Vater gewesen? Ich hatte ihn ja nur kurz durch das Blätterwerk meines Verstecks gesehen. Aber es war seine Stimme. Und sein Arbeitsanzug. Und …

„Was ist? Schmeckt es dir nicht? Dann lass es stehen und hau ab in dein Zimmer!“, hörte ich die Mutter sagen und beeilte mich, in mein Brot zu beißen. Es schmeckte mir allerdings tatsächlich nicht. Aber das lag nicht an der Scheibe Wurst, die mir die Mutter draufgelegt hatte. Es lag daran, dass ich nicht wusste, wie ich mit dem umgehen sollte, was ich erlebt hatte.

Während die Mutter mich weiter wegen der schmutzigen Kleider ausschimpfte, überlegte ich, ob ich ihr erzählen sollte, was ich gesehen hatte. Aber irgendetwas hinderte mich daran, und es hatte eindeutig damit zu tun, wie mein Vater mit mir umging und wie die Mutter mich behandelte.

Außerdem sagte sie selber, sie wolle nicht wissen, wo ich mich wieder herumgetrieben hatte.

Ich beschloss, ihr nichts zu erzählen. Es würde sonst bestimmt noch schlimmer werden, als es jetzt schon der schmutzigen Kleider wegen war.

Ein paar Wochen später ist mein Vater aus der Wohnung ausgezogen, weil er, wie er mir gegenüber behauptete, woanders eine besser bezahlte Arbeit gefunden hätte. Sobald er eine Wohnung gefunden habe, würde er mich nachholen. Er könne aber bis dahin nicht so oft herkommen, weil es doch ein ganzes Stück weg sei und er dort noch mehr arbeiten müsse als bisher. Aber es gebe halt gutes Geld dafür, und er würde uns auch weiterhin unterstützen.

Ob ihm die Mutter das glaubte, war für mich nicht so ganz nachvollziehbar. Ganz schnell wurde mir jedoch klar, dass von da ab das Verhältnis zwischen uns nur noch aus Anweisungen, Geschimpfe über jedes noch so kleine Vergehen oder Versehen ihrer missratenen Tochter und ständigen schlimmen Behauptungen bestand, die sie über die Nazis und die Hurenschlampe äußerte.

Meinen Vater habe ich von da ab lange nicht mehr gesehen. Ob er uns, wie angekündigt, weiterhin unterstützte, weiß ich nicht, wie ich auch nicht weiß, worin diese Unterstützung bestand, wenn es eine gab. Die Mutter verlor in den kommenden zwei Jahren kein Wort über ihn, und ich fragte nicht nach ihm, obwohl ich so gern gewusst hätte, ob meine Vermutungen stimmten, was die Frau mit der aufgetürmten Frisur und dem gelben Pullover betraf.

Einmal sagte die Hurenschlampe, die ich artig mit Frau Reichert anredete, dass mein Vater sich wohl was Besseres als seine ewig nörgelnde Frau gesucht habe. Dann streichelte sie mir über den Kopf und gab mir ein Stück Schokolade.

Das alles geht mir durch den Kopf, während ich vor Angst und Kälte schlotternd auf dem Bett sitze und hilflos mit anhören muss, was sich vor meiner Kammertür abspielt.

1

Die Kugel durchschlug das Bein des Angreifers exakt auf Höhe seiner rechten Kniescheibe und ließ ihn mit einem stummen Aufschrei zu Boden stürzen.

„Der läuft Ihnen nicht mehr davon!“, stellte Hauptkommissar Konrad Bergmann fest und ließ seine Waffe sinken, die er ebenfalls auf den Mann mit dem schwarzen Kapuzenshirt gerichtet, aber nicht abgefeuert hatte. Anerkennend legte er eine Hand auf die Schulter seiner Kollegin, die er um gut eine Haupteslänge überragte.

„So war das auch gedacht. Ich wäre heute absolut nicht in der Lage, ihm hinterherzuhecheln“, antwortete Tessa Plank, schenkte ihm einen schrägen Seitenblick und wartete, bis er seine Hand wieder von ihrer Schulter genommen hatte.

„Also dann: Stuhlkreis, RTW oder Mittagessen?“, wollte Bergmann wissen.

Tessa Plank zeigte auf den angeschossenen Mann, der reglos auf dem nass glänzenden Kopfsteinpflaster lag.

„Der ist erst mal in Schockstarre. Um den soll sich der Bruno kümmern. Also: Mittagessen.“

„Kein Wunder, dass Sie ihm nicht mehr hätten hinterherhecheln können, wenn Sie immer nur ans Essen denken!“, brummte Bergmann und schenkte ihr ein kameradschaftliches Augenzwinkern. „Obwohl …“.

„Nicht immer nur ans Essen, Konrad Bergmann. Aber wie Sie aus eigener Erfahrung wissen dürften, ist gutes Essen …“

„Ach, hören Sie doch auf, Tessa! So alt sind Sie dann auch wieder nicht, dass Sie mit einem guten Essen Ihr Liebesleben kompensieren müssten“, unterbrach sie der um wenige Jahre ältere Bergmann und zog dabei vorsichtig seinen Bauch etwas ein. „Und überhaupt, was heißt denn da ‚aus eigener Erfahrung‘?“

„Und wie kommen Sie auf ‚Liebesleben‘?“, blaffte sie zurück. „Ich wollte sagen, dass man mit gutem Essen und entsprechendem Training die Kondition besser in den Griff bekommen könnte. Aber zu beidem bin ich in den vergangenen zwei Wochen einfach nicht gekommen, wie Sie selber wissen müssten.“ Sie ließ einen prüfenden Blick über die Figur ihres Kollegen gleiten. „Ihnen würde übrigens ein bisserl Sport auch guttun. Vorsicht!“

„Warum …?“

„Darum!“

Hinter einer Steinmauer war erneut eine Gestalt aufgetaucht. Sie stürzte mit einem Messer in der Hand auf die beiden zu. Bergmann zog seine Heckler & Koch und ballerte nacheinander alle Geschosse auf den Angreifer.

„Das war nicht fair, Bruno! Wir waren eigentlich schon fertig“, stellte er mit Blick auf das Glasfenster fest, hinter dem das feixende Gesicht des PE-Trainers zu sehen war.

„Mit solchen Typen muss man immer rechnen“, kam es ungerührt von dort zurück. „Müsstet gerade ihr wissen! Eigentlich.“

„Mit Typen wie uns auch, mein Lieber! Müssten gerade Sie wissen, und nicht nur eigentlich“, konterte Bergmann und hob warnend den Zeigefinger. „Wir sind absolut fit, nicht wahr, liebe Frau Kollegin?“

„Zumindest, was die Schießerei betrifft, lieber Herr Kollege.“

„Das sehe ich allerdings auch so“, stimmte der Trainer zu. „Die Eichstätter fackeln offensichtlich nicht lange. Schon beim Einschießen alles sauber getroffen, und der hier ist auch zu nichts mehr zu gebrauchen.“

„Genug gelobt, Bruno! Ich werde sonst noch eingebildet.“

„Das wollen wir natürlich tunlichst vermeiden.“

„Überhaupt: Wenn jemand mit einem Messer in der Hand auf mich zuläuft, verstehe ich keinen Spaß, mein Lieber. Nicht mal, wenn es nur Leinwandhelden sind wie der hier“, gab Bergmann zurück. „Gilt übrigens auch für spitze Zungen“, fügte er mit Blick auf seine Kollegin hinzu, die nur kopfschüttelnd abwinkte.

Brunos Stimme klang eher amüsiert als gewarnt: „Sicherheitsglas.“

Bevor Bergmann im Nebenraum seine Waffe zerlegte, reinigte, wieder zusammenbaute und das Magazin neu befüllte, warf er einen Blick auf die Gestalt, die ein paar Meter entfernt nach wie vor reglos auf dem Boden lag. Auch wenn es sich dabei nur um ein Übungsvideo gehandelt hatte, berührte ihn der Anblick des Toten auf der Leinwand mehr, als er zeigen wollte.

„Ein ganzes Magazin leer geschossen“, hörte er seine Kollegin maulen, die sich inzwischen ebenfalls um ihre Waffe gekümmert und sie in einer Tasche verstaut hatte.

„Stimmt. Allerdings sei angemerkt: Der letzte Schuss ging ins Nirwana, Hauptkommissar Konrad Bergmann“, mischte sich Bruno erneut ein. „Daran müssen Sie definitiv noch arbeiten. Das ist reine Materialverschwendung. Sie wissen, wie der Steuerzahler darüber denkt.“ Ein unterdrücktes Lachen war zu hören, was Bergmann mit einer wegwerfenden Handbewegung quittierte.

„Nach drei Kopfschüssen trifft man im richtigen Leben ohnehin nur noch ins Leere“, meinte Tessa Plank ihren Kollegen trösten zu müssen.

„Das kommt noch erschwerend hinzu“, kam es aus dem Off.

„Gleich nicht mehr, wenn Sie so weitermachen“, warnte ihn Bergmann. „Wie ihr zwei Helden sehen konntet, bin ich ein ziemlich guter Schütze, wenn’s drauf ankommt.“ Bergmann nahm seinen schweren Gürtel ab und verstaute ihn zusammen mit seiner Waffe in einer Tasche. Den Gedanken daran, dass er in Notwehr bereits einmal zeigen musste, was für ein guter Schütze er tatsächlich war, schob er beiseite, bevor das Bild in seinem Kopf dazu deutlicher wurde. „Wer auch immer jetzt noch mit gezücktem Messer hier rumläuft, gehört Ihnen, Bruno. Falls Sie schnell genug sind. Wir jedenfalls sind dann mal weg!“ Er hob grüßend die Hand. Und, wieder an seine Partnerin gewandt: „Heute steht ‚Hirschragout mit Semmelknödeln und Rotkraut‘ auf dem Speiseplan in der Kantine bei den BePos, genau mein Ding.“

„Es sei denn …“

„Aaaapropos genau Ihr Ding: Eure Dienststelle hat gerade angerufen. Es gibt eine Leich’“, war in diesem Augenblick erneut die Stimme des Trainers zu vernehmen. „Das Hirschragout muss warten.“

„Das macht der doch mit Absicht!“, mutmaßte Bergmann und zeigte auf die Glasscheibe, hinter der Brunos nach wie vor breit grinsendes Gesicht zu sehen war.

Tessa zuckte bedauernd die Schultern.

„Wie ich bereits sagte: Es sei denn …“

„Bleibt die Liebe.“

„Das reicht nicht, Bergmann, davon kann ich nicht leben“, brummte seine Kollegin und schulterte ihre Tasche. „Ich bin Single, wie Sie wissen.“ Dann hob sie grüßend die Hand Richtung Bruno. „Sagen Sie denen in der Kantine, sie sollen was für uns aufheben!“

„Mal sehen!“, kam es zurück.

Bergmann schüttelte seufzend den Kopf.

„Ich hab definitiv in die falsche Richtung geschossen.“

Tessa verdrehte die Augen.

„Jetzt reicht es aber! Halten Sie unbedingt beim nächsten Metzger an und kaufen Sie sich eine Leberkäs-Semmel. Sie sind sowas von unausstehlich, wenn Sie nichts im Magen haben. Nicht gefrühstückt oder was?“

„Sie sind aber auch empfindlich!“

„Empfindlich, empfindlich. Was heißt empfindlich? Konrad Bergmann ohne was im Magen und eine Leiche: inkompatibel, wenn Sie mich fragen. Seien Sie mir nicht böse, aber das ist mehr, als ich laut Tarifvertrag für meine Besoldung aushalten muss.“

„Gibt es da echt einen Passus drüber?“

„Ja. Beim Kleingedruckten. Außer Ihnen kennen den alle in der gesamten PI Eichstätt bis zu uns unterm Dach.“ Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. „Es wird Ihre Stimmung nicht unbedingt heben, Bergmann. Aber ich denke, es wird gut sein, wenn Sie Ihre Jacke bis oben hin zumachen, damit man das nicht sieht.“

„Was nicht sieht?“

„Sie haben Ihr nagelneues Hemd mit Waffenöl versaut.“

Die beiden verließen die Raumschießanlage in der Gutenbergstraße wenig später und liefen zu ihrem Fahrzeug, während Bergmann die Nummer seiner Dienststelle in sein Handy hackte. Tessa Plank zog fröstelnd die Schultern hoch. Es war doch relativ frisch an diesem Morgen. Herbst eben.

„Machen Sie’s nicht kaputt, Bergmann! Als ob das Ding was dafürkönnte, dass Sie nicht aufpassen, wenn Sie mit Öl rummachen. Übrigens: Ihr oberster Jackenknopf …“

Bergmann winkte genervt ab und nahm das Handy ans Ohr.

„Was gibt’s?“

„Jemand hat angerufen. Eine Leiche in der Altmühl“, bekam er zur Antwort.

„Wenn uns jetzt schon die Leichen anrufen …“

Bergmann schüttelte seufzend den Kopf und verstaute seine Tasche auf dem Rücksitz ihres Dienstfahrzeugs, eines bereits in die Jahre gekommenen silbernen A4. Tessa folgte seinem Beispiel und schob sich auf den Beifahrersitz.

„Seien Sie nicht so streng mit den Kollegen“, riet sie ihm, während er den Motor startete. „Die lernen das schon noch.“

„Hoffen wir’s mal. Hauptsache, ich werde am Eingang zur Polizeiinspektion nicht noch einmal gefragt, zu wem ich denn möchte.“

„Jaaaa, die haben es halt noch nicht so drauf, dass wir seit ein paar Wochen mit ihnen unter einer Decke stecken.“ Tessa warf Bergmann einen schnellen Blick zu. Der verdrehte jedoch nur schweigend die Augen. „Ich meine Dach. Unter einem Dach stecken.“

„Ich weiß, was Sie meinen.“

„Sie müssen ja auch nicht jedes Mal am Eingang klingeln, wenn Sie reinwollen. Dazu gibt es dieses schnuckelige kleine Gerät an der Seite, mit dem Sie die Tür öffnen können. Wissen Sie vermutlich auch.“ Sie zeigte nach vorn. „Da ist übrigens ein Supermarkt.“

„Was?“

„Ach Bergmann! Blinker setzen, rechts abbiegen, Parkplatz suchen, Leberkäs-Semmel kaufen.“

2

Der Freiwasserparkplatz am rechten Ufer der Altmühl in Eichstätt war zu der Uhrzeit schon recht gut belegt. Konrad Bergmann und Tessa Plank sahen über die Wagendächer der geparkten Fahrzeuge hinweg schon von Weitem das Blaulicht der Einsatzfahrzeuge von Feuerwehr und Polizei, als sie in die Straße zum Parkplatz einbogen. Ein paar Polizisten und Feuerwehrleute sperrten den Zugang so gut es ging ab, konnten aber nicht verhindern, dass trotzdem Leute zwischen den Fahrzeugen herumliefen oder mit gezückten Smartphones und Handys irgendwo stehen blieben. Bergmann lenkte den Dienstwagen zuerst an den beiden Beamten vorbei, die den Platz absperrten, und dann durch eine Gruppe aufgeregt diskutierender Leute, bevor er ihn neben einem der Einsatzfahrzeuge der Feuerwehr abstellte.

„Die Tote ist offensichtlich eine ältere Frau. Ein Mitarbeiter des Bootsverleihs hat ihre Leiche entdeckt“, erfuhren sie vom Ersten Polizeihauptkommissar Karl Hofer, dem Leiter der PI Eichstätt, der auf sie zugekommen war und wartete, bis sie ausgestiegen waren. „Er hat um 10:53 Uhr die Leitstelle angerufen und den Fund gemeldet. Da drüben steht er, am Kiosk.“

Der zu dieser Zeit noch geschlossene kleine Laden befand sich am Ende des Freiwasserparkplatzes zwischen Herzog- und Badsteg.

Heute wäre das richtige Wetter, mal einen der Rundwanderwege auf dem Hasenbuck auszuprobieren, ging Bergmann durch den Kopf, während er sich umsah. Jetzt arbeitete er bereits seit drei Wochen in Eichstätt, hatte es aber bislang nicht geschafft, sich wenigstens einmal die Stadt anzusehen. Geschweige denn, dass er überhaupt irgendetwas in seiner neuen Heimat über das Berufliche hinaus erkundet hätte. Das wollte er unbedingt ändern. Sollte er. Würde …

Tessa Planks Gesichtsausdruck holte ihn schnell auf den sprichwörtlichen Boden der Tatsachen und zum ausgestreckten Zeigefinger Hofers zurück.

Zwei Polizisten standen bei einem Mann, der sichtlich aufgeregt mit ihnen redete.

„Tessa, kümmern Sie sich bitte um ihn?“

Die schenkte Bergmann einen amüsierten Blick. „Kümmern Sie sich bitte …? Doch gleich so höflich. Ich hab’s ja gesagt: Sie haben dringend was zu essen gebraucht.“

Bevor Bergmann etwas erwidern konnte, meldete sich Hofer wieder zu Wort, und Tessa Plank machte sich achselzuckend auf den Weg zum Kiosk, während die beiden Männer neben dem Feuerwehrauto stehen blieben.

„Wir haben im Uferbereich nirgends Spuren dafür gefunden, dass sie da irgendwo ausgerutscht und ins Wasser gefallen wäre. Der Fluss ist hier auch nicht besonders tief, und an den überhängenden Ästen der Bäume und Büsche hätte sich selbst eine ältere Person notfalls noch aus dem Wasser retten können. Außerdem fließt die Altmühl hier nicht sonderlich schnell. Ich vermute, dass die alte Dame, wenn schon, dann von einem der beiden Stege da hinten in die Altmühl gefallen ist.“ Hofer wandte sich zu Bergmann um, der hinter ihm stand und sich jetzt auf das Geschehen am Altmühlufer konzentrierte. Hofer warf einen Blick auf seine Uhr. „Ein Arzt ist informiert, der müsste gleich da sein. Die Spurensicherung wird sich auch schon auf den Weg gemacht haben.“

„Von einem der Stege gefallen?“ Bergmann kratzte sich nachdenklich am Kinn, während er den in elegantem Bogen über den Fluss gespannten Badsteg betrachtete. „Das Geländer bei dem da ist viel zu hoch, als dass man versehentlich drüberfallen oder jemanden drüberschubsen könnte.“

„Was glauben Sie?“, fragte Hofer. „Also wenn Sie mich fragen, hat da jemand nachgeholfen.“

„Keine Ahnung. Ich werde mir das alles erst mal genauer ansehen.“

Bergmann machte eine ausladende Geste, die den Uferbereich einschloss.

„Hat das alles jemand vorher dokumentiert? Fotos?“

Hofer nickte.

„Ja, sicher“, antwortete er. „Ich schicke Ihnen die Unterlagen gleich zu. Und wenn Sie sonst noch was brauchen: Sie wissen, wo mein Büro wohnt.“

Bergmann musste trotz der ernsten Lage schmunzeln. Hofer war von Anfang an der Mann gewesen, von dem er wusste: Das passt. Der hatte im Übrigen hinter dem Plan gesteckt, eine Kriminalpolizeistation in Eichstätt einzurichten.

Lea Winter, eine stets perfekt gepflegt aussehende, Hosenanzug tragende Kollegin aus München, wollte schon seit Längerem von München weg in die leer stehende Doppelhaushälfte neben der ihrer Eltern ziehen, die im Altmühltal ein Feriendomizil besaßen. Allerdings war dem neuen Team schnell klar, dass das nicht der einzige Grund war, weshalb sie sich um diese Stelle beworben hatte. Immerhin war ihr Vater ein hohes Tier im Innenministerium, und den galt es natürlich zu beeindrucken.

Der wie seine neue Chefin vor wenigen Wochen fünfundvierzig Jahre alt gewordene Konrad Bergmann mit den leicht angegrauten Haaren und den blauen Augen legte wie sie großen Wert auf ein gepflegtes Aussehen. Allerdings war er weniger der Anzugträger, wenngleich er Hemden einem T-Shirt oder Pullover vorzog. Eine alte Lederjacke, die er vor Jahren auf einem Münchener Flohmarkt erstanden hatte, gehörte ebenso zu seinem Outfit wie seine immer blitzblank geputzten Lederschuhe. Die Pflege seiner Ledersachen übernahm er prinzipiell selbst, wie er gelegentlich betonte. Das machte ihm keiner gut genug.

Bergmann hatte wie Lea Winter einige Jahre bei der Kripo in München gearbeitet, war verheiratet und hatte eine erwachsene Tochter. Bergmanns Ehefrau Karin war eine in Künstlerkreisen geschätzte Bildhauerin, Tochter Isabelle arbeitete seit Abschluss ihrer Ausbildung in der Geschäftsleitung eines großen Hotels in Südfrankreich. Als im Polizeipräsidium Ingolstadt eine Stelle vakant war, bewarb Bergmann sich dort, nachdem seine Frau von ihrer Tante ein kleines Häuschen am nördlichen Rand der Stadt geerbt hatte und gern wieder in ihre alte Heimatstadt an der Donau ziehen wollte. Mit einem Umzug dorthin bot sich ihr die Möglichkeit, ihrer Arbeit zu Hause nachzugehen, statt wie bislang irgendwo ein Studio mieten zu müssen.

Nach reiflicher Überlegung und vielen Gesprächen fand Bergmann es jedoch weitaus reizvoller, zusammen mit neuen Kollegen die Inspektion in Eichstätt aufzubauen, als sich in alte Strukturen einfügen zu müssen. Ursprünglich war er für die Leitung der neuen Dienststelle in Eichstätt vorgesehen gewesen. Aber er zog die Arbeit ‚draußen‘ einem fast ausschließlichen Schreibtischjob vor.

Bergmann hätte sich durchaus vorstellen können, den einen oder anderen Kollegen aus seiner alten Münchener Dienststelle mit ins Team zu nehmen, von denen er wusste, dass sie sich neu orientieren wollten. Aber die Auswahl lag bei den Verantwortlichen im Ingolstädter Präsidium – und bei seiner neuen Chefin. So hielt er zwar nach wie vor den Kontakt zu einigen interessanten Leuten in München aufrecht, nabelte sich aber Schritt für Schritt von seiner alten Arbeitsstelle ab.

Tessa Plank stammte aus der Nähe von Eichstätt, hatte seit Abschluss ihrer Ausbildung bei der Kripo in Ingolstadt gearbeitet, war Ende dreißig, ziemlich hager und reichte dem hoch aufgeschossenen Bergmann gerade mal bis zu den Schultern. Ihr herbes Gesicht wurde von dunklen, kinnlangen Haaren umrahmt, in denen schon einige graue Fäden zu sehen waren und die ihr ständig irgendwie wirr um den Kopf zu wehen schienen. Sie kleidete sich recht lässig und gehörte überhaupt zu den Frauen, bei denen Männer eher von inneren Werten sprechen als von Äußerlichkeiten – falls sie überhaupt auf sie angesprochen werden, beziehungsweise sie eher versehentlich wahrnehmen. Vermutlich lag darin auch der Grund dafür, dass sie Single war. Noch oder wieder, entzog sich Bergmanns Kenntnis. So genau hatte er sich bislang nicht mit ihr und ihrem Privatleben beschäftigt. Sie kannten sich ja auch erst seit ein paar Wochen.

Bergmann hatte kein Problem, mit Frauen zusammenzuarbeiten: Er hatte bereits in München im Wechsel mit zwei hervorragenden Kolleginnen gearbeitet und mit ihnen nur die besten Erfahrungen gemacht. Er wusste aber nicht so recht, wie er mit Tessas entwaffnender Art umgehen sollte. Wobei er sich eingestehen musste, dass es sie ihm keinesfalls unsympathisch machte. Vielleicht ein wenig anstrengend. Aber damit würde er mit der Zeit klarkommen.

Bei Lea Winter war er sich noch nicht so ganz sicher, auf welcher Seite sie stand. Sie gab sich zwar alle Mühe, nicht die Über-Chefin rauszuhängen, aber sie wirkte eben doch immer ein wenig angespannt. Bergmann konnte das irgendwie verstehen. Angespannt waren sie alle. Es war ja auch keine einfache Aufgabe, die neuen Mitarbeiter zu einem Team zu formen und diese Inspektion so richtig zum Laufen zu bringen. So gesehen machte ihre Chefin es eigentlich ganz gut, fand er.

„Das nenne ich eine anständige Übergabe, Respekt“, sagte Bergmann jetzt, an Hofer gewandt.

„Immer gern zu Diensten. Ach, und noch was: Ihr oberster Jackenknopf fällt gleich ab“, antwortete der, legte breit grinsend eine Hand an den Mützenschirm und überließ den Kripobeamten die weiteren Schritte.

„Der junge Mann hat die Leiche entdeckt, als er nach den Booten sehen wollte, die dort am Steg festgemacht liegen. Die sollten jetzt zum Saisonende aus dem Wasser genommen werden. Mehr kann er nicht sagen.“ Tessa Plank war zurückgekommen und zeigte zu dem Mann hinüber, der sich gerade auf den Weg zu seinem geparkten Auto machte. „Ich hab seine Adresse notiert und ihn gefragt, ob er Hilfe braucht. Hat er aber abgelehnt.“ Sie zog eine Augenbraue hoch und tippte mit dem Zeigefinger auf Bergmanns obersten Jackenknopf. „Ich kann Ihnen den auch ann…“

Bergmann winkte ab und zeigte auf einen kleinen Transporter, der auf sie zufuhr.

„Danke. Da kommen die Leute vom K7. Warten wir ab, was die herausfinden.“

„Weiß denn Kollege Hofer, um wen es sich bei der Leiche handelt?“

„Nein.“

„Dann frage ich mal die Feuerwehrleute, vielleicht wissen die was.“

„Ich gehe mit.“

Die Leiche der alten Dame lag auf einer weißen Plastikplane neben dem schmalen Fußweg zwischen Altmühl und Parkplatz. Die Feuerwehrleute und Polizisten, die stumm um sie herumstanden, wichen einen Schritt zurück, als die beiden Kommissare auf sie zukamen.

Bergmann schaute sich zunächst die Uferstelle an, bei der man die Tote gefunden hatte. Sie führte zwischen zwei Büschen hindurch über einen Streifen jahreszeitlich bedingt verfilzten, grauen Bewuchses flach zum Wasser hin. Das Geäst des einen Busches hing weit in den Fluss hinein. An ihm war die Tote hängen geblieben. Deutlich waren überall im Bereich um den Fundort der Leiche die Spuren der Helfer zu sehen, die sie aus dem Wasser gezogen hatten.

„Weiß jemand von euch, wer das ist?“, stellte Tessa Plank ihre Frage in die Runde.

„Nein“, kam die Antwort fast unisono zurück.

Kommissar Bergmann zog sich Handschuhe über und ging neben der Toten in die Hocke. Er schätzte sie auf Ende siebzig, Anfang achtzig. Sein Blick wanderte über ihr blasses Gesicht. Jemand hatte ihre Augen geschlossen, der Mund war halb geöffnet. Sie war mit einer grünen Bluse und einem dunklen Rock bekleidet, die an ihrem Körper klebten.

Es gab keine Schuhe, keine Strümpfe, keine Uhr, keinen Schmuck.

War ihr das alles gestohlen worden? War sie das Opfer eines Raubüberfalls, das jemand anschließend in den Fluss gestoßen hatte?

Allerdings sah sie nicht aus, als wäre ihr auf irgendeine Weise Gewalt angetan worden. Raubüberfall schloss Bergmann erst einmal vorsichtig aus.

Oder hatte sie sich das Leben genommen und aus unerfindlichen Gründen dafür gesorgt, dass man ihre Identität nicht allzu schnell herausfinden konnte?

Klettert eine alte Frau über das Geländer eines der Stege, um sich so das Leben zu nehmen?

Weshalb sollte sich ein alter Mensch überhaupt das Leben nehmen?

„Wer hat ihr die Augen geschlossen?“, wollte er wissen.

„Niemand. Die waren so“, bekam er von einem der Feuerwehrleute zur Antwort.

„Seltsam.“

„Also selbst ich hätte definitiv ein Problem damit, da raufzusteigen“, hörte er im selben Augenblick Tessa Plank neben sich sagen, verkniff sich aber aus gutem Grund einen flapsigen Kommentar dazu.