Wenn die Masken fallen - Nicola Upson - E-Book

Wenn die Masken fallen E-Book

Nicola Upson

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Beschreibung

Zwei können ein Geheimnis bewahren – wenn einer von ihnen tot ist

Inspektor Archie Penrose lädt seine enge Freundin Josephine Tey in sein Elternhaus in Cornwall ein, damit die Krimiautorin nach einer turbulenten Zeit endlich mal wieder durchatmen kann. Josephine freut sich sehr über die Einladung, zumal das Haus auch in unmittelbarer Nähe des berühmten Freilichttheaters von Minack liegt, das eindrucksvoll auf den Klippen über dem Meer thront. Doch ihre Hoffnung auf Ruhe und Entspannung löst sich schnell auf, als ihre Ankunft mit dem mysteriösen Tod eines jungen Mannes im Dorf zusammenfällt. Schon bald werden immer mehr Menschen vermisst oder tot aufgefunden, und Josephine und Archie müssen davon ausgehen, dass sie es mit einem kaltblütigen Mörder zu tun haben, der vor weiteren Verbrechen nicht zurückschreckt.

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INHALT

» Über die Autorin

» Über das Buch

» Buch lesen

» Impressum

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» www.keinundaber.ch

ÜBER DIE AUTORIN

Nicola Upson wurde 1970 in Suffolk, England, geboren und studierte Anglistik in Cambridge. Ihr Debüt Experte in Sachen Mord bildet den Auftakt der erfolgreichen, mittlerweile zehnbändigen Krimi-Reihe. Bei deren Hauptfigur Josephine Tey handelt es sich um eine der bekanntesten Krimi-Autorinnen des Britischen Golden Age. Mit dem Schnee kommt der Tod war nominiert für den CWA Historical Dagger Prize (2021). Nicola Upson lebt in Cambridge und Cornwall.

ÜBER DAS BUCH

Inspektor Archie Penrose lädt seine enge Freundin Josephine Tey in sein Elternhaus in Cornwall ein, damit die Krimiautorin nach einer turbulenten Zeit endlich wieder durchatmen kann. Josephine freut sich über die Einladung, zumal das Haus nicht nur an der rauen Atlantikküste, sondern auch noch in unmittelbarer Nähe des berühmten Freilichttheaters von Minack liegt. Doch ihre Hoffnung auf Ruhe und Entspannung löst sich schnell in Luft auf, als ihre Ankunft im Dorf mit dem mysteriösen Tod eines jungen Mannes zusammenfällt. Schon bald werden immer mehr Menschen vermisst oder tot aufgefunden, und Josephine und Archie müssen davon ausgehen, dass sie es mit einem kaltblütigen Mörder zu tun haben, der vor weiteren Verbrechen nicht zurückschreckt.

 

Der Tod ist ein Engel mit zwei Gesichtern –

erst sehen wir nur eine schreckliche Fratze, düster und leer.

Doch bald erstrahlt pur ein Gesicht voller Liebe,

ein Sternenmeer.

t. c. williams

 

Das Pferd galoppierte geradewegs in den See, durchbrach jäh den frühmorgendlichen Frieden. Noch immer außer Atem von dem wilden Ritt über den Sand und dem Schreck über das, was passiert war, fuhr Harry mit der Hand über Shillings Hals und versuchte, ihn zu beruhigen, doch das Tier war längst nicht mehr empfänglich für Beschwichtigungen. Plötzlich fiel der Grund des Sees steil unter ihnen ab, und das wogende Wasser reichte Harry bis zur Taille. Shilling drehte den Kopf nach hinten, und Harry sah die Panik in seinen Augen, die Anspannung in seinen kräftigen Rückenmuskeln übertrug sich auf ihn. Er beugte sich im Sattel nach vorn, der Dunst des Pferdeschweißes vermischte sich mit dem sumpfigen Geruch des Wassers. Sanft sprach er auf den Grauen ein, aber Shilling schien nur noch ängstlicher zu werden. Keine Spur mehr von stolzem Temperament und Widerspenstigkeit. Harry schätzte die besondere Bindung zu diesem Pferd und empfand tiefe Trauer: Er wusste, der Moment der Trennung war gekommen. Shilling war ohne sein Gewicht auf dem Rücken besser dran. Er löste daher seine Füße aus den Steigbügeln und glitt zum letzten Mal aus dem Sattel.

Das Wasser war eisig, und doch brachte der Kälteschock keine Klarheit, nur Verwirrung. Harry verlor die Orientierung und wurde von dunklen Wassermassen nach unten gezogen, die ihn vom Morgengrauen entfernten. Das erste Tageslicht, das ihm Kraft gegeben hatte, verschwand, und das Wasser stieß gegen seine Augen und rauschte in seinen Ohren, machte es ihm unmöglich, etwas zu sehen oder auch nur zu denken. Der Druck in seinem Hals und in seiner Brust drängte ihn, Luft zu holen, aber das konnte er nicht, und so versuchte er, weiter gegen das Gefühl des Erstickens anzukämpfen, das ihn zu überwältigen drohte. Ein unvorstellbarer, anschwellender Schmerz durchfuhr seinen Körper. Er wusste, dass er starb, aber wo war die Euphorie, von der die Leute sprachen? Wo war der Friede? Er wollte ruhig bleiben, wollte sein Schicksal annehmen, doch seine Füße gehorchten nicht und suchten strampelnd nach etwas, an dem sie sich abstoßen konnten. Die verzweifelte Suche nach Halt war mehr als ein körperliches Bedürfnis. Ohne Shilling fühlte er sich furchtbar allein.

Die Zeit dehnte sich aus, Sekunden fühlten sich an wie Minuten. Endlich spürte er den Grund des Sees unter sich. Er trat wild mit den Beinen, erreichte damit jedoch nur, dass das Wasser schlammig und schwer wurde. Er verhedderte sich in einem Knäuel toter Zweige und Blätter. Seine Glieder waren nun bleischwer, und Schleim klebte an seinem Gesicht. Harry ertrug die Atemnot nicht länger, riss den Mund auf und brüllte gegen eine stumme Wand aus Wasser an.

1

Die Sonne brannte auf Harry Pinchings Sarg hinab, und Archie Penrose verlagerte das Gewicht auf seiner Schulter, in dem vergeblichen Versuch, sein Unbehagen ein wenig zu lindern. Nun schien das schwere Eichenholz noch stärker gegen seinen Hals zu drücken, und er nahm bei jedem Atemzug den schwachen Geruch von Holzpolitur wahr, deren süßlicher, heimeliger Duft einen scharfen Kontrast zur Stimmung des Tages bildete. Die Hitze war extrem für diese Jahreszeit, sie allein wäre schon Zumutung genug gewesen. In Kombination mit dem, was seine Sinne sonst auszuhalten hatten, war sie fast unerträglich, und Archie war froh, als die Stalluhr zwölf Uhr läutete, das Signal für das kleine Grüppchen Männer, sich in Richtung des wartenden Leichenwagens in Bewegung zu setzen.

Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, am ersten Tag seines Urlaubs einer Beerdigung beizuwohnen. Die zwei Wochen auf dem Familienanwesen in Cornwall waren als dringend benötigte Pause von seinem beruflichen Umgang mit dem Tod gedacht gewesen. Und noch wichtiger, er hatte sich geschworen, dass er in dieser Zeit einen Neubeginn wagen wollte, was seine langjährige, schwierige und dennoch kostbare Freundschaft zu Josephine Tey anging. Sie kannten sich nun schon seit zwanzig Jahren, von denen achtzehn von Geheimnissen und Schuldgefühlen überschattet gewesen waren. Erst die tragischen Ereignisse des vergangenen Jahres hatten es ihnen ermöglicht, endgültig reinen Tisch zu machen. Seither hatten sie sich noch einige Male in London getroffen, aber hier in Cornwall würden sie Gelegenheit haben, sich länger zu sehen und die neue Leichtigkeit und Ehrlichkeit in ihrer Freundschaft zu genießen. Zugegeben, es war ursprünglich geplant gewesen, dass sie gemeinsam herfuhren, und die Tatsache, dass nun ausgerechnet ein Toter ihre Pläne durchkreuzt hatte, könnte als schlechtes Omen gewertet werden. Aber da der Sommer so ungewöhnlich früh und strahlend hereingebrochen war, und Josephines Zug am Nachmittag eintreffen sollte, war Archie dennoch zuversichtlich: Tod und Trauer würden schon bald hinter ihnen liegen. Ihre gemeinsame tragische Vergangenheit zu vergessen, war unmöglich, das hätte auch keiner von ihnen gewollt. Allerdings würde sie von nun an hoffentlich ihre Bindung stärken, statt eine unbehagliche Atmosphäre zwischen ihnen zu schaffen, der sie ständig auszuweichen versuchten.

Als Leichenwagen, der nur wenige Meter entfernt stand, diente eine offene, schlichte Kutsche, die zu dem jungen Mann passte, dessen Leichnam sie transportieren sollte. Sie wurde – eine Geste des Verzeihens, die Archie bemerkenswert fand – ausgerechnet von dem Pferd gezogen, das ihm den Tod gebracht hatte. Das Gefährt war liebevoll mit den prächtigen Blumen geschmückt, die Cornwall zu dieser Jahreszeit im Überfluss zu bieten hatte, zusammengetragen aus den Gärten von Freunden, die froh waren, ihrer Trauer auf diese Weise Ausdruck verleihen zu können. Die Sargträger bewegten sich langsam auf die Kutsche zu, sorgsam darauf bedacht, im Gleichschritt zu bleiben. Archie war nah genug an seinem Vordermann, um zu erkennen, wie sich dessen Halsmuskeln unter dem Gewicht des Sargs und der Verantwortung anspannten. Nachdem sie ihre Last vorsichtig in den Leichenwagen hinuntergelassen hatten, spiegelten die Gesichter der anderen Träger seine eigene Erleichterung wider. Sie hatten nur kurz mit Harrys Leichnam auf den Schultern dastehen müssen, doch in der Mittagssonne hatte es gereicht, um ihre Beerdigungsanzüge mit Schweiß zu durchtränken. Archies Hemd klebte unangenehm an seinem Rücken, und sein dunkler, gut geschnittener Anzug kam ihm unbequem und einengend vor. Er fühlte sich darin ebenso fremd wie die übrigen Männer, deren Alltag auf dem Gutshof normalerweise weniger förmliche Kleidung erforderte. Es müsste verboten sein, bei derartigen Temperaturen Beerdigungen abzuhalten, dachte er. Wenn er selbst eines Tages unter die Erde gebracht wurde, hoffte er auf Regen oder zumindest auf Wetter, das weniger wie eine Verhöhnung von Trauer und Abschied wirkte.

Der Sarg wurde festgezurrt, und Archie warf einen Blick auf die anderen Träger, fünf Männer unterschiedlichen Alters und Berufs, die ihm alle mehr oder weniger vertraut waren. Er war auf diesem Anwesen aufgewachsen – gut sechshundert Hektar herrlichstes Wald- und Ackerland an der Südküste –, kehrte seit dem Tod seiner Eltern jedoch nur noch selten hierher zurück. Sein Onkel William Motley hatte Loe Estate kurz vor dem Krieg geerbt, und Archie bewunderte es, mit wie viel Einfallsreichtum und Schwung er Haus und Ländereien seither bewirtschaftete. Ein solches Leben wäre nichts für ihn gewesen, er bevorzugte es genau wie seine Cousinen Lettice und Ronnie, die erfolgreich Bühnenbilder und Kostüme für renommierte Theater entwarfen, London sein Zuhause zu nennen. Seinen Urlaub hier auf dem Land zu verbringen, war eine Sache – bei öffentlichen Anlässen wie diesem die Familie vertreten zu müssen, eine ganz andere. Die Bewohner des Anwesens waren höflich und schienen sich zu freuen, ihn zu sehen, aber auf einem landwirtschaftlichen Betrieb hatte keiner Verwendung für einen Detective Inspector von Scotland Yard, und es fiel ihm schwer, diese Rolle abzulegen und nur noch Privatmann zu sein. Archie Penrose fühlte sich sonst selten fehl am Platz. Es ärgerte ihn außerordentlich, dass es ihm ausgerechnet unter den Männern und Frauen so ging, die er seit seiner Kindheit kannte.

Er vermied offizielle Aufgaben daher, so gut er konnte, doch heute hatte er keine Wahl. Es war seit jeher Tradition auf Loe Estate, dass ein Vertreter jeder auf dem Anwesen lebenden Familie den Sarg trug, wenn ein Gemeindemitglied das Zeitliche segnete. Während diese Vertreter nun ihre Positionen neben der Kutsche einnahmen und sich bereit machten, den Toten zu der kleinen Kirche auf den Klippen zu geleiten, dachte Archie, dass es keinen passenderen Ausdruck des Respekts hätte geben können: Die Anwesenden standen für das ländliche Leben in dieser Ecke von Cornwall, hier hatte sich in den vergangenen dreihundert Jahren kaum etwas verändert. Für einige Stunden waren sie nicht nur Individuen und Freunde, sondern sie symbolisierten auch die hiesige Landschaft und Lebensweise, und jeder von ihnen konnte auf seine Weise Zeugnis ablegen von dem Beitrag, den der Tote für ihre Gemeinde geleistet hatte. Archie war plötzlich tief bewegt davon, an dieser Zeremonie teilzuhaben, auch wenn er sein Anrecht darauf bisweilen infrage stellte.

Sie waren jetzt bereit, sich in Bewegung zu setzen, und der Bestatter – Jago Snipe, ein stattlicher, gefällig aussehender Mittfünfziger, dessen einziger für die Branche typischer Charakterzug seine beruhigende Bestimmtheit im Umgang mit dem Tod war – ging zu den zwei jungen Frauen hinüber, die neben der Tür des Gutshauses warteten, ein wenig entfernt vom Geschehen, als hegten sie Widerwillen. Archie erkannte in ihnen Harrys Schwestern – seine Zwillingsschwester Morwenna und ein deutlich jüngeres Mädchen, Loveday, das inzwischen dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein musste. Die beiden wirkten verloren und schienen nicht recht zu wissen, was sie tun sollten, Morwenna noch weniger als ihre jüngere Schwester. Beide waren offensichtlich dankbar, als Jago ihnen tröstend die Arme um die Schultern legte und sie hinüber zum Leichenwagen begleitete. Archie beobachtete, wie Harrys einzige Angehörige dem Blumenschmuck der Kutsche ihre persönlichen Abschiedsgaben hinzufügten: Morwenna hielt seine besten Reitstiefel in der Hand und legte sie vorsichtig oben auf den Sarg, und Lovedays Beitrag war ein Hufeisen – kein echtes, sondern ein aus Holz geschnitztes, das mit Laub und Blumen wunderschön geschmückt war. Keins dieser Geschenke schien angemessen zu sein für einen Mann, der bei einem Reitunfall gestorben war, aber Harry hatte eben sein ganzes kurzes Leben mit Pferden verbracht, und es überraschte Archie nicht, dass seine Hinterbliebenen fanden, dies seien die Gegenstände, die er gern ins Jenseits mitgenommen hätte. Loveday war kleiner als ihre Schwester und hatte Probleme, den Sargdeckel zu erreichen. Archie, der in der Nähe stand, machte automatisch einen Schritt nach vorn, um ihr zu helfen. Während er das Mädchen hochhob, fing er Morwennas Blick auf und war erschrocken darüber, wie bleich und müde sie aussah, selbst für eine Trauernde. Ihm wurde bewusst, wie lang der Albtraum gewesen war, den sie hatte erleiden müssen: Loe Pool, der See, in dem Harry ertrunken war, hatte seine Leiche nur widerwillig herausgerückt, und es waren Wochen vergangen zwischen seinem Tod und seiner Beerdigung. Die gnadenlose Mischung aus Hoffnung und Angst, die sie in dieser Zeit begleitet hatte, musste sie völlig ausgelaugt haben, zumal die unausweichliche Folge von Harrys Tod war, dass sie nun zum Familienoberhaupt wurde und für eine Schwester verantwortlich war, die allgemein als »schwierig« galt. Kein Wunder, dass Morwenna Pinching nur noch wenig Ähnlichkeit mit der jungen temperamentvollen Frau hatte, an die er sich so lebhaft erinnerte.

Die Trauergemeinde bewegte sich langsam vom Haupthaus des Anwesens weg, durchschritt dichte Rhododendronhecken und steuerte in Richtung des Weges, der zu der kleinen Kirche auf den Klippen führte. Nachdem sie um die Kurve der Auffahrt gebogen waren, erhaschten die Trauernden den ersten Blick auf den See, der sie alle hergeführt hatte, ein zwei Meilen langes Gewässer, das vom Meer durch eine schmale Sandbank getrennt war. An einem Tag wie diesem, wenn die Sonne hoch am Himmel stand und kaum ein Lüftchen wehte, wirkte er ruhig und harmlos, aber jeder, der lang genug hier lebte, um seine Geschichte zu kennen, wusste, dass man ihm mit Respekt begegnen musste. Im Gegensatz zu vielen anderen Legenden, die sich um den Loe Pool rankten, besaß der Mythos, dass er alle sieben Jahre ein Menschenopfer fordere, einen wahren Kern, und Harrys Tod war der jüngste Beweis dafür. Archie kannte noch nicht alle Einzelheiten des Unfalls, aber es schien, als wäre Harry auf seinem Pferd Shilling in vollem Galopp die Sandbank entlanggeritten, als das Tier plötzlich vor etwas gescheut hatte und abrupt zum See hin ausgebrochen war. Harry war mit ihm ins Wasser gestürzt und hatte sich, solange er konnte auf dem Pferderücken gehalten, doch irgendwann trennten sich die Wege von Pferd und Reiter. Das Tier war ans gegenüberliegende Ufer geschwommen, traumatisiert, aber unverletzt, wohingegen Harry an der tiefsten Stelle des Sees verschwunden war. Dort hatten dicht wuchernde Wasserpflanzen und Dunkelheit jeden Versuch, seine Leiche zu bergen, zunichtegemacht, bis sie nach einiger Zeit von allein an die Oberfläche getrieben war. Der Tod dieses Menschen, den er sehr gemocht hatte, betrübte Archie nicht nur, er überraschte ihn auch. Für ihn war Harry immer der geborene Reiter gewesen, seit frühester Kindheit mit dem Sattel vertraut. In einigen Jahren würden Außenstehende den Unfall sicher den finsteren Mächten des Sees zuschreiben, aber heute, kurz vor Harrys Beisetzung, fand Archie, dass sie dem Gedenken dieses jungen Mannes mehr schuldig waren als abergläubisches Gerede.

Die vielen Tage ohne Regen hatten den Boden der schmalen unbefestigten Straße, die zum Meer führte, hart und trocken gemacht, und Archie, der den Blick gesenkt hielt, um seine Augen vor der grellen Sonne zu schützen, fiel auf, wie schnell der Staub jedem sorgfältig polierten Schuhpaar den Glanz nahm, wie er den Saum von Morwennas Rock mit einem hartnäckigen, pudrigen Film bedeckte und die Strenge des schwarzen Stoffs ein wenig abmilderte. Als sie den dichten Wald erreichten, der den See auf zwei Seiten flankierte, war Archie froh über den Schatten. Der Waldboden war so üppig mit Glockenblumen bewachsen, dass es an einem solchen Tag fast schon anstößig wirkte. Auf dem Anwesen war es ungewöhnlich still, nur das gleichmäßige Klappern der Hufe und das Quietschen der Wagenräder waren zu hören. Selbst die Saatkrähen, die sonst in den Baumwipfeln ihre Kakofonie ertönen ließen, blieben stumm, und Archie fühlte sich an eine Geschichte erinnert, die sein Vater ihm einmal erzählt hatte, als sie zusammen durch diesen Wald gewandert waren: In dieser Gegend herrsche seit Urzeiten der Glaube, dass ein Trauerfall bevorstehe, wenn die Vögel ihren Krähenhorst verließen. Seither hatte er immer, wenn er den See auf diesem Weg umrundete, seine Schritte verlangsamt und gelauscht, aus Angst, die Stille der Krähen könnte das jähe Ende seiner idyllischen Kindheit bedeuten. Als sein Vater viele Jahre später krank geworden war, hatte er jenen Teil des Waldes sogar gänzlich gemieden.

Es erstaunte Archie immer wieder, wie dicht man auf diesem Weg ans Meer herankam, ohne seiner Existenz gewahr zu werden. Heute war der Übergang von vollkommener Stille zum unablässigen Rauschen und Wogen des Ozeans genauso abrupt und wundersam wie immer, und als der Trauerzug den schalldämpfenden Schutz der Bäume verließ, erreichte der Lärm der Wellen ihn so plötzlich, als handele es sich um einen durch sein Auftauchen hervorgerufenen Klangeffekt. Hier stand nun endlich das Ziel des Trauerzugs, die kleine Kirche des Anwesens. Es ließ sich kaum ein spektakulärerer Schauplatz für Gottesdienste denken als dieses eigentlich so bescheidene, aber exponiert liegende Gebäude, das sich inzwischen weniger als fünfzig Meter vom Rand der Klippe entfernt befand und nach Osten hin Blick auf Lizard Point und nach Westen hin Richtung Land’s End bot. Der Grundstein war über ein Jahrtausend zuvor von einem bretonischen Missionar gelegt worden, und das nun dort befindliche Gotteshaus stammte aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Ein frei stehender Glockenturm, der älter als der Rest des Gebäudes und – der Legende nach – auf den Überresten einer uralten Klausnerzelle errichtet worden war, überragte eindrucksvoll die drei niedrigen, parallel ausgerichteten Kirchenschiffe. Der volkstümliche Name – Kirche der Stürme – verlieh den Gottesdiensten, die hier abgehalten wurden, etwas Alttestamentarisches. Wenn gerade Flut war und das Wetter schlecht, drohten die Wellen das gesamte Gebäude mit sich zu reißen. Dann brauchte es nicht viel Überzeugungskraft von der Kanzel, um die Gemeindemitglieder von ihrer Sterblichkeit zu überzeugen.

Archie hatte ganz vergessen, dass heute Sonntag war, bis er sah, wie einige Leute die Kirche über das Nordportal verließen, in feiner Kleidung und mit entspannten, sorgenfreien Gesichtern, die keinen größeren Kontrast zu der gedrückten Stimmung der Trauergemeinde hätten bilden können, die im Begriff war, den Friedhof zu betreten. Wer nicht aus Cornwall stammte, hätte es vielleicht merkwürdig gefunden, dass die Toten ausgerechnet an einem Sonntag beerdigt wurden, aber hier war es so üblich, weil die Fischer nur an diesem Tag nicht aufs Meer hinausfuhren und ihren Freunden, Verwandten oder Kollegen die letzte Ehre erweisen konnten. Beerdigungen wurden in Cornwall ganz pragmatisch zwischen die Sonntagsgottesdienste gezwängt, und als die beiden Gemeinden sich am Friedhofstor kurzfristig vermischten, fiel Archie auf, dass in den Gesichtern jener, deren Kirchgang für heute vorbei war, nicht nur Anteilnahme zu lesen war, sondern auch Verlegenheit, fast so, als hätten sie das Gefühl, sich dafür entschuldigen zu müssen, dass ihnen selbst die Trauer erspart geblieben war. Da er beruflich ständig mit dem Tod zu tun hatte, wusste er genau, wie sich dieser Konflikt gegensätzlicher Emotionen anfühlte.

Nachdem er das Chorhemd gewechselt hatte, trat der Pfarrer der St Winwaloe-Gemeinde aus dem Südportal der Kirche, bereit, dem Sarg voran ins Innere des Kirchenschiffs zu schreiten. Jasper Motley war nicht das gütige, Trost spendende Bindeglied zwischen Kummer und Hoffnung, das sich die meisten Menschen für einen Trauergottesdienst gewünscht hätten. Auch sonst schienen ihm sämtliche Qualitäten zu fehlen, die ihn dazu befähigt hätten, die Lehren der Kirche unter die Menschen zu bringen. In seinem Herzen wohnten weder Bescheidenheit noch Mitgefühl, und diese Tugenden fanden auch keinen Platz in seinen Predigten. Die Tatsache, dass Jasper sein Onkel war, hinderte Archie nicht daran, die größte Verachtung für ihn zu empfinden. Seine Abneigung war ihm schon früh anerzogen worden. Archies Mutter war das einzige Mädchen unter drei Geschwistern gewesen und hatte ihren älteren Bruder William förmlich angebetet – die beiden hatten sich bis zu ihrem Tod sehr nahegestanden. Das mittlere Kind, Jasper, war schon immer aus der Reihe gefallen, es schien nicht zu der ansonsten glücklichen Familie zu passen. Als kleiner Junge hatte er die enge Bindung zwischen seinen Geschwistern mit Argwohn betrachtet und seinen Eltern sogar noch unversöhnlicher gegenübergestanden, was er damit zu begründen schien, dass er nicht der Erstgeborene war. Archies sonst so freundliche Mutter hatte nur selten Hass gegenüber ihren Mitmenschen zum Ausdruck gebracht. Sie tat es immer dann, wenn sie über Jasper sprach, und die Gehässigkeit und Verbitterung, die dann in ihrer Stimme lagen, passten ganz und gar nicht zu ihr. Archie verstand nie so recht, woher ihre Feindseligkeit rührte, auch wenn er ahnte, dass sie ihre Berechtigung hatte.

Während die sechs Träger sich daranmachten, den Sarg aus dem Wagen zu hieven, fiel Archie auf, wie sehr sein Onkel in den vergangenen Monaten gealtert war. »Jesus spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben«, begann er, und seine einst durchdringende Stimme war mit den Jahren brüchig und schwach geworden. »Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.« Dann hat Harry schlechte Karten, dachte Archie sarkastisch. Der junge Mann war nicht gerade bekannt gewesen für seinen christlichen Lebensstil. Wie viele Menschen, die auf dem Land groß geworden und davon überzeugt waren, es beherrschen zu können, hatte Harry Pinching hart gearbeitet, viel gefeiert und sich selbst für unbesiegbar gehalten. Seine jugendliche Arroganz hatte harmlos gewirkt, forderte nun jedoch einen hohen Tribut – nicht von dem Toten selbst, der alle Mühen hinter sich hatte, sondern von den Hinterbliebenen. Archie fragte sich bekümmert, wie Morwenna und Loveday ohne ihn zurechtkommen würden. Ihre Trauer war erst der Anfang.

Keusch und enthaltsam war Harry nicht gewesen, beliebt hingegen schon. Die kleine Kirche war voll besetzt mit Trauergästen – Menschen, die an seiner Seite auf dem Gutshof gearbeitet hatten, Fischern, mit denen er getrunken hatte, jungen Frauen, die seinem Charme und seinem guten Aussehen erlegen waren und sich Hoffnungen auf ihn gemacht hatten. Harry war Landarbeiter auf dem Anwesen gewesen wie zuvor schon sein Vater, und seine warmherzige, umgängliche Art hatte ihn bei den Bewohnern des nahen Fischerdorfs, die sich normalerweise vom Loe Estate fernhielten, beliebt gemacht. Es war ihm gelungen, die Kluft zwischen Land und Meer auf selten effektive Weise zu überwinden. Dass sein Tod so viele Menschen berührte, war also eigentlich keine Überraschung, aber Archie spürte, dass Morwenna zögerte, bevor sie die Kirche betrat. Er ahnte, dass die schiere Anzahl der Trauergäste und die Intensität der Gefühle für ihren Bruder sie verunsicherten. Während er mit den anderen Sargträgern Richtung Altar schritt, hörte er, wie jemand sie sachte antrieb, weiterzugehen. Als die kleine Prozession den Altar erreichte, verfehlte Christopher Snipe – mit sechzehn oder siebzehn Jahren der Jüngste der Träger – die oberste Stufe, und der Sarg sackte hinten gefährlich ab, woraufhin einer von Harrys Reitstiefeln auf den Boden fiel. Archie brachte den Sarg wieder ins Gleichgewicht, während Christopher sich von dem Schreck über seinen Fehltritt erholte, und danach wurde der Leichnam ohne weiteren Zwischenfall zu der wartenden Bahre getragen. Das Missgeschick brachte dem Jungen einen vorwurfsvollen Blick von seinem Vater ein, der offenbar fand, als Mitglied einer Bestatterfamilie müsse man an einem solchen Tag unfehlbar sein. Stirnrunzelnd legte Jago Snipe den Stiefel zurück auf den Sarg und verschmolz anschließend so unauffällig mit der Trauergemeinde, wie es nur seinesgleichen konnten. Christopher setzte sich neben ihn, mit vor Scham geröteten Wangen.

Die anderen Träger nahmen die für sie reservierten Plätze ein, und Archie schlüpfte neben seinen Cousinen und seinem Onkel William auf die vorderste Kirchenbank. »Gut gerettet«, flüsterte Ronnie, während sich ihre ältere Schwester Lettice vorbeugte, um ihm aufmunternd den Arm zu drücken. Inzwischen war Reverend Motley an der Kanzel schon in Fahrt gekommen, und die Worte von Psalm neununddreißig hallten über Archies Kopf hinweg, als er sich in der Kirche umsah. Es musste mindestens zwei Jahre her sein, dass er das letzte Mal hier gewesen war. Er war sich sicher, dass St Winwaloe damals noch nicht so vernachlässigt und traurig gewirkt hatte. Die Schäbigkeit des Kircheninneren war nicht nur auf die in der Hitze welkenden Blumen zurückzuführen, da war er sich sicher. Einige Fenster waren noch mit Brettern vernagelt, die sie vor den Winterstürmen schützen sollten, was dem Gebäude ein dauerhaft verlassenes Aussehen verlieh, und selbst die bretterlosen Fenster waren beschädigt und schmutzig. Die Fensterbänke waren mit Sand bedeckt, den der beißende Wind durch Ritzen im Glas wehte, und da das Dach ständig Wind und Wetter ausgesetzt war, fehlten einige Dachschindeln. Ein Eimer, den jemand unpassenderweise hinter dem Altar abgestellt hatte, zeugte stumm vom dringenden Reparaturbedarf der Kirche. Das Holz der Kirchenbänke war stumpf und ungepflegt, und sogar die Gesangsbücher waren verblichen und zerfleddert. Offenbar war Jaspers pausenloses Gejammer gerechtfertigt: Die Gemeinde benötigte tatsächlich mehr Geld für die Instandhaltung der Kirche. Archie konnte sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass die dringenden Bitten des Pfarrers um Großzügigkeit mehr Beachtung gefunden hätten, wenn er selbst und seine Frau ihren Lebensstandard bescheidener gestaltet hätten und mit gutem Beispiel vorangegangen wären.

Endlich war die Schriftlesung zu Ende, und Nathaniel Shoebridge, der Kaplan von St Winwaloe, stand auf, um die Trauerrede zu halten. Shoebridge würde die Pfarrgemeinde übernehmen, wenn Jasper Motley Ende des Jahres in den Ruhestand ging. In Anbetracht des Zustands der Kirche war es ein Giftkelch, der ihm da zufiel, aber Archie hatte nur Gutes über das Engagement und die Tatkraft des jungen Mannes gehört. Seine Berufung wurde gemeinhin als willkommene Abwechslung zur derzeitigen Kirchenführung betrachtet. Als einer von Harrys ältesten Freunden und Angehöriger einer Familie, die seit Generationen auf dem Loe-Anwesen Landwirtschaft betrieb, hatte Nathaniel unbestritten ein Recht darauf, bei dieser Beerdigung als Sargträger mitzuwirken und nun ein paar persönlichere Worte an die Trauergemeinde zu richten. Allerdings hatte Archie gehört, dass die Freundschaft zwischen den beiden jungen Männern in letzter Zeit merklich abgekühlt war. Er fragte sich, ob sie ihre Differenzen vor dem Unfall hatten beilegen können, und beobachtete den Kaplan interessiert dabei, wie er nervös ans Rednerpult trat.

Für Nathaniel Shoebridge war die Kanzel normalerweise so vertraut und beruhigend wie der Schreibtisch für einen Büroangestellten, aber heute fühlte er sich in ihr gefangen. Das gewohnte sechseckige Podium wirkte beengter als sonst, und die mit Schnitzereien verzierten Holzwände umschlossen ihn wie die Seitenwände eines Sargs, erschwerten das Atmen und drohten ihm die Worte abzuschnüren. Mit zitternden Händen legte er seine Notizen bereit und blickte auf. Was er sah, war eine Kirche voller grundverschiedener Menschen mit grundverschiedenen Erinnerungen, und doch starrten ihn alle wie aus einem einzigen Augenpaar an. Die Schüchternheit seiner Kindheit kehrte zurück, und er fühlte sich verloren und schutzlos.

Seine ersten Worte waren kaum hörbar: »Wie die meisten der heute Anwesenden kannte ich Harry seit vielen Jahren.« Sein Publikum erwartete von ihm, dass er einen verbalen Ausdruck für ihrer aller Trauer fand, das war ihm schmerzlich bewusst. »Sein Verlust hat uns alle schwer getroffen.« Nathaniel hielt inne und versuchte, die Angst in seiner Stimme zu kontrollieren und genauso ruhig zu sprechen wie sonst. Trotz sorgfältiger Vorbereitung erhob sich die Trauerrede vor ihm wie ein unmöglich zu bezwingender Berg, und er fragte sich, wie er seine Aufgabe bewältigen sollte. Auf den hinteren Kirchenbänken wurde gemurmelt, und er beeilte sich fortzufahren, konzentrierte sich auf den jeweils nächsten Satz, war bemüht, die stumme Anwesenheit des toten Mannes auszublenden. »Harry hat einen wichtigen Platz im Herzen unserer Gemeinde eingenommen«, sagte er schnell und kümmerte sich nicht mehr darum, ob seine Worte die Leute enttäuschten oder nicht. »Er war ehrlich und fleißig, war Morwenna und Loveday ein liebevoller Bruder und vielen von uns ein guter Freund.« Selbst in seinen eigenen Ohren klang diese Lobrede seltsam unpersönlich, als handele es sich um die Trauerfeier eines Gemeindemitglieds, dem er nie selbst begegnet war. Die gewählten Worte wirkten abgenutzt und erschienen ihm völlig unzureichend für einen Mann, der mit seiner Vitalität einen ganzen Raum in den Bann ziehen konnte. Dass er selbst so großen Respekt für Harry empfunden hatte, machte die Sache nicht etwa leichter für ihn, sondern ließ ihn immer wieder stocken. Während er selbst über die einfachsten Formulierungen stolperte, sah er, wie die Gemeinde zunehmend verunsichert auf sein Unvermögen reagierte, die schonungslose Realität des Sargs zu vertreiben und durch ein Bild von Harry zu ersetzen, wie er zu Lebzeiten gewesen war – warmherzig, großzügig und bedingungslos loyal, unvergesslich selbst nach einer flüchtigen Begegnung und erst recht nach einer lebenslangen Freundschaft.

Nathaniel strich sich die hellblonden Haare aus den Augen und wandte sich dankbar dem Buch zu, das er mitgebracht hatte, froh darüber, sich in die Worte eines anderen flüchten zu können. Vielleicht konnte er so die Kraft und Überzeugung übermitteln, die seinen eigenen gefehlt hatten. Er hatte einen Text von Tennyson ausgewählt, einen Auszug aus den Königsidyllen, die er liebte, weil sie alles vereinten, was ihm am wichtigsten war: die Geschichten und Legenden, mit denen er aufgewachsen war, den Gemeinschaftssinn, der ihn antrieb, und die Spiritualität, in der er den größten Trost fand. »Und langsam erwiderte Artus von der Barke«, begann er zaghaft und fuhr fort:

»Die alte Ordnung ändert sich und weicht der neuen,

Und Gott verwirklicht sich in vielen Weisen.

Auf dass die eine gute Gewohnheit die Welt verderben solle.«

Die vertrauten Zeilen gaben ihm Sicherheit, und für einen kurzen Moment wagte er zu hoffen, dass er sich damit rehabilitieren konnte, doch sein Optimismus war nur von kurzer Dauer. Er machte den Fehler, vom Buch aufzublicken, lang genug, um zu sehen, dass Morwenna aus der ersten Reihe zu ihm heraufstarrte – anklagend, enttäuscht, unversöhnlich. Eilig las er weiter:

»Tröste dich selbst: Was für ein Trost ist in mir?

Ich habe mein Leben gelebt, und das, was ich getan,

soll rein werden durch Ihn! Aber du,

Wenn du mein Gesicht nie wieder erblickst,

Bete für meine Seele. Mehr ist durch Gebet errungen,

Als diese Welt sich träumen kann.«

Endlich war es vorbei. Nathaniel verließ eilig die Kanzel und versuchte gar nicht erst, seine Erleichterung zu verbergen. Als er zu seinem Platz zurückging, warf er Morwenna und Loveday einen entschuldigenden Blick zu, mit dem er anerkannte, dass sie – und Harry – etwas Besseres verdient hatten.

Loveday kicherte und schlüpfte aus der Kirche, durchbrach die Stille der abschließenden Gebete. Archie fiel auf, wie aufmerksam Christopher Snipe ihr hinterhersah. Das Lachen des Mädchens wirkte verstörend in derartiger Nähe zum Tod, und die Trauergäste reagierten mit Verlegenheit und Unsicherheit, sahen sich über den Mittelgang hinweg an oder lächelten Morwenna peinlich berührt zu. Die Anspannung, die mit Nathaniels Trauerrede in der Kirche Einzug gehalten hatte, war ansteckend, und alle schienen dankbar zu sein, dem Sarg wieder nach draußen folgen zu können und zu wissen, dass das Ende der Trauerfeier nicht mehr fern war.

Kleinblättrige südenglische Ulmen standen in Grüppchen um den Friedhof herum und gewährten hin und wieder flüchtige Blicke auf das dahinterliegende Meer. Die Trauergesellschaft begab sich zum hinteren Ende des Areals, wo ein Haufen frisch ausgehobener Erde das Grab kennzeichnete. Loveday stand bereits neben der Grube. Als sie näher kamen, hörte Archie ein oder zwei Trauergäste laut nach Luft schnappen, und auch er hatte Mühe, seine Überraschung zu verbergen: Harrys Grab war auf allen vier Seiten mit Glocken- und Schlüsselblumen ausgekleidet. Die Blüten waren sorgfältig mit Moos und Ranken verflochten und bildeten eine farbenfrohe Wand, wo sonst nur Dunkelheit und Erde gewesen wären. Offenbar war dies Lovedays letztes Geschenk an den älteren Bruder, der seit dem verfrühten Tod der Eltern der wichtigste Mensch in ihrem Leben gewesen war. Die liebevolle Geste war berührend und herzerwärmend, aber Archie konnte nur daran denken, wie viele Stunden das Mädchen in der Grube zugebracht haben musste, um sein Werk zu vollenden. Die Schönheit der Blumen vermochte es nicht, das Bild zu vertreiben, das er immer wieder vor sich sah: Kinderhände, die in unmittelbarer Nähe zu den Toten wie besessen vor sich hin arbeiteten. Ein kurzer Blick in die Runde verriet ihm, dass er nicht der Einzige war, der Beunruhigung verspürte. Es blieb Morwenna überlassen, ihre jüngere Schwester zu umarmen und deren Stolz auf das Geleistete anzuerkennen.

Während sich die Trauergäste um das Grab herum verteilten, fiel Archie auf, dass viele von ihnen instinktiv zu den eigenen toten Angehörigen in den verschiedenen Winkeln des Friedhofs spähten, sich anderer Beerdigungen und Verluste erinnerten. Christopher und sein Vater führten geschickt zwei Gurte unter dem Sarg hindurch und machten sich daran, ihn vorsichtig in die Grube hinunterzulassen. »Gott der Allmächtige hat die Seele unseres verstorbenen Bruders in seiner unendlichen Gnade zu sich genommen«, verkündete Jasper Motley halbherzig. »Und wir geben nun der Erde zurück, was der Erde gehört. Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub. In sicherer Hoffnung auf das Wiedererwachen zum Ewigen Leben durch unseren Herrn, Jesus Christus.« Archie fragte sich, wie viele der hier Versammelten tatsächlich Trost aus diesen vertrauten Worten schöpften. Auf ihn selbst machte das Geräusch einer Handvoll Erde, die auf den Sarg klatschte, deutlich mehr Eindruck, der Gedanke an einen Mann, der nie seinen dreißigsten Geburtstag erleben würde.

Während die Anwesenden ihre Köpfe zum letzten Gebet senkten, warf Archie einen Blick auf seine Armbanduhr. Josephines Zug würde in einer knappen Stunde eintreffen. Weil von ihm erwartet wurde, dass er am Leichenschmaus teilnahm, hatte Ronnie angeboten, sie am Bahnhof von Penzance abzuholen. Wenn sie jetzt losfuhr, würde sie fast pünktlich sein. Während sich die Trauergemeinde allmählich auflöste, suchte er den Blick seiner Cousine und gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie sich auf den Weg machen sollte.

»Hast du noch Zeit, mit zurück zum Cottage zu kommen?« Archie hatte nicht bemerkt, dass Morwenna hinter ihm aufgetaucht war. Die Dringlichkeit in ihrer Stimme überraschte ihn.

»Natürlich«, antwortete er. Er beugte sich vor, um sie auf die Wange zu küssen, und suchte nach ein paar tröstlichen Worten, aber sie machte eine wegwerfende Handbewegung. Dann wandte sie sich von einigen sich nähernden Trauergästen ab, damit nur Archie hören konnte, was sie sagte: »Es gibt etwas, was ich dir unter vier Augen sagen muss – ich könnte es niemandem außer dir erzählen.« Ohne weitere Erklärung ergriff sie Lovedays Hand und führte sie energisch vom Grab ihres Bruders weg.

2

Josephine Tey saß auf einem Stapel Gepäck und wartete geduldig darauf, dass sie abgeholt wurde. Sie war vollkommen zufrieden damit, sich zu sonnen und nichts zu tun. Die breite Uferpromenade direkt neben dem Bahnhof bot in beide Richtungen eine herrliche Aussicht auf die Küste, und sie spähte zufrieden zu den Hügeln hinüber, die sich im Westen Richtung Land’s End erstreckten, bevor ihr Blick über den weiten Bogen der Mount’s Bay zum Lizard Point wanderte. Selbst an einem Sonntag wurden unablässig Kisten mit Blumen von den anlegenden Lastkähnen zum Bahnhof befördert. Er stellte die Verbindung zwischen den Blumengärten der Scilly Isles und den Märkten der englischen Hauptstadt dar, wo die Blumen rechtzeitig zum Wochenbeginn eintreffen mussten. Im Grunde wurde Penzance dadurch zu einem Vorort von Covent Garden. Die Atmosphäre an der Promenade war einladend und entspannt, und sie fühlte sich hier sofort wie zu Hause. Wenn so das Leben in Cornwall war, konnte sie sich problemlos daran gewöhnen.

Sie fand es schade, dass sie nicht mit Archie im Auto hatte anreisen können, wie es ursprünglich geplant gewesen war, aber seine erzwungene verfrühte Abreise hatte ihr keine andere Möglichkeit gelassen, als im Zug hinterherzufahren. Vielleicht war es besser so. Sie konnte sich Schöneres vorstellen, als bei der Beerdigung eines Fremden herumzusitzen. Der erste Besuch bei Leuten, die sie noch nie besucht hatte, war schwierig genug. Josephine hatte also die seit Langem getroffene Verabredung zum Lunch mit ihrem Londoner Verleger wahrgenommen, anschließend in ihrem Club am Cavendish Square übernachtet und dann den Schnellzug um halb elf von der Paddington Station genommen. Ausnahmsweise war sie sich dabei wie eine echte Urlauberin vorgekommen. Das Endziel des Zugs, Land’s End, klang fern und abgelegen und sprach ihren Sinn für Abenteuer und Exotik an. Sie hatte die Zugfahrt von Anfang bis Ende genossen. Es war wahrlich keine Strafe, zu dieser schönen Jahreszeit auf eine sich stetig verändernde Landschaft hinauszublicken. Auch dass hin und wieder eine Marine-Uniform auf dem Gang aufgetaucht war, war eine angenehme Abwechslung gewesen. Alles in allem war sie hochzufrieden mit dem Cornish Riviera Express und verstand vollkommen, dass Cornwall nicht mehr als abgelegener, unzugänglicher Landstrich galt, sondern zum Tummelplatz der Londoner geworden war – in Anbetracht der Anzahl fescher Paare und fröhlicher Familien an Bord des Zugs sogar ein sehr beliebter.

Ronnie machte sich bemerkbar, sobald sie in Sichtweite war, indem sie während der letzten Meter unablässig hupte und den Austin dann zentimetergenau vor Josephine zum Stehen brachte. Sie sprang vom Fahrersitz und eilte zur Beifahrerseite. Josephine fielen die Blicke einiger verwirrter Passanten auf, die versuchten, Ronnies schwarze Trauerkleidung mit dem freudigen Ausdruck in ihrem Gesicht in Einklang zu bringen. »Entschuldige bitte, dass ich keine Zeit hatte, mich umzuziehen«, sagte sie, während sie überschwänglich ihre Freundin umarmte. »Aber mein lieber Cousin hat mir die strenge Anweisung gegeben, dich auf keinen Fall warten zu lassen.«

»Für deinen Trauerornat musst du dich nicht entschuldigen, nur dafür, dass du so umwerfend darin aussiehst!« Josephine ließ ihren Blick bewundernd über Ronnies elegantes Ensemble gleiten. »Lettice und du, ihr könntet euch doch mit Witwenkleidung etwas dazuverdienen. Ich sehe die Reklame schon vor mir: ›In Würde trauern mit Motley-Couture!‹ Vielleicht werdet ihr sogar reich damit.«

»Du siehst selbst verdammt gut dafür aus, dass du gerade an einem Endbahnhof ausgestiegen bist«, erwiderte Ronnie und lud Josephines Gepäck schwungvoll in den Kofferraum. »Die meisten Leute fangen schon in Exeter an zu welken.«

»Ach, weißt du, irgendwie hat es seinen ganz eigenen Reiz, so weit zu fahren, wie es geht.« Josephine lächelte. »Ich glaube, daran könnte ich Gefallen finden.«

Ronnie hob eine Augenbraue. Sie wusste, wie sehr Josephine unter ihrem Heimatort litt, der sie einerseits als berühmte Tochter der Stadt für sich beanspruchte und ihr andererseits den Erfolg missgönnte. »Inverness ist also so reizend wie immer zu dir?«

»Ein bisschen zu reizend, wenn du es genau wissen willst. Jedes Mal, wenn eins meiner Stücke in der Zeitung besprochen oder auch nur mein Name erwähnt wird, renne ich nach dem Einkaufen klammheimlich zur Bushaltestelle, in dem verzweifelten Versuch, nicht schon wieder eine Flut von Einladungen annehmen zu müssen. Wenn all diese Vereine und Ausschüsse ihren Willen bekämen, wäre ich zu beschäftigt, die schottische Lokalpatriotin zu spielen, um je wieder ein einziges Wort zu Papier zu bringen.« Sie schüttelte sich demonstrativ, während Ronnie den ersten Gang einlegte und losfuhr. »Erst letzten Monat habe ich den Fehler gemacht, eine Einladung anzunehmen«, fuhr sie fort. »Meine frühere Schule brachte eine bearbeitete Fassung von Richard von Bordeaux auf die Bühne, zu Ehren des – ich zitiere – ›berühmtesten Fußes, der Inverness in den letzten zweihundert Jahren verlassen hat‹. In dem Brief stand, ich möge doch eine kleine Einführungsrede halten und etwas über das Stück erzählen. Ich griff sofort zum Telefon und fragte, ob sie auch den Rest von mir wollten oder nur den Fuß, und falls nicht, ob es der linke oder der rechte sein solle. Vor lauter Übermut erklärte ich mich dann auch noch bereit, zu kommen.«

Sie erreichten eine Kreuzung, und Ronnie, die vor lauter Lachen kaum noch Luft bekam, versuchte, sich zu konzentrieren. »Warte kurz, hier wird es knifflig«, sagte sie. »Wenn ich nicht die richtige Abzweigung erwische, landen wir in Newlyn, und das möchte ich weder dir noch mir zumuten.«

Josephine musste schmunzeln, als sie sich ihre glamouröse, großstädtische Freundin dabei vorstellte, wie sie zwischen alten Kuttern und Fischernetzen herumirrte. »Das ist das Problem bei euch West-End-Bewohnern: Ihr könnt Fisch nicht ertragen, es sei denn, er liegt im Savoy auf dem Grill. Dass du ursprünglich aus Cornwall kommst, würde kein Mensch vermuten.«

»Ach was, gegen Fisch habe ich nichts, nur gegen die Künstler. Newlyn war so ein charmantes kleines Örtchen. Jetzt kann man dort keinen Fuß mehr vor den anderen setzen, weil überall Staffeleien die Gehwege verstopfen und Möchtegern-Rembrandts in Malerkitteln versuchen, die ›typische Newlyn-Atmosphäre‹ einzufangen, was auch immer das sein soll. Das ist eine richtige Industrie geworden – zweihundert Leinwände werden jedes Jahr von hier zur Royal Academy of Arts transportiert, und du müsstest mal sehen, was für die Touristen übrig bleibt. Nein, da ziehe ich jederzeit eine Makrele vor – die stinkt vielleicht, dient aber wenigstens einem Zweck.«

Josephine nahm erfreut zur Kenntnis, dass der Aufenthalt in ihrer Heimat keine Auswirkungen auf Ronnies direkte Art hatte. Während diese sich auf die Straße konzentrierte, ließ sie den Blick schweifen. Sie fuhren gerade durch eine Wohngegend mit unscheinbaren Steinhäusern, deren Alltäglichkeit durch die üppigen Vorgärten wettgemacht wurde. Überall blühten Rhododendren und Fuchsien, und aus den Hinterhöfen lugten die spitzen grünen Blätter exotischer Pflanzen hervor. »Das erinnert mich irgendwie an das europäische Festland«, sagte sie zu Ronnie und war überrascht, wie unenglisch hier alles wirkte.

»Im Prinzip ist es hier wie in Cannes, meine Liebe – na ja, zumindest im Vergleich zu dem Ort, an dem du untergebracht sein wirst. Ich warne dich lieber gleich: Auf dem Loe-Anwesen inmitten malerischer Landschaft gibt es Ruhe im Überfluss, und nachts ist dort tote Hose.«

»Ich enttäusche dich ungern, muss dir jedoch mitteilen, dass ich wegen ebendieser Ruhe gekommen bin. In letzter Zeit konnte ich mich irgendwie auf nichts konzentrieren, und ich muss endlich wieder an die Arbeit und etwas zu Papier bringen. Hoffentlich pusten mir ein paar lange Spaziergänge und die Seeluft den Kopf frei.«

»Lettice hat erzählt, dass du wieder an einem Krimi sitzt.«

»Ich habe zumindest vor, einen zu schreiben. In einem Prozess auszusagen, war mir dramatisch genug, da muss ich mich nicht auch noch beruflich weiter mit Theaterstücken befassen. Ich dachte, ich wende mich für eine Weile der Kriminalliteratur zu.« Sie sagte es leichthin, wusste jedoch, dass sich Ronnie nicht von ihrem Tonfall täuschen lassen würde. Während der Spielzeit von Josephines erfolgreichstem Stück Richard von Bordeaux war Elspeth, eine junge Bewunderin, gewaltsam zu Tode gekommen, was Josephine tief getroffen hatte. Der Mord hatte sich vor über einem Jahr ereignet, aber die Ereignisse, die er nach sich gezogen hatte, verfolgten sie bis heute. In den letzten Monaten hatte es Momente gegeben, in denen sie sich ohne die Freundschaft zu Archie und seinen Cousinen gänzlich den Schuldgefühlen und der Trauer hingegeben hätte. Der Mordprozess und die Notwendigkeit, Menschen gegenüberzutreten, denen sie so starke und gegensätzliche Gefühle entgegenbrachte, war eine der schlimmsten Erfahrungen ihres Lebens gewesen. Am Ende hatte die Person, die für so viel Kummer verantwortlich war, ihre gerechte Strafe erhalten, doch Josephine war überrascht gewesen, wie wenig Trost dieser Umstand ihr brachte. Sie hatte begonnen, alles infrage zu stellen, woran sie bisher geglaubt hatte. Es sah ihr gar nicht ähnlich, dass sie nicht einmal in ihrer Arbeit Trost und Zuflucht fand. Doch das Theater war für sie – zumindest vorerst – zu eng mit den schrecklichen Ereignissen und einem Gefühl des Verlusts verbunden, um sich noch daran erfreuen oder einen Sinn darin erkennen zu können.

»Ich bin momentan einfach nicht mit dem Herzen dabei«, gestand sie, dieses Mal mit mehr Ernst. »Schreiben funktioniert nicht, wenn man es lustlos tut. Seit Warten auf den Tod lechzt mein Verlag nach einem weiteren Krimi, und da Königin von Schottland nicht den erhofften Erfolg gebracht hat, erschien mir der Zeitpunkt ideal, diesem Wunsch nachzukommen.«

»Verstehe. Lettice und ich haben versprochen, die örtliche Theatergruppe zu unterstützen, und du weißt ja, dass Laienaufführungen immer die Mordlust in uns wecken. Melde dich also, falls du noch eine zündende Idee für die Handlung brauchst.« Sie hatten das Städtchen inzwischen hinter sich gelassen, aber Ronnie fuhr immer noch so langsam, dass Josephine sich fragte, ob etwas mit dem Wagen nicht stimmte. Vorsicht am Steuer war etwas, das sie eher von Ronnies Schwester Lettice erwartet hätte. »Ich hoffe, du kommst am Dienstagabend mit zur Aufführung.« Sie lachte, als sie Josephines Gesichtsausdruck sah. »Sag bloß, du wolltest dir noch nie Die Dohle von Reims in einem Freilufttheater ansehen?«

»Ist das nicht ein Gedicht?«

»Wenn die Winwaloe Players damit fertig sind, nicht mehr. Nein, im Ernst, die Truppe ist gar nicht schlecht, und allein das Theater ist schon einen Besuch wert.«

»Das habe ich auch gehört. Archie meinte, es läge am Rand einer Klippe und wäre absolut atemberaubend. Wessen Idee war es, ausgerechnet dort ein Theater zu bauen?«

»Die Idee einer Frau namens Rowena Cade. Eine Verrückte im besten Sinne – muss man ja sein, um ein Theater in den Fels zu hauen, nicht wahr? Sie hat es vor ungefähr drei Jahren eröffnet, und Lettice und ich haben uns breitschlagen lassen, den Winwaloe Players auch dieses Jahr wieder mit den Kostümen zu helfen. Die Aufführungen vor dieser Kulisse sind wirklich magisch, vorausgesetzt, das Wetter spielt mit.« Ronnie griff hinter sich und zog eine Feldflasche und eine Tüte Butterkekse von der Rückbank.

»Erkenne ich da etwa die Handschrift der lieben Dora?«, fragte Josephine. Da sie schon häufiger Gast der Motley-Schwestern in der St Martin’s Lane in London gewesen war, war sie mit deren Respekt einflößenden Köchin vertraut, die mit den Motley-Schwestern kurz nach dem Krieg vom ländlichen Cornwall in die Hauptstadt gezogen war und auch Archie den Haushalt führte. Erstaunlicherweise war Dora Snipe hervorragend mit dem Ortswechsel zurechtgekommen und hatte das Stadtleben sofort genossen. Sie kehrte nur noch hin und wieder in den Ferien an ihre alte Wirkungsstätte zurück, um sich zu vergewissern, dass die dortigen Mitarbeiter das hohe Niveau auch hielten.

»Absolut richtig. Sie hat sofort wieder die Kontrolle über die Gutshofküche übernommen und trotz der Vorbereitungen für den Leichenschmaus Zeit gefunden, diese Kekse für dich zu backen.«

»Meine Güte, kocht sie etwa auch für Beerdigungen?«

»Ja. Das Ganze ist quasi ein Familienbetrieb. Der hiesige Bestatter – Jago – ist ihr Schwager.«

Josephine nahm einen Keks aus der Tüte und aß ihn nachdenklich. »Was ist eigentlich mit ihrem Mann passiert? Ich glaube, das habt ihr mir nie erzählt.«

»Weil wir es auch nicht wissen. Sie kam vor ungefähr dreißig Jahren als Köchin zu uns und war damals schon allein. Sie spricht nie über ihren Mann. Das Einzige, was die Leute im Ort zu wissen glauben, ist, dass ihre Ehe schon kurz nach der Hochzeit wieder vorbei war.«

»Sie ist also verwitwet?«

Ronnie zuckte mit den Schultern. »Hättest du den Mumm, es aus ihr herauszukitzeln? Ich kann nur eins mit Sicherheit sagen: dass sie einen Rabatt für die Beisetzung bekommen hätte, wenn ihr Mann gestorben wäre.«

Fasziniert goss sich Josephine ein wenig Tee aus der Thermoskanne ein. Jetzt war sie dankbar für Ronnies gemächliches Tempo. »Wie geht es Archie?«, fragte sie. »Ich kann mir einen besseren Urlaubsbeginn vorstellen als die Teilnahme an einer Beerdigung, bei der er noch dazu den Sarg schleppen muss.«

»Er trägt es mit Fassung, im wahrsten Sinne des Wortes. Lettice und ich haben immer panische Angst davor, dass während unserer Cornwall-Aufenthalte irgendein großes Ereignis stattfindet. Hochzeiten, Beerdigungen, Taufen – im Grunde ist es immer dasselbe. Hier haben alle so viel miteinander erlebt, weißt du. Seit Generationen wohnen und arbeiten diese Menschen zusammen auf dem Anwesen. So entstehen natürlich starke Allianzen und noch viel stärkere Abneigungen – ein bisschen wie in einer Bruderschaft, vermute ich mal. Wenn du dir Loe Estate wie eine Mischung aus Camelot und einem satanischen Kult vorstellst, liegst du ungefähr richtig.« Sie lachten beide. »Meistens geht das Leben hier seinen ganz normalen Gang. Das Anwesen ist groß genug, dass jeder ungestört seiner Arbeit nachkommen kann, und es hat ja auch etwas Schönes an sich, wie alle am Fortbestand des Gutshofs mitwirken. Trotzdem: Wenn wir unter einem Dach so eng aufeinanderhocken, wird es ein bisschen inzestuös.«

»Also eigentlich wie im Theater«, lautete Josephines trockener Kommentar. »Deshalb habt ihr euch dort gleich wie zu Hause gefühlt.«

»So habe ich es noch nie betrachtet, aber jetzt, wo du es sagst, erkenne ich die eine oder andere Parallele. Die Trauerfeier heute war übrigens selbst für hiesige Verhältnisse eigenartig: Christopher, ein Junge aus der Gegend – er ist Dora Snipes Neffe –, hat fast den Sarg fallen gelassen, der Kaplan hat die Trauerrede vermasselt, und zu allem Überfluss mussten wir nach dem Gottesdienst feststellen, dass die kleine Schwester des Toten das offene Grab wie das Schaufenster eines Blumengeschäfts dekoriert hat. Wir sind um die Ecke gebogen, um den Verstorbenen sicher unter die Erde zu bringen, und da grinst uns dieses Mädchen entgegen, hinter sich eine zwei Meter tiefe Grube voller Glockenblumen. Lady von Shalott lässt grüßen. Ich wäre am liebsten selbst im Erdboden versunken und werde dir für immer dankbar dafür sein, dass du mir den Leichenschmaus erspart hast. Da wird sich alles noch zuspitzen.«

Josephine hatte die beschriebene Szene bildlich vor Augen und erschauderte. Ihr waren Beerdigungen verhasst, und Blumenschmuck auf Gräbern noch viel mehr. »Sollte mir etwas zustoßen, will ich meilenweit kein Blütenblatt in der Nähe meines Grabs sehen«, verkündete sie. »Willst du mir ernsthaft erzählen, dass die Leute es zugelassen haben, dass ein Kind das Innere eines Grabs schmückt?«

»Na ja, Loveday kann man nicht mehr wirklich als Kind bezeichnen. Sie ist vierzehn, war aber immer schon frühreif. Ihr Blick auf die Welt ist manchmal ein bisschen … abstrus. Ehrlich gesagt«, fügte Ronnie vertrauensvoll hinzu, »bin ich der Ansicht, dass sie nicht ganz richtig im Kopf ist. Das würde auf dem Anwesen natürlich niemand laut aussprechen. Die Leute nehmen sie, wie sie ist. Ihre Eltern sind beide tot, aber es gibt noch eine andere Schwester – Harrys Zwillingsschwester. Die drei haben immer fest zusammengehalten. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie es den beiden jungen Frauen jetzt geht.«

»Wie ist das mit Harry eigentlich passiert? Archie hat nur erwähnt, dass es ein Unfall war, hatte jedoch keine Zeit, mir Näheres zu erzählen.«

»Tja, Harry war immer schon ein ziemlicher Draufgänger, und diesmal ging es eben nicht so glimpflich aus wie sonst. Der Trottel ist auf seinem Pferd in den See hineingeritten und ertrunken.«

»Und das Pferd?«

»Ist wohlbehalten ans andere Ufer geschwommen. War ja klar, dass du zuerst an das Tier denkst.«

»Für mich war der Ausdruck ›ziemlicher Draufgänger‹ immer eine nette Umschreibung für ›unverantwortlicher Mistkerl‹. Daher gilt meine Anteilnahme dem Pferd«, erwiderte Josephine bissig. »Findest du es nicht auch reichlich egoistisch, auf diese Weise den Tod in Kauf zu nehmen?«

»Ich weiß, was du meinst, aber sag es lieber nicht zu laut, wenn wir auf dem Anwesen angekommen sind. Die Leute reißen dir sonst den Kopf ab. Harry war unfassbar beliebt, und nach seinem Tod darf erst recht niemand ein schlechtes Wort über ihn verlieren.«

»Fragen wir doch einfach in drei Monaten seine ältere Schwester«, schlug Josephine vor. »Ich glaube nicht, dass ich es einem mir nahestehenden Menschen verzeihen könnte, wenn er mich auf so leichtsinnige und unnötige Weise verlassen würde. Egal, wie sehr ich diesen Menschen geliebt hätte. Und ich bin finanziell unabhängig! Nach dem zu urteilen, was du mir über die Familie Pinching erzählt hast, stehen dem armen Mädchen harte Zeiten bevor.«

»Pa wird sich um sie kümmern – das hat er immer schon getan. Genau wie Jago. Seine Frau und er waren gut mit den Eltern befreundet. Er wird für Morwenna tun, was er kann.« Sie bogen von der Schnellstraße auf eine kleine Landstraße ab, die näher am Meer verlief. Farne jeglicher Art säumten die Straßengräben, und zwischen den Hecken, die die Feldränder bildeten, wuchsen Feuernelken und auch die eben in so düsterem Kontext erwähnten Glockenblumen, die in ihrer natürlichen Umgebung heiter und schön wirkten. »Pa wird sicher nicht vor dir damit prahlen, aber er hat Loveday das Leben gerettet, als sie noch ein kleines Mädchen war«, erklärte Ronnie. »Vor einigen Jahren fing das Cottage der Familie Feuer – es muss irgendwie ein Funke auf dem Strohdach gelandet sein, das dann sofort in Flammen aufging. Pa entdeckte die Rauchsäule auf der anderen Seite des Parks und rannte, so schnell er konnte, mit ein paar Stallburschen zum Cottage. Er fand Loveday zusammengekauert neben der Treppe und schleifte Harry bewusstlos aus seinem Zimmer. Für die Eltern kam jede Hilfe zu spät – sie sind beide in ihren Betten erstickt.«

»O Gott, das ist ja furchtbar!«

»Ich weiß. Man fragt sich wirklich, was die Familie in einem früheren Leben verbrochen hat, um so viel Unglück zu verdienen.«

»Und wo war die andere Schwester?«

»Morwenna? Sie war zum Glück nicht zu Hause. Sie hatte die Nachtschicht in der Helston Union, einer Art Armenhaus. Dort hatte sie gerade erst angefangen zu arbeiten. Ich sage dir, diese junge Frau hat in ihrem Leben schon so einiges erlebt, dabei ist sie noch keine dreißig. Du hast also vollkommen recht – Harrys Leichtsinn war egoistisch.«

»Ohne euren Vater wäre alles noch viel schlimmer gekommen.«

»Stimmt. Er selbst will davon allerdings nichts hören. Er hat Lettice und mir noch nicht mal erzählt, dass er derjenige war, der Loveday und Harry gerettet hat. Wir haben es von der Snipe erfahren, die es wiederum von ihrem Schwager wusste. Pa hat seine Verantwortung für den Gutshof und seine Bewohner schon immer sehr ernst genommen. In ein brennendes Gebäude zu rennen, finde ich persönlich allerdings ziemlich übertrieben, was er natürlich ganz anders sieht. Harrys Beisetzung hat er finanziert, und er wird auch eine Möglichkeit finden, für Loveday und Morwenna aufzukommen, ohne dass sie sich wie Bittstellerinnen fühlen.«

»Es muss ein Albtraum sein, ein Gut von dieser Größe zu leiten«, sagte Josephine und dachte an all die ehemals herrschaftlichen und nun in Not geratenen Anwesen, von denen sie gelesen hatte. »Vor allem seit dem Krieg. Ich kann mir jedenfalls nichts Schlimmeres vorstellen, als zu wissen, dass der Lebensunterhalt so vieler Menschen von einem abhängt.«

»Es ist tatsächlich schwer für ihn«, räumte Ronnie ein. »Ich mag gar nicht daran denken, was passiert, wenn Pa eines Tages nicht mehr da ist. Lettice und ich haben beide zu wenig Gleichmut und Opferbereitschaft, um den Gutshof weiterzuführen, und Archie würde es nicht wollen, da bin ich mir sicher. Zum Glück hat Pa mehr Energie als Menschen, die halb so alt sind, und arbeitet doppelt so viel.«

»Das habt ihr alle von ihm geerbt, finde ich. Ich freue mich schon darauf, deinen Vater kennenzulernen – vielleicht entdecke ich ja noch eine eurer Eigenschaften an ihm.«

»Du wirst feststellen, dass wir sogar eine ganze Menge von ihm haben. Und natürlich auch von unserer Mutter. Wir hatten großes Glück mit beiden Eltern.«

Nicht zum ersten Mal dachte Josephine darüber nach, wie die Motley-Schwestern trotz ihrer ländlichen Herkunft diese Exzentrik und den Sinn für Dramatik entwickeln konnten. Damit gediehen sie prächtig in der Welt des Theaters, die sie sich als Wirkungsstätte auserkoren hatten. Sie wusste, dass die Mutter der beiden, Veronique, gestorben war, als ihre Töchter noch ganz klein gewesen waren. Sie war nicht über den Tod ihres Sohnes Teddy hinweggekommen, dessen Schiff unter Beschuss gesunken war, noch bevor der Krieg ein halbes Jahr gewütet hatte. Josephine hatte Lettice und Ronnie dennoch oft über Veronique sprechen hören und wusste, wie sehr ihre Kreativität und die Missachtung von Konventionen die Schwestern beeinflusst und geprägt hatten. Lettice hatte ihr einmal erzählt, ihre Mutter habe ihnen von klein auf den Glauben daran eingetrichtert, dass sie alles schaffen könnten. Es war dieses Selbstvertrauen, das es ihnen ermöglicht hatte, die ungeschriebenen Gesetze des Londoner West Ends zu ignorieren und mit ihren Entwürfen für Kostüm und Bühnenbild ganz neue Maßstäbe zu setzen. »Hatte dein Vater nie das Bedürfnis, noch mal zu heiraten?«, fragte sie.

»Ach du meine Güte, nein«, antwortete Ronnie. »Verehrerinnen hätte es durchaus gegeben, aber ich glaube, er ist immer noch viel zu verliebt in meine Mutter, um es auch nur zu merken, wenn eine Frau ihn umwirbt.« Sie lächelte traurig. »Lettice und ich machen uns schon manchmal Sorgen um ihn. Andererseits hat es etwas sehr Nobles, wenn man lebenslang um jemanden trauert, findest du nicht?« Josephine nickte und fragte sich nicht zum ersten Mal, was nötig war, um in ihr den rückhaltlosen Wunsch zu wecken, ihr Leben mit einem anderen Menschen zu teilen. »Wie auch immer, Pas zweite Frau ist sowieso Loe Estate«, fuhr Ronnie fort. »Und die nimmt ihn voll und ganz in Anspruch.«

Die Landstraße verlief nun ein kleines Stück vom Meer entfernt. Sie fuhren in ein malerisches Dorf hinunter, das sich um einen hübschen geschützten Hafen schmiegte, bevor es wieder bergauf ging. Im Handumdrehen hatten sie die letzten Häuser hinter sich gelassen. »Wie passt Archie in dieses ländliche Leben?«, fragte Josephine. »Er verrät nie viel darüber, wenn ich ihn danach frage.«

»Wenn ich ganz ehrlich bin, bezweifle ich, dass er selbst die Antwort darauf kennt«, gestand Ronnie. »Vielleicht passt er auch gar nicht hinein. Du weißt, dass das Gut ursprünglich der Familie seines Vaters gehört hat, oder?«

Josephine schüttelte überrascht den Kopf. »Ich dachte, seine einzige Verbindung zum Anwesen wäre, dass seine Mutter hier eingeheiratet hat.«

»Nein. Er hat es nur um zwei oder drei Generationen verpasst, Gutsherr zu werden. Unsere Ururgroßväter waren beste Freunde, sie kannten sich, weil sie beide eine Zeit lang in Südostasien gelebt hatten. Die Familie Penrose besaß das Land, und die Motleys hatten Geld, daher kamen sie zu einer sehr vernünftigen Übereinkunft: Penrose überschrieb seinem Freund den Gutshof und die Verantwortung für dessen Erhalt und bekam im Gegenzug auf ewig ein Wohnhaus und seinen Lebensunterhalt. Jeder hatte nun, was er wollte, und die Zukunft des Guts war gesichert. Es gab nie Probleme mit diesem Arrangement. Und die beiden Familien rückten noch enger zusammen, als Archies Mutter – Pas jüngere Schwester – einen Penrose heiratete.« Josephine versuchte, sich den Familienstammbaum vor Augen zu führen, während Ronnie weiterredete. »Um noch mal auf deine Frage zurückzukommen: Archie passt mehr schlecht als recht hierher – er ist nicht der Gutsherr, aber auch keiner der Landarbeiter. Sein Studium in Cambridge und seine Arbeit bei Scotland Yard haben nicht unbedingt dazu beigetragen, die Kluft zwischen ihm und den einfachen Leuten zu verkleinern. Hier auf dem Land ist das Gesetz etwas sehr Subjektives, das man unter sich ausmacht.«

Als die Landstraße eine scharfe Linkskurve beschrieb, bog Ronnie durch ein hölzernes Tor nach rechts ab und rollte einen Privatweg entlang, der von wild wuchernden Rhododendronbüschen und Wundersträuchern gesäumt wurde. »Da wären wir«, verkündete sie. »Ich hoffe, du erwartest keinen herrschaftlichen Landsitz. Das Haupthaus ist ziemlich zusammengeschustert, verständlich, dass die Familie Penrose es loswerden wollte. Dieses Anwesen verschlingt Unmengen an Geld, und das Gutshaus hat am meisten darunter gelitten. Kaum hat man eine baufällige Stelle notdürftig geflickt, geht woanders schon das Nächste kaputt. Es hört nie auf. Aber keine Sorge«, fügte sie beruhigend hinzu, »schön ist es hier trotzdem, und du wirst die Ruhe bekommen, nach der du dich sehnst. Archie ist bei uns eingezogen, damit du die Lodge haben kannst. Dort hast du mehr Ruhe zum Arbeiten, und wenn du mal Abwechslung brauchst, kommst du zu uns ins Chaos.«

Josephine wollte ihr gerade danken, als sie um eine Kurve bogen und die dichte Vegetation hinter sich ließen. Der freie Blick auf den See verschlug ihr die Sprache. Sie hatte ihr ganzes Leben in unmittelbarer Nähe zum Loch Ness verbracht und war den Zauber gewohnt, der entsteht, wenn Licht auf Wasser trifft, doch der Loe besaß eine stille Schönheit, die einzigartig war. Die Kombination aus dekorativ angelegtem Park im Vordergrund und einem Flickenteppich aus Feldern im Hintergrund verlieh dem See eine gezähmte Intimität, die nicht weiter von der hochdramatischen Kulisse der Monadhliath-Berge hätte entfernt sein können und trotzdem nicht weniger überwältigend war. Links und rechts erstreckten sich dichte, grüne Wälder, die das Wasser an den Rändern rauchig schwarz aussehen ließen. Der See verband die so unterschiedlichen Landschaften, die ihn umgaben, mühelos zu einer harmonischen Einheit.

Josephine war begeistert und drehte sich Ronnie zu. Es bewegte sie zu sehen, dass ihre sonst so zynische, abgeklärte Freundin keinesfalls resistent zu sein schien gegen den Charme der Landschaft.

»Na los, ich setze dich bei der Lodge ab, damit du dich frisch machen kannst«, sagte Ronnie. »Und dann kommst du einfach zu Fuß rüber, wenn du bereit zum Abendessen bist.«

3

Nathaniel Shoebridge lehnte neben der Hintertür des Cottage, das Harry mit seinen Schwestern bewohnt hatte, und hielt einen Becher mit billigem Whiskey in der Hand. Er hoffte, dass die massiven Steinmauern des Bauernhäuschens ihm die Kraft zurückverleihen würden, die ihn mit Betreten der Kanzel verlassen hatte. Er trank nicht oft Alkohol, und die Flüssigkeit bahnte sich scharf und säuerlich den Weg in seinen Magen. Aber er brauchte etwas, das die Erinnerung an den Gottesdienst und an die Demütigung abschwächte, vor der eigenen Gemeinde zu stehen und ihr nicht ein einziges Wort des Trosts bieten zu können. Nathaniel hatte nur wenige Minuten am Rednerpult verbracht, doch sie hatten gereicht, um ihm schmerzhaft vor Augen zu führen, wie er sich als kleiner Junge gefühlt hatte. Er bezweifelte, dass das über Jahre aufgebaute Selbstvertrauen so schnell zurückkehren würde.