Wenn Eltern um ihr Kind trauern - Christa Meuter - E-Book

Wenn Eltern um ihr Kind trauern E-Book

Christa Meuter

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Beschreibung

Christa Meuter gibt mit ihrem Buch Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleitern wie auch anderen Menschen, die trauernden Eltern begegnen, einen Einblick in den Kosmos trauernder Eltern. Die zahlreichen Fallbeispiele öffnen Fenster zur Elterntrauer. Es gibt festhaltende oder loslassende Eltern und beides darf sein. Für manche Eltern ist es gut, weitere Kinder zu haben, für andere ist es gut, keine weiteren Kinder zu haben. Es kann so sein oder genau entgegengesetzt oder alles dazwischen. Ausgewählte Ansätze und damit verbundene nützliche Werkzeuge werden mit Beispielen aus der Trauerbegleitung veranschaulicht. Die Autorin zeigt, dass es für eine gelingende Elterntrauerbegleitung vor allem eine annehmende, offene und positive innere Einstellung braucht. Das Buch macht Mut, sich auf die Begleitung trauernder Eltern einzulassen.

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EDITIONLeidfaden

Hrsg. von Monika Müller

Die Buchreihe Edition Leidfaden ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen im (semi-)professionellen Umgang mit Trauernden.

Christa Meuter

Wenn Eltern umihr Kind trauern

Eine Herausforderung inder Trauerbegleitung

Mit 2 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: © Christa Meuter

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2198-2856

ISBN 978-3-647-99911-1

Inhalt

Vorbemerkung

1Hintergründe

1.1Elterntrauer

1.2Elternsein und Kindsein

1.3Der Tod von »Kindern« in Zahlen

1.4Trauertheorie im Alltag der Trauerbewältigung

Trauern – eine Definition

Traueraufgaben

Das Pendeln in Verhalten und Empfindung

Fortgesetzte und veränderte Bindung statt Loslassen

Resilienz als natürliche Heilkraft und Ressource

Trauern als persönlicher, einzigartiger Weg

Trauern im System

Das Kaleidoskop des Trauerns

2Facetten der Elterntrauer

2.1Elterntrauer und Umstände des Todes

»Hätte ich den Tod verhindern können?«

Tod durch Krankheit versus Tod durch Unfall

Wenn Leben und Tod sich miteinander verbinden

»Ich weiß gar nicht, ob er tot ist«

2.2Elterntrauer und Alter des Kindes

»Wir möchten ein weiteres Kind«

»Meine Söhne waren 42 und 48 als sie starben« – Trauern Eltern älterer Kinder anders?

2.3Elterntrauer und Verlauf des Trauerprozesses

Was tut die Zeit dazu?

»Zuerst war es fast Euphorie« – ein Trauerprozess

Besondere Tage und Ereignisse: Da ist sie wieder, die Trauer!

Ist die Erinnerung das Paradies, aus dem uns niemand vertreiben kann?

Ein weiteres Kind stirbt

Vor 34 Jahren

2.4Elterntrauer und System Familie

Das einzige Kind stirbt – Ist es immer gut, weitere Kinder zu haben?

»Wie geht es deinen Eltern?« – Geschwistertrauer unter erschwerten Bedingungen

»Ich schäme mich so!«

Wenn Eltern aus unterschiedlichen Kulturkreisen kommen

Wenn die Trauer das Leben zusammenhält

Wenn das Eis bricht – Partnerschaft auf dem Prüfstand

2.5Noch weitere Facetten von Elterntrauer

Kämpfen oder annehmen?

Der blaue Kittel oder: »Wo bleibe ich?«

»Ich will auch nicht mehr leben«

Kann der Tod eines Kindes einen Sinn ergeben?

Zeichen des Kindes jenseits des Erklärbaren – Gibt es das?

2.6Gelungene Elterntrauer

2.7Facettenvielfalt

3Möglichkeiten der Begleitung trauernder Eltern

3.1Haltung und Aufgaben in der Trauerbegleitung

»Spiritual Care« und professionelle Nähe

Anforderungen und Aufgabe

3.2Werkzeuge

Aushalten – die Haltung des personzentrierten Ansatzes anhand eines Beispiels

Stärken – zwei Beispiele mit der Haltung des ressourcen-orientierten Ansatzes

Beantworten – die neutrale Zone des Psychodramas und ein Beispiel

Verändern – Fragen als Werkzeug des lösungsorientierten und des systemischen Ansatzes

Verbinden – die Idee der hypnosystemischen Trauerbegleitung und eine Gruppenerfahrung mit einer Imagination

3.3Vertrauen – die Verbindung von Werkzeug und Begleitsituation

3.4Selbstschutz und Selbstpflege

Schlussbemerkung

Literatur

Vorbemerkung

Ich schreibe ein Buch über Elterntrauer.

Vor einiger Zeit fragte mich die Leiterin des Trauerzentrums in unserem Ort, ob es ein Buch gebe, das Trauerbegleitern und Trauerbegleiterinnen einen Einblick in den Kosmos trauernder Eltern geben könne. Ich ging auf die Suche, recherchierte im Internet, fragte im Verein »Leben ohne Dich e. V.«, in dem ich ehrenamtlich tätig bin, und konnte nichts finden.

Gleichzeitig erlebte ich in meiner Arbeit als ehrenamtliche Trauerbegleiterin, dass ich selbst immer mal wieder über »neue« Aspekte in der Elterntrauer stolperte. Meine Tochter war 16 Jahre alt, als sie starb. Es gibt Aspekte, denen ich selbst auf meinem eigenen Weg nicht begegnet war. Aspekte, die für andere trauernde Eltern von großer Bedeutung waren und somit nun auch für mich in meiner Rolle als Trauerbegleiterin. Als ein Elternpaar, das sehr bald nach dem Tod seiner sechsjährigen Tochter zu uns in die Gruppe kam, darüber berichtete, dass es sich wieder ein Baby wünschte, war mir die Bedeutung dieser Bemerkung sofort klar. Das war ein sehr wichtiges Thema. In meinem Kopf bildeten sich sofort viele Fragen. Der Tod der Tochter war erst wenige Monate her. Ist das wirklich gut, sich zu diesem frühen Zeitpunkt auf eine neue Schwangerschaft einzulassen? Kann man sich so schnell auf eine neue Verantwortung und ein neu beginnendes Leben einlassen? Welche Probleme wird das möglicherweise aufwerfen? Welche Rolle, welchen Platz wird das Baby einnehmen? Hat die verstorbene Tochter bereits ihren Platz? Darf ich als Trauerbegleiterin diese Fragen stellen? Was hilft den Eltern in der Auseinandersetzung mit dieser Frage? Es entstanden Fragen über Fragen. Mir persönlich hatte sich diese Frage nie gestellt, da ich bereits fünfzig Jahre alt war, als meine Tochter starb. Auf meinem Weg begegnete ich nicht nur vielen für mich neuen Themen der Elterntrauer, sondern auch ganz besonderen Herausforderungen.

Meine verstorbene Tochter, die zweite von vier Töchtern, war scheinbar kerngesund. An einem Freitagabend, als sie gerade für die Familie ihr neu entdecktes Lieblingsgericht Spaghetti mit Thunfischbolognese kochen wollte, bekam sie starke Kopfschmerzen. Innerhalb von dreißig Minuten fiel sie ins Koma. Zwei ihrer Schwestern waren zu Hause und waren dabei. Mein Mann und ich waren unterwegs. Der herbeigerufene Notdienst und die Ärzte in den Krankenhäusern versuchten alles, um meine Tochter zu retten. Sie öffneten ihren Schädel und schlossen das Aneurysma, das die Ursache für eine starke Gehirnblutung gewesen war. Nach vierzig Tagen, einer zweiten Gehirnblutung und weiteren schweren Operation starb sie. Die Konstruktion in ihrem Kopf, die das Aneurysma schloss, riss ab. Sie durfte im Beisein der ganzen Familie gehen, getragen von unserer Liebe.

Bereits als ich meine Tochter nach ihrer ersten Operation auf der Intensivstation sah, spürte ich, dass ich ein tiefes Urvertrauen besaß. Ich legte alles in Gottes Hand und bat ihn, diesen Weg mit mir zu gehen, denn ich ahnte, dass der Weg schwer werden würde. Ich brauchte Kraft für mich und meine Familie. Oft saß ich am Bett meiner Tochter und sprach mit ihr. Während mein Mann den Hausumbau plante, um eine schwerbehinderte Tochter pflegen zu können, saß ich an ihrem Bett und gab ihr die Erlaubnis, zu gehen. »Wenn es Zeit ist für dich, zu gehen, dann darfst du gehen. Und wenn du bleiben willst, dann kämpfe. Wir schaffen das.« Bis heute habe ich nicht nach dem »Warum« gefragt. Ich habe vertraut.

In der Trauerbegleitung begegnete ich einige Jahre später Eltern, die extrem um das Leben ihres Kindes gekämpft haben. Sie griffen nach jedem Strohhalm, gingen bis an die äußersten Grenzen des medizinisch Machbaren und wollten und konnten bis zur letzten Sekunde nicht loslassen. Sie wollten das Leben ihrer Tochter erhalten, um jeden Preis.

War ich bis dahin in meiner Haltung fest verankert, stand ich plötzlich wieder vor zahlreichen Fragen. Kann man einem kleinen Kind so etwas zumuten? Wie lange kann und soll man sein Kind (fest-)halten? Wann ist es Zeit loszulassen? Hätte ich mehr kämpfen sollen? Ich setzte mich mit diesem Thema und mit meiner Haltung sehr intensiv auseinander.

Im Laufe der Zeit stellte ich fest, dass die persönliche Auseinandersetzung mit möglichen Themen und Haltungen eine gute Vorbereitung auf die Begleitung trauernder Eltern ist. Wir Menschen sind Individuen, wir haben unsere eigene Persönlichkeit und unsere ureigene Haltung, und wir leben unsere eigene Lebenswirklichkeit. Manche Fragen stellen wir (uns) einfach deshalb nicht, weil wir nicht einmal auf die Idee kommen, dass sie eine Bedeutung für unser Gegenüber haben könnten, weil sie keine Bedeutung für uns selbst haben.

Liebe Leserinnen, liebe Leser, in diesem Buch möchte ich Ihnen deshalb einige Facetten der Elterntrauer nahebringen. Sie werden erzählt von Eltern, die um ein Kind trauern, und von Trauerbegleiterinnen1, die im Rahmen der Begleitung von Eltern darauf gestoßen sind, so wie ich.

Das Buch möge viele Denkanstöße für Sie liefern, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu haben, denn allein der Lichtstrahl auf eine Facette lässt sie bereits wieder in einer anderen Farbe erscheinen.

 

1Im Text werden in zufälliger Folge männliche und weibliche Formen verwendet.

1Hintergründe

1.1Elterntrauer

Die Themen Sterben, Tod und Trauer halten langsam, aber sicher wieder Einzug in unser Leben. Sie gehören zum Leben dazu. Sichtbar wird dies darin, dass Hospize entstehen, ambulante Hospizdienste sterbenden und trauernden Menschen ihre Hilfen anbieten und diese Hilfen auch zunehmend und dankbar in Anspruch genommen werden. Auch die Bestattungskultur ist im Wandel. Bestattungen werden individueller, die Wünsche der Angehörigen werden gesehen, gehört und umgesetzt. Es gibt vielerlei Veranstaltungen zu Themen wie Vorsorge, Patientenverfügung und Bestattungsvorsorge. Viele Menschen erzählen in Büchern ihre Geschichten und über ihre Erfahrungen mit dem Sterben, dem Tod und der Trauer. Es gibt Trauerberatungen, Trauerbegleitungen einzeln und in Gruppen, und es gibt Selbsthilfegruppen, die trauernden Menschen den Austausch anbieten, den sie so dringend brauchen.

Es gibt eine Vielfalt an Fachliteratur im Bereich zu Trauertheorie und vielen Themen der Trauer. Wer möchte, kann sich umfassend informieren. Es gibt umfassende und qualifizierte Ausbildungsgänge für die Trauerbegleitung von Erwachsenen, Familien, Kindern und Jugendlichen. Es gibt Fortbildungen zu zahlreichen Themen im Hinblick auf Trauer, etwa zu Trauer bei Demenz, Trauer nach Suizid, Humor in der Trauer etc.

Wenn der Fachliteratur nun ein weiterer Beitrag hinzugefügt wird, so hat dies im Wesentlichen zwei Gründe: Diese Vielfalt und die Entwicklungen bedeuten nicht, dass Tod und Trauer in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen sind. Wir sind erst dem Ziel nahe, wenn die Trauer wieder eine Kultur hat und zu einer Kultur geworden ist, wenn wir den Tod, der uns unweigerlich im Leben begegnen wird, annehmen können, wenn wir Trauer leben können und wenn wir letztendlich selbst in Frieden mit uns und dem Leben sterben können. Dazu soll dieses Buch einen kleinen Beitrag leisten, indem es die Fenster der Elterntrauer öffnet.

Darüber hinaus hat jede Trauersituation ihre spezifischen Eigenheiten und Herausforderungen. Ähnlich wie im Bereich Tod durch Suizid oder Tod kurz vor, während oder nach der Geburt ist der Tod eines Kindes ein eigenes Thema. Beim Tod durch Suizid ist unter anderem die Frage nach der Schuld ein zentrales Anliegen bei der Trauerbewältigung. Selten ist es die reale Schuld, sondern die gefühlte Schuld, die Hinterbliebene enorm quält. Beim Tod vor der Geburt, während oder kurz danach belastet die Eltern die Tatsache, dass das Kind nicht gelebt hat, (fast) niemand es kennengelernt hat und man selbst keine Erinnerungen an ein gelebtes Leben mit diesem Menschen hat. Diese zentrale Auseinandersetzung ist ein wichtiger Bestandteil bei der Bearbeitung der Trauer um Neu- oder Totgeborene.

Wenn Eltern um ein Kind trauern, das gelebt hat, dann ist für viele Väter und Mütter der Kreislauf des Lebens auf den Kopf gestellt. Die Reihenfolge ist nicht eingehalten worden. Darauf ist man nicht vorbereitet. Mit dem Tod der Eltern verliert man die Vergangenheit, mit dem Tod des Partners die Gegenwart, aber mit dem Tod des Kindes die Zukunft. In Kindern ist das Vermächtnis des Lebens lebendig. Dafür lebe ich, arbeite ich, und ich möchte ihnen so gut es geht den Weg bereiten. Das ist für viele Jahre, für die Jahre des Heranwachsens, der Lebensinhalt vieler Eltern. Im Moment des Todes unseres Kindes bricht diese Welt zusammen. Diese Situation erfordert in vielerlei Hinsicht eine Neuorientierung. Wir müssen nicht nur den Tod verkraften und betrauern, sondern auch unsere Ziele neu finden und definieren.

Weitere wichtige Themenbereiche der Elterntrauer sind die häufig unterschiedliche Art und Weise der Trauer von Mann und Frau in der Partnerschaft oder die Scham der Eltern, wenn ein minderjähriges Kind, das noch unter ihrer Aufsichtspflicht steht, verunfallt.

Gemeinsam haben diese Themen, dass es Trauerbegleitern oft schwerfällt, sich auf eine Begegnung mit so tief trauernden Menschen einzulassen. Verlust durch Suizid, ein Baby zu verlieren oder der Tod eines Kindes berührt unsere eigenen Existenzängste sehr tief. Eine erfahrene Trauerbegleiterin erzählte, dass sie sich selbst die Begleitung trauernder Eltern nicht zugetraut hätte, bis ihre eigenen Kinder erwachsen waren. Die Not der Eltern hätte sie so tief berührt, dass sie die nötige Distanz nicht hätte halten können. Erst danach war es ihr möglich. Dies zeigt, dass es umso schwieriger wird, einen Menschen zu begleiten, je tiefer die Trauersituation uns und unsere Lebenssituation berührt.

Dieses Buch möchte den Blick nach innen ermöglichen, einen Blick auf die Trauer von Eltern, indem es Geschichten trauernder Eltern in Aspekten erzählt. Welchen Themen und Aspekten könnten wir begegnen, wenn wir trauernde Eltern begleiten? Worauf können wir uns und unsere Empfindsamkeit vielleicht vorbereiten? Trauernde Eltern jedenfalls wünschen sich sehr, dass Menschen sie nach ihrer Trauer und ihrem Kind fragen.

1.2Elternsein und Kindsein

»Elternschaft bezeichnet die Rolle eines Elters für sein Kind. Sie bezeichnet also gleichermaßen Vater- wie Mutterschaft« (Wikipedia-Artikel »Elternschaft«). Elternschaft kann biologisch, rechtlich und sozial entstehen und betrachtet werden. Die biologische Elternschaft entsteht durch Zeugung und Geburt eines Kindes. Ist ein Kind durch Samen- oder Eizellenspende entstanden, entsteht die Elternschaft durch die rechtlichen Bestimmungen. Auch die Adoption eines Kindes entsteht durch gesetzliche Regelungen. Durch die langfristige Übernahme der sozialen Verantwortung und die Zuwendung zu einem Kind entsteht soziale Elternschaft. Dies ist zum Beispiel bei Pflegekindern der Fall oder wenn Mütter oder Väter nach einer Trennung vom (Ehe-)Partner oder nach dem Tod eines Elternteils eine neue Partnerschaft eingehen. Die sorgenden Personen werden oft von den Kindern »Mama« und »Papa« genannt, obwohl sie biologisch und/oder rechtlich nicht deren Eltern sind. Dieser Hinweis ist von großer Bedeutung, denn wenn Kinder den Platz in unserem Herzen besetzen und wir sie lieben, dann ist es unwichtig, ob wir sie gezeugt und geboren haben. Wenn diese Kinder sterben, dann trauern wir um »unser« Kind.

In der Arbeit mit trauernden Eltern erlebe ich immer wieder, dass die Frage nach der Elternschaft eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Eltern in diesem Buch sind immer Eltern im biologischen, rechtlichen oder sozialen Sinne.

Eltern bleiben wir lebenslang. Auch wenn ich neunzig Jahre alt bin und meine Tochter im Alter von 65 Jahren vor mir stirbt, dann ist das mein Kind, das gestorben ist. Jeder Mensch als Nachkomme eines anderen Menschen ist also immer auch ein Kind. Entwicklungspsychologisch ist man Kind bis zur geschlechtlichen Entwicklung, dem Beginn der Pubertät. Rechtlich betrachtet endet die Kindheit mit 14 Jahren. Jugendlicher ist, wer das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Erwachsener ist, wer 18 Jahre und älter ist.

Für Kinder, von denen ich in diesem Buch spreche, gibt es keine altersmäßige Begrenzung nach oben. Es sind auch die Kinder, die nicht leben durften. Es sind alle Kinder, deren Tod Eltern betrauern, unabhängig von ihrem Alter und dem Elternstatus.

1.3Der Tod von »Kindern« in Zahlen

Nach den letzten verfügbaren Zahlen des Statistischen Bundesamtes (2017) starben im Jahre 2015 in Deutschland 3442 Kinder im Alter von null bis 15 Jahren, 2524 Kinder in der Altersgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen bis 25 Jahre sowie 4853 junge Erwachsene bis 35 Jahre. Tabelle 1 zeigt die Anzahl der verstorbenen Kinder sowie die Todesursachen in übersichtlicher Form. Die Werte sind gerundet.

Tabelle 1: Anzahl der verstorbenen Kinder und Todesursachen

Vergleichsweise hoch ist die Anzahl der Todesfälle in der Gruppe jünger als ein Jahr. In dieser Gruppe starben 2405 Kinder, davon 2152 Kinder durch perinatale Umstände oder angeborene Fehlbildungen und nicht klassifizierte Symptome. Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes berücksichtigen dabei nicht die bereits in der Schwangerschaft verstorbenen Kinder durch Fehl- oder Frühgeburten.

Durchschnittlich starben also in Deutschland im Jahr 2015 täglich 16 Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene bis zum Alter von 25 Jahren. Bezieht man die jungen Erwachsenen bis 35 Jahre mit ein, so sterben täglich etwa dreißig junge Menschen.

1.4Trauertheorie im Alltag der Trauerbewältigung

Literatur über Trauer, Traueraufgaben, Trauermodelle und über Trauerberatung und -begleitung gibt es ausreichend. Wer bereits Trauerbegleiter/-in ist oder sich in der Ausbildung dazu befindet – an diese Menschen richtet sich das Buch in erster Linie –, hat sich in seiner Ausbildung bereits intensiv damit auseinandergesetzt oder tut es gerade. Menschen, die dieses Buch lesen, weil sie im Beruf trauernden Eltern begegnen oder weil sie Eltern kennen, die gerade akut trauern, oder andere interessierte Menschen haben dieses Wissen vielleicht nicht.

Welche Rolle spielt die Trauertheorie beziehungsweise die Auseinandersetzung damit für die Facetten der Elterntrauer? Könnte sie hilfreich sein? Zunächst folgen einige Erläuterungen zum Begriff der Trauer. An die Definition der Trauer schließen sich einige Ausführungen zu wichtigen Teilaspekten der Trauer an, die in Tabelle 2 in übersichtlicher Form dargestellt sind. Ein Blick auf diese Aspekte der Trauer ermöglicht eine erste vertiefende Auseinandersetzung mit den Fragestellungen, die hinter dem Begriff der Trauer stehen.

Vor welcher Herausforderung stehen Trauernde? Wie trauern sie und wie nehmen wir ihre Trauer wahr? Was ist das Ziel im Trauerprozess? Was ist das Fundament, auf dem Trauer stattfinden kann? Wie können wir die Trauer und den Trauerprozess charakterisieren? In welchem Kontext findet Trauer statt?

Auf diese Weise soll ein erstes Bild kreiert und ein erstes Einfühlen in die Komplexität der Trauer ermöglicht werden, wie sie sich für trauernde Eltern und alle trauernden Menschen darstellt. Erläuterungen zum Kaleidoskop des Trauerns runden dieses Bild ab.

Tabelle 2: Aspekte der Trauer

Aspekt der Trauer

Theoretischer Hintergrund

Die Herausforderung der Trauer

Die Traueraufgaben (Worden, Paul)

Die Art und Weise des Trauerns

Das Pendeln in Verhalten und Empfindung (Stroebe, Schut)

Die Zielsetzung für Trauernde

Fortgesetzte und veränderte Bindungen (Klaas, Kachler)

Das Fundament der Trauernden

Resilienz und Ressourcen (Bonanno)

Die Charakteristik der Trauer und des Trauerprozesses

Die Individualität (Rogers, Backhaus)

Der Kontext, in dem Trauer stattfindet

Trauern im System (Rechenberg-Winter, Fischinger)

Im dritten Kapitel, bei den Möglichkeiten der Begleitung trauernder Eltern, nimmt das Buch diesen Faden wieder auf, um Werkzeuge für die Trauerbegleitung anhand von Beispielen darzustellen.

Trauern – eine Definition

Trauer ist die natürliche und notwendige Reaktion auf einen schweren Verlust. Sie ist eine natürliche Reaktion, die wir nicht steuern können. Die aufbrechenden Emotionen entstehen in unserem Inneren, weil wir etwas verloren haben, das wir geliebt haben. Darüber haben wir keine Kontrolle.

Eine Mutter hat die aufbrechende Trauer so erlebt: »Es war wie ein Tsunami, der von hinten über mich hinweggerollt ist, als ich an einem schönen Strand stand. Ich wurde von der Welle einfach mitgerissen und umhergewirbelt in den Tiefen des Wassers. Ich hatte keinen Boden mehr unter den Füßen.«

Wir stehen vor der Tatsache, dass unser Kind nicht mehr wiederkommen wird. Wir sind machtlos und handlungsunfähig. Alles Handeln, Denken und Wünschen bringt uns unser Kind nicht wieder zurück. Mit ihrem Kind verlieren Eltern gleichzeitig das Leben mit ihm; nichts wird mehr so sein, wie es vorher war. Und sie verlieren die Perspektiven, die sie für sein zukünftiges Leben und damit auch für ihre Zukunft mit diesem Kind verknüpft hatten. Warum bloß ist das passiert?

Trauer ist eine notwenige Reaktion, die hilft, den Verlust zu überleben. Trauernde Eltern müssen begreifen, dass ihr Kind gestorben ist. Sie müssen erkennen und annehmen, dass ihre Liebe kein Gegenüber mehr hat, das sie in den Arm nehmen können. Sie müssen ihren Alltag und ihr Leben neu ordnen. Sie müssen einen neuen Sinn finden für ein Leben ohne dieses Kind. Und sie müssen einen neuen Platz finden, an dem ihr Kind sein darf, an dem die Liebe sein darf. Sie müssen sich ganz neu ausrichten.

Trauern ist eine Chance, einen Reifungsprozess zu vollziehen, an dessen Ende ein sinnerfülltes weiteres Leben möglich ist. Die Trauer wird bleiben, aber sie wird sich verändern und in einen anderen »Aggregatzustand« übergehen. So wie es auch mit der Liebe zum verstorbenen Kind geschieht. Leben und Tod gehören zusammen und die Trauer ist gemeinsam mit der Liebe die Brücke zwischen beiden.

Traueraufgaben

Vor welcher Herausforderung stehen trauernde Eltern, was liegt vor ihnen? Das Denken und Einordnen von Traueraspekten in Trauerphasen ist heute lange überholt. Die Berichte und die Erfahrungen trauender Menschen zeigten, dass die Aspekte der Trauer durchaus richtig benannt wurden, das Erleben der Trauernden aber anders war. Sie erlebten keine Phasen, die nacheinander folgten. Sie erlebten nicht das Ende der Trauer, nachdem sie alle Phasen durchlebt hatten. Und sie sträubten sich vehement dagegen, dass man den Verstorbenen loslassen müsse.

Die heutigen Trauermodelle sehen im Trauerprozess Aufgaben, die es zu bewältigen gilt. Das Trauermodell von Worden (2011) beschreibt diese Aufgaben sehr umfassend:

•den Verlust als Realität akzeptieren,

•die Vielfalt der Gefühle zulassen und erleben,