Der Tod kommt automatisch - Paul Kavaliro - E-Book

Der Tod kommt automatisch E-Book

Paul Kavaliro

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Beschreibung

Ein neuer Fall für Kommissarin Wilke: der Mord an einem Wissenschaftler, der den Menschen mithilfe seiner Methode zur Wissensübertragung die Oberhand über die KI zurückgeben will. Ein Verdächtiger ist schnell gefunden: der Diener des Hauses. Doch schon bald beschäftigt sich die Öffentlichkeit mit diesem Fall, denn der mutmaßliche Täter ist kein Mensch, sondern ein Androide.

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Seitenzahl: 195

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Der Tod kommt automatisch

Geschichten aus der Zukunft 3

Paul Kavaliro

Buchbeschreibung

Ein neuer Fall für Kommissarin Wilke: der Mord an einem Wissenschaftler, der den Menschen mithilfe seiner Methode zur Wissensübertragung die Oberhand über die KI zurückgeben will.

Ein Verdächtiger ist schnell gefunden: der Diener des Hauses.

Doch schon bald beschäftigt sich die Öffentlichkeit mit diesem Fall, denn der mutmaßliche Täter ist kein Mensch, sondern ein Androide.

Autor

Paul Kavaliro schreibt Bücher für Kinder („Spuk für Anfänger“, „Entchens große Reise“) und Erwachsene („Final Logout“, die Trilogie „Die zwei Seiten des Ichs“, „Wenn die Raben südwärts ziehen“, „Die Klick-Demokratie“), auch als Ratgeber („Heimwerken macht sexy“).

Der Tod kommt automatisch

Geschichten aus der Zukunft 3

Paul Kavaliro

Impressum

Texte und Umschlag:

© Copyright Alf Ritter

Bilder:

Pixabay: mohsenhosseiny281, Gordon Johnson

Verlag:

Alf Ritter

Weidenstraße 10A

D-85253 Erdweg

E-Mail:

[email protected]

Druck:

epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin,

www.neopubli.de

Erstveröffentlichung:

Januar 2024

Alles neu

„Klack. Klack“, zieht es die Zeiger der Wanduhr voran. Leonie Wilke schaut abermals von ihrem Schreibtisch aus nach der genauen Zeit. Sie wartet auf den Termin bei einem der höheren Vorgesetzten im Haus – Heiner Althaus. Dass der Gesprächsbedarf hat, ist nicht weiter verwunderlich, denn im Kommissariat regiert der Wandel.

Ihre vormalige Chefin Karla Meilling ist Geschichte. Die Verstrickung in die Machenschaften des Politikers Henry Berg haben sie zu Fall gebracht. Mit der Aufklärung des Mordfalls Pia Mainburg, den Ermittlungen zur Wahlfälschung sowie der Entdeckung eines süchtig machenden Breis in gedruckten Lebensmitteln kam alles ans Tageslicht. Leonie hat eine dicke Aktie an diesem Ermittlungserfolg.

Doch den Posten als Meillings Nachfolger hat dennoch nicht sie, sondern der ewig Lorbeeren erntende Kevin Hussmann gewonnen. Bestimmt halten ihn die Chefs für das kleinere Risiko. Er ist so angenehm ruhig und zielstrebig.

Das bedeutet nicht, dass ihr kollegiales Verhältnis beschädigt ist. Sie schätzen sich gegenseitig. Doch er gibt nichts vom Kuchen ab und hat sie nicht zur Mitarbeit eingeladen. Jetzt sitzt sie hier, zwischen Baum und Borke, und rätselt über die Zukunft.

Die Zeit ist ran. Sie verlässt die Räumlichkeiten der Abteilung und schleppt sich eine Treppe nach oben zum Chefbüro. Was erwartet sie dort? Wird der Wandel sie tragen oder begraben?

Unterwegs wandern ihre Gedanken zu Laurenz, ihrem halbwüchsigen Sohn. Auch er verändert sich, wird größer, stellt immer kniffligere Fragen oder fragt gar nicht mehr, weil er seine Ruhe haben will. Er ist zurzeit im Stress, denn er lernt in diesen Tagen die Schattenseite einer Entwicklung kennen: Bernd, sein Vater und Leonies Ex-Mann, hat sich eine Freundin angelacht, was die Unumkehrbarkeit der Scheidung zementiert.

Sie heißt Alberta Simoni und hat eine Tochter, Betty. „Die wohnen quasi hier“, hat Laurenz letztens geklagt. Außerdem sei öfter das Wort „Schwester“ gefallen. Kurz darauf hat er die Unterhaltung mit seiner Mutter abgebrochen und sich nicht weiter ausfragen lassen. Doch als Kommissarin hört Leonie auch die Sachen heraus, die die Leute nicht aussprechen – etwa dass ihrem Sohn weder die Richtung noch das Tempo dieser Entwicklung zusagen.

Wilke ist inzwischen an Althaus‘ Tür angekommen. Bevor sie anklopft, zupft sie nochmals ihre Kleidung zurecht und checkt, ob das Tablet – ihr digitaler Begleiter – genug Akkuladung hat. Falls es etwas nachzulesen oder zu notieren gibt, will sie bereit sein.

Freundlich schmeichelnd bittet sie Heiner, wie sie ihn seit Kurzem nennen darf, herein: „Wir reden heute über deine zukünftige Rolle!“

Leonie nickt mit der größten Offenheit, die sie aufzubringen vermag. Wohin wird sie das Gespräch tragen? Gewiss dreht es sich doch nur darum, wie sie Kommissar Hussmann am besten den Rücken freihält. „Oh ja, Kevin und ich haben ja bereits gut zusammengearbeitet und ich freue mich auf die gemeinsamen Projekte“, demonstriert sie ihren guten Willen gleich in ihrer ersten Antwort und trachtet gleichzeitig danach, die Diskussion kurz zu halten. Sie braucht hier von nichts überzeugt werden. Sie ist ein Profi. Basta.

„Nun ja“, macht Althaus einen rhetorischen Schritt zur Seite.

Doch kein Hussmann-Dream-Team? Will er sie stattdessen versetzen, in die Wüste schicken, an eine hoffnungsvolle Polizeistation an einem Ort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen? Und von wo aus sie ihren Sohn Laurenz nur noch im Videotelefonat sieht?

„Ja?“ Leonie beugt sich unmerklich nach vorn.

„Kevin. Sicher macht er seine Sache in der Abteilung ordentlich – nach der schweren Enttäuschung, die Frau Meilling über uns alle gebracht hat.“ Althaus schaut in Richtung Fußboden, zu einer Gedenkminute an die polizeiliche Souveränität, die eben diese Karla damals zu Grabe getragen hat.

„Sicher“, bestätigt Leonie tonlos. „Doch Kevin und ich können vieles wieder in Ordnung ...“

„Mit dir“, unterbricht sie der Boss, „habe ich andere Pläne.“

„So?“, entfährt es der Kommissarin. Gedanklich hält sie schon nach Fuchs und Hase Ausschau.

„Es soll eine neue Abteilung aufgebaut werden“, lässt Althaus die Katze aus dem Sack.

„Wo?“

„Na wo schon? Hier, in diesem Hause!“

„Und da soll ich mitarbeiten?“, fragt sie und bereut es im nächsten Augenblick, denn es ist von weitaus größerem Interesse, was sich die neue Sparte vornehmen wird, welches Problem sie löst und weshalb sie überhaupt gegründet wird.

„Ja, vielmehr nein.“ Das klingt im ersten Moment nicht souverän, doch ein zartes Lächeln umspielt den Mund des Chefs.

„Ja, du sollst dabei sein. Aber nein, nicht als Mitarbeiterin.“

„Sondern?“

„Du wirst der Kopf der neuen Gruppe sein!“

„Ach“, mehr bringt Leonie nicht heraus. Fuchs und Hase verschwinden im Nebel. Sie bleibt hier! Und sie macht einen Schritt nach vorn! Endlich spült der Wandel nicht wie ein Tsunami über sie hinweg, sondern lässt sie obenauf schwimmen.

„Was macht denn die neue Abteilung?“, fragt sie und balanciert jetzt mehr auf der Vorderkante der Sitzfläche ihres Stuhls, als dass sie sitzt.

„Nun, das wirst du gestalten!“, sagt Heiner und hält dabei die geöffneten Handflächen seiner ausgebreiteten Arme nach oben. „Du kannst selber die Pflöcke einschlagen.“

„Gut!“, spielt die frisch gekürte Leiterin das Spiel mit. „Aber sicher gibt es doch Leitplanken oder zumindest einen Titel, oder?“

„Ja, gibt es: ‚Neue Verbrechen‘.“

„Ach“, hört sich Leonie abermals sagen. Als ob es jemals alte Straftaten gäbe.

„Wir sehen eine neue Generation von Tätern mit neuen Mitteln. Wir müssen Schritt halten, sonst bleiben wir zurück und die können mit uns tun, was sie wollen. Und die können mit den Bürgern machen, was sie wollen. Dem setzen wir etwas entgegen.“ Jetzt zeigt er auf sie. „Du hast mit dem Fall zur Wahlfälschung und zum Lebensmittelskandal gezeigt, dass du dich selbst im Minenfeld neuer Technologien ans Ziel manövrierst. Du gehst mit dem Ungewissen um, noch besser als Kevin.“

„Oh, ich hatte Helfer“, wehrt Wilke das Lob ab. Bescheidenheit ist eine Zier.

„Und die wirst du wieder haben“, spielt Althaus auf der Klaviatur der Motivation. „Stell dir ein Team zusammen!“

„Gut. Wann fange ich an?“

„Jetzt.“

„So?“

„Ja, Zeit für eine große Vorbereitung haben wir nicht. Es gibt schon einen Fall“, sagt der Boss und zückt sein Tablet.

Wie beim Duell zieht Leonie ihres ebenfalls hervor. Ein Hauch von Schweiß ihrer verkrampften Hand haftet auf dem Display. Er verfliegt schnell, während Althaus ihr die Daten zum Kriminalfall schickt.

„Es ist ein Mord“, fasst er zusammen.

„Und was ist daran neu?“

„Dass der mutmaßliche Mörder ein Roboter ist!“

Nützliche Helfer

Auf dem Weg zum Tatort ertappt sich Leonie dabei, dass sie schon wieder ihre Kleidung zurechtzupft. Kollege Kevin erscheint bei seinen Fällen dort stets wie aus dem Ei gepellt. Und sie will keinen schlechten Eindruck hinterlassen. Und dazu zählt ebenfalls, dass sie nicht als Einzelkämpferin auftritt.

Die Zusammenstellung des Teams schiebt sie daher am besten nicht auf die lange Bank. Sie zückt ihr Telefon.

Kollege Ansgar Boldt meldet sich am anderen Ende. „Was gibt’s denn?“, nörgelt er anstelle einer Begrüßung ins Mikrofon. Überschwängliche Freundlichkeit ist nicht seine Sache.

„Wir haben doch bislang ganz vernünftig zusammengearbeitet, du und ich.“

„Ja, schon. Aber?“, forscht er nach dem Haar in der Suppe. „Brauchst du einen Gefallen? Ich habe genug Papierkram auf meinem Tisch, Kevin denkt oft an mich, wenn er Arbeit verteilt.“

„Willst du zur Abwechslung mal was Spannendes machen?“

„Was denn?“

„Einen Mordfall aufklären!“

„Aber das macht Kevin doch lieber selber, das solltest du wissen.“

„Diesen nicht.“

„Ach.“

„Und? Bist du dabei?“, legt Leonie ihre Angel aus.

„Und was sage ich Hussmann?“, sorgt sich Ansgar um Kompetenzgerangel.

„Das erledigt Althaus.“ Er hat es ihr zugesagt, dass sie alle Freiheiten bei der Wahl ihrer Mannschaft hat und dass er den Rest dann schon klärt.

Boldt pfeift kurz durch die Zähne. „Wo muss ich hin?“

Leonie schickt ihm die Koordinaten des Tatorts und beendet das Gespräch. Das wäre geschafft!

Kollege Ansgar ist nicht gerade ein glühender Anhänger des Neuen. Da hätte eine Nennung des Namens der frischgebackenen Abteilung das Kartenhaus ihres Angebots an ihn bereits zum Einsturz bringen können. Zum Glück sind sie beim ersten Plausch gar nicht so weit gekommen. Sie ist froh, dass er ihr keinen Korb gegeben hat.

Wilke hat die Worte vernommen, mit der Althaus die frische Truppe angepriesen hat. Dennoch: Warum gerade jetzt „Neue Verbrechen“? Ist es eine Wette auf die Zukunft? Hat sie nur mit modernen Schurken zu tun, mit solchen, die sich verblüffend fortschrittlicher Methoden bedienen? Aber was ist schon modern? Was heute neu ist, kann morgen der Schnee von gestern sein. Und dann sind neumodische Gauner plötzlich altmodisch und sie muss sie an Kevin weiterreichen.

Überhaupt kann sie ihr Glück gar nicht fassen, dass es dieses verantwortungsvolle Stellenangebot tatsächlich bis zu ihr geschafft hat. Haben die Oberen eingesehen, dass sie sich freigeschwommen hat? Ist es ihre Eignung, die den Ausschlag gegeben hat, so wie Althaus gesagt hat? Oder stellt sie nur das passende Feigenblatt für eine Frauenquote dar? Kevin hat einen Posten bekommen und dann sollte eben auch eine Frau einen abkriegen, damit alle glücklich sind, inklusive der Gleichstellungsbeauftragten.

Schluss mit dem Bad in Selbstzweifeln! Sie kommt am Ort des Geschehens an. Das Haus steht etwas vereinzelt. So viel Platz kann sich selbst hier in den komfortableren Außenbezirken nicht jeder leisten. Die Polizei hat eine weiträumige Absperrung um das Areal eingerichtet.

Jetzt ist es ein Parkplatz für Dienstfahrzeuge. Fleißige beamtete Ameisen tun ihr Werk am frischen Tatort. Eine davon ist eine junge Vertreterin von Gerichtsmedizin und Spurensicherung, die bereits im Bilde ist, dass Wilke hier aufschlägt und sich umsehen wird. Sie stellt sich als Tanja Greve vor und führt die Kommissarin durch die Umgebung der Tat.

Mord durch einen Roboter – das weckt von Actionfilmen genährte Assoziationen von einem zerstörten Tatort, von Trümmern und Verwüstung. Doch als Leonie zum Toten geleitet wird, zeigen sich nur milde Spuren eines Kampfes. Außer einem umgestürzten Servierwagen mit Getränken für gehobene Ansprüche liegt noch jeder Stein auf dem anderen.

„Wer ist der Tote?“, fragt Leonie, während sie sich die obligatorischen Handschuhe überstreift.

„Professor Anton Bernau, ein Neurowissenschaftler“, antwortet Tanja. „Er ist recht namhaft.“

„Der Grad seiner Bekanntheit wird sich wohl weiter steigern“, mutmaßt die Kommissarin. „Ist die Presse schon aufgetaucht?“

„Nein, die Absperrung hält. Darf sie denn auftauchen, die Journalistenschar?“

Ein Polizist in Uniform tritt aus dem Hintergrund und trägt ein Tablet in der Hand. Er ist bereit, Anweisungen entgegen zu nehmen.

Wilke wird zum ersten Mal mit der Verfügungsgewalt konfrontiert, die sie in diesem Fall innehat.

„Nein, der Limes bleibt intakt.“ Sie sollte das präziser ausdrücken. „Noch zwei Tage.“ Althaus wird sich schon melden, wenn er frühere Öffentlichkeitsarbeit wünscht und die Presse einbeziehen will.

Der Polizist notiert es brav und sendet es den Kollegen, die die Absperrung verteidigen.

Zeit für das eigentliche Thema: Leonie beugt sich über den Toten, der auf dem Rücken liegt. Sein Blick geht starr zur Decke. Das Gesicht ist durch den gewaltsamen Tod in einem Moment der Aufruhr eingefroren. Doch sie vermeint, auch einen Hauch von Frieden zu erkennen. Das ist ein absurder Gedanke.

„Spuren eines Kampfes?“, bewegt sie sich von Eindrücken hin zu Fakten.

„Ja, Partikelreste unter den Fingernägeln. Die müssen wir noch bestimmen. Sonst gibt es keine äußerlichen Anzeichen“, antwortet Greve.

Leonie schickt ihr einen kurzen dankbaren Blick für die nicht schwatzhafte Versorgung mit Informationen. Das hat sie schon anders erlebt.

In diesem Moment schneit Ansgar herein. Der Ordnungshüter in Uniform hebt warnend die Hand.

„Kollege Boldt gehört zum Team“, bestimmt Wilke mit sanftem Stolz in der Stimme.

Der Mitstreiter wirft nur einen kurzen Blick auf das Opfer, weil dort alle Arbeit der ersten Stunde bereits erledigt zu sein scheint. „Und, wo ist die Hauptattraktion des Tages?“

Greve zeigt wortlos ins Nebenzimmer.

Sie gehen hinüber. Dort sitzt eine kleine männliche Gestalt in ordentlichem Hemd und Hose und mit sauberem Scheitel. Einem Diener gleich steht er ehrerbietig auf, als die Ermittlerschar den Raum betritt.

„Setz dich, bitte, Damian“, weist ihn Tanja an. „Den Namen kenne ich aus einem knappen Gespräch vorhin“, erklärt sie der Kommissarin.

Sein Blick wandert kurz über die Anwesenden und verharrt dann auf Boldt, der die älteste und aufgrund der dünnen Informationsdecke daher wichtigste Person zu sein scheint.

Wilke lässt es nicht dabei bewenden. Sie stellt sich in den Vordergrund, sodass sie einen unverbauten Blick gewinnt. Den Luxus hat man ja nicht alle Tage, dass man den Verdächtigen gleich vor Ort fängt und dass er nicht kratzt und beißt, sondern gesittet auf einem Stuhl ausharrt.

„Den hatte ich mir größer vorgestellt, so einen nützlichen Helfer“, wirft der Polizist in Uniform ein, damit er auch mal was sagt.

„Aber er wirkt menschlich und keinesfalls bedrohlich. Schließlich soll die Oma, der er die morgendliche Tasse Kamillentee serviert, keine Angst vor ihm haben“, setzt Wilke dagegen. Sie hat sich nach dem Termin bei Heiner kurz über das Modell belesen. Es räumt Geschirrspüler ein und aus, macht sauber, erledigt Botengänge, kocht Essen und ist überdies für all die kleinen Bequemlichkeiten zuständig, für die es früher Hausdiener gab. Da fehlen nur der dunkle Anzug und der weiße Kragen. Doch diese Maschine trägt legere Alltagskleidung. Es ist ein normaler Mensch, hätte Wilke beinahe gedacht.

„Wie lange ist er schon hier im Haushalt?“, fragt sie.

„4 Jahre, sagen die Nachbarn“, antwortet Greve.

„Und der soll den Professor ins Jenseits befördert haben? Ein automatischer Mörder? Ein mordender Automat? Der sich automatisch anschleichende Tod? Der sieht eher aus, als könne er kein Wässerchen trüben“, meint Boldt.

„Wie dem auch sei, trotzdem liegt da ein Toter draußen“, pariert Greve.

„Stimmt schon, doch warum ist der Roboter nochmal unser einziger Verdächtiger?“

„Weil wir bislang keine Spuren von einer anderen Person gefunden haben.“

„Wer hat eigentlich die Polizei verständigt?“

„Damian.“

„Interessant. Und konsequent! Er zeigt sich quasi selber an“, sinniert Ansgar.

Wilke will den Spekulationen um Details nicht zu viel Raum geben: „Den Notruf zu wählen ist doch nur der Abschluss des Dramas. Wichtiger ist, was vorher geschehen ist: ein Unfall, eine Handlung in eigener Absicht oder ein ausgeführter Auftrag?“

Sie zieht ihr Tablet hervor, schaut kurz etwas nach. „Womöglich ist der Name Programm: Damian steht für ‚der Bezwinger‘.“

Ein großes Opfer

Der frische Fall ist das Gesprächsthema Nummer 1 auf dem Kommissariat. Wilke versucht, die Aufmerksamkeit nicht als Last, sondern als einen Begleiter ihrer neuen Wichtigkeit zu sehen. Immerhin hat sie in der Gestalt von Damian schon etwas vorzuweisen. Das nimmt ihr den Druck. Sie muss nicht durch ein Labyrinth von Hinweisen irren, bevor sie einen ersten Verdächtigen präsentiert. Denn die momentane Ruhe der Medien ist ein trügerischer und vorübergehender Zustand. Bald werden sie in ihrer unersättlichen Gier auf Nahrung schreien, werden nach etwas geifern, das nur im Entferntesten wie die Wahrheit aussieht oder das sich aus anderen Gründen verkaufen lässt.

Von Wilke wird erwartet, dass sie die Sache schnell aufklärt. Und dabei soll sie gleichzeitig idealerweise die Seele der Konsumenten besänftigen. Die haben solche Damians und wie sie alle heißen bei sich zu Hause, teilen mit ihnen den Haushalt und räumen ihnen den Status eines Helfers, eines Begleiters, ja womöglich sogar eines verstorbenen Familienmitgliedes ein. Aber vielleicht sehen sie andererseits in den Androiden nur bessere Haustiere und geben ihnen ihre Namen nicht wegen des Zugeständnisses einer Identität, sondern damit sie sie herbeirufen, wenn sie sie brauchen. Und die Roboter sind für sie nicht ein Schoßhündchen, sondern eher ein Schäferhund, den man nie ganz aus den Augen lässt, weil er etwas Bedrohliches haben kann. „Wusste ich doch, dass diese Maschinen gefährlich sind“, wird die erste Reaktion sein, wenn der Fall Bernau publik wird. Bis dahin muss die Kommissarin vorangekommen sein.

Aber es wird bald klar, dass sie bei Damian nur mit Befragungen nicht auf die Schnelle weiterkommen. „Wer weiß, was in seinem Elektronengehirn vor sich geht und worauf der getrimmt ist zu antworten?“, hat Boldt gewarnt. „Dem muss ein Experte ins System leuchten.“

Wilke wird also weitere Helfer zusammentrommeln, um den Fall anzugehen und dem Engel des Bernauschen Haushalts auf den Pelz zu rücken. Und heute setzt sich diese Schar zum ersten Mal in einem Besprechungsraum im Polizeigebäude zusammen.

Neben Ansgar Boldt ist auch Nora Fist der Einladung gefolgt. Sie ist mittlerweile eine voll ausgebildete Polizistin. „Neue Verbrechen als Arbeitsgegenstand klingen gut im Lebenslauf“, lacht sie die anderen bei der Begrüßung an, sogar den ewig reservierten Ansgar. Irgendwo muss der doch ein Fünkchen Humor tief in sich drin vor der Außenwelt verstecken. „Ich habe im letzten Fall viel gelernt, das setzen wir gerne fort“, kehrt sie vom ersten flapsigen Hallo schnell zum Ernst zurück.

Leonie versteht: Die junge Kollegin will nicht abermals vor einer Schranke warten, so wie im vorhergehenden Fall, als sie ihr noch nicht das ultimative Vertrauen entgegengebracht hat.

„Das ist ja ein richtig ‚großes Opfer‘, dieser Bernau“, kommt Boldt unverzüglich zum Thema. „Tausend Treffer, wenn man nach dem sucht. Viele sind begeistert, andere sind das ganze Gegenteil.“

„Ja, er stellt sich ins Rampenlicht“, pflichtet ihm Nora bei und hält ihr Mobiltelefon mit einer Social-Media-App hoch. „Dabei herrscht unsererseits noch Funkstille gegenüber den Medien, richtig?“

Leonie nickt. „Aber sicher dauert es nicht lange, bis er vermisst wird und sich jemand öffentlich wundert.“

„Na dann gehen wir besser zügig ans Werk!“, macht Ansgar Dampf.

„Wir sind noch nicht ganz vollständig“, zügelt Wilke sanft den Elan.

„Wer fehlt denn? Doch nicht etwa ...?“

Schon wird die halbgeöffnete Tür voll aufgestoßen und Merle Beirer tritt herein. „Ohne externe Berater geht heutzutage gar nichts mehr, habe ich gehört“, poltert sie und lacht.

„Durchaus korrekt, die polizeiliche Cybersecurity ist und bleibt überlastet“, winkt Boldt ab.

Wilke wollte Beirer dabei haben, die zwar weiterhin als Aktivistin gilt, die sich aber durch den glorreichen Abschluss der Untersuchung zum Wahlbetrug einen Namen gemacht hat. Diese Merle kann dafür sorgen, dass sie mit diesen neuen Verbrechern als moderne Ermittler Schritt halten, nicht nur auf den ausgetretenen Pfaden unterwegs sind. Damit ist die Truppe der vier Musketiere der Gegenentwurf zum wenig experimentierfreudigen Hussmann, so wie es Althaus im Sinn gehabt hat.

Beirer ihrerseits ist froh über Wilkes Anruf gewesen. Ihr Ermittlungsruhm im Auftrag des Staates ist in Aktivistenkreisen nicht wohlgelitten. Das Wort „Polizistenkuschler“ macht die Runde. Nun sind Aktivisten beileibe keine Polizeifeinde, aber eine große Nähe zur Ordnungsmacht suggeriert die Gefahr von Unterwanderung. Und das sät Misstrauen. Merle hat nicht den Luxus und die Zeit, darüber traurig zu sein – sie trachtet danach, ihr Aufgabenfließband am Laufen zu halten. Wenn die Aktivisten sie nicht mehr fest ins Herz geschlossen haben, so braucht sie keine Rücksicht mehr zu nehmen, dann kann sie sich auch ohne langes Federlesen dem schnöden Geldverdienen widmen. Und die Mitarbeit an einem heiklen Fall ist selbst in ihrer Vita eine brauchbare Referenz.

Sogar Boldt ist unterschwellig erleichtert, dass sie jemanden mit Computer-Stallgeruch dabei haben. Dieser Damien, der am Tatort sanftmütig auf seinem Stuhl gesessen hat, erzeugt in ihm immer noch Wellen von Unsicherheit. Menschen kann man verhören, sich in ihre Gedankenwelt versetzen, sich ein Bild machen. Man schaut quasi in die gleiche Art Geschöpf, die man auch morgens im Spiegel sieht. Aber ein Roboter?

„Jetzt ermitteln wir tatsächlich nicht mehr gegen echte Wesen aus Fleisch und Blut, sondern gegen kalte Maschinen!“, stößt er hervor. „Und dann haben die eine Agenda, die sich kein Mensch ausdenken kann.“

Fist und Beirer lesen jeden Tag Beiträge in den sozialen Medien und wissen um die geringe Trennschärfe zwischen echten Benutzern, die einfach nur so dummes Zeug reden, und von Künstlicher Intelligenz, KI, angetriebenen Trollen. Ihr Blick ist differenzierter.

„Was aber, wenn diese Agenda ihnen von kühl kalkulierenden Menschen eingeimpft wird?“, hält ihm Merle entgegen.

„Wie dem sei“, unterbricht Wilke den kleinen Disput. „Es gibt lebendige und es gibt gewiss auch elektronisch-mechanische Schurken. Der Vorteil daran ist, dass uns die Arbeit nie ausgeht.“

„Also, was haben wir über das Opfer?“, fragt sie und liefert die Antwort darauf gleich mit: „Bislang nicht viel.“ Mit einem Fingerwisch wirft sie eine vorbereitete erste Informationssammlung von ihrem Tablet auf den Bildschirm im Besprechungsraum. Das Bild des Professors Anton Bernau erscheint. Für Ende 50 wirkt er vergleichsweise drahtig. Ja, die Zeit hat ein paar Falten in seinem Gesicht hinterlassen, aber die deuten mehr auf Charakter und Intensität als auf Alter hin.

Wilke berichtet weiterhin, dass er ein Institut an der Universität anführt. Sein Forschungsgegenstand ist die Schnittstelle zwischen Computer und Gehirn. Scheu vor Profilierung habe er keine. Ein markiger Spruch von ihm lautet: „Blut-Hirn-Schranke war gestern. Heute geht es darum, Barrieren einzureißen. Damit sich der Mensch bei der Nutzung der von ihm selbst geschaffenen Technologie nicht im Wege steht. Und damit er den Anschluss behält.“

„Seine Vision ist es, Gedanken und Wissen einer Person auszulesen und sie auf eine andere zu übertragen“, fasst Wilke zusammen.

Ansgar gluckst mit gespielter Heiterkeit. „In meinen Schädel passt schon jetzt nicht mehr alles rein. Wie soll ich mir dann noch was dazu laden?“

„Da will er ja gerade hin!“, entgegnet ihm Beirer. „Ich saß bei dem mal im Vortrag. Der will die Schranken der Wissensweitergabe einreißen. Was der eine weiß, kann der andere erfahren, ohne es sich mühsam einpauken zu müssen.“

„Den Geist aufsaugen“, meint Nora. „Man muss dafür nicht den Umweg über die Sinne gehen – wie Sehen und Hören.“

„So ganz neu ist das vom Prinzip her nicht“, erinnert Wilke die Anwesenden. Sie hat einen kleinen Vorsprung und sich bei der Vorbereitung auf heute schon Gedanken gemacht: „Es ist wie eine Infusion für einen Patienten, durch die er Stoffe aufnimmt. Man muss nicht den Umweg über die Verdauung und die Umwandlungsprozesse gehen. Man nimmt den direkten Weg, vereinnahmt die Information 1:1. Aus der heutigen Medizin ist das nicht mehr wegzudenken.“

„Und man versteht auch alles automatisch bei dieser Wissensinfusion?“ Boldt ist noch nicht überzeugt.

„Darum sitzen wir hier und darum werden wir zusammenarbeiten“, nimmt Wilke das Zuspiel des Kollegen auf. „Darüber werden wir unser Vergrößerungsglas halten – vor Ort in seinem Institut und wir werden überdies in seine Forschung eindringen, um zu erkennen, ob er nicht irgendwelche Geister geweckt hat, die ihm an den Kragen wollen.“

Nach einer solchen Ansage schweigen selbst der nörglerische Boldt und die Autoritäten-scheue Beirer. Diese Wilke ist auf einer Mission.

Leonie nimmt den Schwung mit: „Selbstmord ist unwahrscheinlich, das sagt auch die Gerichtsmedizin nach den ersten Tests. Also muss es da eine weitere Kraft geben, einen Gegenspieler. Vielleicht ist es dieser Damian und wir sind schnell durch, vielleicht ist es jemand anderes.“ Sie schaut kurz auf Boldt. „Ja, es gibt tausend Treffer, wenn man nach diesem Bernau sucht. Er ist bekannt und das ist er gern. Schließlich sieht er sich nach eigenen Worten als den Schutzschild der Menschheit gegen die sich rasend verbreitende KI!“

Der Täter

Das Durchleuchten der schillernden Figur des Anton Bernau ist leider nicht die einzige Seite der Polizeiermittlung. Vielmehr sind auch Berichte zu schreiben und Fragen zu beantworten. Und vor allem Wilke ist dazu aufgerufen. Also muss ihre Gruppe liefern und sich daher zuerst mit dem befassen, was ihnen auf dem Silbertablett präsentiert wurde: Damian.