Wenn die Raben südwärts ziehen - Paul Kavaliro - E-Book

Wenn die Raben südwärts ziehen E-Book

Paul Kavaliro

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Beschreibung

Warum zieht es die Raben in den Süden? Fahren Autos künftig nicht nur autonom, sondern entwickeln darüber hinaus ein Eigenleben? Und hat ein Avatar mehr drauf, als einfach nur so ähnlich auszusehen wie sein Original? Drei Geschichten aus der Zukunft geben Antworten darauf – sie illustrieren Möglichkeiten und Grenzen von Menschen und der Technik, mit der sie sich umgeben. Themen wie das Klima, eine neue Ära des Reisens sowie die Rolle digitaler Assistenten werden mit konkreten Schicksalen verknüpft und zeigen, wie die großen Herausforderungen und deren Auswirkung auf unser tägliches Leben Hand in Hand gehen.

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Seitenzahl: 179

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Wenn die Raben südwärts ziehen

Geschichten aus der Zukunft

Von Paul Kavaliro

Buchbeschreibung

Warum zieht es die Raben in den Süden?

Fahren Autos künftig nicht nur autonom, sondern entwickeln darüber hinaus ein Eigenleben?

Und hat ein Avatar mehr drauf, als einfach nur so ähnlich auszusehen wie sein Original?

Drei Geschichten aus der Zukunft geben Antworten darauf – sie illustrieren Möglichkeiten und Grenzen von Menschen und der Technik, mit der sie sich umgeben.

Themen wie das Klima, eine neue Ära des Reisens sowie die Rolle digitaler Assistenten werden mit konkreten Schicksalen verknüpft und zeigen, wie die großen Herausforderungen und deren Auswirkung auf unser tägliches Leben Hand in Hand gehen.

Über den Autor

Paul Kavaliro schreibt Bücher für Kinder („Spuk für Anfänger“, „Entchens große Reise“) und Erwachsene („Final Logout“, „#RettetEllen“, „Die zwei Seiten des Ichs“, „Androidenblut“), auch als Ratgeber („Heimwerken macht sexy“).

Wenn die Raben südwärts ziehen

Geschichten aus der Zukunft

Paul Kavaliro

1. Auflage, 2022

© 2022 Paul Kavaliro – alle Rechte vorbehalten.

Impressum am Buchende

Wenn die Raben südwärts ziehen

Etwas ist anders in diesem Jahr.

Sobald Jonas aus dem Fenster schaut, bemerkt er Unterschiede zu den früheren Herbstzeiten. Er beobachtet die Raben. Sie verhalten sich komisch. Er sollte mit seiner Familie darüber reden.

Er hat schon 14 dieser Jahreszeiten erlebt – als Kind noch unbewusst. Und einiges davon im Babyalter hat er schlicht verschlafen. Aber jetzt ist er wach – ein heranwachsender Jugendlicher, der die Welt verfolgt, seine Welt, in der er sich ein Leben lang aufhalten, entwickeln, Fehler begehen, daraus lernen und etwas voranbringen wird. Er steht am Anfang, er ist jung.

Kinder interessieren sich für Tiere. Zumindest tun das viele und Jonas ist da keine Ausnahme. Doch bei ihm ist es ein Faible, das er über die gewöhnliche kindlich-oberflächliche Schwärmerei hinaus gepflegt hat. Es ist geblieben. Er ist schon „ganz schön groß“, wie seine Eltern zu sagen pflegen, und dennoch hat er sein Hobby nicht abgelegt wie eine lästige abgehalfterte Jacke aus Kindertagen.

Seine Mutter lächelt, wenn sie ihn sieht, wie er mit dem Fernglas oder mit bloßem Auge inspiziert, was in der Natur kreucht und fleucht. „Geh nicht zu weit raus, in den Wald, du weißt schon“, ruft sie ihm hinterher, sobald es ihn nach draußen zieht und er Spuren verfolgt. Es jagt seinen Eltern einen sanften Schauer über den Rücken, wenn er berichtet, dass er Wildschweinfährten gesehen hat. Jonas spielt damit. Er mag es, seine Alten ab und zu aus der Lethargie des Alltags zu reißen. Es sind kurze Augenblicke der Aufmerksamkeit, entfacht von einer kleinen Dosis Aufregung. Doch die legt sich schnell wieder und jeder rutscht in seine Gedankenwelt zurück.

Am Abendessenstisch entschwinden die Blicke der Mutter oft weg von den Gesichtern ihrer Kinder hinüber ins Versonnene. Oft sind die Gedanken dann bei ihrer Station. Sie zieht sich den imaginären Pflege-Kittel an, den sie im Altersheim trägt.

Kommt ein Gespräch auf, so wendet sie sich zurück zu ihrer Familie, so lange die Aufmerksamkeitsspanne reicht. Ihr Sohn ist noch in einem „angenehmen Alter“. Tiere – ja, dafür kann er sich gerne ein paar weitere Jahre interessieren.

Die ältere Schwester hingegen ist 17 und bei ihr ist gar nichts mehr einfach. Sie hängt am Tropf von TikTok und Co – so lautet zumindest das einschlägige Klischee. Ihre Welt besteht aus online sein oder Freunde treffen oder mit Freunden zusammen online sein. Sicher zieht sie sich nachher wieder in ihre Höhle zurück, schließt die Tür hinter sich und nabelt sich von der Familie ab.

In die taucht der Vater ein, als das Essen schon fast vorbei ist. Das Poltern auf dem Flur draußen kündigt sein Kommen an. „Tut mir leid, bin wieder spät“, versucht er, sich für einen abermals zu lang geratenen Bürotag zu rechtfertigen.

Kara schaut kurz vom Smartphone auf, das neben ihrem inzwischen leeren Teller liegt. Der Vater runzelt die Stirn ob des digitalen Nachtischs, aber sein Realitätssinn lässt ihn die spitze Bemerkung herunterschlucken, was denn dieses Gerät hier beim Abendessen zu suchen hat. Aus dem Alter sind sie beide raus – Vater und Tochter.

„Hast du heute wieder die Welt gerettet?“, fragt Kara und erinnert ihn damit daran, dass außer ihm selbst scheinbar kein anderer seinen Einsatz im Büro schätzt.

Wortlos setzt sich der Vater hin, um Nahrung in sich hineinzuschaufeln. Sein Blick wandert suchend über den Tisch.

„Wurst?“, fragt die Mutter, nachdem sie versucht hat, seine Gedanken zu lesen und mit dem abzugleichen, was auf der Abendtafel fehlt.

„Ja, bitte.“

Sie schielt kurz auf die Uhr. Es ist noch Zeit, bis sie zur Schicht losgeht. Sie steht auf und holt das Verlangte aus dem Kühlschrank.

Kara verzieht das Gesicht. „Weniger Fleisch ...“

„... ist besser für die Gesundheit und die Umwelt“, leiert ihr Vater den Satz zu Ende. „Was macht denn die Schule?“, schießt er einen Giftpfeil in die Gegenrichtung.

Eine kurze Stille wälzt sich schwer in den Raum.

Kara greift ihren Teller und ihren digitalen Begleiter.

„Die Vögel draußen ...“, versucht Jonas einen Themenwechsel hin zu der Sache, die ihn zurzeit beschäftigt.

Zu spät. Die Schwester ist aufgestanden. In der Küche hört man das Geschirr klirren, während es unsanft in die Spülmaschine gestellt wird. Danach klappt die Tür zur Höhle zu.

„Was ist denn mit den Vögeln?“, nimmt der Vater die Vorlage des Sohnes auf, um die Schmach der missglückten Eltern-Tochter-Kommunikation zu überspielen.

„Sie sammeln sich“, antwortet Jonas, „ziemlich viele.“

„Das machen die doch immer“, setzt es den vorhersehbaren Einwand. Der Vater hat ihn noch nicht zu Ende ausgesprochen, da ist er bereits wieder in seine Gedanken eingetaucht, wie er morgen in seinem unscheinbaren Büro die Firmenwelt rettet.

„Aber nicht die Raben“, hebt sein Sohn das Besondere an der Situation hervor.

Das registriert der Vater schon nicht mehr bewusst, sondern kaut nur und nickt reflexartig mit dem Kopf, weil jemand was gesagt hat. Etwas, dessen Klang er vernimmt, jedoch den Inhalt überhört.

Die Mutter schickt ihrem Mann einen giftigen Blick und streicht Jonas übers Haar. „Erzähl‘ mir morgen davon“, sagt sie und lächelt flüchtig. Dann räumt sie ihren Teller weg und wirft sich die Jacke über, denn es ist unangenehm frisch geworden in den letzten Tagen. Kurz darauf fällt draußen die Haustür ins Schloss. Die Schritte der Mutter klappern auf dem Pflaster vor dem Haus und werden schnell leiser.

Für die Daheimgebliebenen nimmt ein langweiliger Abend seinen Lauf.

Jonas fragt sich manchmal, ob er und seine Familie in unterschiedlichen Welten leben. Er verzieht sich in sein Zimmer, während der Vater über das Wohnzimmer herrscht. Dort erfährt der Senior in einer Meldung, dass der Nordatlantik ungewöhnlich kühl ist und dass sich diese niedrigere Wassertemperatur auf die Atmosphäre überträgt. Auch Jonas bekommt das aus den Augenwinkeln mit.

„Endlich etwas Frische, der Sommer war ja heiß genug“, verarbeitet der Vater die Neuigkeit zu einer Prise Zuversicht.

Tatsächlich: Die Sommermonate hatten mit einer Gluthitze aufgewartet. Regentage gab es hingegen kaum. Bilder verdorrter Äcker beherrschten die Nachrichten. Die Helden in den Krankenhäusern und Altenheimen krempelten die Ärmel hoch – mal wieder. Es gab Hitzetote. In den Meldungen der Medien konnte man abgeschwächt von „Übersterblichkeit“ lesen oder hören. Das war ein milder Ausdruck dafür, dass man die Lage nicht im Griff hatte, dass das Wetter definitiv am längeren Hebel saß und Opfer forderte. Man entschuldigte es mit einer Formulierung, die für manchen unbedarften Neuigkeiten-Konsumenten wie eine statistische Unsicherheit klang. „Es gab mehr Tote, aber der Sommer und die Witterung waren nur vielleicht die Ursache dafür.“

Doch zu den Unbedarften zählt sich Jonas nicht. Er hat das Hitzeproblem bemerkt und er peilt genauso, dass draußen vor dem Fenster in seinem ländlichen Raum etwas vor sich geht: Dass sich die Schwalben und die Stare sammeln, das ist nichts Außergewöhnliches. Das weiß jedes Kind. Dass Raben in Gruppen auftreten, ist ebenfalls Schnee von gestern. Dass sie sich aber auf Stromleitungen aufreihen, so dicht, sodass die Drähte von weitem mit den Tieren verschmelzen und wie fette durchhängende Rohre aussehen, das ist neu. Der Junge hat ein Foto davon gemacht.

Und wenn sich die Welt nicht mit Jonas darüber unterhält, noch nicht mal seine Familie, dann muss eben Jonas die Welt ansprechen. Und das wird nicht nur über einen Messenger passieren, mit dem man maximal eine Handvoll Freunde und sonstige Einträge im Adressbuch erreicht. Nein, das soll eine Nummer größer ausfallen. Kara hat ihm zu diesem Zweck gezeigt, welche Social-Media-Plattformen, Mikroblogging-Dienste oder andere Möglichkeiten es zum Verschicken von Botschaften gibt, und welche davon für einen 14-Jährigen empfehlenswert und frei von irgendwelchem Schmuddelkram sind.

Er hat sich ein Benutzerkonto angelegt und nach einem vorsichtigen Hallo-Welt-Eintrag in einem Übungskanal setzt er jetzt seine erste richtige Nachricht ab. Er gibt es ungern zu, aber er ist nervös. Das Smartphone bebt in seiner zittrigen Hand. Kara würde sich schieflachen, wenn sie das sehen könnte. Anders als ihr jüngerer Bruder ist sie versiert und kein Online-Embryo mehr. Posts abzuschicken ist für sie wie guten Tag zu sagen – es geht leicht und beinahe unbewusst.

Jetzt hat Jonas alles beisammen. Er schickt das Raben-Massen-Foto auf der Stromleitung ab und schreibt als Titel darunter „Schwer auf Draht“. Das ist altmodisch, aber auch ein bisschen witzig.

Er hält sein Smartphone noch eine Weile in der Hand. Allmählich beruhigt er sich. Es dauert nicht lange, da trudeln die ersten Antworten ein – meist irgendwelche Lach-Emojis. Nach einer halben Stunde kommt erstmal keine neue Reaktion mehr dazu.

Das war ja einfach. Aber auch ein bisschen langweilig. Warum hat er sich überhaupt aufgeregt?

Einen Tag später macht Jonas wieder ein Foto von der Szene: die gleiche Stromleitung, der gleiche Ort, das gleiche Licht, die gleiche Tageszeit. Doch diesmal sind keine Raben zu sehen, weder hier noch irgendwo anders in der Landschaft.

Er setzt einen neuen Post ab mit dem „leeren“ Bild und schreibt darunter: „Alle im Urlaub?“ Jetzt zittert seine Hand nicht, denn er hat inzwischen schon Routine, redet er sich ein. Außerdem rechnet er sich kaum großes Interesse der anderen App-Benutzer aus und schaltet das Display ab. Schließlich ist er kein Online-Junkie wie seine Schwester.

Follower

„Sauber, Kleiner“, klopft einer der größeren Schüler zwei Klassen über Jonas ihm am nächsten Tag auf dem Schulhof auf die Schulter.

Jonas schluckt, denn die hochnäsigen Zehntklässler lassen sich sonst nie zu einer solchen Geste herab. Mehr noch: Sie scheinen für gewöhnlich nicht mal zuzugeben, dass es Achtklässler gibt. Die „Kleinen“ sind normalerweise Luft. Der Große führt gewiss etwas im Schilde – einen Streich, eine Provokation, gar eine Bestrafung oder ein regelrechtes Exempel?

Jonas blickt sich hilfesuchend nach seinen Freunden um. Die haben eine sichere Distanz zwischen sich und das ungleiche Schülerpaar gelegt. Und die weiter hinzuströmenden älteren Schüler bestätigen ihre Strategie. Sie beäugen den „Kleinen“ wie eine Jahrmarktattraktion.

„Was ist denn los?“, stottert Jonas und peilt gleichzeitig die Lage, ob sich ein versteckter Fluchtweg für ihn auftut.

„7000 Follower aus dem Stand – das ist los“, belehrt ihn der Große.

„Wie ... wer?“

„Na du, du Tiefflieger! Wusstest du das noch gar nicht?“

„Die Kleinen dürfen ihr Smartphone nicht in der Schule einschalten“, sticheln ein paar andere Zehntklässler in den hinteren Reihen und kichern.

„Stimmt!“, prustet der Redeführer. „Dann wird es Zeit, dass du mal deine App checkst.“

Das Vorklingeln beendet die Pause im Außenbereich und erlöst Jonas. Der bedrohliche Pulk aus älteren Schülern lichtet sich. Der unverhoffte Medienstar bleibt mit Herzklopfen zurück. Wie hat ihn der Große auf der Social-Media-Plattform erkannt? Jonas schwant, dass sein Profilbild der Schuldige ist. Er hat ein echtes Foto von sich verwendet. Und sein Nickname lautet genauso wie sein realer Name zusammen mit einer kryptischen Nummer hinten dran, die ihn von all den anderen Jonassen, die ebenfalls dort präsent sind, abhebt. Damit hat er sich selber auf den Präsentierteller gelegt. „Blutiger Anfänger“, würde ihn seine Schwester aburteilen. Sie hat sich so getarnt, dass zwar ihre Freunde wissen, als wer sie online unterwegs ist, aber auf der Straße würde sie niemand erkennen.

Das Klingeln zur Stunde reißt ihn aus seinen Gedanken. Der Schulhof hat sich geleert. Er steht alleine da, fühlt sich regelrecht nackt. Schnell rennt er in die Deckung des Schulhauses zurück. Wenn das online nur auch so einfach ginge! Als er nach Stundenbeginn verspätet in die Klasse stürmt, schüttelt die Lehrerin nur kurz den Kopf: „Die Schule spielt in deinem Alter die Hauptrolle, Jonas“, rüffelt sie ihn. Ob sie von seinen Posts und den Bildern weiß? Es hört sich ganz danach an.

Den Rest des Schultages sitzt er auf glühenden Kohlen. Kaum ist er dem Schulhaus entronnen, schaltet er sein Telefon ein. Seine Hände zittern wieder. Er öffnet die App, mit der er seine Botschaft losgeschickt hat. Und dort sieht er: nichts. Nur das Foto-Paar von vorgestern und gestern.

Ah verdammt, er muss seine mobilen Daten einschalten. Die braucht er sonst nicht, weil er nur zu Hause surft. Kaum ist er online, explodiert der Screen förmlich vor seinem Gesicht: Nachricht über Nachricht, nicht zu Ende geladene Fotos, wieder Nachrichten. Es ist eine rasante Fahrt. Vor seinen weit aufgerissenen Augen spielt sich ein Umfang an Kommunikation ab, den die meisten Online-Karrieren, von denen ihm seine Schwester berichtet hat, nicht vermögen zu entfachen. Die Meldung, dass sein in diesem Monat ohnehin strapaziertes Datenvolumen aufgebraucht ist, verschafft ihm eine Atempause, das Laden stockt.

Zu Hause eilt ihm das WLAN zu Hilfe und das Bild vervollständigt sich. Neben den üblichen Likes und nichtssagenden 0-8-15-toll-gemacht-Antworten erhascht er jetzt endlich einen vollständigen Blick auf die beigesteuerten Fotos all der anderen Nutzer. Auch sie zeigen Raben, viele davon, sehr viele sogar, einen ganzen Himmel voll von den schwarz gekleideten Tieren.

„Die Krähen ziehen nach Süden“, ist darunter zu lesen. Oder: „Ab in den Urlaub“. Selbst seriöse Autoren – solche mit wissenschaftlichem Titel und von irgendwelchen Unis – sprechen von einem riesigen Vogelzug und beschreiben ihn genauer: Sichtlich angestrengt und so gar nicht „leichtfüßig“ bahnen sich die Schwarzgefiederten ihren Weg. Aber sie kommen stetig voran. Sie ziehen in südliche Breiten, wo sonst nur eine Handvoll versprengter Urlauber außerhalb der Hauptsaison dem Herbst ein paar warme oder gar heiße Tage abtrotzt. Und wo natürlich die regulären Zugvögel präsent sind.

Jonas hat einen regelrechten Online-Sturm entfacht. Jeden Tag trudeln neue Bilder ein. Die Nachrichtenkette, die er angefangen hat zu flechten, wächst ins schier Unendliche. Je länger sie wird, umso mehr Aufmerksamkeit saugt sie auf.

Sogar die Schwester verlässt ihre Höhle, um den Bruder wahrzunehmen: „30000 Follower! Neid!“, erklärt sie knapp und knallt ihre Höhlentür wieder zu. Manchmal kommt es Jonas so vor, als ob sie in Hashtags anstelle von Sätzen spricht.

Seine Online-Diskussion bekommt fortwährend weiteres Futter. Es ist gerade so, als hätte er die Gilde der Ornithologen aus ihrem Dornröschenschlaf wachgeküsst. Immer neue Bilder vom Rabenzug tauchen auf. Sie zeigen zunehmend entferntere südliche Gefilde: Spanien, Gibraltar, schließlich Afrika. Oder aber die Türkei, Syrien, Libanon, Israel, Ägypten. Die Raben lassen den europäischen Kontinent hinter sich.

Die Forscher rätseln über die Gründe. Jonas ebenfalls. Er denkt sich, dass die Tiere schon welche haben werden. Und wie finden sie überhaupt ihren Weg vorbei am Mittelmeer, ähnlich wie die Störche? Tauschen die Vögel untereinander Informationen aus – über die Arten hinweg? Haben sie ebenso ein Social-Media-Forum, das gleiche, das sie sich hat versammeln und losziehen lassen? So viele Fragen und so wenige Antworten!

Wo hingegen kein Zweifel herrscht: Der von Jonas initiierte Bilder- und Informationsstrang verschafft ihm Bekanntheit in der Schule. Schüler und Lehrer sprechen ihn inzwischen aktiv darauf an. Das eine oder andere Mädchen schaut verstohlen zu ihm rüber. Selbst wenn sich kaum jemand outet, was genau er oder sie so in den Sozialmedien liest oder hört – aber darüber wissen alle Bescheid. Der Nachrichtenstrang schafft es sogar als Thema in die Abendessen-Unterhaltung der Familie. „Ist das dein Junge, der mit den Raben?“, haben die Kollegen den Vater gefragt. Also kommt er nicht umhin, sich schlauzumachen.

„Finde ich gut, dass du dich für die Natur interessierst“, nähert er sich an das Thema an.

„Wir haben letztens darüber gesprochen“, antwortet der Sohn. „Na ja, fast.“

„Ach ..., äh, ja, aber zwei schöne Bilder hast du geschossen. ‚Schwer auf Draht‘, haha.“

Jonas lächelt still.

„Wie bist du denn darauf gekommen?“

„Die saßen eben dort und da habe ich sie fotografiert.“

Die Mutter lässt sich das Bild zeigen, während sie ihre Jacke anzieht, um zum Dienst zu eilen. Letztens wollte sie schon mit ihm drüber reden, hatte aber wenig Zeit. „Aus dir wird mal was!“, lobt sie und streicht ihrem Sohn über den Kopf – nur andeutungsweise, denn als Heranwachsender wird er solche Gesten bald als Kinderkram ablehnen.

Der Vater sitzt kurz darauf wie gewöhnlich vor dem Fernseher. Sein Wissensdurst zu Jonas Online-Auftritt ist erschöpft. Er wird morgen im Büro etwas vom Interesse für Tiere und über jugendlichen Elan erzählen. Und er wird damit angeben, dass er früher auch mal eine Kamera hatte. Und selbstredend haben es die jungen Leute von heute mit ihren Mobiltelefonen und den tausend eingebauten Automatismen sowieso viel leichter. Das reicht dem Vater dann, um wahrgenommen zu werden. Das Thema wird schnell hinüber wandern zu: was man nicht alles in die Kinder investiert und wie viel man heutzutage für Kommunikationselektronik blecht.

Die Tage vergehen und nachdem die Raben scheinbar ihr Ziel erreicht haben, kommen immer weniger Bilder nach. Jonas‘ Nachrichtenkette wird auf Diät gesetzt. Die Karawane der Aufmerksamkeit zieht weiter.

Die sich leichteren Themen hingebenden Nachrichten- und Meinungssammler sind immer noch auf den heißen Sommer geeicht. Wie wird danach wohl der Herbst und der Winter? Wieder nur Regen? Wird man überhaupt die 10-Grad-Marke unterschreiten? Wird zwischen Oktober und März auch nur Herbst herrschen und dann kommt direkt der Frühling? Ist es an der Zeit, dass man den Winter als Bezeichnung für eine Jahreszeit aus dem Duden streicht? Wie wird die Mode in der kühlen Saison sein? Wintermäntel sind sowas von out!

Doch dann kommt alles anders.

Wasserfall

Kühles Wetter zieht auf. Wo sonst spätsommerliche Leichtigkeit herrscht, bringt schon der ausklingende September Temperaturen, die sich dem Nullpunkt nähern. Später wird man sagen, dass es ein kalter Schauer der Vorahnung war auf das, was noch kommt.

Ältere Mitbürger sind entspannt und meinen dazu nur, dass das nichts Besonderes ist. Ein frischer Septemberausgang kam öfter vor, als sie kleine Steppkes waren. Das ist schon lange her.

Für die modernen und leichtfüßigen Influencer in den sozialen Medien sind die weniger Technik-affinen Alten mit ihren Geschichten nicht die richtige Zielgruppe. Die Meinungsformer kochen lieber ihr eigenes Süppchen und verkaufen die Abkühlung zunächst als ein Art Segen, so ähnlich wie vor kurzem der Vater auf dem Sofa. Eine Delle im ansonsten stetigen Temperaturanstieg wird als Verschnaufpause für die Natur gesehen. Das klingt so schön optimistisch.

Diejenigen, denen es vor allem um Aufmerksamkeit und weniger um das Thema geht, hängen ungeniert ihre Fahne in den Wind – egal, aus welcher Richtung dieser weht. Noch vor gerade einmal zwei Wochen haben sie diskutiert, ob es in diesem Jahr überhaupt einen Winter gibt. Und der setzt für den verwöhnten Mitteleuropäer bereits dann ein, wenn das Thermometer unter 5 Grad plus sinkt. Jetzt kratzt man am Gefrierpunkt und das sogar tagsüber.

Nach zwei Wochen ersterben die Hoffnungen, dass das nur so eine Episode ist. Das Schmuddelwetter bleibt.

Wintermäntel kommen doch nicht aus der Mode und das Gespür für Neuigkeiten und Trends richtet seine Augen vollends vom Süden, wo die Raben hausen, gen Norden, wo die Wetter-Kapriolen für Aufregung sorgen.

In der europäischen Wetterküche schwingen gewöhnlich Azorenhoch und Islandtief den Kochlöffel. Da ist immer Betrieb, da folgt Hoch auf Tief oder umgekehrt oder ein Tief zieht über den Kontinent und danach gleich noch ein weiteres.

Doch wenn Jonas jetzt aus dem Fenster sieht, dann ist da nichts mit Abwechslung, dann ist die Welt von oben bis unten in ein fades Einheitsgrau getränkt. Zeitweise regnet es, stoppt kurz und fängt wieder leicht an, so eine Art fieser Nieselregen-Nebel. Dabei weht kaum Wind und Bewegung im Wettergeschehen ist Mangelware.

Mit dieser Beobachtung steht er nicht allein. Auch die traditionellen Medien haben das Thema für sich entdeckt. So wie bei größeren Sportveranstaltungen oder bei Katastrophen prompt eine Sonderberichterstattung zur Stelle ist, so gibt es jetzt nicht nur den Wetterbericht, sondern eine regelrechte Wetter-Show. Sie folgt auf die Hauptnachrichtensendung und versucht, dem gemeinen Zuschauer zu erklären, worauf sich zurzeit kaum einer einen Reim machen kann: den Wetterstillstand. Und im Anschluss daran reiht sich wiederum eine Talk-Show mit dem gleichen Thema in die Informationskette ein.

Jonas bemerkt zahlreiche Schattierungen in der Berichterstattung. Da ist die ausführliche, seriöse. Hier dürfen die Wissenschaftler im Interview ausreden und sei es um den Preis von gelegentlicher Langeweile beim Publikum. Dafür ist die Information umfassend und der Zuhörer ist hinterher erstmal satt und macht sich auf der Basis des Gelernten so seine Gedanken.

Am anderen Ende des Spektrums an Reportagen werden zwar ebenfalls Experten befragt, aber hier bemüht sich die Moderatorenschaft beflissen um vereinfachende Zusammenfassungen, damit der Zuschauer auch garantiert etwas mit nach Hause nimmt. Idealerweise nimmt man den Informationskonsumenten auch gleich das Denken ab. Man setzt auf Stichworte anstelle von Zusammenhängen. Tendenziell wird große Zuversicht verbreitet, dass schon alles nicht so schlimm wird. Diese Botschaft scheint bereits vor der Sendung festzustehen, denkt sich Jonas. Dabei ist das heikel, denn: Anders als in einer politischen Diskussion oder Kampagne, in der man eine unangenehme Idee in Grund und Boden kritisiert, weil sie zu umwälzend ist, weil man das noch nie so gemacht hat oder weil es Geld kostet, kann man die kalte Witterung nicht einfach abschaffen oder zerreden. Sie ist da und verursacht erhöhte Heizkosten. Diesen Gedanken steuert der Vater bei, als sie gelegentlich darüber reden. Er denkt ja doch, während er fernsieht – ist Jonas erleichtert.