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Libby Whitman hat es endlich geschafft: Sie ist Profilerin bei der Behavioral Analysis Unit des FBI in Quantico. Als ihre Kollegen das Profil eines Serienbrandstifters im nahen Richmond anfertigen, unterstützt sie das Team voller Elan.
Zeitgleich bittet sie jedoch auch ihr Freund Owen um Hilfe, der als Polizist in Washington arbeitet: Dort ist am helllichten Tag ein neunjähriger Junge auf einem Spielplatz brutal erschlagen worden, ohne dass jemand die Tat gesehen hätte. Libby möchte Owen und seinem Partner bei den Ermittlungen helfen und stellt schließlich eine gewagte These auf, was den möglichen Täter betrifft.
Als gleichzeitig in Richmond ein möglicher Brandstifter festgenommen wird, versuchen Libby und ihr Chef, Teamleiter Nick Dormer, den Verdächtigen mit allen Mitteln zum Reden zu bringen – erfolglos. Fast sieht es so aus, als würden die Ermittlungen in beiden Fällen ergebnislos verlaufen, doch dann überschlagen sich die Ereignisse …
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Dania Dicken
Wenn die Unschuld
Feuer fängt
Libby Whitman 3
Thriller
Alles ist vergänglich und deshalb leidvoll.
Siddharta Gautama
Er hatte immer noch Herzrasen. Sie unbemerkt ans Bett zu fesseln war der schwierigste, gefährlichste Moment. Sobald er das geschafft hatte, war er auf der sicheren Seite.
Und er wählte sie ja sorgfältig aus. Nicht nur die Frauen, sondern auch ihre Apartments. Er musste es schaffen, dort unbemerkt rein- und wieder rauszukommen. Üblicherweise probierte er es erst einmal, wenn er eine Frau ausgewählt hatte. Er schaute sich die Gegebenheiten an und überprüfte, ob er sie auch ans Bett fesseln konnte. Das war von grundlegender Bedeutung.
Hier stimmte alles. Sie war hübsch, sie lebte allein, ihre Wohnung war perfekt und die Handschellen saßen bereits. Sie hatte es nicht gemerkt. Aber wenn sie feststellte, dass er da war, würde sie schreien wollen. Das musste er verhindern.
Dafür hatte er einen ihrer Slips aus ihrer Schublade genommen und beugte sich nun über sie. Während er versuchte, ihr den Slip in den Mund zu stecken, erwachte sie und wollte sofort um sich schlagen und schreien, aber beides ging nun nicht mehr.
Sie stieß schrille Laute der Panik aus und wimmerte dann. Natürlich, sie sah ja nur eine finstere Gestalt über sich. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und lauschte einfach nur auf ihre erstickten, angstvollen Schreie, die von einem verzweifelten Schluchzen abgelöst wurden.
Aber jetzt brauchte er Licht. Er trat zurück und schaltete das Licht neben der Zimmertür ein. Panisch starrte sie ihn an, die Augen weit aufgerissen und heftig atmend.
Das war der Moment. Gerade genoss er es einfach, sie anzusehen und ihre Angst in sich aufzusaugen. Dass er sich nicht rührte, machte sie nervös. Schließlich begann sie wieder zu zappeln und versuchte vergeblich, zu schreien.
„Schht“, machte er und legte einen Finger an die Lippen. Natürlich hörte sie nicht auf ihn – erst recht nicht, als er sich ihr wieder näherte und ihr zeigte, dass er ein Messer in der Hand hielt. Sie wand sich verzweifelt in ihren Fesseln und versuchte, ihm zu entkommen, als er die Klinge an den schmalen Trägern ihres Nachthemdes ansetzte und sie nacheinander mit einem leichten Ruck zerschnitt.
Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie war vollkommen in Panik – ein Gefühl, das er glaubte riechen zu können. Er zerschnitt ihr Nachthemd von oben nach unten und entriss es ihr. Ihr Weinen wurde schriller. Für einen kurzen Moment musterte er sie, bevor er ihr auch den Slip vom Körper schnitt und beides neben dem Bett auf den Boden warf.
Sie war wunderschön. Ein Jammer, dass sie sterben musste.
Während sie wimmernd zu ihm aufblickte, beschloss er, es ihr zu sagen. „Du bist so schön.“
Doch sie jammerte nur. Sie konnte das Kompliment einfach nicht annehmen. Zu schade, denn sie sollte doch wissen, dass sie etwas Besonderes war.
Seine Blicke glitten über ihren entblößten Körper, ihre wunderbaren Proportionen. Während er sie ansah, spürte er, wie ihm das Blut in die Lenden schoss und er hatte große Mühe, der Verlockung zu widerstehen, aber es ging nicht. Das hätte vielleicht alles ruiniert.
Sie versuchte, sich verständlich zu machen, was sie natürlich nicht konnte. Er versuchte, die Beherrschung über sich wieder zurückzugewinnen, atmete tief durch und besann sich.
„Ich weiß, dass du Angst hast. Das ist gut so. Aber du verdienst all das hier. Du verdienst es, zu sterben, und ich werde dabei zusehen.“
Der Slip in ihrem Mund dämpfte den folgenden Schrei kaum. In Todesangst beobachtete sie, wie er zu der Kommode neben der Tür ging und die Flasche nahm. Sie zappelte heftig, doch als er begann, den Inhalt der Flasche auf ihren Möbeln zu verteilen, begriff sie und erstarrte vor Angst. Erstickt keuchend starrte sie ihn an, während er in seine Hosentasche griff und Streichhölzer zum Vorschein brachte.
Nein, wollte sie schreien, aber es ging nicht. Sie war halb wahnsinnig vor Angst. Wieder schloss er kurz die Augen, lauschte nur auf ihre Laute und genoss es.
Dann entzündete er das Streichholz und ließ es auf die Kommode fallen.
Das benzingetränkte Holz fing sofort Feuer. Erstickte Schreie der Panik erfüllten den Raum, während das Feuer sich ausbreitete und er in aller Seelenruhe zur Tür ging. Im Rahmen blieb er stehen, schaltete das Licht aus und beobachtete im Schein des Feuers, wie sie an ihren Handschellen zerrte, in Todesangst zappelte und winselte.
Die Vorhänge fingen Feuer. Ab da war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der ganze Raum in Flammen stehen würde. Dass das niemand zu früh merkte, dafür hatte er gesorgt und alle Rauchmelder deaktiviert.
Nachdem die Kommode erst richtig in Flammen stand, breitete das Feuer sich auf den Kleiderschrank aus. Zwischendurch waren ihre ängstlichen Laute leiser geworden, doch als das Feuer ihr näher kam, versuchte sie wieder zu schreien. Sie wollte ihn anflehen, ihr zu helfen, aber er stand einfach da und beobachtete sie.
Nun hatte das Feuer ihren Nachttisch erreicht. Sie war außer sich und zappelte so heftig, dass das Bett zu beben begann, aber es war zu spät. Das Feuer griff auf ihre Decke über. Panisch versuchte sie wegzurutschen, doch irgendwann ging es nicht mehr. Nun hatte das Feuer sie erreicht und als sich ihr qualvoller Schmerz in ihre Schreie mischte, lauschte er der Sinfonie mit geschlossenen Augen.
„Du wirst das schon gut meistern.“ Zuversichtlich schloss Owen Libby in seine Arme, drückte sie an sich und gab ihr einen Kuss. „Ich wünsche dir einen tollen Tag.“
„Danke“, erwiderte sie mit einem Lächeln. Eigentlich wollte sie ihn gar nicht loslassen, aber dann tat sie es doch. „Hab auch einen schönen Tag.“
„Wir sehen uns heute Abend.“
Libby nickte, schulterte ihre Tasche und stieg in ihr Auto. Sie legte die Tasche auf den Beifahrersitz, bevor sie sich anschnallte, den Motor startete und losfuhr.
Auf der Gegenfahrbahn war die Interstate 95 hoffnungslos verstopft. Eine Blechlawine wälzte sich Washington entgegen. Libbys Ziel lag jedoch außerhalb in Quantico, Virginia. Dort hatte sie schon die letzten fünf Monate verbracht, um die FBI Academy zu besuchen. Dort lag auch ihr Arbeitsplatz, denn die Behavioral Analysis Unit war in Quantico stationiert. Und Special Agent Libby Whitman gehörte nun dazu.
Sie war aufgeregt. Die ganze Fahrt über hatte sie Herzklopfen, zeigte am Checkpoint vor Quantico ihren FBI-Dienstausweis und wurde durchgelassen. Von dort waren es noch fünf Meilen bis zum FBI-Gebäude, Libby kannte sich dort aus.
Schließlich parkte sie dort und betrat das Hauptgebäude. Sie zeigte auch hier ihren Ausweis und machte sich dann auf den Weg zum Büro der Profiler. Einige Wochen zuvor war sie bereits dort gewesen und erinnerte sich gut daran, wo sie hin musste. Nachdem sie aus dem Aufzug gestiegen war, überquerte sie den Flur und öffnete eine Glastür. Stimmen drangen aus der Kaffeeküche, es saß bereits jemand am Computer.
Für einen Moment überlegte sie, was sie tun sollte, aber als sie Bewegung im Büro von Supervisory Special Agent Nicholas Dormer bemerkte, fasste sie sich ein Herz und durchquerte das Großraumbüro. Die Tür war nur angelehnt, Libby klopfte und wurde gleich hereingebeten. Nick machte ein erfreutes Gesicht, als er sie sah.
„Guten Morgen, wie schön, dass du da bist!“ Sofort stand er auf, ging um seinen Tisch herum und reichte ihr die Hand. Libby lächelte und erwiderte seinen kräftigen Händedruck.
„Auf diesen Tag habe ich lange gewartet“, sagte Nick und bedeutete ihr, sich zu setzen. Libby nahm Platz vor seinem Schreibtisch und beobachtete, wie er einen Safe in seinem Aktenschrank öffnete. Er holte eine Schatulle heraus und überreichte sie Libby.
„Deine Dienstwaffe“, sagte er. Angespannt nahm Libby die Schatulle entgegen und öffnete sie. Eine Glock – genau wie ihre Eltern welche gehabt hatten. Sie lächelte.
„Fühlt sich gut an, oder?“
Sie nickte heftig. „Ich kann kaum glauben, dass ich es wirklich geschafft habe.“
„Oh, ich schon. Ich wusste, dass du das Zeug dazu hast, als du beschlossen hast, es zu versuchen.“
Beinahe ein wenig ehrfürchtig schaute Libby sich in Nicks Büro um. „Wenn ich mir vorstelle, dass meine Mum früher auch hier war …“
„Dein Dad auch. Ich erinnere mich da an ein paar Momente … Ist das lang her. Die beiden müssen sehr stolz auf dich sein.“
„Das sind sie.“
„Machen sie sich Sorgen?“
Libby holte tief Luft. „Ja, aber sie versuchen, damit klarzukommen. Sie wollen mich nicht damit belasten.“
„Nein, das hatte ich auch nicht erwartet.“ Mit einem ermutigenden Lächeln stand Nick auf und sagte: „Komm, gehen wir schon mal in den Besprechungsraum. Gleich ist Teamsitzung, dann stelle ich dich den Kollegen vor. Im Team sprechen wir uns übrigens alle nur mit Vornamen an, das ist hoffentlich okay?“
„Unbedingt.“ Libby nickte und folgte Nick in den Nachbarraum. Es war ein geräumiges Konferenzzimmer mit einem großen Tisch in der Mitte, um den zahlreiche Stühle gruppiert waren. An einer Wand hing ein großer Fernsehbildschirm, in der Mitte des Tisches stand eine Telefonanlage mit Lautsprechern.
„Hier treffen wir uns jeden Montag, wenn wir nicht gerade einen Außeneinsatz haben, und gehen alles durch. Aktuell ermitteln wir gegen einen Serienbrandstifter in Richmond, Virginia. Wir stellen dir den Fall gleich vor, vielleicht hast du ja auch noch die eine oder andere gute Idee.“
„Ich bin gespannt.“
Es klopfte am Türrahmen und eine Frau Anfang vierzig mit langen braunen Haaren zog Nicks und Libbys Aufmerksamkeit auf sich.
„Alex“, sagte Nick und trat zur Seite. „Darf ich dir unsere neue Kollegin vorstellen? Special Agent Libby Whitman.“
„Sehr angenehm! Alexandra Parks, ich bin unser Sprachrohr nach außen. Ich korrespondiere mit FBI- und Polizeidienststellen im ganzen Land und übernehme auch die Kommunikation mit den Medien – Pressemitteilungen und so etwas.“
„Freut mich sehr“, sagte Libby.
„Ich habe schon mit deiner Mutter zusammen gearbeitet, wenn auch nicht sehr lang. Der Apfel fällt also nicht weit vom Stamm?“
Libby grinste. „Ich wollte eigentlich Erziehungswissenschaften studieren, aber jetzt bin ich hier …“
„Freut mich wirklich sehr.“
„Sind die anderen schon da? Könntest du Ihnen Bescheid geben, damit wir anfangen können?“, bat Nick.
„Bin schon unterwegs.“ Alexandra verschwand und während Nick und Libby schon einmal Platz nahmen, trafen nach und nach die anderen Kollegen ein. Erstaunt stellte Libby fest, dass sie einen der männlichen Kollegen kannte. Sie hatte ihn schon einmal in Los Angeles im Profilerteam von Cassandra Williams gesehen.
„Guten Morgen“, begrüßte Nick das Team, als alle Platz genommen hatten. „Heute darf ich euch unsere neue Teamkollegin vorstellen: Special Agent Libby Whitman, frisch von der Academy. Es ist mir eine besondere Freude, sie in unserem Team begrüßen zu dürfen, denn sie ist Sadie Whitmans Tochter. Einige von euch erinnern sich bestimmt an Sadie.“
„Oh, und wie“, sagte ein charismatischer Mann etwa in Nicks Alter und überlegte kurz. „Aber bist du nicht etwas zu alt, um Sadies Tochter zu sein? Sie hatte doch damals noch kein Kind.“
„Stimmt. Sadie und Matt haben mich adoptiert. Das war vor zehn Jahren in Los Angeles. Ich habe die beiden kennengelernt, weil Sadie sich nach meiner Flucht aus der FLDS um mich kümmern sollte.“
Er war sichtlich überrascht. „Du stammst aus dieser Polygamistensekte?“
Libby nickte. „Leider ja. Ich bin mit vierzehn geflohen und habe damals meine Mutter verloren. Mein Vater hat sie getötet, er ist im Gefängnis. So kam ich zu den Whitmans.“
„Wow. Was für eine Geschichte. Das war sicher schwierig für dich.“
„Ach, das ist lange her“, sagte Libby und lächelte.
„Libby hat vor kurzem sogar schon selbst gegen die FLDS ermittelt. Ich kenne sie schon lange und freue mich sehr darüber, dass sie in Sadies Fußstapfen tritt, denn genau wie ihre Mutter hat sie das Zeug zur Profilerin“, sagte Nick. „Sie kannte den Son of the Nightstalker Brian Leigh und hat mit dem kannibalistischen Serienmörder Charles Fletcher in Los Angeles um Sadies Leben verhandelt. Ich stand daneben und habe sie beobachtet, als sie mit ihm gesprochen hat. Libby hat Sadies Wissen und denselben Instinkt, das hat sie auch schon als Polizistin in San José bewiesen. Sie ist zwar noch jung und steht erst am Anfang ihrer Laufbahn, aber davon solltet ihr euch nicht irritieren lassen.“
Der Mann, der zuvor mit Libby gesprochen hatte, nickte anerkennend. „Das will was heißen! Ich erinnere mich gut an deine Mutter, sie war auch so ein Naturtalent. Willkommen in der BAU.“
„Danke.“ Libby lächelte schüchtern.
„Ich bin übrigens Ian Wainsworth. Inzwischen bin ich hier ein Urgestein, ich bin jetzt seit über fünfzehn Jahren dabei. Manchmal ist der Job hart und eine echte Herausforderung, aber ich mache ihn gern. Ursprünglich komme ich aus Florida und ich muss sagen, ich vermisse meine Heimat … Winter sind nicht so mein Ding! Liegt vielleicht auch daran, dass meine Eltern aus Puerto Rico kommen.“
„Sehr zu beneiden“, sagte Libby.
„Ja, nicht wahr?“
„Wollt ihr euch der Reihe nach vorstellen?“, fragte Nick die anderen.
„Belinda Merringer“, meldete sich eine Afroamerikanerin zu Wort, die Libby einige Jahre jünger als Ian schätzte. „Ich erinnere mich auch gut an deine Mutter und fand es immer schade, dass sie uns so bald wieder verlassen hat, auch wenn ich den Grund natürlich verstehen konnte. Ich selbst bin nun auch schon seit über einem Jahrzehnt bei der BAU und habe vorher als Therapeutin gearbeitet.“
Nun ergriff der junge Mann das Wort, der Libby schon zuvor aufgefallen war. „Mein Name ist Dennis Johnson. Wir kennen uns schon aus Los Angeles, dort habe ich einige Jahre als Profiler in Cassandra Williams’ Team gearbeitet. Dort habe ich auch noch kurz mit deiner Mutter zusammen gearbeitet und deshalb freue ich mich sehr, dass wir jetzt Kollegen sind.“
„Was hat dich hierher verschlagen?“, fragte Libby.
„Das war einfach Neugier. Ich wollte mal ein bisschen frischen Wind um die Nase und als hier im Team ein Platz frei war, habe ich mich beworben. Inzwischen habe ich hier auch eine Freundin, wir wollen nächstes Jahr heiraten.“
„Glückwunsch“, sagte Libby.
„Vermisst du Kalifornien?“
„Ein wenig schon, ja. Meine Familie ist dort, aber immerhin hat mein Freund mich begleitet. Er ist Detective in Washington.“
Dennis nickte anerkennend. „Nicht schlecht.“
Als nun Alexandra an der Reihe war, grinste sie und sagte: „Wir haben uns ja schon bekannt gemacht.“
Libby lächelte, dann war der nächste Kollege an der Reihe.
„Mein Name ist David Newport. Ich bin jetzt auch schon seit über zehn Jahren dabei und erinnere mich ebenfalls an deine Mutter. Toll, dass du jetzt bei uns bist.“
„Danke.“
Der letzte Kollege meldete sich zu Wort. „Ich bin Jesse Brooks und seit drei Jahren dabei. Ich kenne deine Mutter bloß von der Academy, dort hat sie mal während meiner Ausbildung über ihren Vater gesprochen. Das war wahnsinnig interessant und daraus habe ich viel mitgenommen. Ich hatte damals großen Respekt vor ihr.“
„Dass ihr alle meine Mum kennt“, sagte Libby verlegen.
„Sie war vielleicht nur ein halbes Jahr in der BAU, aber sie spricht ja regelmäßig in Quantico und durch ihre Fälle ist sie eine unserer renommiertesten Profilerinnen … oder sie war es vielmehr“, sagte Nick. „Ja, wir wissen, wer du bist und ich glaube, ich spreche fürs ganze Team, wenn ich sage, dass wir stolz darauf sind, dich bei uns zu haben.“
„Dankeschön“, sagte Libby erfreut.
„Also dann … Wie weit sind wir mit unserem Profil des Serienbrandstifters in Richmond?“
„So gut wie fertig“, sagte Jesse. „Vielleicht will Libby sich das auch alles ansehen, bevor wir es fertigstellen und Alex alles an die Presse gibt?“
„Unbedingt“, sagte Nick. „Alex, hast du schon etwas Neues für uns?“
„Einige kleinere Fälle, mit denen sich vermutlich auch einzelne Teammitglieder beschäftigen können. Wir haben eine Anfrage von der Polizei in Jacksonville, Florida. Sie haben einen Serienvergewaltiger, von dem sie gern ein Profil hätten. Die Polizei in Durham, North Carolina hat einige Mordfälle, bei denen sie einen Zusammenhang sehen. Das hätten sie gern von uns bestätigt – idealerweise mit einem Profil. Und in Fort Worth, Texas hat die Polizei einen besonders brutalen Mordfall, bei dem sie feststeckt.“
Dormer nickte aufmerksam. „Gut … Belinda, ich hätte gern, dass du dir die Sache aus Jacksonville anschaust. David, du kümmerst dich mit Dennis um die Sache in Durham und Ian kümmert sich mit Alex um die Sache in Fort Worth. Libby, du setzt dich mit Jesse und mir an unseren Brandstifter-Fall in Richmond.“
„Okay“, sagte Libby. Zu diesem Zweck blieb sie mit den beiden Männern sitzen, während die anderen den Raum verließen und sich an die Arbeit machten. Sie wollten sich später noch einmal zusammensetzen, wenn das Profil des Brandstifters fertig war.
„Dann wollen wir mal“, begann Nick. „Libby, ich würde vorschlagen, dass wir dir den Fall erst mal ohne unsere Schlussfolgerungen vorstellen, um dich nicht zu beeinflussen. Was meinst du?“
„Gute Idee“, sagte Libby und nickte.
„Also schön. In Richmond gab es in den letzten drei Monaten sechs verheerende Wohnungsbrände, allesamt Brandstiftungen. Bislang sind fünf Todesopfer zu beklagen – alles alleinstehende Frauen Mitte zwanzig bis Anfang dreißig. Das sechste Opfer ist noch am Leben, hat aber Verbrennungen dritten Grades erlitten und liegt immer noch im Koma. Ob sie überhaupt wieder aufwacht, ist fraglich. Wir haben also noch keinerlei hilfreiche Zeugenaussagen.“ Nick schaltete den großen Bildschirm ein und verband seinen Laptop damit, so dass er Libby die Fallakten nacheinander zeigen konnte.
Der erste Brand hatte Anfang Februar stattgefunden. Nick zeigte Libby Fotos des Opfers und des Tatortes. Alles in der Wohnung war total verkohlt. Das Opfer hatte sich in seinem Schlafzimmer befunden, der Täter hatte die Frau mit Handschellen an ihr Bett gefesselt. An der verkohlten Leiche waren die Handschellen noch erkennbar, sie hatten das Feuer überstanden.
Libby nickte konzentriert, stellte aber noch keine Fragen. Nick zeigte ihr auch die Fotos der anderen Opfer und Tatorte. Die Vorgehensweise war jeweils gleich: Die Frauen starben ans Bett gefesselt. Die Brände waren jeweils gelegt worden, indem der Täter die Möbel im Schlafzimmer mit Benzin übergossen und in Brand gesteckt hatte.
„Hast du Fragen?“, erkundigte Nick sich schließlich.
„Oh ja“, sagte Libby. „Haben die Frauen noch gelebt, als er die Feuer gelegt hat?“
„Jedes Mal, ja.“
„Und er legt das Feuer immer im Schlafzimmer mit dem lebenden Opfer darin? Sind die Frauen bei Bewusstsein?“
„Davon gehen wir aus. Er hat sie geknebelt, an den Leichen waren noch Rückstände zu finden.“
„Wurden die Frauen vergewaltigt?“
„Bei drei der Frauen konnte das nicht mehr geklärt werden, aber bei den anderen fanden sich diesbezüglich keine Hinweise, vor allem nicht bei der Überlebenden.“
„Tragen sie Kleidung?“
Nick schüttelte den Kopf. „Sie sind nackt.“
„Bricht der Täter in die Wohnung ein?“
„Ja, mitten in der Nacht. Es konnten jeweils Einbruchsspuren an Fensterrahmen entdeckt werden.“
Libby schloss kurz die Augen und überlegte. „Gibt es Rauchmelder?“
„Die gab es, aber die hat er immer entfernt oder deaktiviert.“
„Er bricht also in die Wohnungen ein … wann? Nachts, wenn die Frauen schlafen?“
„Ja, die Brände wurden allesamt zwischen zwei und vier Uhr nachts gemeldet.“
„Aber wenn er sie nicht vergewaltigt, will er zumindest dahingehend keine Spuren verwischen.“
„Nein, darum geht es ihm nicht“, stimmte Dormer zu.
„In welchen Abständen finden die Brände statt?“
„Alle zwei bis drei Wochen. Wenn wir danach gehen, haben wir noch etwas über eine Woche, bis er wieder zuschlägt.“
„Und es gibt absolut keine Zeugenaussagen?“
„Nein, nichts. Deshalb hat die Polizei uns auch um Hilfe gebeten. Sie wissen nicht, wo sie anfangen sollen.“
„Ja, glaube ich ihnen. Die Aufklärungsquote bei Brandstiftungen ist ja auch so ermutigend hoch.“
Jesse lachte, als sie das sagte, und als Libby ihn ansah, grinste er sie fröhlich an.
„Ähneln die Frauen einander irgendwie? Was verbindet die Opfer? Hat er sie gezielt ausgewählt?“, überlegte Libby weiter.
Dormer nickte. „Sie sind alle blond, ähnlich alt, ähnlicher Körperbau.“
„Was verbindet sie noch?“
„Sie wohnen alle in einem Umkreis von zwei Meilen.“
„Okay … Brandstifter sind ja meistens männlich und die Opfer sind alle Frauen, also würde ich behaupten, der Täter ist männlich. Ein Weißer … und er ist vermutlich jünger als seine Opfer.“
Dormer nickte. „Das hatten wir genau so festgestellt.“
„Er wird in der Nähe wohnen. Vielleicht sind die Opfer alle in denselben Supermarkt gegangen – er wird sie ausspähen und irgendwann bei ihnen einbrechen, wenn er weiß, dass sie schlafen und das Risiko einer Entdeckung möglichst gering ist. Er dringt in ihr Schlafzimmer ein, fesselt sie ans Bett, knebelt sie und entfernt ihre Kleidung. Er vergewaltigt sie zwar nicht, aber das hat alles etwas Sexuelles. Er entwürdigt sie, er liefert sie den Flammen aus. Wir können nicht ausschließen, dass er irgendwelche sexuellen Handlungen an ihnen vornimmt, oder?“
Nick schüttelte den Kopf. „Nein, da sind wir uns auch noch sehr uneins.“
„Okay … Er hat sie dann nackt ans Bett gefesselt und lässt sie zusehen, wenn er das Benzin auf ihren Möbeln verteilt. Sind es immer nur die Möbel?“
Dormer nickte. „So sagten es uns die Forensiker.“
Libby nahm sich noch einige Tatortfotos vor. In allen Schlafzimmern waren die Möbel auf beiden Seiten der Tür verbrannt und man konnte Rußspuren erkennen, wo Benzin auf den Boden getropft war.
„Er spart die Türen aus, oder?“, fragte Libby.
„Richtig. Da ist nie Benzin.“
„Das würde ja passen.“
„Inwiefern?“
„Er ist ein Pyromane, der fasziniert vom Feuer ist und von der Zerstörung, die es anrichtet. Er ist aber auch sadistisch veranlagt, denn er lässt die Frauen bei lebendigem Leib verbrennen und ich gehe jede Wette ein, dass er in der Tür steht und sich das so lang wie möglich ansieht.“
Jesse tauschte einen Blick mit Nick. „Du hattest Recht.“
„Womit?“
„Dass sie das kann.“
„Ich weiß“, erwiderte Nick trocken. Libby grinste kurz, versuchte aber, sich nicht ablenken zu lassen.
„Es erregt ihn sexuell, sich anzusehen, wie die Frauen qualvoll sterben. Es ist mitten in der Nacht und es dauert, bis die Nachbarn den Brand bemerken und die Feuerwehr rufen. Bis dahin sind die Frauen verbrannt und er ist aus den Wohnungen verschwunden“, fuhr Libby fort.
„So dachten wir uns das ebenfalls.“
Nun richtete Jesse sich direkt an Libby. „Du bist ganz schön schnell.“
„Das Szenario ist nicht alltäglich. Es geht gegen die Frauen, gegen diesen Typ Frau, er will ihnen damit was heimzahlen – oder sie stehen als Stellvertreterinnen für eine andere Frau, die ihn irgendwie geprägt hat. Es geht um eine blonde Frau und es geht um Feuer. Sein Modus Operandi ist speziell, ein Feuer zu legen ist ja auch für ihn nicht ungefährlich. Er könnte sie auch anders töten, aber das will er nicht. Er will sie bei lebendigem Leib verbrennen. Das sagt uns, dass er irgendwann in seinem Leben ein Schlüsselerlebnis mit Feuer hatte.“
„Ganz richtig, genau das glauben wir auch“, sagte Nick.
„Gut, aber was sagt uns das über ihn? Wir müssen ja wissen, wonach die Polizei suchen soll“, überlegte Libby laut. „Ist er vielleicht ein Pyromane?“
„Auf jeden Fall ist er ein Sadist, da waren wir uns auch einig. Wir sind ziemlich sicher, dass er die Frauen beim Sterben beobachtet. Er fesselt sie ans Bett, knebelt sie und nimmt ihnen die Kleidung weg. Da allein haben sie große Angst. Das wird noch schlimmer, wenn er das Benzin verteilt und den Raum in Brand steckt. Es ist ja, als würde er diese Frauen bestrafen wollen“, sagte Jesse.
„Er hat sicherlich pyromanische Züge“, sagte Nick. „Damit, dass er jünger ist als seine Opfer, hast du sicherlich Recht, Libby. Pyromanie hat ihre Wurzeln in der Kindheit und die meisten krankhaften Brandstifter sind männliche junge Erwachsene, perspektivlos, fast die Hälfte von ihnen ist vorbestraft.“
Libby nickte konzentriert. „Die Täter sind oft durch Frustration und Hass motiviert und viele haben eine sehr selbstunsichere Persönlichkeit. Die meisten Täter sind unverheiratet, wenn ich mich recht erinnere.“
„Stimmt. Da vermuten wir einen Knackpunkt.“
„Ja, das würde ich auch annehmen. Dass er die Frauen nackt ans Bett fesselt und sie dort sterben lässt, hat mit Sicherheit etwas Sexuelles.“ Nun zögerte Libby kurz und überlegte.
„Der Täter ist ein junger Mann, vielleicht um die zwanzig, perspektivlos und frustriert. Wahrscheinlich lebt er noch bei seinen Eltern und ich wette mit euch, er ist von einer blonden Frau abgewiesen worden.“
„Denkst du, er kennt eins der Opfer?“
Libby ließ sich Zeit mit der Antwort und schüttelte den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Sie sind Stellvertreterinnen, denn an die Frau, um die es wirklich geht, traut er sich nicht heran.“
„Das haben wir ähnlich gesehen. Und warum ist Feuer sein Mittel der Wahl?“
„Er hatte sicherlich irgendein Schlüsselerlebnis mit Feuer in seiner Kindheit. Kein negatives, sonst würde er das Feuer jetzt nicht zu seinem Lustgewinn einsetzen – und das tut er. Feuer wird ihn in seinem Leben schon eine Weile begleiten. Vielleicht wollte er auch zur Feuerwehr und wurde abgelehnt?“
Jesse nickte anerkennend. „Das hatten wir uns auch überlegt. Pyromanen sind ja nicht selten bei der Feuerwehr, um dort mit Feuer zu tun zu haben und sich als Helden zu profilieren.“
„Wie lautet das Profil denn bis jetzt?“, fragte Nick.
Jesse rief eine Datei am Rechner auf und zeigte sie groß am Bildschirm an.
„Männlicher Weißer im Alter zwischen 18 und 25 Jahren, arbeitslos oder einfacher Hilfsarbeiter, wohnhaft bei seinen Eltern im Norden Richmonds, North Side oder Jackson Ward. Mit hoher Wahrscheinlichkeit leidet der Täter mindestens an einer selbstunsicheren Persönlichkeitsstörung, ist aber zumindest intelligent genug, die Taten rational zu planen und sie so durchzuführen, dass man ihm nicht auf die Schliche kommt. Vermutlich kennt man ihn als ruhigen, unsicheren Menschen, der aber schlagartig explodieren kann, wenn er frustriert oder provoziert wird. Ein gelegentliches aggressives und antisoziales Verhalten ist bei ihm sehr wahrscheinlich. Möglicherweise ist er bereits wegen Brandstiftung, Vandalismus, Diebstahl oder Körperverletzung vorbestraft. Vermutlich hat er sich innerhalb der letzten drei Jahre bei der Feuerwehr beworben und wurde abgelehnt, eventuell wegen seiner Vorstrafen.
Er wählt seine Opfer gezielt aus und kundschaftet sie unauffällig aus. Er wird äußerlich und in seinem Verhalten nicht beunruhigend wirken, vermutlich bemerkt man ihn gar nicht. In der Vergangenheit hat er Zurückweisung durch eine blonde Frau erfahren – entweder wurde er von seiner Freundin verlassen oder eine Frau, für die er sich interessiert hat, hat sein Werben abgelehnt. Er fühlt sich abgehängt und versucht nun, sich durch die Brandstiftungen und die Morde Macht und Bestätigung zu holen. Allerdings ist er so selbstunsicher, dass er die Opfer nicht vergewaltigt, obwohl es definitiv eine sexuelle Komponente gibt.“
„Klingt doch alles sehr schlüssig“, fand Libby.
„Es deckt sich auch mit deinen Gedankengängen“, sagte Nick. „Ja, das klingt alles sehr gut. Ich denke, so können wir das an die Polizei in Richmond weiterleiten.“
Jesse lächelte. „Dann geben wir das gleich mal zu Alex.“
„Ja, klingt prima.“
„Kann ich mir die Unterlagen noch genauer ansehen?“, fragte Libby.
„Sicher, lass dich nicht aufhalten. Du kannst aber auch jederzeit die anderen unterstützen, wenn du möchtest. Schnupper ruhig mal überall rein und mach dich mit unserer Arbeit vertraut.“
„Klasse“, sagte Libby erfreut. Während Jesse und Nick mit Alexandra sprachen und das Profil fertig stellten, studierte Libby noch einmal die Fallakten. Für vieles gab es keine Beweise, weil das Feuer zahlreiche Spuren einfach vernichtet hatte. Dass der Täter in der Tür stand und seinen Opfern beim Sterben zusah, konnten sie nur behaupten, aber nicht beweisen. Libby überlegte noch, ob der Täter sexuelle Handlungen an seinen Opfern vornahm oder nicht, aber beweisen konnten sie auch das nicht und es war auch nur bedingt wichtig für ihr Profil.
Viel wichtiger war jetzt, das Profil an die Öffentlichkeit zu bringen und die Frauen in Richmond zu warnen. Alexandra nahm in die Pressemitteilung den Hinweis auf, dass alleinstehende Frauen ihre Wohnung sichern oder vorübergehend bei jemand anderem übernachten sollten. Blieb nur zu hoffen, dass sie den Täter fanden, bevor er wieder zuschlug. Libby stellte sich die Taten unendlich grausam vor.
In den Fallakten fiel ihr nichts mehr auf, woran sie nicht bereits gedacht hatten. Deshalb ging sie zu den Kollegen und erkundigte sich bei ihnen, wer Hilfe gebrauchen konnte. Als Belinda sie um Unterstützung bat, schluckte sie kurz, sagte aber nichts. Sie war jetzt Profilerin des FBI und sie würde fortan öfter mit Sexualverbrechen konfrontiert werden. Das war kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken – genau deshalb war sie doch hier: Um solchen Tätern das Handwerk zu legen. Sie holte tief Luft, straffte die Schultern und setzte sich zu Belinda.
„Ich hatte keine Ahnung, dass ich hier mit so vielen Menschen konfrontiert werden würde, die meine Mutter kennen“, sagte Libby.
„Ist dir das unangenehm?“, fragte Ian und nahm noch einen Bissen. Sie waren alle gemeinsam in die Kantine gegangen und Libby saß zwischen Nick und Belinda inmitten ihrer neuen Kollegen. Sie alle begegneten ihr mit Freundlichkeit, Offenheit und Neugier.
„Nein, ich hatte nur nicht damit gerechnet. Für mich ist Sadie eben meine Mum, aber ihr kennt sie ganz anders.“
„Sie war damals nur wenig älter als du jetzt, als sie zu uns gekommen ist, aber sie war sehr viel zurückhaltender. Wir haben sie ja noch mit bestehendem Zeugenschutz wegen ihres Vaters kennengelernt und erst etwas später erfahren, dass sie Rick Fosters Tochter ist“, sagte Belinda.
„Habt ihr ihn kennengelernt?“
„Ich habe ihn kennengelernt“, sagte Nick. „Ich war dabei, als er vom SWAT erschossen wurde. Hat er denn noch je eine Rolle gespielt, seit du bei den Whitmans lebst?“
Libby schüttelte den Kopf. „Nein, nicht wirklich. Sie hat mir von ihm erzählt, aber das war’s. Ich weiß, dass meine Eltern eine sehr bewegte Vergangenheit haben, aber sie haben immer versucht, das unter der Oberfläche zu halten.“
„Und wolltest du immer Profilerin werden?“, erkundigte Jesse sich.
„Nein, überhaupt nicht. Das hätte ich mir anfangs nie zugetraut, das kam erst mit der Zeit.“
Noch während Libby das sagte, bemerkte sie, wie Nick sie von der Seite ansah und versuchte, das wachsende Gefühl des Unbehagens nicht zuzulassen. Sie hatte gar keine Ahnung, ob er wusste, warum sie tatsächlich Profilerin geworden war. Hatte Sadie es ihm gesagt? Hatte er sich schlau gemacht? Libby wusste es nicht, aber sie beschloss, ihn zu fragen.
Während des Mittagessens unterhielten sie sich ungezwungen und lernten sich etwas besser kennen. Libby war froh darüber, dass die Kollegen sie so freundlich willkommen hießen. Als sie schließlich nach dem Mittagessen ins Büro zurückkehrten, begleitete Libby Nick noch ein Stück weit bis zu seinem Einzelbüro.
„Darf ich dich etwas fragen?“
„Sicher, komm mit“, erwiderte er und schloss die Tür hinter ihnen, als sie in seinem Büro waren. Libby setzte sich ihm gegenüber und suchte nach Worten. Nick ließ ihr Zeit und sagte nichts.
„Kennst du eigentlich meine Motivation dafür, dass ich Profilerin geworden bin?“, rückte sie schließlich mit der Sprache heraus.
Er nickte gleich. „Ich habe mit deiner Mum darüber gesprochen, als wir wegen der Geiselnahme an deiner Uni in San José waren. Hat sie dir nie davon erzählt?“
„Doch, ich weiß, dass sie mit dir darüber gesprochen hat, was ich werden möchte. Wir hatten nur nie darüber gesprochen, ob sie meinen Sinneswandel auch begründet hat.“
„Ja, das hat sie. Ich habe gefragt und dann hat sie mir davon erzählt. Nur oberflächlich, aber ich weiß es. Ich allein. Das wird hier niemand erfahren, wenn du nicht willst. Auf so etwas achte ich immer. Ich habe damals auch aus der Akte deiner Mutter herausgehalten, wer Sean Taylor war und was er ihr angetan hat. Das war kniffelig und ich musste einigen Leuten deshalb gut zureden, aber ich wollte nicht, dass dieses Drama sie durch ihre ganze Laufbahn hinweg begleitet.“
Libby nickte verstehend. „Danke, Nick. Das ist toll von dir.“
„Das ist selbstverständlich für mich. An deiner Mutter habe ich damals gesehen, dass man solche Erfahrungen nicht unterschätzen darf – in dem Sinne, dass sie auch etwas daraus gezogen hat. Sie hat denselben unbeschreiblichen Instinkt für Serienmörder, den ich bei dir auch vermute.“
„Nur ist bei mir nicht Rick Foster oder Sean Taylor der Grund dafür, sondern Brian Leigh.“
Überrascht zog Nick die Augenbrauen hoch. „Dabei hat Brian dich doch gar nicht dazu bewegt.“
„Nein, sicher … das war die extreme Opfererfahrung bei Ron Hawkins, das stimmt. Bei Brian war ich aber auch eins. Ihn kannte ich sogar ziemlich gut. Ich habe auch Tyler Evans erlebt … Nur weiß ich nicht, wie ich hier damit umgehen soll. Dass alle hier Sadie kennen, ist ziemlich einschüchternd.“
„Ja, aber viele der Kollegen hier kennen sie als die junge, zurückhaltende, beinahe schüchterne Agentin, die sich eher im Hintergrund gehalten hat und furchtbar schwer daran zu tragen hatte, dass ihr Vater ein sadistischer Frauenmörder war. Belinda, Ian, David und Alex haben sie damals erlebt und sie haben auch erlebt, was Sean Taylor getan hat. Im Kopf haben sie nicht die Sadie, die du kennst. Das solltest du vielleicht im Hinterkopf haben, wenn ihr über sie sprecht. Sie haben Sadie bei ihrem Ausscheiden aus unserem Team mit Gips, Prellungen und Schürfwunden gesehen und sie wussten, dass Taylor sie damals beinahe zugrunde gerichtet hat. In Los Angeles wusste aber niemand davon und nur so hatte Sadie die faire Chance auf einen völligen Neuanfang. In deiner Akte steht übrigens auch nicht ein Wort über Ron Hawkins. Über die FLDS steht da genug, ich konnte die Rekrutierungsabteilung ja nicht komplett grillen, aber er taucht nicht auf.“
Libby schluckte hart. „Wow, danke. Das hätte ich nicht gedacht.“
„Ich begreife solche Erlebnisse nicht als Krisen, die den Betreffenden schwächen, sondern als Chance. Deine Mum hat später jeden Killer mit traumwandlerischer Sicherheit in seine Einzelteile zerlegt, treffsichere Profile angefertigt und sie war hinterher eine ausgemachte Verhörspezialistin. Das konnte sie aber nur werden, weil ich dafür gesorgt habe, dass man sie nicht als Opfer abstempelt. Und was das angeht, ähnelst du ihr extrem. Du wandelst diese Erfahrung auch in Energie um und ich glaube, du hast auch den entsprechenden Mann an deiner Seite, der dich da unterstützt und dir den Rücken stärkt.“
Libby lächelte scheu. „Unterschätze nie einen Profiler.“
„Wie kommst du darauf?“
„Du hast ihn doch nur kurz kennengelernt.“
„Ja, aber das reichte mir. Er war hier, deinetwegen, und er ist dir sogar hierher gefolgt, ohne diesbezüglich nach deiner Meinung zu fragen – für dich, ganz ohne Kompromisse. Das hat dein Vater auch immer für deine Mutter getan.“
Libby lächelte. „Ich weiß. Und umgekehrt.“
„Ja, sicher. Haben deine Eltern ihn inzwischen kennengelernt?“
„Ja, vor einer Woche. Sie mögen ihn.“
„Das glaube ich gern. Im Übrigen kannst du jederzeit zu mir kommen und du kannst mich alles fragen.“
„Danke, Nick. Das weiß ich zu schätzen.“
Er lächelte und Libby stand wieder auf, um sein Büro zu verlassen. Sie begab sich nun zu David und Dennis, um ihnen ein wenig über die Schulter zu schauen, und die Zeit verging so rasch, dass Libby überrascht war, als der Feierabend gekommen war.
Gut gelaunt verabschiedete sie sich von den Kollegen, ging zum Auto und machte sich auf den Weg zum Freeway. Während sie in Richtung Washington fuhr, musste sie an Owen denken, der sich jeden Tag durch diesen Stau quälen musste, um zur Arbeit zu kommen. Entsprechend war sie auch nicht überrascht, als sie zuerst zu Hause eintraf.
Inzwischen hatte sie sich in Owens Wohnung gemütlich eingerichtet. Es war nun nicht mehr nur seine Wohnung, sondern ihre gemeinsame. Auf dem Rückflug von San Francisco hatte Libby sogar zusätzliches Gepäck gebucht, um noch einiges von ihren Eltern mitnehmen zu können, was dort zwischengelagert worden war. Seit dem Abschluss der Academy lebte sie nun fest bei Owen und genoss es aus vollen Zügen. Die Wohnung gefiel ihr, sie lag in einer gepflegten, zentralen Gegend und auch, wenn sie nun vergleichsweise früh zusammengezogen waren, lief es ziemlich gut. Owen hatte eine achtsame Art, mit ihr umzugehen und Libby liebte ihn ganz ohne jeden Vorbehalt.
Sie räumte ein wenig auf und hatte gerade begonnen, zu überlegen, was man zu Abend essen konnte, als die Eingangstür aufgeschlossen wurde und Owen die Wohnung betrat. Libby blickte auf und lächelte ihm zu.
„Hey“, begrüßte sie ihn und ging zu ihm. Die beiden umarmten einander, bevor Owen seiner Freundin einen tiefen Kuss schenkte.
„Schön, dich zu sehen. Hattest du einen guten Tag? Wie ist es gelaufen?“, fragte er.
„Sehr gut. Es war toll. Und bei dir?“
„Papierkrieg. Ich habe mich auf meine Aussage vor Gericht morgen vorbereitet. Bei dir war es mit Sicherheit spannender. Erzähl doch mal!“
„Hast du Hunger? Wir könnten uns Sandwiches zum Abendessen machen. Dann erzähle ich dir alles.“
Owen war einverstanden und ging zuerst ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Während Libby bereits alles Nötige aus dem Kühlschrank holte, kehrte er in Sweatshorts und T-Shirt zurück. In diesem T-Shirt sah Libby ihn gern, weil sich darunter die Konturen seiner Muskeln deutlich abzeichneten.
„Sind deine Kollegen nett?“, fragte Owen, während er sich ein Salatblatt auf die Brotscheibe legte.
„So weit ich das bis jetzt sagen kann, sind sie das. Jemand aus dem Profiler-Team aus Los Angeles ist jetzt hier, ich kenne ihn schon. Was aber viel krasser ist: Alle kennen meine Mum.“
„Na, das ist doch nicht so überraschend. Deine Mum ist ja auch wer.“
„Irgendwie war mir das nicht klar. Ich habe vorhin noch mit Nick darüber gesprochen und er hat mir zu verstehen gegeben, dass meine Mum früher ein ganz anderer Mensch war als heute.“
„Echt?“
„Ja … ich kann mir das gar nicht vorstellen, dabei wird es wohl ähnlich sein wie bei mir. Ich habe mich über die Jahre auch sehr verändert.“
Owen lächelte. „Das glaube ich dir.“
„Ich finde es schwer, mir Sadie so vorzustellen. Ich kenne sie so ungemein stark, aber das scheint mal anders gewesen zu sein. Und Nick … er hat sie immer unterstützt. Er hat mir vorhin gesagt, dass es in meiner Personalakte keinen Verweis auf Ron Hawkins gibt, dafür hat er gesorgt. Das hat er damals bei meiner Mum schon ähnlich gemacht.“
Owen nickte anerkennend. „Sehr anständig von ihm. Ich mochte ihn auf Anhieb.“
„Er ist großartig. Mich beschäftigt nur, was er vorhin über meine Mum sagte.“
„Inwiefern?“
Libby holte tief Luft. „Ich habe dir nie von ihrem Bruder erzählt.“
„Welchem Bruder? Ich weiß doch, dass sie einen hatte.“
„Ja, Toby. Sie hatte aber noch einen Bruder, den Pittsburgh Strangler Sean Taylor.“
Owen ließ sein Sandwich sinken. „Taylor war ihr Bruder?“
„Rick Fosters unehelicher Sohn aus einer Affäre, ja. Sadie hatte keine Ahnung, bis er sie gekidnappt hat und …“ Libby zog die Schultern hoch. „Sie hat mir von ihm erzählt. Von dem, was er mit ihr gemacht hat.“
Nach einem Moment des Schweigens murmelte Owen: „Verstehe.“
„Das muss furchtbar gewesen sein. Das ist ja schon lange her, aber meine Kollegen waren damals dabei. Irgendwie ist das seltsam.“
„Kann ich verstehen. Und wieder einmal habe ich eine noch höhere Meinung von deinen Eltern.“
Das entlockte Libby ein Lächeln. „Sie sind ja auch toll.“
Owen lächelte ebenfalls und biss wieder in sein Sandwich. Libby tat es ihm gleich und wollte schon davon erzählen, wie sie an dem Profil des Brandstifters gearbeitet hatte, als Owen unvermittelt sagte: „Jetzt weiß ich auch, warum dein Vater mich gebeten hat, ein Auge auf dich zu haben.“
Libby nickte gleich. „Damit war es ihm wirklich ernst.“
„Ja, ich glaube, ich verstehe das jetzt. Ich dachte bis jetzt immer, deine Mum hätte mit ihrem Vater so viel mitgemacht … aber ich glaube, das war eigentlich ihr Bruder, oder?“
„Das war anders, ja. Ihr Vater war für sie ein gewalttätiger Mistkerl, der seine Familie umgebracht hat, aber Taylor war ein sadistischer Killer, der nichts lieber getan hat, als Frauen in seinem Keller zu foltern.“ Nach kurzem Zögern fügte Libby hinzu: „Stell es dir vor wie bei Cassidy Maxwell – schlimmer.“
„Ja, ich weiß. Ich verstehe.“ Owen schluckte und griff nach ihrer Hand. „Natürlich habe ich ein Auge auf dich.“
Libby lächelte gerührt. „Ich weiß. Danke. Ich habe keine Angst. Im Gegenteil – ich habe heute gemerkt, dass ich richtig in dem Job bin.“
„Wow, das ist doch toll.“
„Ich habe an einem Profil mitgearbeitet, es geht um einen Fall von Serienbrandstiftung und Mord in Richmond.“
„Davon habe ich gehört.“
„Sie haben mir einfach nur die Infos gegeben, die sie von der Polizei hatten und haben mich machen lassen. Das Ergebnis war richtig.“
Owen lächelte. „Gut gemacht.“
„Ich bin gespannt, wie es weitergeht, aber das war schon eine tolle Erfahrung.“
„Das freut mich so für dich.“
Sie erzählte noch ein wenig und nachdem sie noch einige Dinge im Haushalt erledigt hatten, beschlossen sie, den Abend ruhig auf dem Sofa ausklingen zu lassen. Owen wirkte müde und auch Libby war ein wenig nach Faulenzen zumute, deshalb öffneten sie Netflix und gingen ihre Watchlist durch. Während Owen mit der Fernbedienung beschäftigt war, schmiegte Libby sich seitlich an ihn und strich mit den Fingerspitzen über seine Brust. Mit einem Lächeln legte Owen den Arm um sie und küsste sie aufs Haar.
So bedingungslos geliebt und sicher hatte sie sich nie gefühlt, bevor sie ihn kennengelernt hatte. Zufrieden schloss sie die Augen und genoss es, Owens Wärme zu spüren und einfach bei ihm zu sein. Mehr brauchte sie gerade nicht.
„Hast du denn noch was aus Richmond gehört?“, fragte Libby, während sie mit Nick die Teeküche wieder verließ.
„Zuletzt gestern. Seit der Veröffentlichung des Profils am Montag haben sie wirklich zahlreiche Hinweise erhalten, die sie jetzt eingehend prüfen. Das ist leider oft so – wir werden um Rat gebeten und nicht immer halten die Kollegen von der Polizei uns dann bezüglich des Fortschritts auf dem Laufenden. Du kannst aber sicher jederzeit dort nachfragen, wenn du etwas wissen willst.“
„Das würde mich schon interessieren.“
Nick lächelte. „So geht es mir auch bis heute. Ich weiß, ich sollte ein Profi sein, meine Arbeit machen und loslassen, aber das ist leichter gesagt als getan. Manche Kollegen führen Buch über diejenigen, die gerettet werden konnten.“
„Tolle Idee“, fand Libby.
„Manchmal macht es das auch schwerer. Wir sehen so viel in diesem Job … auch Dinge, an die wir nicht erinnert werden möchten. Der Job kann so furchtbar hässlich sein. Ich will ja nicht wieder von deiner Mum anfangen, aber da habe ich auch Bilder im Kopf, die ich lieber vergessen würde.“
„Ja, sicher. Ich muss meinen Weg erst noch finden, glaube ich. Dieser eine Fall in San José ging mir schon so nah, in dem ich mit Owen zusammen gearbeitet habe … Er sagte mir, er findet es auch nicht gesund, wenn man nichts an sich heranlässt.“
„Da hat er Recht.“ Nick lächelte und ging wieder in sein Büro. Libby setzte sich an ihren Schreibtisch, der gegenüber von Jesses Schreibtisch stand. Inzwischen hatte sie sich dort eingerichtet und sie hatte neben ihrem Bildschirm sowohl ein Foto von Owen als auch eins von Matt, Sadie und Hayley stehen, das sämtliche Kollegen schon eingehend bestaunt hatten.
In dieser Woche war sie hauptsächlich damit beschäftigt, den Kollegen über die Schulter zu schauen. Seit sie die Polizei in Richmond beraten und auch in den anderen Fällen Profile angefertigt hatten, lag kein neuer Fall mehr bei ihnen auf dem Tisch. Libby war ganz froh darüber, denn so konnte sie sich alles in Ruhe anschauen und sich in die Arbeit einfinden.
Gemeinsam mit den Kollegen machte sie pünktlich Feierabend und fuhr nach Hause. Unterwegs kam ihr die Idee, erst noch einkaufen zu gehen und sie schrieb Owen auf dem Parkplatz des Supermarktes in Arlington eine Nachricht, in der sie ihn fragte, ob er noch etwas brauchte. Sie war schon mitten im Laden, als sie auf dem Handy überprüfte, ob er geantwortet hatte, aber laut Statusmeldung hatte er die Nachricht noch nicht einmal gelesen. Libby versuchte, ihn anzurufen, doch es meldete sich nur die Mailbox.
Sie setzte den Einkauf fort, versuchte kurz vor der Kasse noch einmal, Owen anzurufen und zahlte schließlich. Nachdem sie alles ins Auto geladen hatte, schaute sie auf die Uhr und wunderte sich. Inzwischen war es schon fast halb sieben und von Owen kam immer noch keine Reaktion.
Vielleicht hatte er einen Fall reinbekommen. Libby beschloss, sich keine Gedanken zu machen, fuhr nach Hause und brachte die Einkäufe ins Haus. Danach versuchte sie erneut, ihren Freund anzurufen, doch wieder hatte sie nur die Mailbox dran. Sie legte auf und schrieb ihm eine Nachricht. Alles okay bei dir? Arbeitest du noch?
Das hatte sie so bei ihm auch noch nicht erlebt. Ihm war doch nichts passiert?
Sofort sprang ihr Kopfkino an. Verbissen versuchte Libby, es abzustellen und sich davon nicht verrückt machen zu lassen. Er war nur bei der Arbeit. Er war Detective, er musste einfach bestimmt länger arbeiten.
Aber hätte er ihr dann nicht Bescheid gegeben?
Sie hatten diese Situation noch nicht gehabt. Libby versuchte, sich damit zu beruhigen, dass er sicher einfach noch keine Gelegenheit gehabt hatte. Es hatte bestimmt nichts zu bedeuten. Es war nur ihr persönliches Problem, dass sie in so etwas gleich den Teufel hineininterpretierte.
Aber so hatte sie es schon erlebt. Dass jemand, der ihr nahe stand, nicht erreichbar war, hatte nie etwas Gutes bedeutet.
Sie überlegte schon, ob sie bei Owen im Büro anrufen und nach ihm fragen sollte, als ihr Handy plötzlich vibrierte und sie eine Nachricht von Owen erhalten hatte.
Sorry, Mordfall kurz vor Feierabend. Bin am Tatort. Melde mich.
Erleichtert atmete Libby auf und sammelte sich kurz, bevor sie antwortete: Danke. Hatte mir schon Sorgen gemacht. Bis später.
Sie wollte nicht kompliziert sein, sie wollte auch nicht wie eine Klette an ihm kleben. Nun hoffte sie auf sein Verständnis.
Es würde also noch etwas dauern, bis er nach Hause kam. Libby machte sich kurzerhand allein etwas zu essen, surfte ein wenig im Internet und überlegte dann, wie sie sich die Zeit vertreiben konnte. Schließlich hatte sie eine Idee und schrieb Julie eine Nachricht. Vielleicht hatte ihre Freundin ja Zeit, zu telefonieren und sie auf den aktuellsten Stand zu bringen.
Als Augenblicke später Antwort kam, rief Libby sie gleich an und hatte Julie auch sofort in der Leitung.
„Hey, ist ja toll, dass du anrufst. War dein Tag auch so verrückt wie meiner?“, erkundigte Julie sich mit ihrem immer noch unüberhörbaren britischen Akzent.
„Nein, verrückt war er eigentlich nicht. Warum, wie war deiner denn?“
„Ach, ich verzweifle hier nur an der ganzen Bürokratie. Wir sitzen zwischen Kartons in einem Apartment ohne Küche und für uns beide geht es in zehn Tagen los. Ob wir bis dahin hier eingerichtet sind? Ich habe meine Zweifel.“
Libby grinste, obwohl sie Julies Frustration durchaus verstehen konnte. Dabei hatte Julie schon Glück gehabt, denn tatsächlich hatte sie eine Doktorandenstelle am Psychologie-Lehrstuhl der New York University ergattert – in der Stadt, in die das FBI ihren Freund Kyle versetzt hatte. Alles war Schlag auf Schlag gekommen: Kyle hatte erfahren, dass er an seinen bevorzugten Einsatzort versetzt wurde und während er schon auf Wohnungssuche gegangen war, hatte Julie ein Vorstellungsgespräch an der NYU gehabt. Mit ihren Referenzen eines britischen Mastertitels in Psychologie und Kriminologie und dem Nachweis, dass sie die FBI Academy absolviert hatte, war sie problemlos in die engere Auswahl gekommen, aber gefolgt war ein echter Krimi: Die Zusage hatte sie drei Tage vor Ablauf ihres Visums erhalten, an einem Donnerstag, und hätte man ihr nicht freitags ein neues Visum ausgestellt, hätte sie trotzdem erst einmal das Land verlassen müssen.
„New York ist bestimmt so cool“, sagte Libby neidisch.
„Sobald das hier nicht mehr aussieht, als wäre eine Bombe eingeschlagen, müsst ihr herkommen. Unbedingt. In Hoboken selbst ist es zwar nicht so richtig aufregend, aber man kann rüber nach Manhattan sehen. Das ist der Hammer, ganz im Ernst.“
„Ich kann es mir vorstellen. Ich meine, ich habe jahrelang in Los Angeles gelebt, aber New York ist einfach viel, viel cooler.“
„Ich bin so froh, dass das letzte Woche mit dem Visum noch geklappt hat. Ich hatte solche Angst! Und überhaupt … ich habe die Stelle. Ich werde forschen und unterrichten. Das ist zwar nicht das, was ich eigentlich machen möchte, aber Ermittlerin in den USA kann ich ja nicht werden, solange ich keinen amerikanischen Pass habe …“
„Ziehst du das wirklich in Erwägung?“
„Das muss ich sehen. Ich wohne ja noch nicht mal seit zwei Wochen mit Kyle zusammen und ja, es ist verdammt weit weg von zu Hause. Ich muss auch demnächst unbedingt noch mal nach London. Aber wenn es mit Kyle gut läuft und ich hier wirklich meinen Doktortitel machen kann – warum nicht? Ich müsste Kyle eben heiraten, damit ich nach drei Jahren Aufenthalt hier einen amerikanischen Pass beantragen kann. Dazu kann ich ja jetzt noch nichts sagen.“
„Nein, das ist klar. Das ist trotzdem alles verdammt aufregend!“
„Ja, da sagst du was … so hatte ich mir das ja gar nicht vorgestellt, als ich hergekommen bin, um zur Academy zu gehen. Meine Eltern wären natürlich nicht traurig, wenn ich zurück nach England gehen würde und da könnte ich auch problemlos arbeiten, aber Kyle eben nicht. Und ich muss ja sagen, dass ich es schon verdammt großartig hier finde.“
„Ich kann diesen Zwiespalt verstehen. Meine Heimat liegt auch knapp dreitausend Meilen und drei Zeitzonen entfernt.“
„Ja, stimmt. Da ist es ja auch ziemlich unerheblich, dass keine Landesgrenzen dazwischen liegen.“
„In dieser Hinsicht schon, aber mir fehlt jetzt natürlich die Bürokratie.“
„Die ist auch wahnsinnig ätzend, das kann ich dir sagen. Da beißt sich die Katze ja auch in den Schwanz: Die Zusage für die Doktorandenstelle habe ich nur unter der Voraussetzung bekommen, dass ich ein Arbeitsvisum hier kriege und das Visum habe ich nur bekommen, weil ich die Zusage hatte.“
Libby lachte. „Ist ja bescheuert.“
„Total, oder? Ich muss mal sehen, wie das mit den Green Cards funktioniert. Selbst da wäre es am sinnvollsten, wenn ich Kyle heirate, denn dann bekäme ich sofort eine.“
„Oh Mann, du Arme. Ist das kompliziert.“
„Ja, leider. Ich musste jetzt noch allerhand Unterlagen fertig machen, einerseits für die Uni und andererseits für das Visum. Das das alles so kompliziert ist! Das kenne ich aus Europa gar nicht, meine Mum ist damals einfach von Deutschland nach England gegangen und dort geblieben.“
„Ja, das ist ziemlich cool in Europa.“
„Mal sehen, wie das alles wird. Am Wochenende müssen wir auf jeden Fall los und noch einiges für die Wohnung besorgen.