Wenn der Schnee ans Fenster fällt -  - E-Book

Wenn der Schnee ans Fenster fällt E-Book

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die ideale Lektüre für gemütliche Winterabende - Gedichte und Geschichten von Thomas Mann, Robert Gernhardt, Judith Hermann, Peter Stamm und vielen anderen. Winter Der Fjord mit seinen Inseln liegt wie eine Kreidezeichnung da; die Wälder träumen schnee-umschmiegt, und alles scheint so traulich nah. So heimlich ward die ganze Welt ... als dämpfte selbst das herbste Weh aus stillem, tiefem Wolkenzelt geliebter, weicher, leiser Schnee. Christian Morgenstern

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 254

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wenn der Schnee ans Fenster fällt

Winterliche Geschichten und Gedichte

Herausgegeben von Heide Franck

Anthologie

FISCHER E-Books

Inhalt

Juchhe, der erste SchneeGeorg Trakl: Ein WinterabendJudith Hermann: KohlenLied: Juchhe, der erste SchneeWalther von der Vogelweide: Uns hat der Winter über alles Schaden zugefügtOscar Wilde: Das SternkindRobert Gernhardt: StadtwinterRezept: Drei Winter-LiköreTheodor Fontane: Alles stillLied: Sankt MartinChristian Morgenstern: Der SeufzerLasst uns froh und munter seinJoachim Ringelnatz: Vorfreude auf WeihnachtenPeter Rosegger: AdventLied: Lasst uns froh und munter seinFelix Timmermans: St.Nikolaus in NotRezept: ZimtsterneJörg Maurer: Erwachsene backen Weihnachtssterne – ein PsychotestAgnes Harder: Die vier AdventslichterThomas Mann: Einleitung für die Christmas Book Section der »Chicago Daily News«Paul Nizon: Die weißen StrümpfeLied: Leise rieselt der SchneeMarie von Ebner-Eschenbach: Das Weihnachtsfest war naheHeiligste NachtJoseph von Eichendorff: WeihnachtenLied: Heiligste NachtThomas Mann: Weihnachten auf dem ZauberbergSelma Lagerlöf: Die Heilige NachtRobert Gernhardt: WeihnachtsrätselgedichtRezept: Elisen-LebkuchenPeter Stamm: EismondTheodor Storm: Marthe und ihre UhrStefan Zweig: WeihnachtLied: Es kommt ein Schiff, geladenLucy Avellis: Im Himmels-Weihnachts-WarenhausJörg Maurer: Christmas CrimesDes Jahres letzte StundeLew Tolstoj: SilvesterballJohann Wolfgang Goethe: An SchillerLied: Des Jahres letzte StundeHeinrich von Kleist: Neujahrswunsch eines Feuerwerkers an seinen Hauptmann, aus dem siebenjährigen KriegeRobert Gernhardt: Meine FrauRezept: Punsch ImperialHans Christian Andersen: Das kleine Mädchen mit den SchwefelhölzernAugust Heinrich Hoffmann von Fallersleben: NeujahrsliedCharles Dickens: Die SilvesterglockenKurt Tucholsky: Herrn Wendriners Jahr fängt gut anWinter, ade!Annette von Droste-Hülshoff: Ein milder WintertagHermann Löns: InfluenzaEmanuel Geibel: HoffnungLied: Winter, ade!Stefan Zweig: Winterabend im ZimmerFriedrich Rückert: Winter-LerchentonNikolaj Leskow: Der WachtpostenJohann Wolfgang Goethe: WinterGeorg von der Vring: BratäpfelRezept: Aepfel-AuflaufCatharina Regina von Greiffenberg: Auf die überflüssige Winter- und Widerwärtigkeits-LängeHeinrich Heine: Mag da draußen Schnee sich thürmenThomas Mann: Briefe aus Deutschland [II]Erich Kästner: Der JanuarNachweise

Juchhe, der erste Schnee

Georg Trakl

Ein Winterabend

Wenn der Schnee ans Fenster fällt,

Lang die Abendglocke läutet,

Vielen ist der Tisch bereitet

Und das Haus ist wohlbestellt.

Mancher auf der Wanderschaft

Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.

Golden blüht der Baum der Gnaden

Aus der Erde kühlem Saft.

Wanderer tritt still herein;

Schmerz versteinerte die Schwelle.

Da erglänzt in reiner Helle

Auf dem Tische Brot und Wein.

Judith Hermann

Kohlen

Am Morgen waren die Kohlen gekommen. Wir waren früh aufgestanden und hatten das letzte Holz in den Ofen gelegt, wir hatten mit den Händen in den Jackentaschen frierend vorm Haus auf der Straße im Morgennebel gestanden und unseren weißen Atemwolken zugesehen. Die Kohlen kamen pünktlich, wir hatten den Kipper durch die schmale Gasse zwischen der Scheune und dem Traktorschuppen gewinkt, so weit wie möglich ran an den Stall, in dem schon seit Jahren kein Tier mehr gewesen ist. Die Briketts waren aufs Wintergras geprasselt, ein großer Haufen, gute Kohlen, kaum Bruch dabei, und der silbrige Kohlenstaub war in die Luft gestiegen.

 

Wir hatten den Vormittag damit verbracht, die Kohlen von der Wiese in den Stall zu schippen. Sieben Tonnen Kohle, wir hatten Schaufeln und Forken, und wir bildeten anfangs eine Kette, aber dann schien das sinnlos zu sein, und jeder arbeitete für sich alleine weiter. Der Nebel löste sich auf, und die Sonne kam raus, in den kahlen Ästen der Sträucher ließen sich vorsichtige Vögel sehen. Gegen Mittag machten wir eine Pause. Wir kochten Kaffee und setzten uns auf die Schwelle der Stalltür, die von den Schritten der Leute, die vor Jahrzehnten nach ihren Tieren gesehen hatten, ganz abgetreten war. Wir tranken den Kaffee und sprachen darüber, wie lange dieser Vorrat an Kohlen reichen würde. Sieben Tonnen – sieben Winter? Wir sagten, kommt auf den Winter an, und wir erinnerten uns an den letzten, der unwirklich kalt und lange gewesen war, ein Eiswinter mit Schnee bis in den Mai hinein. Wir verglichen den jetzigen mit den vergangenen Wintern, und wir sprachen über mögliche Anzeichen, die Borke der Bäume war in diesem Jahr besonders dick, und es hatte mehr Nüsse gegeben als in den Jahren zuvor, wir sagten, vielleicht würde dieser Winter noch kälter werden als der letzte. Aber mit diesem Vorrat an Kohlen konnte uns nichts passieren. Mit sieben Tonnen Kohlen im Stall waren wir in Sicherheit.

 

Wir hatten den Kaffee ausgetrunken und den Kaffeesatz ins Gras geschüttet. Wir saßen noch einen Moment auf der Schwelle, die Arbeit war fast getan, es lagen nicht mehr viele Kohlen draußen, nur noch ein Halbkreis, wie ein Wall um uns herum. Durch das Tor zur Straße, das wir hinter dem Kipper noch nicht geschlossen hatten, kam Vincent mit dem Rad auf den Hof gefahren. Vincent war vier Jahre alt, soweit wir wussten, wurde er bald fünf. Er kam mit Schwung um die Ecke, und er sah uns sofort, und er rollte mit dem Rad durch die Gasse zwischen der Scheune und dem Traktorschuppen auf uns zu und stoppte vor dem Wall aus Kohlen. Er hatte eine grüne Jacke an und einen ordentlich geknoteten Schal, er trug eine Mütze, und er hatte keine Rotznase. Er blieb auf dem Rad sitzen und stützte sich mit verschränkten Armen auf den Lenker, als wäre er nicht vier, sondern fünfzehn Jahre alt.

Er sah uns an und sagte, was macht ihr. Selbstverständlich. Er sagte das sehr selbstverständlich, und wir sagten, wir warten schon auf dich, wir schippen Kohlen, du kannst uns helfen.

 

Im letzten Winter war Vincents Mutter gestorben. Vincents Vater hatte sich von ihr getrennt, und sie hatte darüber zuerst die Nerven verloren, dann war sie krank geworden. Oder es war umgekehrt, sie war zuerst krank geworden und hatte dann die Nerven verloren, das war aber einerlei, weil es durch ihren Tod auf dasselbe hinausgelaufen war. Sie hatte eine Grippe verschleppt, und dann war ihr Herz angegriffen gewesen, und sie hatte davon einen Schlaganfall bekommen, dann noch einen und einen dritten, und schließlich hatten sie aufgehört, ihre Schlaganfälle zu zählen. Sie hatte drei Monate im Krankenhaus gelegen, am Ende war sie blind, konnte nicht mehr sprechen und nur noch den linken Fuß bewegen; die Ärzte hatten ihre Gehirnströme gemessen und waren der Meinung gewesen, sie wäre auf eine geheimnisvolle Weise immer noch da, und sie nannten diesen Zustand das Insichselbereingeschlossensein. Vincents Mutter hatte sich in sich selber eingeschlossen, als Vincent vier Jahre alt gewesen war.

 

Wir saßen in der winterlichen Mittagssonne mit den leeren Kaffeetassen vor dem Wall aus Kohlen. Uns war warm von der Arbeit, wir waren wach. Wir redeten mit Vincent, wir fragten ihn, ob ihn auf dem Weg zu uns nicht der Biber aufgehalten hätte, der Biber würde jedes Kind, das zu schnell auf dem Rad unterwegs sei, anhalten und dazu auffordern, langsamer zu fahren. Aber Vincent ließ sich nichts weismachen. Er sagte, ihr redet Quatsch, und er wurde so ärgerlich, dass wir aufhörten, auf diese Weise mit ihm zu sprechen. Wir sahen ihn an, wie er so auf seinem Rad saß und ein bisschen vor und zurück rollte und uns vorschlug, seine kleine Schubkarre zu holen und dabei zu helfen, die letzten Kohlen in den Stall zu schaffen, er sah aus wie einer, dem eine unsichtbare Hälfte fehlte, er sah aber auch aus wie einer, der eine halbe Glorie um sich herum hatte.

 

Wir dachten an seine Mutter, die eine anziehende Frau gewesen war, groß und zerbrechlich, mit einer unnachahmlichen Weise, beim Gehen die langen Beine zu setzen, ungelenk, wie ein Fohlen. Sie hatte immer einen wehmütigen Eindruck gemacht, aber wir hatten sie auch toben gehört, und da war sie alles andere als hilflos gewesen. In den ersten Wochen ihrer Erkrankung hatten wir sie auf der Station, auf der sie lag, besucht, da war sie schon blind gewesen und hatte immer wieder gesagt, es ist so schade, dass ich eure schönen Gesichter nicht sehen kann.

Es ist so schade, dass ich eure schönen Gesichter nicht sehen kann.

Wir hatten nicht gewusst, dass unsere Gesichter für Vincents Mutter schön gewesen waren, und wir waren mit dem Eindruck nach Hause gegangen, dass man manche Dinge erst sagen kann, wenn sie unwiderruflich vorbei sind.

 

Vincent stieg von seinem Rad und ließ es los. Er nahm ein Stück Kohle in die Hand, drehte es prüfend hin und her, kam über den Wall geklettert, stieg zwischen uns hindurch und ließ es auf den Haufen in der Stallecke fallen. Er kam zurück und stützte sich beiläufig an uns ab. Als seine Mutter gestorben war, hatte er seinen Vater gefragt, wie lange der Tod dauern würde, sein Vater hatte uns das erzählt.

Vincent sagte, ich glaub, ich lass das mit der Schubkarre. Ich kann euch auch ohne meine Schubkarre helfen.

Und also standen wir von der Schwelle auf und vertraten uns die Beine, wir hielten uns das Kreuz und streckten uns in der Wintersonne, und dann machten wir weiter. Wir schafften den Rest der Kohlen in den Stall, wir bildeten doch wieder eine Kette, und Vincent half uns. Seine Mutter hatte uns gezeigt, dass man an der Liebe sterben kann. Sie war der lebendige Beweis dafür gewesen, dass man an einem gebrochenen Herzen sterben kann, sie hatte sich aus Liebe in sich selber eingeschlossen. Es war eigenartig zu denken, dass das Vincents ganzes Leben bestimmen würde, und wir nahmen die Kohlen aus seinen kleinen schmutzigen Händen entgegen wie Hostien.

Juchhe, der erste Schnee

Volkslied

2. Juchhe, juchhe,

erstarrt sind Bach und See!

Herbei von allen Seiten

aufs glitzerblanke Eis,

dahin-, dahinzugleiten

nach alter froher Weis’!

3. Juchhe, juchhe,

jetzt locken Eis und Schnee!

Der Winter kam gezogen

mit Freuden mannigfalt,

spannt seinen weißen Bogen

weit über Feld und Wald.

Walther von der Vogelweide

Uns hât der winter geschât über al:

heide unde walt sint beide nû val,

dâ manic stimme vil suoze inne hal.

sæhe ich die megde an der strâze den bal

werfen: sô kæme uns der vogele schal.

Möhte ich verslâfen des winters zît!

wache ich die wîle, sô hân ich sîn nît,

daz sîn gewalt ist sô breit und sô wît.

weiz got er lât ouch dem meien den strît!

sô lise ich bluomen dâ rîfe nû lît.

Uns hat der Winter über alles Schaden zugefügt.

Heide und Wald sind fahl,

die einst so süß widerhallten von tausend Vogelstimmen.

Sah ich erst wieder die Mädchen auf der Straße den Ball

werfen, dann käme uns der Vogelsang zurück.

Könnte ich doch den Winter verschlafen!

Verwache ich ihn indessen, so hasse ich ihn,

weil seine Herrschaft sich weit und breit erstreckt.

Aber weiß Gott, eines Tages wird er doch dem Mai das Feld räumen.

Dann pflück ich Blumen dort, wo jetzt der Reif liegt.

Oscar Wilde

Das Sternkind

Es waren einmal zwei arme Holzfäller, die gingen durch einen großen Tannenwald nach Hause. Es war Winter, und die Nacht war bitterkalt. Hoch lag der Schnee auf der Erde und auf den Ästen der Bäume. Zu ihrer Rechten und Linken knackte, wenn sie vorübergingen, der Frost die kleinen Zweige, und als sie zu dem Gebirgsbach kamen, hing er reglos in der Luft, denn die Eiskönigin hatte ihn geküßt.

So kalt war es, daß selbst die Tiere des Waldes und die Vögel nicht wußten, was sie davon halten sollten.

»Huuu!« knurrte der Wolf, als er durchs Unterholz humpelte, den Schwanz zwischen den Beinen. »Das ist doch tatsächlich ein scheußliches Wetter. Warum tut denn die Regierung nichts dagegen?« – »Uitt! Uitt! Uitt!« zwitscherten die grünen Hänflinge, »die alte Erde ist tot, und sie haben sie in ihrem weißen Leichentuch aufgebahrt.«

»Die Erde will Hochzeit halten, und das ist ihr Brautkleid«, gurrten die Turteltauben einander zu. Ihre kleinen rosa Füße waren schon ganz erfroren, aber sie hielten es für ihre Pflicht, die Lage in romantischem Licht zu betrachten.

»Unsinn!« brummte der Wolf. »Ich sage euch, das ist alles Schuld der Regierung, und wenn ihr es nicht glaubt, werde ich euch fressen.« Der Wolf war eine durch und durch praktische Natur und nie um ein schlagendes Argument verlegen.

»Nun, ich meinerseits«, versetzte der Specht, der ein geborener Philosoph war, »ich kümmere mich kein Atom um Erklärungen. Wenn etwas so ist, ist es so, und zur Zeit ist es entsetzlich kalt.«

Entsetzlich kalt war es nun allerdings wirklich. Die kleinen Eichhörnchen, die im Inneren des hohen Tannenbaums wohnten, rieben in einem fort ihre Nasen aneinander, um sich warm zu halten, und die Kaninchen lagen zusammengerollt in ihren Löchern und wagten es nicht einmal, zur Tür hinauszugucken. Die einzigen, die sich wohlzufühlen schienen, waren die großen Uhus. Ihr Gefieder war ganz steif vom Reif, aber das störte sie nicht. Sie rollten ihre großen gelben Augen und riefen einander quer durch den Wald zu: »Tu-uitt! Tu-wu! Tu-uitt! Tu-wuu! Was haben wir doch für ein herrliches Wetter!«

Weiter und weiter stapften die beiden Holzfäller, hauchten sich kräftig auf die Finger und stampften mit ihren riesigen eisenbeschlagenen Stiefeln auf dem festgefrorenen Schnee. Einmal versanken sie in einer tiefen Schneewehe und kamen so weiß heraus wie die Müller, wenn die Mühlsteine gerade Korn mahlen. Und einmal glitten sie aus auf dem harten, glatten Eis über dem gefrorenen Sumpf, und ihr Reisig fiel heraus aus den Bündeln, und sie mußten es aufklauben und wieder zusammenbinden. Und einmal glaubten sie schon, sie hätten den Weg verloren, und eine große Angst befiel sie, denn sie wußten, wie grausam der Schnee zu denen ist, die in seinen Armen einschlafen. Aber sie setzten ihr Vertrauen auf den guten heiligen Martin, der über allen Wanderern wacht, gingen auf ihren Spuren zurück und dann sehr vorsichtig weiter, und endlich erreichten sie den Waldrand und sahen tief unten im Tal unter sich die Lichter des Dorfes, in welchem sie lebten.

So überglücklich waren sie über ihre Rettung, daß sie aus vollem Halse lachten, und die Erde kam ihnen vor wie eine Blume aus Silber und der Mond wie eine Blume aus Gold.

Doch nachdem sie gelacht hatten, wurden sie traurig, denn sie dachten an ihre Armut, und der eine von ihnen sagte zu dem andern: »Warum haben wir uns nur so gefreut, wo doch das Leben für die Reichen ist und nicht für solche wie uns? Besser wären wir im Wald umgekommen vor Kälte oder ein wildes Tier hätte uns angefallen und zerrissen.«

»Wahrlich«, erwiderte sein Gefährte, »manchen ist viel gegeben, anderen aber nur wenig. Das Unrecht hat die Welt verteilt, und nur der Kummer ist einem jeden gleich zugemessen.« Doch während sie einander ihr Elend klagten, geschah etwas Seltsames: Vom Himmel fiel ein hellglänzender, schöner Stern. Er glitt am Himmel seitlich herab, vorbei an den anderen Sternen auf seinem Lauf, und da sie ihm staunend mit den Augen folgten, kam es ihnen vor, als ginge er hinter einer Gruppe von Weidenbäumen nieder, die nahe an einer kleinen Schafhürde stand, nicht mehr als einen Steinwurf von ihnen entfernt.

»Hoho! Da liegt ein Topf voll Gold für den, der ihn findet«, riefen sie und stürzten los und rannten, so begierig waren sie auf das Gold.

Und der eine von ihnen lief schneller als sein Gefährte und überholte ihn und bahnte sich einen Weg durch die Weiden und kam auf der anderen Seite wieder heraus, und siehe! da lag wirklich etwas Goldenes auf dem weißen Schnee. Er eilte also darauf zu, beugte sich nieder und berührte es mit den Händen, und es war ein Umhang aus Goldgewebe, mit Sternen wundersam durchwirkt und in viele Falten geschlungen. Und er rief seinem Gefährten zu, er hätte den Schatz gefunden, der vom Himmel gefallen war, und als sein Gefährte herzukam, setzten sie sich in den Schnee und lösten die Knoten des Umhangs, daß sie die Goldstücke unter sich teilten. Aber ach! Da war weder Gold darin noch Silber, noch sonst ein Schatz, sondern nur ein kleines Kind, das ruhig schlief.

Und der eine von ihnen sagte zu dem andern: »Das ist ein bitteres Ende für unsere Hoffnung, und gar kein Glück ist uns beschieden, denn was bringt ein Kind dem Manne für einen Nutzen? Wir wollen es hier liegenlassen und unseres Weges gehen, denn wir sind arme Leute und haben selber Kinder, deren Brot wir nicht an ein fremdes Kind verschenken dürfen.«

Aber sein Gefährte entgegnete ihm: »Nein, es wäre übel gehandelt, wenn wir das Kind hier im Schnee umkommen ließen. Bin ich gleich ebenso arm wie du und habe viele Mäuler zu stopfen und nur wenig im Topf, so will ich es doch mit mir nach Haus tragen, und mein Weib soll sich seiner annehmen.«

Und er hob das Kind behutsam auf und hüllte es in den Umhang, um es vor der grimmigen Kälte zu schützen, und ging den Hügel hinab auf das Dorf zu; und sein Gefährte wunderte sich sehr über seine Torheit und sein weiches Herz.

Und als sie ins Dorf kamen, sagte sein Gefährte zu ihm: »Du hast das Kind, so gib mir den Umhang, denn es ist nur recht und billig, daß wir teilen.«

Doch der andere erwiderte: »Nein, denn der Umhang gehört weder mir noch dir, sondern einzig dem Kind«, und er sagte ihm Lebewohl und gelangte zu seinem eigenen Haus und klopfte an.

Und als sein Weib die Tür öffnete und sah, daß ihr Mann heil zu ihr zurückgekehrt war, schlang sie ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn und nahm ihm das Reisigbündel vom Rücken und bürstete den Schnee von seinen Stiefeln und hieß ihn eintreten.

Er aber sagte zu ihr: »Ich habe im Wald etwas gefunden und dir mitgebracht, auf daß du dich seiner annimmst«, und er wich nicht von der Schwelle.

»Was ist es?« rief sie. »Zeig es mir, denn das Haus ist leer, und es fehlt uns an vielen Dingen.« Da schlug er den Umhang zurück und zeigte ihr das schlafende Kind.

»Ach, lieber Mann!« murrte sie. »Haben wir nicht genug eigene Kinder, daß du uns noch einen Wechselbalg ins Haus schleppen mußt? Und wer weiß, ob es nicht Unglück bringt? Und wie sollen wir es aufziehen?« Und sie war sehr zornig über ihn.

»Ja, aber es ist ein Sternkind«, antwortete er und erzählte ihr, auf wie seltsame Art er es gefunden hatte. Aber sie wollte sich nicht beschwichtigen lassen, sondern spottete seiner und sprach im Zorn und rief: »Unsere Kinder haben kein Brot, und wir sollen das Kind eines anderen füttern? Wer kümmert sich denn um uns? Und wer gibt uns Brot?« – »Gott behütet auch die Sperlinge und gibt ihnen Brot«, antwortete er.

»Sterben nicht die Sperlinge im Winter vor Hunger?« fragte sie. »Und ist jetzt nicht Winter?« Und der Mann erwiderte nichts, wich aber nicht von der Schwelle. Und ein bitterer Wind wehte vom Wald herein durch die offene Tür und ließ sie erzittern, und sie schauerte und sagte zu ihm: »Willst du nicht die Tür schließen? Bitterer Wind bläst herein ins Haus, und mir ist kalt.«

»In ein Haus, in dem ein hartes Herz ist, bläst da nicht immer ein bitterer Wind?« fragte er. Und die Frau gab ihm keine Antwort, sondern rückte nur näher ans Feuer. Und nach einer Weile wandte sie sich um und blickte ihn an, und ihre Augen waren voll Tränen. Und geschwind trat er ein und legte das Kind in ihre Arme, und sie küßte es und legte es in ein kleines Bett, wo das jüngste ihrer eigenen Kinder schlief. Und am Morgen nahm der Holzfäller den seltsamen Umhang aus Gold und tat ihn in eine große Truhe, und die Frau nahm eine Bernsteinkette, die um des Kindes Nacken lag, und tat sie gleichfalls dazu.

Und so wuchs das Sternkind auf mit den Kindern des Holzfällers, saß mit ihnen am selben Tisch und war ihr Spielgefährte. Und mit jedem Jahr war es schöner anzusehen, so daß alle, die im Dorf wohnten, mit Staunen erfüllt wurden. Denn während sie selber schwärzliche Haut und schwarze Haare hatten, so war das Kind weiß und zart, wie aus Elfenbein geschnitzt, und seine Locken glichen den Blütenblättern einer roten Blume, und seine Augen waren wie Veilchen an einem Bach voll klaren Wassers, und sein Leib wie die Narzisse auf einem Feld, dahin der Schnitter nicht kommt.

Und doch geriet seine Schönheit ihm zum Bösen, denn es wurde stolz und grausam und selbstsüchtig. Es verachtete die Kinder des Holzfällers und die anderen Kinder aus dem Dorf und sagte, sie seien von niederer, es selber jedoch von vornehmer Herkunft, einem Stern entsprossen, und es warf sich zum Herrn auf über sie und nannte sie seine Knechte. Kein Mitleid hatte es mit den Armen, noch mit denen, die blind oder verkrüppelt waren oder sonst vom Schicksal geschlagen, sondern es warf ihnen Steine nach und jagte sie hinaus auf die Landstraße und hieß sie anderswo um ihr Brot betteln, so daß außer den Geächteten keiner zweimal ins Dorf kam, um Almosen zu erbitten. Es war in der Tat wie verliebt in die Schönheit, verhöhnte die Kranken und Häßlichen und trieb seinen Spott mit ihnen; sich selber aber liebte es, und im Sommer, wenn die Winde ruhten, lag es oft am Brunnen im Garten des Priesters und blickte hin auf das Wunder seines eigenen Antlitzes und lachte vor Vergnügen über seine eigene Schönheit.

Oft schalten es der Holzfäller und seine Frau und sagten: »Wir haben nicht so an dir gehandelt, wie du an denen tust, die verlassen sind und niemanden haben, der ihnen zu Hilfe käme. Was bist du so grausam zu allen, die Mitleid brauchen?« Oft auch sandte der alte Priester nach ihm und suchte ihn die Liebe zu allem Lebenden zu lehren und sagte zu ihm: »Die Fliege ist dein Bruder. Tu ihr kein Leid. Die wilden Vögel, die durch den Wald schwärmen, haben ihre Freiheit. Fange sie nicht zu deinem Vergnügen. Gott schuf die Blindschleiche und den Maulwurf, und jeder hat seinen Platz. Wer bist du, daß du Schmerz in Gottes Welt bringen solltest? Selbst die Tiere auf dem Felde preisen Ihn.«

Aber das Sternkind achtete nicht auf diese Worte, sondern verzog das Gesicht und spottete und ging wieder zurück zu seinen Gefährten und war ihr Anführer. Und seine Gefährten folgten ihm, denn es war schön und leichtfüßig und konnte tanzen und flöten und musizieren. Und wo immer das Sternkind sie hinführte, da folgten sie ihm nach, und was auch das Sternkind sie tun hieß, das taten sie. Und wenn es mit einem spitzen Rohr die trüben Augen des Maulwurfs durchstieß, so lachten sie, und wenn es die Aussätzigen mit Steinen bewarf, so lachten sie wieder. Und in allen Dingen herrschte es über sie, und ihre Herzen wurden ebenso hart wie das seine.

Eines Tages nun zog ein armes Bettelweib durch das Dorf. Ihre Kleider waren zerrissen und zerlumpt, und ihre Füße bluteten von der rauhen Straße, welche sie gewandert, und sie war in großem Elend. Und weil sie müde war, ließ sie sich unter einem Kastanienbaum nieder, um zu rasten.

Doch als das Sternkind sie erblickte, sagte er zu seinen Gespielen: »Seht! Dort sitzt ein garstiges Bettelweib unter dem schönen, grünblättrigen Baum. Kommt, wir wollen es fortjagen, denn es ist häßlich und ungestalt.«

Also näherte es sich ihr und bewarf sie mit Steinen und verhöhnte sie, und sie blickte es voll Entsetzen an und wandte das Auge nicht von ihm. Und als der Holzfäller, der nebenan in einem Schuppen Holz spaltete, sah, was das Sternkind tat, lief er herbei und schalt es und sagte zu ihm: »Wahrlich, du bist hartherzig und kennst kein Erbarmen, denn was hat diese arme Frau dir Böses getan, daß du ihr so begegnest?«

Und das Sternkind wurde rot vor Zorn und stampfte mit dem Fuß auf die Erde und sagte: »Wer bist du, daß du mich meiner Taten wegen zur Rede stellst? Ich bin nicht dein Sohn, daß ich dir gehorchen müßte.«

»Du sagst die Wahrheit«, versetzte der Holzfäller, »und doch erzeigte ich dir Mitleid, da ich dich im Walde fand.«

Als das Weib diese Worte vernahm, stieß sie einen lauten Schrei aus und sank ohnmächtig nieder. Und der Holzfäller trug sie in sein eigenes Haus, und seine Frau nahm sich ihrer an, und als sie erwachte aus der Ohnmacht, in die sie gefallen war, setzten sie ihr Speis und Trank vor und baten sie, guten Muts zu sein.

Aber sie wollte weder essen noch trinken, sondern sprach zu dem Holzfäller: »Sagtest du nicht, dieses Kind wäre im Walde gefunden worden? Und war es nicht heute vor zehn Jahren?«

Und der Holzfäller entgegnete: »Wohl, im Wald war es, wo ich es fand, und heute sind es zehn Jahre her.«

»Und welche Zeichen fandest du mit ihm?« rief sie. »Trug es nicht eine Kette von Bernstein um seinen Hals? War es nicht gehüllt in einen Umhang aus Goldgewebe, bestickt mit Sternen?«

»Wahrhaftig«, versetzte der Holzfäller, »es war so, wie du sagst.« Und er holte den Umhang und die Bernsteinkette aus der Truhe, darin sie lagen, und zeigte es ihr. Und als sie diese Dinge sah, brach sie in Tränen der Freude aus und rief: »Es ist mein kleiner Sohn, den ich im Walde verlor. Ich bitte dich sehr, sende eilends nach ihm, denn nach ihm habe ich die ganze Welt durchwandert.«

Also gingen der Holzfäller und sein Weib hinaus und riefen das Sternkind und sagten zu ihm: »Gehe hinein in das Haus, und dort sollst du deine Mutter finden, die auf dich wartet.«

Der Knabe lief hinein, erfüllt von Staunen und von einer großen Freude. Doch als er sah, wer auf ihn wartete, lachte er verächtlich und rief: »Nun, wo ist denn meine Mutter? Denn ich sehe niemanden hier als nur das scheußliche Bettelweib.«

Und das Weib erwiderte ihm: »Ich bin deine Mutter.«

»Du bist von Sinnen, daß du so sprichst«, schrie das Sternkind voll Zorn. »Ich bin nicht dein Sohn, denn du bist ein Bettelweib, häßlich und in Lumpen. Darum scher dich fort, und laß mich dein garstiges Gesicht nicht länger sehen.«

»Und doch bist du in Wahrheit mein kleiner Sohn, den ich im Walde gebar«, rief sie und fiel auf die Knie und streckte ihre Arme nach ihm aus. »Die Räuber entrissen dich mir und gaben dich dem Tode preis«, stieß sie hervor, »doch ich erkannte dich, als ich dich sah, und auch die Zeichen habe ich erkannt, den Umhang aus Goldgewebe und die Bernsteinkette. Daher bitte ich dich, komm mit mir, denn dich zu suchen bin ich durch die ganze Welt gewandert. Komm mit mir, mein Sohn, denn ich bedarf deiner Liebe.«

Aber das Sternkind rührte sich nicht von der Stelle, sondern verschloß die Tür seines Herzens vor ihr, und kein Laut war zu hören außer dem Weinen der Frau in ihrem großen Schmerz. Und endlich sprach der Knabe zu ihr, und seine Stimme war hart und bitter: »Wenn du wirklich und wahrhaftig meine Mutter bist«, sagte er, »so wärest du besser fern geblieben und hättest mir die Schande erspart, da ich doch glaubte, das Kind eines Sterns zu sein und nicht eines Bettlers Kind, wie du mir sagst. Daher scher dich weg und laß mich dich nicht länger sehen.«

»Ach, mein Sohn!« rief sie. »Willst du mich nicht küssen, eh’ ich gehe? Denn ich habe viel erduldet, um dich zu finden.«

»Nein«, erwiderte das Sternkind, »denn du bist garstig anzusehen, und eher wollte ich die Natter und die Kröte küssen als dich.« Da stand das Weib auf und ging fort in den Wald und weinte bitterlich; und als das Sternkind sah, daß sie gegangen war, freute es sich und lief zurück zu seinen Spielgefährten, um mit ihnen zu spielen.

Doch als diese ihn kommen sahen, verspotteten sie ihn und sagten: »Oh, du bist garstig wie die Kröte und abscheulich wie die Natter. Scher dich weg von hier, denn wir lassen dich nicht mehr mit uns spielen«, und sie trieben ihn hinaus aus dem Garten. Und das Sternkind zog die Stirn kraus und sagte zu sich selber: »Was sagen sie da zu mir? Ich will zum Brunnen gehen und hineinsehen, und er soll mir meine Schönheit beweisen.«

Also ging er hin zu dem Brunnen und blickte hinein, und ach! sein Antlitz war wie das Antlitz einer Kröte, und sein Leib war geschuppt wie der Leib einer Natter. Und er warf sich nieder ins Gras und sagte zu sich selber: »Wahrlich, um meiner Sünde willen ist dieses über mich gekommen. Denn ich habe meine Mutter verleugnet und sie fortgejagt, und ich bin stolz und grausam zu ihr gewesen. Daher will ich hingehen und durch die ganze Welt nach ihr suchen und nicht rasten, ehe ich sie gefunden habe.« Da kam die kleine Tochter des Holzfällers zu ihm und legte ihre Hand auf seine Schulter und sagte: »Was tut es, wenn du nicht mehr schön und lieblich bist? Bleib bei uns und ich will dich nicht verspotten.«

Und er erwiderte ihr: »Nein, denn ich war grausam gegen meine Mutter, und als Strafe ist mir dieses Übel gesandt worden. Daher muß ich fort und durch die ganze Welt wandern, bis ich sie gefunden und ihre Vergebung erlangt habe.«

Also lief er hinaus in den Wald und rief nach seiner Mutter, daß sie zu ihm komme, aber er erhielt keine Antwort. Den ganzen Tag rief er nach ihr, und als die Sonne unterging, legte er sich auf ein Bett von Blättern zum Schlafen nieder, und die Vögel und die vierfüßigen Tiere des Waldes flohen ihn, denn sie erinnerten sich an seine Grausamkeit; ganz verlassen war er, nur die Kröte glotzte ihn an, und die träge Natter kroch an ihm vorüber.

Und am Morgen erhob er sich und pflückte bittere Beeren von den Bäumen und aß sie und ging seinen Weg durch den großen Wald und weinte sehr. Und jedes Wesen, das er traf, befragte er, ob es nicht vielleicht seine Mutter gesehen hätte.

Er sprach zum Maulwurf: »Du kannst unter die Erde kriechen. Sag mir, ist meine Mutter dort?«

Und der Maulwurf erwiderte: »Du hast meine Augen geblendet. Wie kann ich es wissen?«

Er sprach zum Hänfling: »Du kannst über die Wipfel der hohen Bäume fliegen und die ganze Welt sehen. Sag mir, siehst du meine Mutter?« Und der Hänfling versetzte: »Du hast mir zum Spaß die Flügel beschnitten. Wie soll ich fliegen?«

Und zu dem kleinen Eichhörnchen, das in der Tanne lebte und einsam war, sagte er: »Wo ist meine Mutter?«