Spuk für Anfänger - Paul Kavaliro - E-Book

Spuk für Anfänger E-Book

Paul Kavaliro

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Beschreibung

Peter ist 12 Jahre alt und führt das normalste Leben der Welt. Die Schule ist sein Alltag. Er hat viele Träume, damit dieser Alltag nicht ganz so ernst ausfällt. Seine Lieblings-Nebensache ist der Fußball, denn Fußballstar werden ist einer seiner Träume. Und dann sind da noch die Mädchen, diese rätselhaften Wesen, sowie Kalle, sein Widersacher. Also alles ganz normal. Doch als Peter eines Tages der geheimnisvollen Heidi begegnet, ist es vorbei mit der Normalität. Er wird hineingezogen in ein Abenteuer um Zauber, um Fluch und Erlösung, um Freundschaft und um Streit. Es wird sein Leben verändern.

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Seitenzahl: 173

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Imprint

Spuk für Anfänger

Peter und der Geist Autor: Paul Kavaliropublished by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Peter im Traum

„Na los, aufwachen!“, dringt es von fern an Peters Ohr. Seine Mutter weckt ihn, bevor sie aus dem Haus stürmt. Draußen wartet schon Peters Vater im Auto, bereit für den Aufbruch in Richtung Arbeitstag.  

Peter sinkt noch einmal in die Kissen zurück. Einen verschlafenen Moment später klingelt der Wecker als Zeichen der letzten Warnung. Die Schmach des Zuspätkommens in der Schule droht. Mit einer unbeholfenen Entschuldigung beim Betreten der Klasse und dem Vorbeischleichen am Lehrer blühen dabei weitere Punkte in der „aus dem wird doch nie was“-Wertung.

Peter kämpft sich mühsam vom Traumreich in den Tag. Eben noch ist er mit der Rettung der Welt beschäftigt gewesen, ist dafür auf Forschungsmission in die Tiefen des Weltalls gegangen – ganz normale Träume, wie sie jemand in diesem Alter hat. Nur träumt Peter vielleicht ein bisschen mehr als andere; nicht nur nachts, sondern auch am Tage, wenn er eigentlich wach ist.

Aber sein Traum ist jetzt erst einmal vorbei. Die Realität ruft. Sie heißt Gymnasium, 6. Klasse in der 10000-Seelen-Stadt Obertrolla. Gähnend macht sich Peter auf ins Bad. Der Spiegel zeigt einen eher dünnen Jungen, keine Heldenstatur. Mechanisch kämmt Peter seine dunkelblonden Haare. Sie sind kurz geschnitten und mehr praktisch als modisch. So hat er seinen Kopfschmuck bald gebändigt.

Peters Vorfreude auf die Schule ist sparsam, um es vorsichtig auszudrücken. „Von nichts kommt nichts“, predigt sein Vater immer. „Du musst dich anstrengen, wenn du etwas werden willst. Jeder muss das, selbst ein Fußballstar.“

Ja, Fußballstar – das wäre auch etwas für Peter, wenn es schon mit der Karriere als Raumfahrer oder Weltenretter nichts werde sollte. Tausende Fans jubeln ihm von den Rängen zu und balgen sich um sein Autogramm.

In der echten Welt spielt Peter zwar ganz gut Fußball, aber nicht vor tausenden Fans, sondern eher vor einer Hand voll Passanten, die bei Training oder Punktspiel kurz am Fußballplatz stehen bleiben, weil sie gerade nichts besseres zu tun haben.

Inzwischen hat Peter gefrühstückt und macht sich auf den Weg in die Schule – quer  durch Obertrolla, „Guten Morgen, Peter! Na, gehts zur Schule?“, erschallt der Gruß eines Nachbarn. „Guten Morgen, Herr Persig!“, grüßt Peter artig zurück. Immerhin sind sie nett, die Leute hier. Herr Persig und seine Frau haben selbst keine Kinder. Dafür verwickelt der Nachbar Peter manchmal morgens in ein Gespräch. Dass er ihn dabei auf dem Weg zur Schule aufhält, kann ihm Peter verzeihen – gnädig wie er ist.

Peters Gedanken richten sich jetzt auf den bevorstehenden Schultag. Wenigstens haben sie heute kein Deutsch, bei Herrn Hauptmann, dem Strengen.  

Um Peter herum wimmelt und lärmt es immer mehr. Er ist an seinem Ziel angekommen, in das die Schüler wie Ameisen hineinströmen. Einige heben sich dabei heraus. Da ist zum Beispiel der elegante Kalle, der eigentlich Karlheinz heißt und zwei Jahre älter als Peter ist. Er fährt schon Moped, heimlich, denn er hat noch keinen Führerschein. Ist es die Rebellion gegen die Gesetze oder ist es das Moped oder ist es beides? Keine Ahnung, jedenfalls ist Kalle ein Star. Er ist wie immer von seiner Clique umringt. Peter gehört nicht dazu, und er würde nicht einmal im Traum daran denken, sich das zu wünschen.  

Das Läuten der Schulglocke beendet die Cliquenversammlung und auch Peters Gedanken. Er schwimmt im Strom der Ameisen in die Schule hinein.

Unheimliche Begegnung

Der Schultag ist geschafft. Hausaufgaben gibt es kaum auf, Fußballtraining ist heute auch keins und Peters Freunde haben sich in alle Winde zerstreut. „Gut“, denkt sich Peter, dann kann er ungestört einem seiner Hobbys frönen: er geht in die Bibliothek. Über Obertrolla kann man sagen, was man will, aber die städtische Bibliothek ist eine echte Schau! Dort gibt es alles, was das Herz begehrt, vom alten Bücherschinken bis zum Computer-Zugang.

„Guten Tag, Frau Keuner“, grüßt Peter die Bibliothekarin. Sie ist sehr nett und nervt nicht mit platten Fragen, wie es in der Schule geht und so. Außerdem hält sie so manche neu hereingekommene Rarität extra für Peter zurück, denn er ist einer ihrer besten Kunden. Sogar seine Eltern unterstützen sein Hobby: „Lesen bildet“, sagt sein Vater zufrieden. „Lesen ist besser als Fußball, der ist doch viel zu grob“, sorgt sich seine Mutter.

Peter mag die Ruhe der Bibliothek. Im Lesesaal wird nur getuschelt, nicht laut gesprochen. Aus dem Fenster heraus hat man einen weiten Blick auf die Wiese und den angrenzenden Wald. Das ist ein perfekter Platz, sich ein Buch zu holen, einzutauchen in die Geschichte und einen Traum: von edlen Ritter und Feuer speienden Drachen – na gut, früher vielleicht, als Peter noch klein war – jetzt eher von Weltraumhelden und ihren Abenteuern auf fremden Planeten, mit Zivilisationen, die noch nie etwas von der Erde und erst recht nicht von Obertrolla gehört haben. Das ist eine andere Welt, eine nach Peters Geschmack.

Darüber vergisst Peter die Zeit. Draußen gehen schon die Straßenlaternen an. Doch Peter sitzt immer noch in seiner Ecke und liest weiter, ganz seelenruhig. Irgendwann muss doch Frau Keuner vorbeikommen und die letzten Leser ermahnen nach Hause zu gehen! Aber niemand kommt. Hat sie vielleicht heute eine Vertretung, die das Einläuten der Heimgehstunde vergessen hat? Peter ist jetzt doch etwas mulmig zumute. Er schaut sich um. „Frau Keuner?“, fragt er in die Leere. Doch niemand antwortet. Wie gehts jetzt weiter? Ha, er hat sein Mobiltelefon und kann jemanden anrufen! Peter zieht es aus seiner Tasche. „Verflixt!“, flucht er, denn die Batterie ist leer. Peter hat wieder einmal das Laden vergessen. Suchend blickt er sich nach Alternativen um. Es muss doch hier irgendwo ein Telefon geben!

Glück gehabt! Peter findet eins, geht hin, greift zum Hörer und – legt ihn wieder auf. Wer drängt ihn denn? Gern kann er noch ein Stündchen lesen und danach seine Eltern oder den Schlüsseldienst anrufen.

Also geht er wieder in seine Ecke. Das Buch ist wirklich spannend. Wird die Raumstation gerettet oder wird sie in das Schwarze Loch gezogen? So viel Nervenkitzel gibt es auf der Erde nicht, nirgendwo!

Aber irgendwie geht es mit dem Lesen nicht so richtig voran. Die angenehme Ruhe der Bibliothek, ohne Krach und nur mit Tuscheln ist einer angespannten Stille gewichen, jetzt wo Peter weiß, dass er allein ist. Selbst das Umblättern der Seiten scheint von den Wänden widerzuhallen. Peter ertappt sich dabei, wie er immer öfter von seinem Buch aufschaut. „Alles Blödsinn“, redet er sich selbst seine Angst aus, „allein in der Bibliothek – was soll denn schon passieren?“

Da gibt es ein Geräusch. Peter blickt sich um. Von da hinten ist es gekommen, von einem der Bücherregale – gerade so, als wollte jemand eine Zeitschrift aus einem großen Stapel herausziehen. Seine Knie werden weich. Er liest eisern weiter. Wie kann er später einmal eine Raumstation retten, wenn er sich hier in der Bibliothek fürchtet? Platsch! Ein Geräusch herunterfallender Zeitschriften. Peter handelt wie automatisch, ohne zu denken. Verstecken kommt nicht in Frage, er muss sich stellen. Peter läuft hin zu dem Regal und tatsächlich, ein Schwung Computerjournale liegt auf dem Boden. Peter steht davor und seine Knie fühlen sich an wie Pudding.

Ängstlich schaut er sich um. „Ist hier jemand?“, ruft er in die zunehmend düstere Bibliothek hinein. Draußen gewinnen die Straßenlaternen schon langsam die Oberhand über die letzten fliehenden Sonnenstrahlen. Der Klang seiner lauten Stimme macht Mut. Peter geht los und schaltet überall das Licht an. Wenn hier schon irgendjemand ist, vielleicht ein Einbrecher, dann ist er bestimmt lichtscheu und macht sich dann vom Acker.

 Peters Blick springt angespannt umher. Wenn er jetzt doch nur eine Laserpistole hätte wie die Raumfahrer in seinem Buch! Aber das hier ist keine Raumstation, sondern eine Bibliothek, mitten in Obertrolla, und vor ihm befindet sich kein Schwarzes Loch, sondern ein Haufen heruntergefallener Journale. Frau Keuner wird morgen sauer sein und womöglich denken, dass Peter sie selbst heruntergeworfen hat. Also beugt er sich hinab – der Pudding weicht so langsam aus den Knien – und beginnt aufzuräumen.

„Tut mir leid, das wollte ich nicht!“, sagt da plötzlich jemand hinter Peters Rücken. Er dreht sich blitzschnell um. Aber niemand ist zu sehen. „Hier bin ich!“, sagt die Stimme. Sie kommt von der anderen Seite des Regals und jetzt sieht Peter auch, wem sie gehört. Es ist ein Mädchen; es ist etwa so groß wie Peter, scheinbar auch in seinem Alter. Es hat ein freundliches Gesicht und lange blonde Haare, die in einem strengen Zopf geknebelt sind. Naja, der letzte Frisurenschrei ist das nicht. Peter fällt auch auf, dass sie komische Sachen trägt. Sachen? Eher ein altmodisches Gewand, ganz schlicht, aus grobem Stoff.

„Was machst du hier?“, fragt Peter und denkt im gleichen Augenblick: „Idiot! Begrüßt man so ein Mädchen?“ Schnell schleudert er hinterher: „Äh, ich meine, wie heißt du?“ – „Ich bin Heidi“, sagt sie und streckt ihm ein Stück die Hand entgegen. Aber Händeschütteln ist durch das Regal hindurch ein bisschen schwierig. Also geht Peter eilig in Richtung Regal-Ende, um auf die andere Seite zu kommen. Als er dort angekommen ist, hat Heidi ebenfalls die Seite gewechselt. Jetzt lachen sie beide, denn wieder steht das Regal zwischen ihnen.

„Wie kannst du so schnell ...“, beginnt Peter seine Frage. Da fällt ihm Heidi ins Wort: „Entschuldigung!“, sie macht einen Schritt nach vorn, durch das Regal hindurch, als ob es Luft wäre und steht neben Peter. Der kriegt kein Wort heraus. Wie kann jemand einfach so durch ein Regal hindurchgehen? Peter schaut ungläubig – abwechselnd auf das Regal und auf Heidi. Träumt er vielleicht und vermischen sich Traum und Realität? Er kneift sich in die Wange; der Schmerz spricht eher für die Realität. Außerdem steht Heidi leibhaftig vor ihm und reicht ihm die Hand.

„Ich bin Peter“, sagt er mit einer Stimme, die so steinern ist wie sein Gesicht in diesem Moment. Mit großer Vorsicht erwidert er den Händedruck, jederzeit darauf gefasst, dass diese Heidi-Erscheinung vor ihm etwas im Schilde führt. Komisch fühlt sich ihre Hand an: schon wie von einem Menschen, aber irgendwie anders, kühl, fremdartig. Kommt Heidi vielleicht von einem anderen Planeten? Er wischt diesen Gedanken genauso schnell weg, wie er gekommen ist – wohl zu viel Science Fiction gelesen!

Peter fängt sich langsam. Nach dem Händedruck hat er das Gefühl, dass er nicht in Gefahr ist. Seine Neugier erwacht. „Zeig mir deinen Trick mit dem Regal! Wie kann man da hindurchgehen?“ – „Na einfach so.“ Schwupp, steht Heidi wieder auf der anderen Seite. Peter geht hinterher, zumindest versucht er das. Aber eine schmerzende Stirn erinnert ihn daran, dass er nicht durch Regale gehen kann.

„Wer ...“, stammelt Peter und reibt sich die Stirn, „... wer in aller Welt bist du?“ – Heidi macht eine lässige Handbewegung: „Ich bin ein Geist!“

Verflucht

Peter hat sich mittlerweile auf dem Fußboden niedergelassen, denn seine Knie tragen ihn nicht mehr. „Bist du wirklich ein Geist, ein Gespenst?“ – „Ganz recht“, antwortet Heidi wie selbstverständlich. Und auch sonst verliert sie nicht viel Zeit, sondern fragt geradeheraus: „Willst du meine Geschichte hören?“ – „Ja, das will ich gerne“, antwortet Peter, der Spuk-Anfänger.

„Wo bleibt denn der Junge nur?“ Peters Mutter trommelt aufgeregt mit den Fingern gegen die Fensterscheibe, vor der sie schon seit einer Stunde steht und in das fahle Mondlicht hinausschaut. Vergeblich wartet sie darauf, dass sich draußen auf dem Weg Peters Silhouette abzeichnet. „Ach, der Junge hat eben noch etwas vor“, hat Peters Vater vor einer halben Stunde noch in unerschütterlicher Selbstsicherheit gesagt. „Morgen ist Samstag und damit Wochenende, da ist das nicht so schlimm!“

Inzwischen ist aber die Selbstsicherheit gewichen, denn auch ein wiederholter Anruf bei Peter hat ihn nur auf der Mobil-Mailbox landen lassen. Dass der Junge auch immer vergisst, sein Telefon zu laden! Und seine Frau versetzt dem letzten bisschen Selbstsicherheit  mit einem energischen „Nun tu endlich was und sitz nicht nur herum, Arnold!“ den letzten Todesstoß.

Mit einem angespannten „Ja ja, ich fahr schon los“ wickelt sich Arnold Neumann in seine Jacke und geht zum Auto, um Peter zu suchen. „Karla, ruf du doch in der Zeit mal ...“, ruft er nach oben. – „... seine Freunde an.“ „Du sollst mir doch nicht immer alles vorschreiben“, rutscht Peters Mutter noch schnell ein Vorwurf heraus. Sie beißt sich auf die Lippen, doch zu spät – gesagt ist gesagt. Aber so ist das eben, wenn man Angst hat.

Angst hat Peter keine mehr. Sie ist einer angespannten Interessiertheit gewichen, mit der er Heidis Erzählung aus ihrem Gespensterleben folgt.

Alles fing damit an, dass sie noch als Kind von einem bösen Geist verzaubert wurde und fortan selbst als Gespenst wandeln musste. „Wann war denn das?“ –  „Ach, ich weiß nicht so genau, sehr lange her, vielleicht in paar hundert Jahre.“ –  „Aha, daher dein Gewand“, geht Peter ein Licht auf, warum Heidi nicht die neueste Mode trägt.

„Warum wurdest du denn überhaupt verzaubert?“ Das ist eine komische Geschichte. Eines Tages kam ein Wanderer an ihrem Elternhaus vorbei. Er bat um ein Lager für die nächsten 1, 2 Tage, denn er war die Woche über in großer Hast gelaufen. Er schien auf der Flucht vor etwas zu sein, machte aber nicht den Eindruck eines Schurken, sodass Heidis Eltern ihn einließen. Der Mann gab Heidi ein Buch und bat sie, sie solle es für ihn bis zu seiner Weiterreise aufbewahren und es gut verstecken, falls komische Dinge geschehen würden und Leute nach ihm fragten. Heidi wunderte sich nicht weiter, Wanderer kamen öfter des Weges. Doch sie konnte nicht widerstehen und schlug heimlich das Buch auf und las darin. Sie konnte in den seltsamen Sprüchen aber keine Bedeutung erkennen. So verbarg sie es weiter in einem Versteck. Der geheimnisvolle Mann schlief lange und tief und kam wieder zu Kräften. Danach machte er sich eilig auf die Weiterreise. Er dankte Heidi, dass sie das Buch für ihn bewacht hatte und bat zum Abschied: „Verrate mich nicht“.

Ein paar Tage später erschien eine bleiche Gestalt in einem düsteren Gewand. Er fragte nach dem Wanderer und dem Buch. Doch Heidi sagte, dass der schon weg sei. Sie wies dem Fragenden die falsche Richtung. Der kam zurück und fluchte, dass er die Spur des Wanderers verloren hätte. Die Gestalt war außer sich vor Wut. Sie sagte, dass sie ein Geist sei und dass sie Heidi bestrafen würde. Und so legte der Geist einen Fluch über Heidi: sie sollte ihre Tage selbst als Geist fristen, genau wie er selbst. „Seitdem bin ich so, wie ich bin.“

„Und jeder läuft vor dir weg?“, fragt Peter. „Meistens“, antwortet Heidi mit Enttäuschung in der Stimme. Na wenigstens ist Peter nicht vor ihr weggelaufen.  

„Und als Geist kannst du überall hindurchgehen?“, fragt Peter weiter. „Naja, fast.“ Heidi kann in Häusern durch Regale wandeln, auch durch Wände oder andere Hindernisse. Sie kann sich sogar eine Weile unsichtbar machen, damit sie keiner findet. Aber sie kann dabei den Umkreis ihres früheren Elternhauses nicht verlassen. Der Zauber hat sie in ihren Bann geschlagen und hält sie fest, wie eine unsichtbare eiserne Kette.

„Und was hast du die ganze Zeit über gemacht, die vielen hundert Jahre bis heute?“ Peters Neugier bekommt Flügel. Heidi erzählt, wie sie heimlich den Leuten bei der Arbeit geholfen hat, die später in ihr Haus gezogen sind, nachdem ihre Eltern nicht mehr da waren. Aber bald kam das den Leuten nicht mehr geheuer vor. Sie zogen wieder aus, das Haus verfiel, wurde abgerissen und ein neues gebaut.

Neue Leute kamen. Sie waren reich, aber kaltherzig. Heidi spielte ihnen Streiche, spukte nachts und zweigte etwas Essen in der Küche ab, das sie den Bettlern an der Tür gab. Die Leute entließen mehrmals das Personal, denn sie glaubten ihren Geschichten nicht, dass nachts ein Geist erschien, der etwas zu essen stibitzte und verteilte. Irgendwann verließen die Herrschaften das Haus.

Danach wurde eine Gastwirtschaft eingerichtet, sie hieß „Zum Poltergeist“. Hier konnte sich Heidi so richtig austoben. Je mehr sie spukte, um so mehr Gäste kamen. Sie waren auf der Suche nach Gruselgeschichten und wollten am besten selbst welche erleben. Heidi machte sich unsichtbar, zog Stuhlbeine weg, sodass die Opfer unter dem schallenden Gelächter der anderen Gäste mit dem Allerwertesten auf dem Boden landeten. Aber das war noch harmlos. Öfter trieb sie das Vieh der Wirtsleute mitten durch die Gaststube. Das nannte sie dann „Die wilde Jagd“. Was für eine lustige Zeit!

Peters Vater ist unterdessen gar nicht lustig zumute. Immer noch sucht er nach seinem Jungen. Überall ist er schon gewesen: auf dem Marktplatz, auf dem Fußballplatz, an der Schule. „Tja, dann muss ich wohl doch zur Polizei“, meldet sich seine resignierte innere Stimme. Doch bevor er sich zum Revier aufmacht, fallen ihm Peters Leselust und die Bibliothek ein. Scharf wendet er sein Auto und schlägt die neue Richtung ein. Bald ist er da. Er entdeckt das brennende Licht und es stimmt ihn hoffnungsvoll.

„Und warum steht heute hier kein Restaurant, sondern eine Bibliothek?“, bohrt Peter weiter. Heidi erzählt ihm vom Krieg und der Zerstörung. Später haben die Leute die Stadt wieder aufgebaut und hierhin kam eben die Bibliothek. Das war ein noch viel größerer Segen für Heidi als die Gastwirtschaft, denn jetzt konnte sie nach Herzenslust lesen: Bücher, Zeitungen, Zeitschriften. „Etwa auch Computerzeitschriften?“ – „Na klar.“ Auch ein Geist muss auf der Höhe bleiben. Sonst wüsste Heidi ja gar nicht, was ein Computer ist.

Peters Blick schweift ab, durch die Fenster nach draußen. Er bemerkt einen Schatten. Schleicht da jemand um die Bibliothek? Was, wenn er hier zu so später Stunde erwischt wird? Da lieber macht er sich aus dem Staube. Peter und Heidi verabreden sich eilig für den Montag, da ist die Bibliothek wieder geöffnet. Schnell löscht Peter das Licht, öffnet ein Fenster und steigt hinaus. Heidi schließt es hinter ihm wieder. Gerade noch kann er ihr kurz zuwinken und sieht, wie sie den Finger auf die Lippen legt. „Pssst!“, heißt das, „verrate mich nicht!“ Peter nickt hastig, er hat verstanden. Da hört er schon ein vorwurfsvolles „Da bist du ja endlich!“ Es ist sein Vater. „Ich, ich war eingeschlossen, weil Frau Keuner wohl früher als sonst gegangen ist.“ Peter versucht, seiner Stimme Festigkeit zu geben. „Naja“, sagt sein Vater, „Lesen bildet. Dann komm mal mit.“

Und erleichtert steigen beide ins Auto und fahren nach Hause. Herr Neumann ist froh, dass er seinen Peter wiederhat und dass er seiner Frau den verlorengegangen Sohn  präsentieren kann, um sie zu besänftigen. Das gibt Pluspunkte und tut dem Familienfrieden gut. Peter gehen ganz andere Sachen durch den Kopf. „Verrückt, die Geschichte von Heidi und ihrem Gespensterleben“, denkt Peter, als er durch das Autoglas nach draußen blickt. „Was hast du denn die ganze Zeit gelesen?“, fragt sein Vater. „Ach, so dies und das.“

Die Nacht hat sich inzwischen wie ein Mantel über die Stadt gelegt und genau so wird auch Peter einen Mantel der Verschwiegenheit über seine Erlebnisse von heute breiten.

Im Netz der Verheißung

Das Wochenende ist vorbei und die Gewitter sind über Peter hinweggezogen. Statt echtem Blitz und Donner hat es Vorhaltungen und gute Ratschläge von seinen Eltern gegeben. Am Anfang sind sie natürlich froh gewesen, dass Peter gesund und munter zu Hause angekommen ist. Aber nach dem Abebben der ersten Erleichterung haben sie sich als verantwortungsbewusste Eltern darauf besonnen, dass so etwas nicht wieder vorkommen darf: ihr Kind verschollen – und das im Informationszeitalter! „Warum hast du nicht Bescheid gesagt, hast uns angerufen oder jemand anderen oder die Polizei?“ „Beim nächsten Mal lädst du bitte dein Telefon rechtzeitig auf, wozu bezahlen wir denn sonst das teure Ding?“ Naja, so ganz unrecht haben sie ja nicht, aber wenn sie von Heidi wüssten, dann würden sie seine Verspätung an dem Abend verstehen. Doch er hat versprochen, niemandem etwas zu sagen.

Der Montag ist da und er ist schier endlos: Biologie, Geografie, Englisch, Mathe, zwei Stunden Sport. Endlich ist es geschafft! Peter nutzt das Gedränge und stürmt unbemerkt von seinen Freunden aus dem Schulhaus. Schnell ist der Weg zur Bibliothek zurückgelegt. „Guten Tag, Frau Keuner!“, grüßt Peter. „Na du strahlst aber heute!“, trällert sie zurück. „Das war bestimmt ein toller Schultag!“ Klar, der Frohsinn hat einen Grund, aber die Schule ist es nicht. Peter will schnell weiter. Er wirft Frau Keuner ein kurzes „Ja, ganz toll!“ zu und verschwindet zwischen den Bücherregalen.

„Heidi! Heidi!“, presst Peter mit gedämpfter Stimme heraus. Jemanden im Flüsterton zu rufen ist gar nicht so einfach. Hier und da hebt schon ein Leser im Saal den Kopf, auf der Suche nach dem Störenfried. Peter schaut betont weg, als wäre er gar nicht da. Schließlich, in der hintersten Ecke hört er hinter sich ein leises „Psst!“ Es ist Heidi. Peter ist aufgeregt, denn es ist erst seine zweite Begegnung mit einem Geist. „Ich habe schon auf dich gewartet“, sagt Heidi. Peter lächelt verlegen, aber er freut sich, dass die Freude über das Wiedersehen beiderseitig ist.