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"Der zweite Platz geht an das Paar mit der Startnummer 24." Unsere Nummer zu hören, ist wie ein Stich ins Herz, wie in Trance fühle ich mich, als ich zum Podium stolpere. Das war's. Die harte Arbeit der letzten Monate, die bedingungslose Aufopferung zur Selbstoptimierung - für einen zweiten Platz. Meine Beine sind schwer wie Blei und in meinen Schläfen pocht es, während ich um mich blicke. Ich sehe die Herren in ihrem Frack und die Damen in ihren Glitzerkleidern, vor oder hinter mir aufgereiht. Mein Grinsen ist kaum sichtbar, während sich mein Körper entspannt. Zumindest einen Sieg habe ich heute erzielt: Ich bin die dünnste Tänzerin bei diesem Turnier. "Wenn der Vorhang fällt" erzählt von Leistungssport, dem damit verbundenen Druck, Essstörungen und der Kraft der eigenen Gedanken. Eine biografisch inspirierte Geschichte, die hinter die Fassade der schillernden Turniertanzwelt blicken lässt.
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Seitenzahl: 105
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Die nachfolgende Erzählung basiert auf wahren Begebenheiten. Um den Lesefluss zu verbessern und die Anonymität zu wahren, wurden Personen, Daten und Orte verändert.
Triggerwarnung: In diesem Text geht es um problematisches Essverhalten und Essstörungen. Es handelt sich dabei um meine persönlichen Gedanken, Erfahrungen und subjektiven Wahrnehmungen. Falls du dich in diesen Themen wiederfindest, geh bitte behutsam mit diesem Text um. Gestehe dir zu, nicht weiterzulesen oder zu einem späteren Zeitpunkt zu dem Buch zurückzukehren, falls dir dieses gerade nicht guttut. Wenn du weitere Unterstützung zu diesem Thema benötigst, findest du am Ende des Buches eine Liste mit möglichen Anlaufstellen. Du bist es wert, Hilfe zu bekommen!
Vorwort
Einleitung: Die dunkle Seite des Leistungssports
Erste Schritte
Vom Gefühl zu scheitern
Vom Gefühl zu gewinnen
Der Wunsch, besonders zu sein
Keine Zeit verschwenden
Lächeln, um jeden Preis
Ein silberner Rettungsanker
Keine Zeit für Pausen
Endlich wieder gewinnen
Hunger nach Komplimenten
Ferien sind Zeitverschwendung
Keine Sorge
Vom Gefühl, die Dünnste zu sein
Die ganze Welt steht still
Heilsame Spaziergänge
Fehlender Erwartungsdruck
Den richtigen Stimmen Raum geben
Endlich wieder trainieren
Verletzlichkeit zulassen
Du bist schon gut
Vorbildwirkung
Rückfall
Endlich gerettet werden
Wer bin ich?
Nur ein Schokomuffin
Leichtfertige Kommentare
Fehler sind eine Chance
Eine würdige Herausforderung
Die Chance, man selbst zu sein
Neuanfänge
Neue gemeinsame Abenteuer
Die Aussicht genießen
Kontrolle gewinnen (und loslassen)
Verständnis füreinander
In Erinnerung bleiben
Ressourcen und Anlaufstellen
Ein paar Gedanken zum Schluss
Dank
Elise Reußner hat ein Buch geschrieben.
Nun, es ist nicht irgendein Buch. Es ist ein Buch, das von einem meiner wunderschönsten Lebensabschnitte, dem Tanzsport, erzählt. Tanzsport, wie ich ihn gelebt und geliebt habe. Und die Tanzsporttrainerin in mir liebt und lebt dies immer noch, im Unterrichten auf der Tanzfläche, auch wenn ich nicht mehr aktiv tanze. Das allein berührt mich schon sehr. Aber da ist noch mehr.
Elise beleuchtet eine Seite, die ich nicht aus der Position der Tanzsportlerin kenne, sondern aus einer anderen Perspektive. Nämlich aus jener der klinischen Sportpsychologin, wenn ich es mit Essstörungen in ästhetischen Sportarten zu tun habe. Sie schafft es, uns nicht nur an ihrem Leben und Erleben teilhaben zu lassen, sondern auch an ihren Gedanken und Reflexionen dazu.
Als jemand, der nicht selbst von diesem Krankheitsbild betroffen ist, aber damit zu tun hat, hat es mich immer sehr interessiert, wie Betroffene in Essstörungen hineingleiten. Was steckt dahinter? Was denken sie? Was erhoffen sie sich? Woran halten sie sich fest? Wieso quälen sie sich freiwillig so? Was ist es, das nicht mehr unter Kontrolle zu sein scheint, sodass man sich stattdessen selbst kontrollieren und disziplinieren muss? Was kann nicht mehr gefühlt werden?
Aber vor allem, wie gelingt es, aus diesem Teufelskreis auszusteigen? Wo ist der Umkehrpunkt? Wie kann ich in dem Umfeld, dem System, meine Klient:innen unterstützen, genau diesen Umkehrpunkt zu erreichen und vor allem, es selbst zu wollen? Was braucht die innere Welt eines Menschen, um sich für Gesundheit zu entscheiden?
All diese Fragen!
Ja, natürlich gibt es Wissenschaft und Forschung dazu. Und doch interessiert mich immer mehr, was die Betroffenen selbst dazu sagen. In welchen Worten würden sie es beschreiben? Vor allem, nachdem sie es geschafft und diesen Kreislauf durchbrochen haben! Und oft wünsche ich mir, wenn ich wieder eine betroffene Sportlerin oder einen betroffenen Sportler vor mir habe, ein Beispiel aus ihrem Alltag geben zu können, über jemanden, der es aus einer ähnlichen Situation, aus diesem Kreislauf in diesem Sport geschafft hat. Denn natürlich wird etwas glaubhafter, wenn man sich mit der Protagonistin verbinden kann. Wenn der- oder diejenige in einer ähnlichen Erfahrungswelt lebt und man sich als Betroffene:r verstanden fühlt.
Vor allem Trainer:innen, Bezugs- und Betreuungspersonen können durch das in diesem Buch gebundene Wissen Sekundärerfahrungen sammeln, zum Beispiel wie stark unbedachte Aussagen wirken können.
Besonders wenn die Angesprochenen noch sehr jung sind. Aber auch wenn sie älter sind und bereits alte Wunden mitbringen. Und es trifft genauso junge Männer wie Frauen, darum gendere ich auch bewusst.
Ein Beispiel gefällig? Eine „gut gemeinte“ Aussage, wie zum Beispiel „Für eine gute Tänzerin / einen guten Tänzer müsstest du noch ein paar Kilo verlieren. Tanzen ist halt ein ästhetischer Sport.“ Das gilt wohl für alle, die in einem solchen Bereich tätig sind. Wobei Ästhetik an sich auch verhandelbar und wandelbar ist, wie man auch in der Kunstgeschichte gut erkennen kann.
Doch zurück zu diesem Buch!
Wie mutig, Elise, dass du deine persönliche Geschichte mit uns teilst, deinen Weg, dein Erleben, deine Gedanken! Und was für ein toller Schritt, deine Begabung zum Schreiben und die Freude dazu zu nutzen und dies mit all deinen klugen Gedanken in Buchform zu bringen. Es freut mich sehr, dass ich dich auf dem Weg zum eigenen Buch motivieren und unterstützen durfte!
Und noch mehr würde es mich freuen, wenn sich dieses Buch für Betroffene, Betreuende und Interessierte als hilfreich erweist, neue Sichtweisen einnehmen zu können, und sich daraus vielleicht sogar eine neue Haltung zu diesem Thema entwickelt. Denn aus Haltung entsteht Verhalten. Und damit ist die Chance groß, dass aus achtsamer Haltung auch achtsames Verhalten entstehen darf.
Somit wünsche ich allen Leserinnen und Lesern ein berührendes Bucherlebnis und viele Aha-Momente zu diesem Thema!
Leobersdorf, im August 2025
Kerstin Danzer-Fromm
Sportpsychologin des österreichischen Tanzsportverbandes, klinische Sportpsychologin in freier Praxis, Hypnosystemisches Coaching in Performing Artsand Sport
Ludwigsburg, 2019
Ich ziehe ein letztes Mal die Konturen meines dunkelroten Lippenstifts nach und betrachte mich im Spiegel. Stechend blaue Katzenaugen sehen mir entgegen. Sie wirken zu groß für mein schmales Gesicht. Sanft streiche ich mit dem Mittel- und Zeigefinger über mein Schlüsselbein, anschließend lasse ich meine Finger um mein Handgelenk gleiten und drehe die umschlungene Hand leicht. Die Bewegungen beruhigen mich. Sie geben mir ein Gefühl von Kälte und Unnahbarkeit, fast so, als könnte mich nichts und niemand verletzen. Ich atme tief ein, schließe den Reißverschluss meines Glitzerkleides und ergreife die Hand meines Tanzpartners. Gemeinsam betreten wir die Tanzfläche des Ballsaals.
Das Adrenalin durchströmt meinen zierlichen Körper, während wir zu langsamer Walzermusik über die Tanzfläche tanzen. Für einen Moment fühle ich mich, als könnte ich die Disziplin und Aufopferung der letzten Monate mit jedem Schritt in den Boden rammen. Was ich spüre, ist Hass. Hass auf diesen Tanz, der mich im Training so oft verzweifeln lässt, auf alle anderen Paare, die mir im Weg stehen, auf die Tanzwelt, die in mir den Eindruck erweckt, nie genug zu leisten. Es gibt nur ein Gefühl, das in diesem Moment stärker ist als der Hass in mir: Ich will gewinnen. Hier und da nehme ich eine:n der fünf Wertungsrichter:innen wahr, die jeden meiner Schritte analysieren und in den nächsten Minuten mein tänzerisches Schicksal und meinen kompletten Selbstwert in Händen halten. Ich liebe es, den Blick der Menschen zu erwidern, denen ich die Macht über meine Träume gebe.
Fünf absolvierte Tänze später verklingt die Musik und ich erwidere den Augenkontakt eines Zuschauers, während ich mich zu meiner finalen Verbeugung drehe. Ein kurzes, bescheidenes Lächeln huscht über mein Gesicht. Danach kann ich nur noch darauf warten, wie andere meine Leistung bewerten. Die Stimme des Turnierleiters klingt wie ein stumpfes Hallen in meinen Ohren, während ich kaum wage, laut zu atmen. „Der zweite Platz geht an das Paar mit der Startnummer 24.“ Unsere Nummer zu hören, ist wie ein Stich ins Herz, wie in Trance fühle ich mich, als ich zum Podium stolpere. Das war‘s. Die harte Arbeit der letzten Monate, die bedingungslose Aufopferung zur Selbstoptimierung – für einen zweiten Platz. Meine Beine sind schwer wie Blei und in meinen Schläfen pocht es, während ich um mich blicke. Ich sehe die Herren in ihrem Frack und die Damen in ihren Glitzerkleidern, vor oder hinter mir aufgereiht. Mein Grinsen ist kaum sichtbar, während sich mein Körper entspannt. Zumindest einen Sieg habe ich heute erzielt: Ich bin die dünnste Tänzerin bei diesem Turnier.
Linz, Dezember 2017, 2 Jahre zuvor
Stolz erfüllt mich, als ich meinen ersten Schritt in einen Tanzsportklub setze. Zu diesem Zeitpunkt habe ich noch keine Ahnung, welches Ausmaß dieser Sport für mich einmal annehmen wird. Ich beobachte ein Tanzpaar, das die Körper in völligem Einklang zur Wiener-Walzer-Musik bewegt. Alle ihre Bewegungen wirken mühelos und komplett aufeinander abgestimmt. Der lange Rock der Dame schwingt bei jeder ihrer Drehungen leicht mit, ein Lächeln erfüllt ihr Gesicht. Ihr Partner ist ruhig und absolut konzentriert, während er sie über die Tanzfläche führt. Der Herr führt, die Dame folgt, so viel weiß ich bereits. Er gibt den ersten Impuls für einen Schritt, die Dame spürt die Schwingungen seines Körpers und versucht, so schnell wie möglich instinktiv darauf zu reagieren. Es fasziniert mich, wie leicht dies bei ihnen zu funktionieren scheint. Ich habe vor Kurzem das erste Mal einen Tanzkurs in einer Tanzschule besucht und kämpfe regelmäßig damit, mich auf die Führung meines Partners einzulassen und all seine Kommandos zu verstehen. Dass ich bereits jahrelang Ballett getanzt habe und folglich weniger überfordert mit dem Erlernen der Schritte bin, macht es nicht leichter. Aber meine klassische Ausbildung ist auch der Grund, wieso ich mich vom ersten Tag in der Tanzschule in das Paartanzen verliebt habe. Jeder Schritt in den Tanzstunden fühlte sich wie ein Kinderspiel an, das ich in Sekundenschnelle erlernen könnte. Mir war sofort bewusst, dass ich gut bin und nach Herausforderungen suchen musste. Nach dem ersten Kursabend recherchierte ich alle Infos über das Turniertanzen, die ich finden konnte. Unter anderem fand ich heraus, dass man Mitglied in einem Tanzsportklub werden muss und einen fixen Turnierpartner benötigt, um diesen Sport wettbewerbsorientiert ausüben zu können. Damit stand ich vor der Herausforderung, meinen Tanzpartner von meinem Entschluss zu überzeugen: wettbewerbsorientiert tanzen zu wollen. Tom und ich haben uns im Tanzkurs kennengelernt und den Abschlussball am Ende unseres Kurses gemeinsam besucht. Tom ist Mitte zwanzig und hatte vorher noch nie etwas mit dem Tanzen zu tun, dafür ist sein Bewegungsgefühl sensationell. Insgeheim bewundere ich ihn dafür. Ich zerdenke Bewegungen bis ins kleinste Detail, bemühe mich ein bisschen zu viel und wirke damit zwar hübsch und korrekt, oftmals aber auch zurückhaltend und steif. Tom hingegen stellt sich einfach in den Saal, kopiert, ohne viel zu denken, die vorgezeigten Bewegungen und hat dabei den Spaß seines Lebens. Folglich habe ich keine Ahnung, wie ernst er das Tanzen nimmt und ob er überhaupt Interesse am Turniertanzen hat. Wochenlang übe ich die Konversation, um Tom nach einem Probetraining in einem Verein zu fragen. Schlussendlich stresse ich mich jedoch komplett umsonst. Genauso entspannt und unbekümmert wie beim Tanzen willigt er, ohne zu viel darüber nachzudenken, in meinen Plan ein.
Und so kommt es, dass wir inmitten eines Tanzsportklubs stehen und ehrfürchtig die anmutigen Paare beobachten. „Hallo, ich bin Katja, kann ich euch helfen?“ Die Worte reißen mich aus meinen Gedanken. Vor mir steht eine anmutige junge Frau, ein Lächeln erfüllt ihr Gesicht. Ich weiß sofort, wer sie ist. Obwohl ihre Haare ein bisschen dunkler sind als auf dem Foto, ist mir bewusst, dass sie eine der zwei Tänzerinnen aus Oberösterreich im österreichischen Nationalkader ist. Auf der offiziellen Seite des Verbandes findet man Steckbriefe und Fotos aller Kaderpaare und ich kenne jedes einzelne davon auswendig. Niemals hätte ich mir erträumt, eine dieser Tänzerinnen im echten Leben zu treffen oder gar ein Gespräch mit ihr zu führen. Mein Körper zittert vor Aufregung und meine Sprechgeschwindigkeit ist viel zu hoch, als ich ihr erkläre, wieso wir hier sind. „… aber vom Turniertanzen sind wir ohnehin weit entfernt“, höre ich mich wie in Trance meinen Monolog beenden. Ich versuche, mich auf Katjas Gesicht zu fokussieren und dabei abzuschätzen, was sie denken könnte, aber ich bin viel zu überfordert von all den neuen Eindrücken, um mir ein klares Bild zu machen. Ich wage es kaum zu atmen, als ich auf ihre Antwort warte, es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Als Katja endlich zu sprechen beginnt, wirkt ihre Stimme ganz ruhig und absolut überzeugt: „Vom Turniertanzen bist du nur die Entscheidung entfernt zu wollen oder nicht, so wie die meisten.“ Mein Herz explodiert fast vor Freude, als ich das Ausmaß ihrer Worte auf mich einwirken lasse. In diesem Moment spüre ich es ganz deutlich: Unser Leben wird sich verändern.
Laa an der Thaya, März 2018
