Das Awaren-Amulett - Carmen Mayer - E-Book

Das Awaren-Amulett E-Book

Carmen Mayer

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Beschreibung

Ein geheimnisvolles Amulett während des Dreißigjährigen Krieges Österreich zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Kaiser Ferdinand II will die Bevölkerung seines Landes um jeden Preis rekatholisieren. Johannes, ein junger Protestant, verliert bei einem brutalen Überfall katholischer Söldner auf ein Seitental der Enns seine Eltern; seine geliebte Schwester wird verschleppt. Bei der Leiche seiner Mutter findet er ein seltsames Amulett, das er als Andenken mitnimmt. Schon kurz darauf gerät er in die Wirren der Bauernaufstände im Land ob der Enns. Johannes muss das grausame Frankenburger Würfelspiel, bei dem die Männer gezwungen werden, um ihr Leben zu würfeln, mit ansehen. Er entkommt mit viel Glück, sein Amulett wird gestohlen. Alles scheint verloren. Als er dann unerwartet seinen alten Lehrmeister wieder trifft, den konvertierten Mönch Anselm, flieht er mit ihm zunächst nach Nürnberg, dann ins protestantische Württemberg. In der ehemaligen evangelischen Klosterschule Maulbronn erfährt er, welches Geheimnis sich hinter seinem Amulett verbirgt… Eine Hexe soll ganz in der Nähe mit diesem Amulett großes Unheil angerichtet haben. Wird es ihm gelingen, die einzige Verbindung zu seiner Familie zurückzuerlangen? Der erste Teil der "Dreißigjähriger Krieg"-Reihe von Carmen Mayer!

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Carmen Mayer

Das Awaren-Amulett

Historischer Roman

Zum Buch

Österreich zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Kaiser Ferdinand II will die Bevölkerung seines Landes um jeden Preis rekatholisieren.

Johannes, ein junger Protestant, verliert bei einem brutalen Überfall katholischer Söldner auf ein Seitental der Enns seine Eltern; seine geliebte Schwester wird verschleppt. Bei der Leiche seiner Mutter findet er ein seltsames Amulett, das er als Andenken mitnimmt.

Schon kurz darauf gerät er in die Wirren der Bauernaufstände im Land ob der Enns.

Johannes muss das grausame Frankenburger Würfelspiel, bei dem die Männer gezwungen werden, um ihr Leben zu würfeln, mit ansehen. Er entkommt mit viel Glück, sein Amulett wird gestohlen. Alles scheint verloren.

Als er dann unerwartet seinen alten Lehrmeister wieder trifft, den konvertierten Mönch Anselm, flieht er mit ihm zunächst nach Nürnberg, dann ins protestantische Württemberg.

In der ehemaligen evangelischen Klosterschule Maulbronn erfährt er, welches Geheimnis sich hinter seinem Amulett verbirgt…

Eine Hexe soll ganz in der Nähe mit diesem Amulett großes Unheil angerichtet haben. Wird es ihm gelingen, die einzige Verbindung zu seiner Familie zurückzuerlangen?

Carmen Mayer erzählt in „Das Awaren-Amulett“ die Geschichte um den Dreißigjährigen Krieg weiter. Mit „Die Trossfrau“ hat sie bereits das Schicksal der jungen Magdalena beschrieben.

Inhalt

Zum Buch

Inhalt

Impressum

Widmung

Prolog

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Nachwort

Historische Personen zur Zeit Karls des Großen

Historische Personen während des Dreißigjährigen Krieges

Glossar

Danksagung

Über die Autorin Carmen Mayer

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.

Alle Akteure des Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind vom Autor nicht beabsichtigt.

Copyright © 2020 by Maximum Verlags GmbH

Hauptstraße 33

27299 Langwedel

www.maximum-verlag.de

1. Auflage 2020

Satz/Layout: Alin Mattfeldt

Covergestaltung: Alin Mattfeldt

E-Book: Mirjam Hecht

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-948346-15-7

Widmung

Für Elisabeth, Katharina, Johanna, Sophia und Sarah

Prolog

Im Tal der Alcmona, anno domini 796

Die Silhouette des Mannes stand wie gemeißelt gegen das wabernde Weiß des aufziehenden Nebels, der langsam das Tal der Alcmona heraufkroch. Als sich eine Hand auf seine Schulter legte, erschauerte Bertulf.

„Es ist Zeit zu gehen“, sagte eine weibliche Stimme leise.

Der Mann entspannte sich, griff nach der Hand auf seiner Schulter und drückte sie. Dann führte er die Frau hinunter in eine kleine Senke, in der einige seiner Getreuen auf sie warteten.

„Leb wohl, Ada. Unsere Wege trennen sich hier.“ Er küsste ihre Stirn. „Gott wird seine Hand über dich und unsere Mutter halten. Ihr seid zwei starke Frauen und werdet euren Weg auch ohne mich finden und gehen können.“

Als er in ihre fragend auf ihn gerichteten Augen sah, fügte er noch an: „Vor Karl seid ihr sicher. Er hat nicht nur Freunde.“

„Und was ist mit dir, mein Bruder?“

„Um mich ist mir nicht bang.“

„Wenn du zu deiner Liebsten gehst, grüße sie ganz herzlich von mir. Sie wäre mir sicherlich eine teure Freundin geworden, würden unsere Wege sich nicht nur für eine so kurze Zeit gekreuzt haben.“

Ada legte ein letztes Mal ihre Hände auf seine Schultern.

„Leb wohl, Bertulf. Gott beschütze dich.“

Sie wandte sich um und ließ sich von einem Begleiter auf das bereitstehende Pferd helfen. Dann gab sie das Zeichen zum Aufbruch, ohne sich noch einmal nach ihrem Bruder umzusehen. Zwei Männer ritten voraus, vier folgten der Prinzessin. Schon nach wenigen Hufschlägen wurden sie vom Nebel verschluckt.

Bertulf ließ sich erschöpft am Fuß einer Buche nieder, tief in Gedanken versunken.

Karl.

Sein Onkel.

Als Siebenjähriger zusammen mit seinem knapp drei Jahre jüngeren Bruder Karlaman von Papst Stephan II. in der Abtei Saint-Denis zum König des Fränkischen Reiches Gesalbter.

Mächtiger.

Großer.

Edler.

Heroischer.

Oder doch nur Brudermörder, Schlächter ganzer Völker, Sklave seiner Gier nach Macht und Ansehen?

Weiberheld und trotz seiner hohen Bildung nicht einmal des Lesens und Schreibens mächtig?

Das alles mochte im Auge des Betrachters liegen. Bertulf hatte seine eigene Meinung dazu, und die schmeichelte König Karl keinesfalls.

Der junge Mann konnte sich trotz seiner finsteren Gedanken eines Gefühls des Triumphes nicht erwehren. Vor wenigen Tagen hatte er Karls Männern einen Teil der Beute aus dem Schatz der Awaren abgenommen. Bertulf ahnte, nein, er hoffte, dass sein Onkel vor Wut darüber schäumen würde. Jede Unze Gold war vom König bereits verplant gewesen, sollte dem hohen Herrn nutzen, sein Ansehen weiter auszubauen. Ob ihm jetzt reichen würde, was übrig geblieben war, stand in den Sternen.

Aber nicht nur der Verlust des Goldes würde den König in Rage versetzen. Vielmehr würde er die Dreistigkeit eines einfachen Diebes nicht verkraften, der ihm zeigte, wie verwundbar, wie besiegbar er in Wirklichkeit war, was sich unter dem groß aufgezogenen Königsmantel verbarg: ein ganz gewöhnlicher Mensch.

Karl würde über kurz oder lang herausfinden, wer hinter dem klug eingefädelten Raubzug steckte. Er würde Bertulf nachstellen lassen, bis er die Schneide seines Schwertes eigenhändig über den Hals seines Neffen ziehen konnte, wie er es bereits vorgehabt hatte, als jener noch ein Säugling war. Dieses Risiko ging der Prinz bewusst ein. Denn spätestens dann würde die Welt erkennen, wer dieser König tatsächlich war: Nicht nur einfach ein Mensch, sondern ein skrupelloser, machtgieriger Mann.

Einer, der über Leichen ging. Sogar über die Leichen seines Bruders und dessen Nachkommen.

Schied Bertulfs Vater Karlaman am 4. Dezember 771 nicht durch Gift aus dem Leben, das ihm auf Geheiß seines Bruders in den Wein geträufelt worden war? Die Wassersucht soll er gehabt haben, wurde behauptet. War das nicht eine Krankheit, die bestenfalls Greise befiel? Karlaman zählte am Tag seines Todes noch nicht einmal einundzwanzig Lenze! Niemand hatte zuvor etwas von einer lebensbedrohlichen Krankheit bei ihm bemerkt, und er hatte auch über nichts dergleichen geklagt.

Bertulfs älterer Bruder Pippin hätte nach dem Tod seines Vaters über den südöstlichen Teil des Frankenlandes regieren sollen. Doch dazu kam es nicht, da sich König Karl noch während der Trauerfeierlichkeiten daran machte, über die Ländereien seines toten Bruders zu verfügen. Eine mögliche Änderung dieser Situation durch Karlaman Wohlgesonnene wusste Karl zu verhindern: Er nötigte Papst Hadrian wenig später, die Bitte seiner Schwägerin und des mit ihr befreundeten Königs Desiderius abzuschlagen, die Kinder seines Bruders zu Königen zu salben. Unter welchen Umständen dies geschah, mochten spätere Geschichtsschreiber deuten.

Bertulf konnte sich nur allzu gut an die aufgewühlte Reaktion seiner Mutter und des lombardischen Königs erinnern, zu dem sie geflüchtet waren – und an die hinter vorgehaltener Hand getuschelten Mutmaßungen, die König Karl Bestechung und Verrat unterstellten.

Dass Desiderius auf Karl nicht gut zu sprechen war und die fränkische Königin in seine Obhut nahm, mochte im Übrigen daran liegen, dass jener kommentarlos Desiderius’ Tochter an den väterlichen Hof zurückschickte. Karl hatte nach kurzer Ehezeit mit ihr beschlossen, sich eine andere Frau zu nehmen. Diese Entscheidung sollte in ein unbeschreibliches Desaster münden, an dessen Ende die Gefangennahme und lebenslange Inhaftierung des lombardischen Königs in einem fränkischen Kloster stand.

Bertulf fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als könne er dadurch die düsteren Gedanken vertreiben, die ihn seit seiner Kindheit verfolgten. Aber sie blieben hartnäckig, ließen sich nicht einfach wegwischen.

Er erinnerte sich daran, wie ihm einer der ehemaligen Getreuen seines Vaters berichtete, dass König Karl seinem Bruder am Totenbett nur einen kurzen Blick geschenkt, dessen junger Witwe nicht einmal die Hand zum Trost gereicht habe. Da sei etwas in den Augen Karls gewesen, das dem Mann Angst einflößte. Todesangst.

Wenn die Nachkommen seines Bruders ihre Erbschaft bereits jetzt anträten, ließ Karl demzufolge die erstaunte Trauergemeinde wissen, würden sich andere, unfähige Leute um die Regierungsgeschäfte kümmern, bis die Kinder erwachsen waren. Man wisse ja, dass solcherlei noch nie gutgetan habe.

So jedenfalls berichtete jener alte Mann, was er beobachtet hatte, und Bertulf sah keinen Grund, weshalb er daran zweifeln sollte.

Mit ‚andere‘ meinte Karl vermutlich seine Schwägerin, die junge Witwe Gerberga, Bertulfs Mutter. Der Onkel schien Angst davor gehabt zu haben, dass der Brudermord aufgedeckt würde, wenn Gerberga als Verwalterin der Rechte ihrer Kinder die Möglichkeit dazu gehabt hätte.

Gerberga floh aus gutem Grund wenige Tage nach der Beisetzung Karlamans zusammen mit ihm, dem wenige Wochen alten Säugling, seiner Schwester Ada und seinem älteren Bruder Pippin zu König Desiderius, der ihnen helfend die Hand entgegenstreckte.

Karl wollte die Welt beherrschen, und dazu war ihm jedes Mittel recht. Da war die Sippe des toten Bruders nur im Weg, den es zu ebnen galt. Koste es, was es wolle.

Bertulfs Schwester Ada wurde seit ihrer Kindheit immer wieder von demselben Traum gequält, in dem sie die Worte ihres sterbenden Vaters hörte: „Ada, mein Kind, der Tod wurde mir in einem goldenen Becher gereicht.“

Sie konnte später nur ahnen, was damit gemeint war.

Ada.

Ada war wie ihre beiden Brüder überzeugt davon, den Tod des Vaters eines Tages sühnen zu müssen. Auf ihre Weise.

Jetzt hatten sie ihren lang gehegten Plan endlich umsetzen können. Ein Plan, der nicht nur den Raub des awarischen Goldes einschloss, sondern hinter dem noch etwas weitaus Größeres stand. Etwas, das König Karl nicht einmal ansatzweise wissen konnte.

Pippin.

Pippin lag seit einigen Wochen in einem Spital in der Nähe von Rom. Er hatte sich eine üble Verletzung zugezogen, die er dort auskurieren wollte.

Bertulf würde nie wieder von ihm und den beiden Frauen hören.

Er schob seine finsteren Gedanken beiseite. Es galt, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, nach vorne zu schauen.

Ada würde von seinen Getreuen zu Abt Adalbrand gebracht werden, in dessen Obhut sie und ihre Mutter vor möglichen Nachstellungen des Königs sicher waren.

Karl lebte ohnehin in Glauben und Hoffnung, dass die Familie seines Bruders seit der Einnahme Veronas vor mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr am Leben war.

Aber Karl hatte fürwahr nicht nur Freunde.

Der Prinz würde das für seine Zwecke zu nutzen wissen.

Bertulf richtete sich müde auf und warf einen letzten Blick auf das Kleinod in seiner Hand. Es war das einzige Stück aus dem vergrabenen Schatz, das er zurückbehalten hatte.

Er drückte seine Lippen auf die geheimnisvollenSchriftzeichen, fuhr mit den Fingerspitzen die Konturen des magischen Tieres auf der Vorderseite nach. Er wollte das wundervoll gearbeitete Amulett als Zeichen seiner aufrichtigen Liebe in die Hand der Frau zurücklegen, deren Volk König Karl beinahe ausgelöscht hatte. Mit ihr zusammen und den versprengten Resten dieses Volkes würde er ein Heer aufstellen und gegen den Onkel ziehen. Der sollte dieses Volk nicht umsonst zerschlagen haben wie die anderen Völker, die nur noch in Ausnahmefällen wagten, sich gegen ihn zu erheben. Die Männer, die um die geliebte Fürstentochter noch übrig geblieben waren, würden weitere Verbündete finden und mit ihm zusammen den Mann in die Knie zwingen, der sie in ein gemeinsames Schicksal gedrängt hatte, indem er versuchte, sie mitsamt ihren Familien auszurotten. Mit dem Gold, das Karl den Awaren geraubt hatte, und das er, Bertulf, ihnen eines Tages wieder zurückgab, würde er seine Mitstreiter reichlich belohnen.

Jetzt galt es, die Frau seines Herzens aufzusuchen, die sich mit ihrem kleinen Gefolge in einem Nebental jenes Flusses versteckt hielt, der Enisa genannt wurde. Bislang war er die anerkannte Grenze zu Baiern gewesen. Aber dieses Land war inzwischen, wie so viele andere, in fränkische, in Karls Hände geraten.

Eines Tages würde er zurückkehren und den Schatz heben.

Er würde zusammen mit der awarischen Fürstentochter Grundlage sein für eine neue Welt.

Eine, in der Männer wie Karl keinen Platz hatten.

Es sollte alles ganz anders kommen.

1

Der Regen tropfte schwer von den Bäumen, bildete Rinnsale und kleine Pfützen zwischen den braunen Blättern, und versickerte schließlich leise glucksend im aufgeweichten Waldboden. Dichter Nebel waberte langsam talaufwärts, kroch zwischen Gestrüpp und Felsen immer weiter in den Wald und die schroff aufragenden Felsen hinein und schluckte jedes Geräusch. Modriger Pilzgeruch vermischte sich mit brandigem Gestank, dem Duft der letzten würzigen Kräuter am Gehölzrand und dem Hauch von Angst, der dem Jungen folgte.

Eine ohrenbetäubende Explosion riss ihn fast von den Beinen.

Er wusste, was das bedeutete.

Was es für sie bedeutete.

*

Die Menschen in den kleinen Seitentälern des Geseis, dem wilden Teil der Enns zwischen Admont und Hieflau, hatten sich von der frühherbstlichen Stille noch nie täuschen lassen. Jeder kannte die Vorboten der gewaltigen Herbststürme, die seit Menschengedenken in den Bergen tobten, die an den Hausdächern rüttelten, Mensch und Vieh ängstigten. Stürme, die riesige Bäume wie dünne Reiser umknicken konnten, dass sie krachend über die Felsen herunterbrachen, sich über die tosend zu Tal stürzenden Bäche legten und deren Wasser bedrohlich anstauten.

Die Leute wussten um die strengen Winter, die den stürmischen Herbstwettern folgten, und sorgten bereits in den Spätsommern für trockenes Holz und dafür, dass für den Ernstfall alle Ritzen und Löcher ihrer Häuser zugestopft und dicht waren, dass die Dächer hielten.

Besonders schlimm war der Hunger, der jeden der strengen Winter unweigerlich begleitete, vor allem in den vergangenen Jahren. Missernten hatten Land und Leute ausgezehrt, die Lebensmittel waren oftmals bereits im Sommer knapp – aber im Winter reichte es kaum noch für eine einzige warme Mahlzeit am Tag.

Dazu kam, dass die Steuerlasten erdrückend geworden waren. Schmerzhaft vor allem für die einfachen Leute, für Bauern, Tagelöhner und Handwerker. Der Kaiser brauchte Geld für seine Kriegszüge, das er nicht selbst aufbringen konnte. Seitdem das Land ob der Enns 1620 als Pfand für seine großzügige finanzielle Unterstützung an Herzog Maximilian von Baiern verpfändet worden war, wurden sogar noch Abgaben für den Unterhalt der Besatzungstruppen erhoben. Die Soldaten des bairischen Herzogs hatten das Land förmlich überschwemmt, und quälten die Menschen in jeder denkbaren Weise, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Im Gegenteil.

Kaiser Ferdinand billigte das Vorgehen der herzoglichen Spießgesellen, die seinen Befehl zur Rekatholisierung der überwiegend protestantischen Bevölkerung des Landes unterstützten. Er ließ sie gewähren und hoffte, das widerspenstige Volk auf diese Weise einschüchtern und sich und seinem Willen unterwerfen zu können.

Der Kaiser mochte diesen ungeheuerlichen Kraftakt in weiten Teilen seines Landes zuwege gebracht haben, aber im Land ob der Enns stieß er auf eisernen Widerstand. Die Menschen dort ließen sich nicht vorschreiben, welcher Religion sie angehören sollten.

Katholisch werden? Die Anordnungen des Klerus befolgen, ihrem Fressen, Saufen und Huren zusehen und dafür auch noch bezahlen müssen? Ihren unverständlichen, weil lateinisch genuschelten Predigten lauschen? Beichtzettel an Ostern abholen? Sich bespitzeln, frönen, gängeln lassen von diesem selbstgefälligen, scheinheiligen Gesindel? Niemals!

Noch bissen die Leute im Land ob der Enns die Zähne zusammen und hielten still.

Aber das würde sich bald ändern.

*

Ein kurzes Knacken durchbrach die Stille. Der Junge verharrte erschrocken in geduckter Haltung, angestrengt nach allen Seiten lauschend.

Aber nichts rührte sich.

Johannes hastete vorsichtig und behände wie eine Katze weiter bergan. Er war sich im Klaren darüber, wie gefährlich sein Weg zu dieser Jahreszeit war. Der Boden war mit nassem Laub bedeckt, auf dem man unversehens ausglitt. Er hatte sich oft genug verletzt, wenn er zwischen den Bäumen am Bachufer entlanglief, einem entlaufenen Schaf, einer vorwitzigen Ziege auf der Spur, die sich von den übrigen abgesondert hatten.

Bei einer dieser Gelegenheiten hatte Johannes eine Höhle in einem der steil aufragenden Felsen entdeckt, die den Bergbach begleiteten. Sie war jetzt sein Ziel. Er musste sich beeilen, um rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit zu seinem Versteck zu gelangen.

Keuchend und immer wieder auf allen Vieren vorwärts hastend erreichte er über ein schmales Geröllfeld schließlich den Felsen. Mit klammen Fingern hielt sich der Junge an der unsicheren Steinwand fest, schob sich Stück für Stück nach oben, immer darauf bedacht, mit den dünn beschuhten Füßen festen Halt zu finden. Es gab keine Möglichkeit, auch nur einen Fußbreit unter sich zu erkennen. Er musste sich ganz an den Fels gedrückt aufwärts bewegen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, eine unbedachte Bewegung zu machen und in die Tiefe zu stürzen.

Erschöpft und mit blutenden Händen erreichte er den engen Durchschlupf und ließ sich entkräftet auf den Boden sinken.

Lange Zeit war er unfähig, die schmerzenden Arme und Beine zu bewegen.

Als er einigermaßen zu Atem gekommen war, hatte sich stockfinstere Nacht ausgebreitet. Johannes wischte sich mit dem Ärmel über das verschwitzte Gesicht. Jetzt war er zunächst einmal in Sicherheit. Hierher kamen sie heute Nacht nicht, und der Regen, der die nebelig-rauchige Stille abgelöst hatte, würde seine Spuren bis morgen verwischt haben, sollten sie ihm gefolgt sein.

Er zog sein aus grobem, hellem Wollstoff geschneidertes Hemd fest um sich, knöpfte sein Wams zu und schob seine Hose sorgfältig über die Beine. Dann rollte er sich auf dem Boden zusammen und schlief erschöpft ein.

Mitten in der Nacht erwachte Johannes frierend. Ein wütender Wind rüttelte in den Kronen der Bäume vor der Höhle. Johannes kroch zum Eingang und lauschte mit angehaltenem Atem in die Dunkelheit hinaus.

Der Wind trieb erbarmungslos eiskalten Regen vor sich her, den er dem Jungen wie spitze Nadeln ins Gesicht sprühte. Noch immer stank es nach Verbranntem. Johannes spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Er zog sich rasch wieder zurück.

In der Höhle war es ungemütlich kalt, aber wenigstens trocken. Weil sie zum Eingang hin etwas abknickte, war der Wind nicht allzu sehr zu spüren. Allerdings hatte sich klamme Feuchtigkeit in den Kleidern des Jungen festgesetzt, dass sie ihn kaum noch wärmten.

Johannes kauerte sich eng zusammen und lauschte zitternd und mit vor Kälte klappernden Zähnen auf das Heulen des Windes. Schlafen konnte er nicht mehr.

Steif gefroren und benommen rappelte er sich in der Dämmerung des neuen Tages auf und warf einen vorsichtigen Blick hinaus. Nichts rührte sich. Der Wind hatte sich gelegt. Inzwischen schloss erneut dichter Nebel das Tälchen ein.

Mit eiskalten Fingern nestelte Johannes seinen mitgebrachten Stoffbeutel auf und kippte den Inhalt auf einen flachen Stein. Ein Restchen Brot, ein paar getrocknete Pilze, Apfelringe und ein wenig Käse kamen zum Vorschein: der Rest des Proviants, den er am vergangenen Morgen eingesteckt und nicht aufgegessen hatte. Hastig stopfte er sich das Wenige in den Mund, da er nicht wusste, wann er jemals wieder etwas zu essen bekommen würde.

Er zog sein feuchtes Wams wieder eng um sich und überlegte, wie es weitergehen sollte. In der Eile hatte er keine Zeit gehabt, sich darüber Gedanken zu machen.

Plötzlich überkam ihn eine Traurigkeit, die ihm den Hals zuschnürte, dass er glaubte, ersticken zu müssen. Er sank schluchzend auf den Boden und verbarg den Kopf in den Armen. Seine Erinnerung gaukelte ihm vor, wieder zu Hause zu sein, auf seinem Strohlager zu liegen. Das erneut einsetzende Prasseln des Regens draußen verwandelte sich in das Prasseln des Herdfeuers im Hause seiner Familie.

*

Der Vater arbeitete, so weit Johannes zurückdenken konnte, als Holzknecht für die Köhlereien in und um Hieflau. Wie die anderen Männer der Passen blieb auch er sechs Tage in der Woche im Holzschlag und kehrte erst am Samstagabend nach Hause zurück. Meistens war es schon reichlich spät, wenn der Vater zur Tür hereinkam. Weil er recht müde und hungrig war, wollte er nur etwas essen, sich gründlich waschen und dann schlafen gehen.

Ihr Zuhause war eine alte Mühle. Sie stammte noch vom Großvater und war nach dessen Tod an seine Tochter übergegangen. Der Grundbesitz gehörte dem Kloster Admont, und dass Anna mit ihrer Familie weiter dort leben konnte, kostete sie jährlich einen gerade noch akzeptablen Batzen Geld.

Der Mühle wegen waren deren Bewohner unter dem Hausnamen Mühlhäusler bekannt.

Das kleine Dorf an der Mündung des Bergbaches in die Enns kannte Johannes gut. Eng zwischen den Fluss und den daran anschließenden Berg eingezwängt, bestand es nur aus wenigen Holzhäusern.

Jeden Sonntag gingen sie die gute halbe Stunde hinunter in die kleine protestantische Kirche: Johannes, der Vater, die Mutter und Johannes’ kleine Schwester Elisabeth. Jeremias Mitterer, ein konvertierter Mönch aus dem Kloster Admont, hatte sich dort eine kleine Prädikantenstelle eingerichtet. Er wurde von seiner protestantischen Gemeinde vor allem deshalb geschätzt, weil er noch immer gewisse Verbindungen pflegte, durch die er seine Schäfchen über die wichtigsten Veränderungen im Land auf dem Laufenden halten konnte.

Johannes’ Mutter Anna war zwar streng, was die täglichen Dinge betraf, darüber hinaus jedoch sehr liebevoll und niemals laut. Schon gar nicht bediente sie sich zur Bekräftigung ihres Willens der Flüche und Ausdrücke, die Johannes von anderen Weibern kannte.

Die Mutter unterschied sich ohnehin in vielen Dingen von den anderen Frauen seiner Umgebung. Sie war von zierlicher Gestalt, hatte trotz der täglichen Mühsal einen auffallend aufrechten Gang, ein rundes Gesicht und große, klarblaue Augen, die in aufregendem Kontrast zu ihren dichten, dunklen Haaren standen.

Johannes war nur zwei Jahre älter als die Schwester, aber er hatte sich um sie gekümmert, seit er denken konnte. Manchmal neckte er sie damit, dass er sechs Tage in der Woche den Vater ersetzte. Was seiner Meinung nach bedeutete, dass sie ihm ohne Widerspruch zu gehorchen hatte. Elisabeth bekam dann jedes Mal einen wutroten Kopf, dass ihre braunen Zöpfe wie kleine Mäuseschwänzchen abstanden, und ihre wasserblauen Augen wie zwei große, funkelnde Edelsteine aussahen.

Der Junge hatte niemals in seinem Leben einen Edelstein gesehen. Er kannte sie nur aus Geschichten, die er während der Jahrmärkte von den umherziehenden Gauklern hörte, welche ihre Erzählungen mit Bildern und Musik begleiteten. Da sah er dann die schönsten Frauen und die tapfersten und berühmtesten Männer der Welt auf bunte Tafeln gemalt. Die Damen auf diesen Bildern trugen edles Geschmeide und wunderschöne Kleider, die Männer die feinsten Hemden unter einem bestickten Wams, bunte Hosen und kniehohe Stiefel. Johannes kümmerte es nicht, welches Schicksal sie ereilt oder welch unfassbares Glück oder Unglück sie getroffen hatte. Er nahm nur die Bilder wahr und träumte seine eigenen Geschichten hinein.

Elisabeth war eine richtige kleine Persönlichkeit, soweit es die ‚gute Ordnung‘ zuließ. Manchmal schon hatte der Herr Prädikant Jeremias Mitterer die Mutter gescholten, weil sie der Kleinen durchließ, Dinge infrage zu stellen, die zum Donnerwetter noch mal von keinem Frauenzimmer infrage zu stellen waren. Weiberleute seien dazu da, sich dem Manne zu unterwerfen („Schon in der Bibel steht es: Der Kopf der Frau sei ihr Mann! Sie sei ihrem Manne untertan, wie auch der Körper unter dem Kopfe stehe und nicht umgekehrt!“), sich um ihn, seine Kinder, sein Heim und das Wohl der Familie und um sonst gar nichts zu kümmern. Sie hätten Kinder zu gebären und großzuziehen, aber nicht das Recht, dauernd Fragen zu stellen, die nicht einmal die Männer stellten. Wohin kämen wir denn, wenn alle Weiber sich so aufführten? Hoffärtige und neugierige Weiber seien dem Herrn, dem Allmächtigen, ein Gräuel!

„Glaubt Ihr wirklich“, fragte die Mutter einmal ungerührt zurück, „der Herrgott hätte unsere Elisabeth so geschaffen, wie sie nun mal ist, wenn er es anders lieber gesehen hätte?“

„Solche Frauensleute sind erschaffen worden, um Seine Herde zu prüfen“, antwortete der Prädikant stirnrunzelnd.

„Hat nicht sogar unser Herr Jesus eine Frau neben sich geduldet, die kein unbescholtenes Leben führte?“, fragte die Mutter zurück.

„Nun, wir alle wissen, dass nicht nur unser Herrgott, sondern auch sein Widersacher …“

„Den hat doch wohl auch unser allmächtiger Herrgott erschaffen, oder etwa nicht?“, hielt die Mutter dagegen.

Jeremias Mitterer holte mehrmals tief Luft und ließ sie dann grollend stehen.

Betrachtete sich Johannes im Wasserspiegel seiner Waschschüssel, konnte er kaum Ähnlichkeit zwischen sich und den beiden Weiberleuten finden, dafür aber umso mehr zum Vater, dessen Gesichtszüge sich Jahr für Jahr deutlicher im Antlitz des Sohnes erkennen ließen. Beide hatten sie braune Augen unter buschigen Brauen in einem schmalen Gesicht mit langer Nase. Ihre Haare waren glatt und dunkel, ihr Mund schmal. Sie waren nicht sehr groß, dafür kräftig gewachsen und mit zäher Ausdauer gesegnet.

Was seine Schwester betraf, so würde er dafür sorgen, dass sie nicht hierbleiben musste. Sie sollte keinen der Burschen aus dem Tälchen oder vom Dorf unten an der Enns zum Manne nehmen müssen, der ihr jedes Jahr ein Kind machte, das wiederum höchstens ein halbes Jahr alt werden würde. Ein Mann, der nicht genug Geld verdiente, um sie anständig einkleiden zu können, oder der sie und ihre Bälger sogar hungern lassen musste.

Nein. Elisabeth sollte eine vornehme Frau werden wie das Veverl aus Admont, das in Graz mit einem Salzhändler verheiratet war. Sie sollte auch nicht ständig mit einem dicken Bauch herumlaufen müssen wie die Schwestern seines Freundes Jakob. Kaum einer ihrer Säuglinge lebte länger als ein paar Wochen, und trotzdem liefen wenigstens ein Dutzend rotznasiger, plärrender Bälger auf dem Hof herum, von dem keiner so recht zu wissen schien, wem er denn nun eigentlich gehörte.

Wenn Johannes beim Nachbarn auf dem Hof war, um die Ziegen abzugeben, die er für ihn gehütet hatte, machte er jedes Mal, dass er schnell wieder fortkam. Der Alte hatte schon einmal im Rausch versucht, ihn windelweich zu prügeln, weil angeblich seine Lieblingsziege dürrer nach Hause gekommen sei, als er sie ihm anvertraut habe. Johannes entkam ihm nur deshalb, weil sein Freund Jakob den dicken Ziegenbock auf den Vater gehetzt hatte, der diesem mit gesenktem Kopf einen so deftigen Stoß gegen die Rippen versetzte, dass der Alte wie ein nasser Sack umfiel und im Dreck lag. Dort schlief er sofort röhrend wie ein brunftiger Hirsch ein.

Einmal erwischte Johannes ihn im Schafstall dabei, wie er sich besoffen und mit offenem Hosenladen an seiner ältesten Tochter zu schaffen machte, die er zuvor grün und blau geprügelt hatte.

„Was stierst du mich so an, du Hurensohn?“, hatte er ihn mit glasigen Augen angeschnauzt, ohne von dem armen Mädchen abzulassen, das er grob an eine der Stallwände drückte. „Die ist so gut wie jede andere auch. Dafür sind sie doch da, die Weiber! Darauf kommst du schon auch noch.“

Johannes hatte sich voller Entsetzen abgewandt und war vom Hof gerannt, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her.

Unten am Wasser stieß er auf Jakob, der mürrisch Steine in den Bach warf.

„Er ist der leibhaftige Satan!“, schrie Johannes ihm von Weitem zu. „Weißt du, was er deiner Schwester angetan hat?“

„Der Alte?“ Jakob zuckte die Schultern. Dann drehte er sich um und packte den atemlos vor ihm stehenden Johannes unvermittelt an dessen Hemd. „Ich werde zu den Söldnern gehen. Beim nächsten Jahrmarkt lasse ich mich von den Werbern mitnehmen!“, schrie er. „Die nehmen jeden, der nur will.“

„Was willst du denn bei den Söldnern?“, fragte Johannes entsetzt. „Die nehmen doch keine Kinder!“

„Ich bin elf Jahre alt!“, hielt Jakob dem Freund wütend entgegen.

Johannes schwieg und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

„Die Kerle sind auch nicht besser als dein Alter“, sagte er schließlich, weil ihm nichts weiter einfiel.

Jakob schob die Unterlippe vor. Der Rotz lief ihm herunter und sein Gesicht war völlig verschmiert und verschwollen.

Längere Zeit schwiegen die beiden Jungen. Johannes hoffte, das alles sei lediglich dummes Zeug, das der Freund jetzt nur sagte, um von seiner eigenen Situation abzulenken.

Das war lange her, und vieles war inzwischen geschehen. Johannes konnte damals nicht ahnen, unter welchen Umständen er den Freund eines Tages verlieren würde.

2

Johannes rieb sich fröstelnd Arme und Beine und hoffte, dass sie auf diese Weise wieder warm würden. Aber die Kälte war tief in ihn hineingekrochen und saß so fest, dass seine Zähne klapperten. Er schüttelte die Gedanken an das Vergangene ab. Das war ein für alle Mal verloren. Er würde nichts davon zurückholen können.

Seine Erinnerungen stimmten ihn unendlich traurig. Doch noch weitere Gedanken quälten ihn.

Wenn er in der Mühle geblieben wäre …

Vielleicht hätte er das Unglück verhindern können.

Vielleicht wäre er jetzt tot wie die anderen.

Er war hier.

Er hatte sie im Stich gelassen.

Er war ein elender Feigling.

Noch einmal ging er zum Höhleneingang, versuchte, das feuchtkalte Weiß davor mit allen Sinnen zu durchdringen – vergebens. Nur das Tropfen von den Bäumen war zu hören, deren Kronen bis zum Eingang der Höhle heraufragten, sonst nichts.

Als er nach einem mühsamen Abstieg den schmalen, steinigen Weg erreicht hatte, der entweder nach rechts den Berg hinauf zur Hütte eines Einsiedlers oder nach links talwärts zur Mühle führte, zauderte er einen Augenblick, welche Richtung er einschlagen sollte. Nach unten zur Mühle oder nach oben zur Hütte?

Was auch immer sein Verstand ihm einzuflüstern versuchte: Etwas zwang ihn, sich nach links zu wenden und bergab zu laufen. Er glaubte, das Klappern des Mühlrades zu hören, und blieb mehr als einmal lauschend stehen, weil er Stimmen zu vernehmen meinte.

Es war jedoch weder jemand zu sehen noch deutlich zu hören.

Aber es war noch immer etwas zu riechen.

Es roch nach verkohltem, feucht gewordenem Holz.Nach kaltem Rauch. Nach …

Tränen stiegen ihm in die Augen, liefen die blassen Wangen hinunter. Seine Beine bewegten sich mechanisch. Er spürte weder die Steine unter den dünnen Sohlen noch kümmerte er sich darum, dass er mehrmals rutschte und fast gefallen wäre. Je näher er der Mühle kam, umso deutlicher drang ihm der unverkennbare Geruch in die Nase, der ihm sagte, was er vorfinden würde.

Da war die Weggabelung. Der Fußweg traf in spitzem Winkel auf einen Ochsenweg, und genau gegenüber begann das Anwesen der Nachbarn.

Johannes verharrte einen Augenblick lauschend, konnte aber nichts mehr hören. Kein Klappern. Keine Stimmen.

Der Nebelschleier hatte sich etwas gehoben und gab den Blick frei auf das Nachbargrundstück. Der Junge erstarrte. Das verkohlte Gebäude sah aus wie das vermodernde Gerippe eines verendeten Tieres. Der Zaun, der das Grundstück zum Weg hin begrenzt hatte, grinste ihn an wie eine lückenhafte Zahnreihe.

Johannes lief weiter wie in Trance, erreichte das schief in den Angeln hängende Tor zum Anwesen der Mühle und sah im selben Augenblick, dass es sie nicht mehr gab. Man hatte Feuer gelegt, das Mehl war explodiert, hatte die Mauern gesprengt, die Steine ringsum verstreut, das Holz bersten lassen.

Der laute Knall vom gestrigen Abend.

Das Klappern, das ihn den Weg herunter begleitet hatte, kam von lose hängenden Balken, die sich hin und wieder im Wind bewegten.

Er stand reglos da und nahm nur schemenhaft in sich auf, was der Nebel ihn sehen ließ. Aber es reichte, um ihn wie einen Blinden taumelnd den Weg zurücklaufen zu lassen, den er zuvor gekommen war.

Johannes erreichte die Hütte des Einsiedlers, ohne richtig zu wissen, wie. Anselm war nicht da, das konnte er sofort sehen, weil der Laden vor dem einzigen Fenster lag und kein Rauch aus dem kleinen Schornstein quoll. Da der Mönch öfter für einige Zeit verschwand, war das an und für sich nichts Außergewöhnliches.

Sein Instinkt ließ Johannes jedoch zunächst einen Bogen um die Hütte schlagen und den Felsenkeller suchen, in dem Bruder Anselms Vorräte sein mussten. Ja, er hatte auch Hunger. Aber mehr noch als das hatte er Angst. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er panische Angst. Deshalb wagte er auch nicht, in der Hütte zu übernachten, wo sie ihn sehr schnell fänden, wenn sie nach ihm suchen sollten.

Er verkroch sich in Anselms Vorratskeller, ohne die bereithängende Laterne anzuzünden. Dort verharrte er lange Zeit beinahe regungslos, bis er sicher sein konnte, dass niemand ihm gefolgt war. Dann erst begann er, vorsichtig tastend nach etwas Essbarem zu suchen.

Was er fand, hätte für längere Zeit ausgereicht, aber er konnte keinen Bissen hinunterkriegen.

So lehnte er sich gegen die gepolsterte, mit Rupfensäcken verhängte Steinwand und heulte hemmungslos.

Nach einer endlos scheinenden Zeit drückte er vorsichtig die Luke auf, die sein Versteck nach oben abschloss, und warf einen prüfenden Blick hinaus. Es dämmerte bereits. Der Nebel hatte sich verzogen. Der Wind war stärker geworden und trieb kalten Regen fast waagerecht vor sich her.

Aufmerksam beobachtete er die Hütte des Einsiedlers und die Umgebung bis zum Waldrand, bevor er sich aus seinem Unterschlupf herauswagte. Der Boden war aufgeweicht, aber er konnte keinerlei Spuren entdecken, die darauf hingewiesen hätten, dass sich in der Nacht jemand hier herumgetrieben hatte. So schlich er sich zur Hüttentür, lauschte angestrengt und öffnete sie dann vorsichtig.

Das Innere sah verlassen aus. Die hölzernen Borde befanden sich noch an der Wand, Anselms Bücher jedoch fehlten. Die Feuerstelle war unversehrt aber kalt, Kessel und Pfannen hingen sauber gescheuert an der Wand. Tisch, Hocker und die Bettstatt des Einsiedlers waren leer, der Fußboden war gefegt. Es sah ganz so aus, als warte die Einsiedelei auf einen neuen Bewohner, nicht auf die sonst übliche Rückkehr des alten Mönchs nach einer längeren Reise.

Johannes lehnte sich erschöpft an die Wand und überlegte, weshalb Bruder Anselm sie bei seinem Weggehen dieses Mal so gründlich aufgeräumt, den Felsenkeller aber gelassen hatte, wie er war. Es schien ihm viel wichtiger gewesen zu sein, zerlesene Bücher und ein paar Tiegel mit Salben und Heiltinkturen mitzunehmen.

Nichts davon hatte er zurückgelassen. Nicht das kleinste Krümelchen zerstoßener Kräuter, kein Schmalz, keine Tinktur. Bruder Anselms größter Schatz war zusammen mit ihm und der Ledertasche verschwunden, die er nie aus der Hand gab.

Was mochte das bedeuten?

Johannes verließ die Hütte und warf noch einen Blick in das Gärtlein, auf das Bruder Anselm immer so stolz gewesen war. Es war sorgfältig umgegraben worden und zeigte dem Jungen, dass der Mönch keinesfalls in Eile aufgebrochen war, sondern seinen Auszug sorgfältig vorbereitet hatte. Im Gegensatz zu vergangenen Zeiten schien sein Weggehen dieses Mal für längere Zeit geplant gewesen zu sein. Oder tatsächlich für immer.

Aber wohin war er gegangen?

Warum hatte er nichts davon gesagt?

Johannes hatte ihn doch selber erst wenige Zeit zuvor verlassen, um in der Winterpause dem Vater zur Hand zu gehen. Da hätte der Mönch doch etwas verlauten lassen können.

Er verstand es nicht.

Im strömenden Regen machte sich Johannes schließlich erneut auf den Weg talwärts. Das Tosen des Gebirgsbaches und das Rauschen des Regens übertönten jedes weitere Geräusch. Johannes glaubte, dazwischen immer wieder die johlenden Stimmen und das heisere Lachen der Kerle zu hören, die in zerstörerischer Wut Gegenwart und Zukunft seiner Familie und der Nachbarn in Schutt und Asche gelegt hatten.

Schließlich nahm er seinen ganzen Mut zusammen und kletterte über die rutschig gewordenen Trümmer der ehemaligen Mühle, die bis auf den Weg verstreut lagen.

Das Mühlrad schien sich hilflos an einen Mauerstumpf zu krallen und ragte zur Hälfte in das tosende Wasser des Baches. Lange würde es nicht mehr halten und mitgerissen werden. Johannes erinnerte sich daran, wie stolz der Vater erst vor wenigen Wochen noch darauf gewesen war, die arg mitgenommenen Schaufeln wieder instand setzen und das Mahlwerk damit antreiben zu können.

Zwischen Steinbrocken und dampfendem Holz fand er ein paar Scherben von Mutters Geschirr und die verkohlten Reste der einfachen Möbel, die sich im Haus befunden hatten.

Ob die Mordbrenner wussten, was geschieht, wenn Mehl Feuer fängt?

Der Vater hatte einige Tage zuvor einen Teil des Mehls nach Hieflau zu den Bauern gebracht. So war nicht allzu viel davon in der Mühle geblieben, aber doch genug, um durch die Wucht der Explosion alles zu vernichten, was sich in unmittelbarer Nähe befand.

Aber wo war seine Familie?

Der Junge hoffte, dass sie sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatten. Seine Nase sagte ihm jedoch etwas anderes. Johannes legte seinen Arm vors Gesicht, um den schrecklich stinkenden Rauch nicht einatmen zu müssen, der an einigen Stellen immer noch aus den Trümmern kroch und sich über die Ruine gelegt hatte.

Was er die ganze Zeit über gewusst, aber nicht an sich herankommen hatte lassen, wurde zur grausamen Gewissheit. Denn plötzlich entdeckte der Junge eine verkohlte Hand, die zwischen ein paar zerborstenen Mauerresten herausragte. Entsetzt schrie er auf, räumte fieberhaft mit bloßen Händen Asche und Steine zur Seite.

Die Hand gehörte seiner Mutter. Anna. Ihre Leiche lag dort, wo sich gestern noch ihre Schlafstatt befunden hatte. Entsetzt sank er auf die Knie und vergrub das Gesicht in den von Ruß und Asche geschwärzten, aufgeschundenen Händen. Ein verzweifelter Schrei löste sich aus seiner Kehle.

„Mutter!“

Es gab weder eine Schaufel noch sonst etwas, womit er ein Grab für Anna ausheben konnte. Außerdem befürchtete er, ihre Überreste würden auseinanderfallen, sobald er sie berührte. Also begann er langsam, den Leichnam an Ort und Stelle wieder mit Steinen zu bedecken, und seine Mutter ihrem Frieden zu überlassen. Plötzlich aber stutzte er. Unter den verbrannten Resten ihres Gewandes entdeckte er etwas, das wie eine Münze aussah, die er niemals zuvor gesehen hatte. Sie war mit einer verkohlten Kruste und Asche überzogen. Auch die Männer, die Haus und Hof niedergebrannt und seine Mutter umgebracht hatten, schienen nichts von dem Kleinod bemerkt zu haben. Sie hätten es ihr sonst grob vom Hals gerissen.

Johannes schaute sich nachdenklich um.

Es gab doch nichts zu holen bei ihnen! Oder bei den Nachbarn! Nichts, wofür es sich lohnte, Menschen umzubringen, ihr Heim zu brandschatzen. Was waren das nur für Kreaturen, die so etwas taten?

Er schaute wieder auf die Überreste seiner Mutter hinunter, hätte sie so gerne ein letztes Mal umarmt. Jetzt war sie nur noch ein verbrannter Haufen Fleisch, der übel stank und nichts mehr mit der Frau zu tun hatte, die sie einmal gewesen war.

Zunächst wollte Johannes der Toten lassen, was ihr im Leben so wichtig gewesen war, dass sie es vor den Augen anderer verborgen gehalten hatte. Dann aber fiel ihm ein, dass er weder Geld noch sonstige Mittel besaß, mit denen er die nächste Zeit überleben konnte. Verkaufen würde er Mühle und Grund auch nicht können, da sich der Vater mit dem Wiederaufbau verschuldet hatte, und Grund und Boden ohnehin dem Stift gehörten. Die Münze würde er vielleicht verkaufen und mit dem Geld überleben können, wenn er Glück hatte. Allerdings wusste er auch, dass er dazu sehr viel Glück brauchte.

Johannes war auf einem verrußten Balken zusammengesunken und starrte vor sich hin. Er zürnte Bruder Anselm, der seine Hütte ohne Abschied verlassen und ihm somit die Möglichkeit genommen hatte, wenigstens vorübergehend Unterschlupf zu finden. Und Trost.

Ob Anselm etwas von den bevorstehenden Gräueltaten gewusst und sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte?

Er war ein Verräter. Ein gottverdammter katholischer Verräter!

*

Bruder Anselm lebte seit vielen Jahren als Einsiedler weit oben im Tälchen, dort, wo der Bach nur ein kleines, unruhig hüpfendes Quellbächlein war. Er hatte vor Zeiten die Hütte eines anderen Mönchs bezogen, als dieser in einem der kalten Winter gestorben war.

Als Johannes eines Abends aus einem der Holzschläge nach Hause kam, in denen er gearbeitet hatte, teilten ihm seine Eltern mit, dass ihn der Mönch in die Lehre nehmen würde.

Johannes war sprachlos. Auf diese Nachricht war er vollkommen unvorbereitet gewesen.

„Ich soll bei Bruder Anselm in die Lehre gehen? Was soll mir denn der Alte beibringen?“, fragte er aufgebracht. „Das Beten vielleicht? Habt ihr vergessen, dass er einer von denen ist? Ein Katholischer?“

Johannes sah Hilfe suchend zum Vater hinüber.

„Bruder Anselm ist ein besonderer Freund unserer Familie, Johannes, und wir wollen, dass du alles lernst, was er dir beibringen kann. Es gibt keinen Lehrer mehr für uns Protestantische, seit sich der Herr Prädikant aus dem Staub gemacht hat. Du hast deshalb gerade mal zwei Jahre lang die Schulbank gedrückt. Bruder Anselm ist der Beste, den wir uns für dich vorstellen können.“

„Ich bin viel zu alt für die Schule!“, entrüstete sich Johannes und schaute von seiner Mutter zum Vater. „Ich nütze der Familie doch weitaus mehr, wenn ich mit Vater im Holzschlag arbeite.“

Aber der machte keine Anstalten, sich mit seinem Sohn weiter über dieses Thema auseinanderzusetzen, und die Mutter schien mit dem Plan einverstanden zu sein. So wagte er nur noch einen kleinen Einwand.

„Ich kann doch schon ganz gut rechnen“, begann er vorsichtig und zählte seine inzwischen sechzehn Lenze über die Finger ab.

„Und was noch?“, fragte der Vater barsch.

„Alles, was du mir beigebracht hast, Vater“, versuchte es der Junge vorsichtig weiter.

„Du gehst zu ihm“, antwortete der Vater bestimmt. „Ich dulde keinen Widerspruch.“

Der Gedanke, von einem Katholischen etwas lernen zu müssen, das so gar nicht in seine protestantische Welt passen wollte, schien Johannes ungeheuerlich. Mochte er den Einsiedler noch so wertschätzen und mögen – das hier war etwas völlig anderes.

„Wann soll ich denn gehen?“, fragte er vorsichtig einlenkend, als er sah, dass Widerspruch keinen Sinn hatte.

„Nach Pfingsten.“

„Nach Pfingsten? Im Mai? Vor dem Sommer? Ich dachte … Sollte ich nicht …“

Sein Vater fasste ihn fest an den Schultern. Sein Blick ließ den Jungen verstummen.

„Nach Pfingsten“, wiederholte er.

So packte Johannes Mitte Mai des Jahres 1622 sein Bündel und verließ das elterliche Haus.

Von Elisabeth verabschiedete er sich, als er sie beim Hühnerfüttern traf. Er zog sie neckend an den Zöpfen, dass sie ihn verärgert wegstieß.

„Ich bin froh, dass du endlich gehst“, rief sie und schlug mit der flachen Hand auf seine Brust. Dann drehte sie sich um und lief davon, um sich hinter dem Haus auszuheulen.

„Mach’ dir keine Sorgen, Johannes“, sagte die Mutter zum Abschied. „Vater wird zum Frühsommer seine Arbeit im Holzschlag aufgeben und hierbleiben. Die Bauern haben gesagt, dass sie wieder einen Müller haben wollen. Deshalb werden wir die Mühle herrichten und versuchen, den Betrieb deines Großvaters wieder aufzunehmen. Wir haben gestern die Erlaubnis des Pflegers aus Admont bekommen, der für das Tälchen zuständig ist.“

„Ist das wahr?“ Johannes schaute seine Mutter überrascht an. Dann kam ihm der scheinbar rettende Gedanke. „Braucht Vater denn keinen starken Burschen, der ihm dabei behilflich ist?“

„Doch, den braucht er. Du kannst im Spätherbst wieder herkommen und ihm zur Hand gehen – du bist ja nur eine Wegstunde von uns entfernt.“ Sie küsste ihn auf die Stirn.

Johannes ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Einerseits wusste er jetzt, warum seine Eltern sich für diesen Zeitpunkt entschieden hatten, um ihn in die Obhut des Mönchs zu geben: Über den Sommer gab es keine Arbeit für ihn, wenn er nicht gerade die Ziegen der Nachbarn hüten wollte. Im Holzschlag brauchte man ihn über die Sommerzeit auch nicht.

Andererseits haderte er mit seinem Schicksal. Ein Lutherischer, der bei einem katholischen Mönch in die Schule ging! Was wollte ihm der denn beibringen, das ihnen allen nützlich sein konnte? Beten vielleicht? Psalmen herunterleiern? Eine ungeheuerliche Vorstellung.

Aber er musste sich der Entscheidung seiner Eltern fügen, auch wenn er sie nicht verstand.

Johannes wusste, am meisten würde er Elisabeth vermissen – und mit Sicherheit auch ein wenig die Mutter.

Er war heilfroh, dass der Vater zu Hause war.

*

Das, was Bruder Anselm als sein Zuhause bezeichnete, bestand aus einer alten, vom Wetter silberblank gegerbten Holzhütte, die der Mönch sehr sorgfältig in Ordnung hielt. Johannes konnte die neu eingefügten Hölzer erkennen, die der Einsiedler im Laufe der Jahre gegen brüchig gewordene ausgetauscht hatte. Sie waren allesamt roh belassen, nur die Rinde war entfernt worden. In die Fugen hatte Bruder Anselm Moos und Erde gestopft, und dann sauber mit einem dunklen Brei unbestimmter Zusammensetzung zugeschmiert.

Es war also nicht so, dass der Alte sich nur mit geistigen Dingen beschäftigte. Er war offenbar auch handwerklich begabt und kannte sich mit weitaus mehr aus, als Johannes geglaubt hatte.

In der Hütte gab es einen einzigen Raum mit zwei Strohlagern, die neu aufgeschüttet und mit frischem Tuch bezogen worden waren. An der Wand gegenüber dem Eingang befanden sich Borde mit etlichen Büchern, die reichlich mitgenommen aussahen. Einige größere und kleinere Töpfe und Pfannen hingen sauber geputzt und aufgereiht an der Wand neben dem Herd, über dem eine grob geschmiedete Esse den Rauch ins Freie abführte. Daneben stand ein Tisch mit drei Hockern. Ein Holzverschlag diente als Schrank, in dem der Einsiedler seine paar Habseligkeiten aufbewahrte. Ein weiteres Bord war vollgestellt mit tönernen Trinkbechern und Krügen, Tellern, Schüsseln, verkorkten Flaschen und etlichen Tiegeln.

Bruder Anselm hieß seinen Schüler, sich zu setzen, nachdem er ihn freudig begrüßt hatte. Zuerst briet er für sich und den Jungen zwei dicke Streifen Speck und ein paar Eier in einer Pfanne, die er zusammen mit einem halben Laib Brot und einem Topf dampfender Gemüsesuppe auf den Tisch stellte. Dann sprach er einen Segen, und legte Johannes die Hälfte des Speckgerichtes auf ein Holzbrett. Ein erstaunlich üppiges Mahl für einen Einsiedler.

„Mein letzter Speckvorrat“, sagte Anselm schmunzelnd, als er Johannes’ erstaunten Blick sah. „Hat mir ein Bauer gegeben, dessen Frau ich behandelt habe. Hatte sich bei einem bösen Sturz die Schulter ausgerenkt und eine Rippe gebrochen. Nimm dir von der Suppe, so viel du magst.“

Sie tranken Wasser aus einem Krug, den die Mutter Bruder Anselm einmal mitgegeben hatte. Er brachte dem Jungen plötzlich in Erinnerung, dass er zum ersten Mal in seinem Leben für längere Zeit nicht unter dem Dach seiner Eltern nächtigen würde. Überrascht stellte er fest, dass ihn nur der Gedanke an Elisabeth und ihr Wohlergehen beunruhigte. Um die Eltern war ihm nicht bang.

In den kommenden Wochen lernte der Junge neben den praktischen Dingen, die der Mönch ihm zeigte und die vom Brotbacken in einem aus groben Feldsteinen sorgfältig errichteten kleinen Backhaus über das Zubereiten von einfachen Mahlzeiten reichten, auch flüssig und fehlerfrei zu lesen und zu schreiben. Dazu bediente sich der Einsiedler seiner zerlesenen Bücher und eines Stücks Schiefer, auf das Johannes mit ungelenker Hand Buchstabe für Buchstabe kritzelte, bis er schließlich mühelos kurze Passagen aus der Bibel lesen und abschreiben konnte.

Ganz anders als Jeremias Mitterer, der ehemalige Lehrer und Prädikant unten im Dorf, legte der Mönch viel Wert auf eine saubere Schreibweise, und ließ seinem Schüler nicht den kleinsten Fehler durch.

Nebenbei lernte Johannes noch Latein, da der Mönch selbstverständlich nicht die übersetzte Bibel der Lutheraner, sondern die einzige von der katholischen Kirche autorisierte Version in der lateinischen Fassung besaß.

Bruder Anselm freute sich insgeheim darüber, wie leicht seinem Schüler das Lernen fiel, womit sich seine lange gehegten Vermutungen in dieser Richtung vollkommen bestätigten.

*

Der Blick des Jungen fiel wieder auf den golden schimmernden Anhänger seiner Mutter. Ihrem Grab oder gar Leuten etwas zu überlassen, die heraufkommen und die Ruine nach Brauchbarem durchsuchen würden, erschien ihm noch unwürdiger, als das Schmuckstück mitzunehmen und später zu entscheiden, was damit geschehen sollte.

„Verzeih mir, Mutter“, flüsterte er in Tränen aufgelöst und nahm ihr die Münze vorsichtig ab. Sie musste an einem Stoffband befestigt gewesen sein, das sich in die Haut eingebrannt hatte, wie auch die Münze selber, die er nur mit Mühe von der verkohlten Haut lösen konnte. Vermutlich hatte die Mutter sie als Amulett benützt, um sich vor Unheil zu schützen, wie das manche Menschen hin und wieder machten, mutmaßte der Junge. Dann hatte sie ihr allerdings wenig genützt.

Johannes setzte sich mit dem seltsamen Schmuckstück in der Hand mitten in die Reste dessen, was einmal sein Heim gewesen war, und starrte wieder vor sich hin. Die Welt stürzte über ihm zusammen. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, auf der Hut vor denen zu sein, die das alles angerichtet hatten und sich womöglich noch in der Nähe befanden. Im Gegenteil. Scham überfiel ihn, nicht mit seiner Familie unter den Trümmern begraben zu liegen.

Er nestelte die Münze an eine Schnur, die seiner Hose Halt gab, und verbarg beides unter seinem Hemd.

Nachdem Johannes Stein auf Stein über der Toten aufgeschichtet hatte, suchte er die Ruine nach den Leichen seines Vaters und seiner Schwester ab, fand aber nur einen toten Körper, den er als den des Vaters erkannte. Den hatten die Schurken an einem Balken im Stall aufgeknüpft, mit dem er abgestürzt war, als das Gebäude zusammenfiel. Reste des Strickes hatte er noch um den Hals, als Johannes ihn unter den Trümmern fand. Auch über seinem Leichnam konnte er mangels Schaufel und Hacke nur einen Hügel aus jenen Steinen errichten, die einstmals das Fundament zum Stall einer meckernden Ziege und einer Schar gackernder Hühner gewesen waren.

Hühner.

Elisabeths Lieblinge.

Johannes erstarrte.

Wo war die Leiche seiner Schwester?

Er suchte alles ab, räumte Steine zur Seite, grub mit bloßen Händen in der Asche, konnte sie jedoch nirgends finden.

Hatten die Mörder seiner Eltern das Mädchen mitgenommen?

Er ahnte, was dann mit ihr geschehen sein mochte, und kotzte sich bei den Bildern in seinem Kopf beinahe die Seele aus dem Leib.

Warum nur waren sie nicht alle geflohen, als noch Zeit dazu war? Warum hatten sie ihn einen dummen Jungen genannt, als er sie vor dem Haufen verkommener Kreaturen warnte, die er Tage zuvor bereits im Holz auszumachen geglaubt hatte?

So etwas gebe es nicht, beschied man ihn. Nie hatte man von umherziehenden Mordbrennern im Ennstal oder hier im Tälchen gehört. Räubergeschichten seien das, nichts sonst. Sie glaubten nicht, dass jemand das kleine Seitental der Enns und seine Bewohner für so interessant halten könnte, dass man es überfiel. Jeder wusste, dass es bei den wenigen Bewohnern nichts zu holen gab, also würden sich marodierende Banden nicht hierher verirren.

Man wusste auch von bairischen Soldaten, die auf der Suche nach ketzerischen Protestanten waren und die unter dem Schutz des Statthalters Adam Graf von Herberstorff hin und wieder plündernd durch das Land ob der Enns zogen. Aber hier im Ennstal wähnte man sich vor ihnen sicher. In diese unwegsame Gegend würden sie nicht kommen. Außerdem stünde das Stift Admont wie ein Schutzschild vor dem Gesäuse, hatte man ihm gesagt.

Hatte das nicht auch ihr ehemaliger Prädikant Jeremias Mitterer behauptet? Und war er dann nicht über Nacht abgehauen und hatte seine kleine Gemeinde im Stich gelassen?

Die erhoffte Sicherheit war ein tödlicher Irrtum gewesen.

Als Johannes aus Admont zurückgekommen war, wohin man ihn zum Bezahlen der fälligen Abgaben geschickt hatte, stand die Mühle seiner Eltern bereits in Flammen. Rauch und Nebel hatten vor dem Jungen verhüllt, was die Mordbrenner angerichtet hatten. Aus Nebel und Rauchschwaden hatte er die Meute brüllen und lachen gehört. Ihm war nur die Flucht in seine Höhle geblieben mit dem Wenigen, das er dabeihatte.

Zitternd vor Angst um seine Schwester durchsuchte er noch einmal alles so gründlich es eben ging, stieß jeden verkohlten Balken zur Seite, kroch unter eingestürzte Mauerreste. Aber er fand weder sie noch ihren Leichnam. Schließlich wagte der Junge es sogar, in der Asche des Nachbaranwesens zu stöbern, fand dort aber lediglich die teilweise bis zur Unkenntlichkeit verbrannten Leichen der ehemaligen Bewohner. Er hatte keine Kraft mehr, sie auch noch unter Steinen zu begraben, und überließ ihre sterblichen Überreste dem Schicksal.

In Johannes glomm ein Funke Hoffnung bei dem plötzlichen Gedanken auf, Jakob habe sich und das Mädchen in Sicherheit gebracht. Immerhin wusste er, wie gern der Freund seine Schwester gehabt hatte. Der hätte trotz seiner grobschlächtigen Art niemals zugelassen, dass ihr ein Leid geschah. Wobei ihn die Zweifel wie Fieber schüttelten, nachdem er die im Feuer teilweise auf Kleinkindgröße zusammengeschrumpelten Körper seiner Nachbarn gesehen hatte. Man hatte sie allem Anschein nach ins Haus getrieben, in dem sie schließlich verbrannten.

Unmöglich sie auszugraben, herauszufinden, ob es sich bei allen Leichen um seine Nachbarn handelte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie viele auf dem Anwesen waren, als die meuchelnde Bande über sie herfiel, konnte nur ahnen, welches Schicksal sie erleiden mussten, hoffte, dass sie ein schnelles Ende gefunden hatten. Seine Schwester konnte durchaus unter den Toten sein. Vielleicht hatte sie Hilfe holen oder sich bei den Nachbarn verstecken wollen.

Es war sinnlos, weiter nach ihr zu suchen.

Johannes stolperte schließlich zum Bach hinunter, um ein wenig Wasser zu trinken und seine wunde Kehle zu beruhigen. Laut heulend sank er zwischen Steinen und Morast nieder, und fühlte nur noch Schmerz und Verzweiflung.

Warum taten Menschen so etwas?

Er konnte nicht ahnen, dass er im Laufe der Zeit immer wieder mit solchen Bildern konfrontiert sein würde. Europa stand mitten in den Wirren eines großen Krieges, von dessen Ausmaß sich in jenen Tagen niemand ein Bild zu machen imstande war.

Kurz vor Einbruch der Dämmerung hatte er sich wieder einigermaßen gefasst. Mit den Händen schöpfte Johannes noch einmal das eiskalte Wasser des Baches und trank davon. Dann reinigte er Gesicht und Hände und überlegte, was er weiter tun sollte. Dabei steckte er die klammen Finger in seine Jackentasche, und spürte durch den dünnen Stoff das Amulett, das einmal seiner Mutter gehört und das er an seiner Hosenschnur befestigt hatte. Er musste es erst gründlich von der schwarzen Kruste reinigen, mit der es überzogen war. Johannes wusste, dass er nicht nur verbrannten Stoff von dem Kleinod wusch. Tapfer schluckte er das Würgen in seinem Hals hinunter.

Er hatte nie so genau darauf geachtet, was Anna trug. Ein Goldstück wie das, welches er jetzt in der Hand hielt, wäre ihm aber sicherlich aufgefallen, hätte sie es offen getragen. Es war ihm ein Rätsel, woher eine so einfache Frau wie seine Mutter ein so wertvolles Stück haben sollte. Warum hatte sie es nicht verkauft und damit ihre spärlichen Einnahmen aufgebessert? Hatte sie die seltsame Münze tatsächlich als Schutz vor Unheil getragen?

Er fror vor Erschöpfung und Grauen, und da er außer ein paar Schlucken Wasser nichts zu sich genommen hatte, fühlte er sich nur noch matt und zerschlagen.

Johannes beschloss, aus der Nähe des ehemaligen Mühlhäusler-Anwesens zu verschwinden, und sich am nächsten Morgen Gedanken darüber zu machen, was weiter zu tun sei.

Der Hunger trieb ihn zunächst wieder bergwärts zur Hütte des Einsiedlers. Dabei waren alle seine Sinne aufs Höchste angespannt, da er nicht sicher sein konnte, dass die Bande das Tälchen tatsächlich wieder verlassen hatte. Während er am gestrigen Tag aus Richtung Admont gekommen war, mussten sie an der Enns entlang aus Richtung Hieflau heraufgezogen sein, sonst wäre er ihnen begegnet. Oder sie waren vor ihm flussabwärts gezogen und dann in das Tälchen eingedrungen. Oder sie kamen aus dem Süden über die Berge, wohin sie auch wieder verschwanden.

Die Spuren, die sie zurückgelassen hatten, ließen nicht erkennen, woher sie gekommen und wohin sie gezogen waren, nachdem sie ihr unheilvolles Werk vollendet hatten.

Die Hütte des Einsiedlers war immer noch unversehrt, stellte er erleichtert fest, als er sie keuchend erreichte. Also waren sie bestimmt nicht bergauf gezogen oder von dort gekommen, sonst hätten sie sich hier vermutlich noch einmal ausgetobt. Oder aber sie waren hier durchgekommen und hatten die Einsiedelei eines katholischen Mönchs nicht antasten wollen. Oder …

Der Junge erstarrte bei dem Gedanken daran, dass sie Bruder Anselm mitgenommen haben könnten, wenn nicht gar noch Schlimmeres, dass er nämlich mit ihnen kollaboriert hatte. Dagegen aber sprach, wie ordentlich er seine Behausung verlassen hatte.

Zu viele ungelöste Rätsel, zu viele wirre Gedanken kreisten durch seinen Kopf und ließen ihn nicht zur Ruhe kommen.

Johannes wagte nicht, Holz zu sammeln und Feuer anzuzünden oder sich länger als unbedingt notwendig in der Hütte aufzuhalten. Eine Nacht blieb er, schlief endlich einen erschöpften Schlaf auf seiner alten Lagerstatt, aus der er immer wieder auffuhr, weil er ein beunruhigendes Geräusch zu hören glaubte.

3

Nachdem er sich in der Dämmerung des nächsten Morgens so viel aus dem Keller des Mönchs eingesteckt hatte, dass er gerade mal einen Tag lang etwas zu essen hatte, machte Johannes sich auf den Weg, den Bruder Anselm vielleicht auch genommen hatte: bergauf. Es war eine Möglichkeit, nach Graz zu gelangen, von wo aus der Mönch vor Jahren ins Tälchen gezogen war. Vielleicht war er in sein Kloster zurückgekehrt, und würde dem Jungen einen Weg aus seiner aussichtslosen Lage zeigen oder ihm anderweitig helfen. Nach Admont gehen wollte er nicht, da er sich vor den Folgen fürchtete, wenn man dort erfuhr, was mit der Mühle geschehen war. Das Schicksal der Menschen war für den Stift uninteressant, waren es doch einfach nur Protestanten gewesen.

Auf der Höhe war bereits der erste Schnee gefallen. Johannes’ Bekleidung und Schuhwerk waren für eine Flucht auf diesem Weg völlig ungeeignet. Zwar schwitzte er vor Anstrengung, aber da sich seine Finger und Zehen bereits nach kurzer Zeit wie erfroren anfühlten, kam er nur mühsam vorwärts.

Die Schläge der Holzfäller hörte er schon von Weitem. In der Passe im oberen Waldbereich des Baches hatte sein Vater jahrelang gearbeitet, und er selber hatte den Männern auch ein paar Monate lang geholfen. Als er schließlich bei ihnen auftauchte, hielten sie in ihrer Arbeit inne und schauten ihm beunruhigt entgegen.

Johannes ließ sich erschöpft auf einem der frisch gefällten Baumstämme nieder und erzählte seine Geschichte, während ihm jemand einen Becher mit heißem Wasser reichte.

Keiner der Männer unterbrach ihn, keiner sagte ein Wort. Alle hörten ihm nur entsetzt zu.

„Wir haben hier oben nichts davon gemerkt. Die sind auch nicht bei uns durchgekommen. Vielleicht sind sie dem Geseis entlang nach Hieflau gezogen oder über die Berge nach Süden. Nach Graz.“ Der Vorarbeiter legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. „Es tut uns leid, was deiner Familie zugestoßen ist.“

„Das muss doch ziemlich laut geknallt haben, als das Mehl explodiert ist“, überlegte ein anderer. „Aber bis hierher war nichts zu hören. Oder wir haben nicht darauf geachtet.“

„Ich hab schon was gehört“, meinte einer. „Hab mir auch überlegt, was das gewesen sein könnte. Aber weil ich mir nicht denken konnte, was es war, hab ich es wieder vergessen.“ Er schüttelte sorgenvoll den Kopf. „Manchmal ist es gut, nicht zu viel zu wissen.“

„Wer hat das gemacht?“, fragte ein weiterer aus der Gruppe. Johannes konnte nur die Schultern heben.

„Ich weiß es nicht.“

„Ich habe schon davon gehört, dass hin und wieder ein paar Söldner aus den bairischen Heeren durch die Seitentäler ziehen, und kleine Bauernhöfe überfallen. Aber dass sie es so schlimm treiben, also davon hab ich bislang noch nichts gehört“, sagte ein anderer. „Und gerade hier, wo die Leute sowieso nichts haben.“

„Wo willst du jetzt hin?“, fragte ihn der Vorarbeiter und reichte ihm ein Stück Brot und Käse. Johannes nahm es dankbar an. Er hatte seine Vorräte bis auf einen kleinen Rest bereits aufgegessen. Die Flucht über das unwegsame Gebirge hatte seine Kräfte beinahe aufgezehrt.

„Ursprünglich wollte ich nach Graz, Bruder Anselm suchen“, begann Johannes zögernd.

„Nach Graz“, echote einer der Männer und schüttelte den Kopf. „In die Stadt! Das ist doch nichts für einen von uns!“

„Es gibt sonst niemanden, zu dem ich gehen könnte.“

Die Männer verstanden. Sie selber waren nicht in der Lage, den Sohn eines ihrer ehemaligen Kameraden für längere Zeit in ihren Familien aufzunehmen. Dazu waren sie viel zu arm.

„Kannst zuerst einmal hierbleiben, wenn du magst“, befand der Vorarbeiter und die übrigen stimmten ihm zu. Er zeigte ein Stück in den Wald, wo Johannes die notdürftig errichteten Hütten der Arbeiter wusste. „Such dir eine aus und leg dich ein wenig aufs Ohr. Wir halten Augen und Ohren offen für den Fall, dass die Dreckskerle sich in unseren Holzschlag wagen.“

„Danke.“

Der Junge blieb eine Woche lang bei den Männern und half ihnen bei ihrer schweren Arbeit, so gut er konnte. Er war dankbar, während seines Marsches über die Gebirgskette nicht krank geworden zu sein. Immerhin hatte es geschneit, und sein Schuhwerk war bereits nach kurzer Zeit völlig unbrauchbar geworden. Beinahe barfuß hatte er den steinigen, verschneiten Weg bewältigt. Selbst seine Socken waren inzwischen nicht mehr zu gebrauchen. Einer der Männer flickte notdürftig seine Schuhe, ein anderer gab ihm zwei Socken, die nicht zusammenpassten. Jemand hatte auch ein dickes Wams und warme Beinkleider für ihn aufgetrieben, damit er für die kalte Jahreszeit zumindest ein wenig geschützt war.

Als eine Gruppe der Männer nach Hieflau zu den Köhlereien aufbrach, begleitete er sie. Seinen Plan, nach Graz zu ziehen und Bruder Anselm zu suchen, hatte er nach langen Gesprächen mit den Holzfällern und aus gutem Grund aufgegeben.

Blieb noch Linz. Wenn er sich recht besann, lebten dort eine entfernte Verwandte und ein guter Freund von Bruder Anselm, dessen Arbeit er während seiner Zeit mit dem Einsiedler zu schätzen gelernt hatte: Johannes Kepler, sein Namenspate.

Die Männer ließen ihn nur ungern ziehen, ahnten sie doch, dass ihm kein leichtes Leben bevorstand.

In Hieflau konnte er durch Fürsprache der Holzhauer kurzfristig Arbeit an einem der Rechen finden, an denen das Holz angeschwemmt wurde, welches man flussaufwärts in die Fluten hatte gleiten lassen. Es wurde zur Verhüttung des Erzes gebraucht, das man seit Menschengedenken ein Stück weiter Richtung Süden aus einem riesigen Eisenerzberg schlug.

Johannes hatte immer wieder nach den Kerlen gefragt, die sein Elternhaus und die Mühle zerstört und seine Eltern umgebracht hatten. Aber niemand hatte etwas von ihnen gesehen oder gehört.

„Die werden flussaufwärts gezogen sein“, mutmaßte einer der Köhler, der sich am Abend im Wirtshaus neben ihn gesetzt hatte. „Wenn die vor Admont die Enns überquert haben und Richtung Sankt Gallen weitergezogen sind, find’t man die ned so schnell. Warum fragst nach ihnen? Kannst doch nichts ausrichten bei denen.“

„Ich will meine Schwester wiederfinden“, erklärte Johannes leise.

„Deine Schwester?“

Johannes erzählte ihm, was geschehen war. Der Köhler hörte schweigend zu.

„Ich konnte sie in den Trümmern der Mühle nicht finden. Vielleicht haben die Mordbrenner sie mitgenommen.“