Wenn es ernst wird - Ralf Jox - E-Book

Wenn es ernst wird E-Book

Ralf Jox

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Beschreibung

Irgendwann kommen wir alle in eine Situation, in der wir schwierige Entscheidungen über unsere eigene Gesundheit, die von Angehörigen oder Freunden treffen müssen. Wir müssen dann die richtigen Fragen stellen und Verantwortung übernehmen – ob es sich um den Schlaganfall der Mutter, eine künstliche Befruchtung, den Wunsch eines Kindes nach geschlechtlicher Veränderung, um Organspende oder das Lebensende handelt. Die beiden Medizinethiker Ralf Jox (rechts) und Rouven Porz geben unverzichtbare Orientierung in einem komplizierten Bereich, der viele Menschen zunehmend überfordert. Die Medizin heutiger Tage kann unheimlich viel. Sie kann Menschen retten, die früher gestorben wären. Sie kann Pandemien bekämpfen und mit Künstlicher Intelligenz Krankheiten aufspüren, für die es noch nicht einmal Namen gibt. Sie kann uns das Sterben erleichtern und sogar nach dem Tod noch allerhand mit unseren Körpern anfangen. Aber wollen wir das alles? Und vor allem: Sollen wir all das tun, was wir tun könnten? Dies sind nicht nur gesellschaftliche Fragen. Jede und jeder von uns ist ganz persönlich davon betroffen. Mehrfach im Leben müssen wir schwierige gesundheitliche Entscheidungen treffen - über uns selbst, über unsere Angehörigen. Zuweilen geht es gar um leben und Tod. Spätestens dann fragen wir uns: Wie kann ich mich bei diesen verwirrenden Fragen orientieren? Und wie kann ich selbst die richtigen Fragen stellen – an die Ärzte und Pflegenden, im Austausch mit dem Partner und mit Angehörigen, an mich selbst? Mit welcher Entscheidung werde ich später leben können? Wer kann mich bei solchen Lebensentscheidungen unterstützen? Wie kann ich Klarheit gewinnen? Genau hier setzt dieses Buch an. Es will Ihnen als Leserinnen und Lesern helfen, über diese Fragen nachzudenken, sie zu formulieren und für sich selbst Orientierung zu finden.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Titel

Ralf Jox • Rouven Porz

Wenn es ernst wird

Lebensentscheidungen von Kinderwunsch bis Sterbehilfe

C.H.Beck

Übersicht

Cover

Inhalt

Textbeginn

Inhalt

Titel

Inhalt

Widmung

Vorwort

1. Selbst entscheiden – wieso wir alle herausgefordert sind

Wie wir die Medizin sehen

Wieso braucht es in der Medizin Ethik?

Ärztlicher Paternalismus ist passé

Selbst bestimmen ist gefragt

Moralismus als Holzweg

Unbehagen, Problem, Dilemma

Wie wir als klinische Ethiker arbeiten

Zusammenfassung

2. Jenseits von Sex – Zeugung und mehr

Die Ära der Retortenbabys

Recht auf ein Kind?

Das Wunschkind

Dr. Mendel 3.0

Letzter Ausweg Fetozid?

Ausgewählt oder aussortiert?

Embryo: Zellhaufen oder Mensch?

Zusammenfassung

3. Eine schwierige Geburt

Geburt und Sterblichkeit

Zwischen Natürlichkeit und Medikalisierung

Gebären heute und morgen

Ungewissheiten bei Neugeborenen und Säuglingen

Größte Sorgen um die Kleinsten

Wie Eltern ihre Kinder vertreten

Zusammenfassung

4. Die Sorgen der Sorgeberechtigten

Wo endet elterliches Ermessen?

Wenn Kinder allmählich mitentscheiden können

Was heißt eigentlich einwilligungsfähig?

Sich entwickeln heißt sich verletzlich machen

Unsere Kinder in der Welt der neuen Technologien

Wenn die Sorgeberechtigten selbst zur Sorge werden

Zusammenfassung

5. Von Identitäten und Irritationen

Was bin ich und wer bin ich?

Identitätssuche und Körper

Identitätssuche und Familienplanung

Familienplanung andersherum: Verhütung und Sterilisierung

Identität und ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit

Zusammenfassung

6. Wenn der Geist verrücktspielt

Das 21. Jahrhundert, die Epoche der psychischen Krankheiten?

Psychische Krankheiten: eine Einbahnstraße?

Wer ist hier eigentlich gestört, das Individuum oder die Gesellschaft?

Psychiatrie ohne Zwangsjacke?

Psychisch Kranke: Nur selten Täter, oft Opfer

Auch in der Psychiatrie gibt es Patientenverfügungen

Palliative Psychiatrie

Zusammenfassung

7. Wer hat Angst vor künstlicher Intelligenz?

Auch die Medizin will künstlich intelligent sein

Kann sich ein Computer entschuldigen?

Bloß ein Werkzeug oder ein echtes Gegenüber?

Existenzielle Tiefendimensionen

Und wenn die Ethik selbst künstlich intelligent wird?

Zusammenfassung

8. Corona und mehr – was heißt eigentlich gerecht?

Ein neues Zeitalter

Neue Wörter braucht das Land

Wer nennt mich vulnerabel?

Haarige Haustiere und nackte Ehemänner

Ideale der Gerechtigkeit

Wir haben nicht genug für alle

Zusammenfassung

9. Die tausend Gesichter des Alters

Was heißt heute schon Alter?

Den alten Menschen eine Stimme geben

Vulnerable Menschen in der Leistungsmedizin

Einen alten Baum verpflanzt man nicht, oder?

Die schöne neue Welt der Gerontotechnologie

Vielfalt in der Gemeinschaftseinrichtung: ein Dilemma?

Das Schwerste: den mutmaßlichen Willen ergründen

Zusammenfassung

10. Wenn der Vorhang fällt

Geräte abschalten, auch auf der Intensivstation?

Des Guten zu viel? Übertherapie am Lebensende

Unser Leitfaden für ethische Gespräche

Das Ende selbst in die Hand nehmen

Schlafen legen, bis Schlafes Bruder kommt?

Sterbefasten – eine sanftere Form des Suizids?

Zusammenfassung

11. Nach dem Tod geht es weiter

Ein gutes Herz

Organe verteilen

Zustimmen oder widersprechen?

Die eigene Identität erzählen

Von Soldaten und Spermien

Unsterbliche Zellen

Überleben uns die digitalen Zwillinge?

Zusammenfassung

12. Ethikkompetenz für die Medizin von morgen

Die Medizin von morgen? Jedenfalls anders

Klinische Ethik, ein Beruf mit Zukunft

Gute Entscheidungen treffen

Eigene Werte bedenken

Nicht zu schnell urteilen

Eigene Vorurteile erkennen

Zusammenfassung

Weiterführende Literatur:

Kapitel 1:

Kapitel 2:

Kapitel 3:

Kapitel 4:

Kapitel 5:

Kapitel 6:

Kapitel 7:

Kapitel 8:

Kapitel 9:

Kapitel 10:

Kapitel 11:

Kapitel 12:

Verzeichnis der Fallbeispiele:

Verzeichnis der Info-Boxen:

Zum Buch

Vita

Impressum

Widmung

Für Jakob, Julia und Bernadette

Vorwort

Die Medizin heutiger Tage kann unheimlich viel. Sie kann Menschen retten, die früher gestorben wären. Sie kann Babys auf die Welt bringen, die früher nicht geboren worden wären. Sie kann Pandemien bekämpfen und mit Künstlicher Intelligenz Krankheiten aufspüren, für die es noch nicht einmal Namen gibt. Sie kann uns jünger erscheinen lassen, als wir sind, kann uns das Sterben erleichtern und sogar nach dem Tod noch allerhand mit unseren Körpern anfangen. Aber wollen wir das alles? Und vor allem: Sollen wir all das tun, was wir tun könnten?

Dies sind nicht nur gesellschaftliche Fragen. Jede und jeder von uns ist ganz persönlich davon betroffen. Mehrfach im Leben müssen wir schwierige gesundheitliche Entscheidungen treffen − über uns selbst, aber auch über unsere Angehörigen. Zuweilen geht es gar um Leben und Tod. Spätestens dann fragen wir uns: Wie kann ich mich bei diesen verwirrenden Fragen orientieren? Und wie kann ich selbst die richtigen Fragen stellen – an die Ärzte und Pflegenden, im Austausch mit dem Partner und mit Angehörigen, an mich selbst? Mit welcher Entscheidung werde ich später leben können? Wer kann mich bei solchen Lebensentscheidungen wie Kinderwunsch und Sterbehilfe unterstützen? Wie kann ich Klarheit gewinnen?

Genau hier setzt dieses Buch an. Es will Ihnen als Leserinnen und Lesern helfen, über diese Fragen nachzudenken, sie zu formulieren und für sich selbst Orientierung zu finden. Aber dabei sind Sie nicht allein. Denn noch ein Zweites wollen wir mit diesem Buch: Ihnen eine wenig bekannte Berufsgruppe vorstellen, die in solchen Fragen Unterstützung anbietet, die klinischen Ethikerinnen und Ethiker. Wir selbst gehören dazu! Wir arbeiten an den Universitätskliniken Lausanne und Bern in der Schweiz und helfen dort Fachpersonen, Patienten und Angehörigen, wenn sie vor ethisch schwierigen Entscheidungen stehen.

Um Ihnen das nahezubringen, sind alle Kapitel mit konkreten Fallbeispielen angereichert, auf der Basis realer Geschichten, aber anonymisiert, verfremdet und mit Phantasienamen, so dass niemand erkennbar ist. Die Fälle dienen als Ausgangspunkte, um über zentrale Lebensentscheidungen nachzudenken und Ihnen als Lesende gedankliche, aber auch ganz praktische Werkzeuge an die Hand zu geben. Dabei streuen wir zuweilen auch Exkurse über zentrale Begriffe und theoretische Konzepte ein, die wir jeweils in Info-Boxen verpacken.

Zwar gründen unsere Ausführungen nicht nur in unserer praktischen Erfahrung, sondern auch in unserer Kenntnis der wissenschaftlichen Fachliteratur, doch wir haben davon abgesehen, mit detaillierten Literaturverweisen zu arbeiten. Stattdessen finden Sie am Ende des Buches zu jedem Kapitel ein paar Literaturempfehlungen, die Ihnen eine Vertiefung der behandelten Themen ermöglichen sollen. Die Lektüre soll leicht von der Hand gehen. Die einzelnen Kapitel können unabhängig voneinander gelesen werden, sind in sich abgeschlossen und enden jeweils mit einer Zusammenfassung.

Die Reihenfolge der Kapitel im Buch haben wir so angeordnet, dass wir tendenziell entlang des Lebenslaufs vorgehen, mit Themen des Lebensanfangs beginnen und uns dann Richtung Lebensende bewegen. Aber Sie werden sehen: Die ethischen Fragen beginnen schon vor dem Lebensanfang und hören mit dem Lebensende nicht auf. Ethische Fragen der Medizintechnik und der Public Health streifen wir, aber die Ethik medizinischer Forschung klammern wir aus. Und überhaupt kann und will dieses Buch kein erschöpfendes Kompendium der Medizinethik sein, sondern nur Schlaglichter auf die zentralen Fragen werfen.

Wir hoffen, Sie als Leserinnen und Leser zu unterhalten, hin und wieder auch aufzurütteln, vor allem aber zum Weiterdenken anzuregen. Denn Ethikerinnen und Ethiker sind Sie alle, sobald Sie sich fragen, warum Sie in werthaltigen Fragen so und nicht anders handeln sollen, sobald Sie nach Gründen für Ihre Entscheidungen suchen.

Wie Sie sehen, wurde dieses Buch von uns als Autorenduo verfasst. Zwar hat der eine jeweils ein Kapitel entworfen, doch der andere hat dieses dann gründlich bearbeitet, ergänzt, korrigiert und weitergeführt. Das war gar nicht ganz einfach, aber bewusst gewählt. Denn die Ethik verwirklicht sich am besten im Dialog. Natürlich kann man auch allein über diese Fragen nachgrübeln, aber im Austausch miteinander kommt man auf neue Ideen und Unvorhergesehenes. Ethik hat viel damit zu tun, den Blickwinkel des anderen einzunehmen, verschiedene Perspektiven zusammenzuführen. In diesem Sinne sind unsere Texte im Dialog entstanden, und jeder von uns beiden hat viel dazugelernt.

Die Idee zu diesem Buch hatten wir schon lange. Kaum jemand kennt unseren Beruf, nicht selten müssen wir erklären, was wir eigentlich tun und wie wir arbeiten. Doch den endgültigen Anstoß verdanken wir unseren Kindern, als sie von der Schule nach Hause kommend meinten: «Papa, wir haben heute über die Berufe der Eltern geredet. Sag mal, was machst du eigentlich den ganzen Tag? Wie nennt man deinen Job? Was macht denn ein klinischer Ethiker?»

Damit sind wir beim Dank angelangt, denn dieses Buch verdankt sich einer Fülle von Erlebnissen, Berufserfahrungen, privaten Gesprächen und Lektüren. Wir danken zuvorderst allen, die als Patientinnen und Patienten, Angehörige und Gesundheitsfachleute uns tagtäglich begegnen und uns vieles gelehrt haben. Auch zahlreichen Fachkolleginnen und Fachkollegen aus dem Bereich der Medizinethik und der Philosophie sind wir zu Dank verpflichtet. Ganz besonders möchten wir ein paar Menschen namentlich erwähnen, die uns im Schreibprozess begleitet und bereichert haben:

Heiko Biehl, Gian Domenico Borasio, Sabine D., Michelle Hug, Sabrina Jegerlehner, Lucia Jox, Ladina Meier Ruge, Nicole Porz, Andreas Reis, Cornelia Spycher und Guy Widdershoven. Ein ganz herausragender Dank gilt Markus Jox und Hubert Kössler. Und schließlich sind wir glücklich und dankbar, im Verlag C.H.Beck eine Heimat und in Stefan Bollmann und Annette C. Anton einen Lektor und eine Lektorin gefunden zu haben, die uns auf die denkbar angenehmste Art gefördert, ermuntert, herausgefordert und unterstützt haben.

Wir hoffen, die Beiträge aller dieser Menschen haben das Buch so befruchtet, dass es von vielen mit Gewinn gelesen werden kann.

Lausanne/Bern, im Oktober 2024

Ralf Jox und Rouven Porz

1.

Selbst entscheiden – wieso wir alle herausgefordert sind

‹Sapere aude!› Habe Mut, Dich deines

eigenen Verstandes zu bedienen.

Immanuel Kant (1724–​1804)

Stellen Sie sich vor: Sie gehen wie gewohnt zur Arbeit, spulen fleißig Ihr Programm ab, kaufen auf dem Heimweg noch ein paar Lebensmittel für die Familie ein, im Kopf schon allerlei Pläne, was es heute Abend noch zu erledigen gilt: die Geburtstagsnachricht für den Freund, das Formular für die Versicherung, die Reiseplanung für den Urlaub, Abendessen, die Kinder. Auf einmal schreckt Sie ein penetrantes Klingeln und Vibrieren aus Ihren Gedanken auf. Wer ruft denn heute noch an und schreibt keine WhatsApp, so denken Sie. Die Nummer ist nicht gespeichert, sonderbar. Auch die Stimme kommt Ihnen nicht bekannt vor. Eine junge Frau spricht zu Ihnen, im Hintergrund seltsames Piepen und Rasseln. Sie können die Geräusche nicht direkt zuordnen.

Dann stellt sich heraus: Sie erhalten diesen Anruf von einer jungen Ärztin aus der Intensivstation der großen Klinik Ihrer Stadt. Sie spricht leise, hastig, etwas scheu, aber präzise und voller wichtiger Informationen. Sie berichtet, dass Ihr 87-jähriger Vater eingewiesen wurde und auf der Intensivstation liegt. Er habe eine Hirnblutung erlitten, dazu komme noch eine Nierenschwäche, aktuell sei er im Koma. Sie sind zunächst sprachlos, hilflos. Natürlich wussten Sie insgeheim, dass so etwas irgendwann kommen würde. Und Sie haben solche Möglichkeiten Dutzende Male mit Ihrer Schwester besprochen. Aber jetzt gerade? So abrupt? Zu dieser Uhrzeit?

Die Ärztin stoppt jäh Ihr Grübeln: «Hat Ihr Vater eine Patientenverfügung?» Sie müssen zugeben, dass Sie keine Ahnung haben. Am nächsten Morgen sollen Sie in die Klinik fahren. Der Oberarzt wolle mit Ihnen besprechen, was nun zu tun sei. Es steht die Frage im Raum, ob man operieren soll, oder ob eine Dialyse gewünscht sei. Mit einem Mal sind alle Ihre Alltagsgedanken nur noch unwesentliche Randnotizen. Sie ahnen, dass nun eine Zeit folgt, auf die Sie nicht vorbereitet waren, die Ihnen viel abverlangen wird, eine bedeutsame Zeit in Ihrem Leben.

Jede und jeder von uns kommt – statistisch betrachtet – mehr als einmal im Leben in so eine Situation. Nicht nur, dass wir hin und wieder schwierige Entscheidungen über unsere eigene Gesundheit treffen müssen. Nein, wir müssen auch immer öfter über Verwandte und Freunde mitentscheiden. Wir sind herausgefordert, Verantwortung zu übernehmen. Wir sind ethisch gefordert, müssen unsere Entscheidungen begründen und Argumente abwägen. Deshalb müssen wir uns alle, früher oder später, mit ethischen Entscheidungen im Gesundheitswesen beschäftigen. Davon handelt dieses Kapitel. Und es handelt auch davon, dass die Ethik mittlerweile selbst eine akzeptierte Disziplin im Gesundheitswesen ist. Wir beide sind als Ethiker an zwei großen Universitätskliniken in der Schweiz angestellt. Wir werden Ihnen von unserer Arbeit erzählen, möchten Ihnen nahebringen, was sogenannte klinische Ethiker und Ethikerinnen machen, wie sie arbeiten, in welchen Situationen sie gerufen werden. Das alles, um Sie selbst zum Nachdenken anzuregen. Wie oben schon geschrieben: Früher oder später haben wir alle mit den gleichen Fragen und Themen zu tun. Warum aber braucht es überhaupt professionelle Ethiker in den Krankenhäusern? Das hat auch mit der heutigen Medizin zu tun. Wir möchten daher kurz umreißen, wie wir die gegenwärtige Medizin sehen. Wir möchten zeigen, weshalb sie ethische Orientierung und Hilfe braucht.

Wie wir die Medizin sehen

Manche sagen, der kränkste Patient sei aktuell eigentlich das Krankenhaus selbst. Dass die Medizin sich in einer tiefen Krise befindet, an diese Meldung haben wir uns schon seit Jahrzehnten gewöhnt. Und heute, hören wir da nicht immer wieder dieselben Nachrichten: Kliniksterben, Fachkräftemangel, Überalterung, Fehlanreize, Übertherapie, Untertherapie, Mehrklassenmedizin, Wunschmedizin, Wartezeiten, Impfgegner, Lieferengpässe von Medikamenten – eine grausige Liste, die sich verlängern ließe. Irgendwie hängt alles zusammen. Sehr schwer zu verstehen. Der uns so wichtige Wert der Gesundheit scheint im Wirrwarr dieses kafkaesken Systems unter die Räder zu kommen. Dabei sollte es doch eigentlich gerade um diese Gesundheit gehen.

Info-Box: Die industrialisierte Medizin

Was kennzeichnet eigentlich unsere heutige Medizin? Im Grunde kann man es auf einen Begriff bringen: Wir haben es mit einer industrialisierten Medizin zu tun. Das ist einerseits das Geheimnis ihrer Erfolge, aber auch der Grund ihrer Risiken und Probleme. Die industrielle Medizin drückt sich in vier großen Entwicklungen aus:

(1) Spezialisierung: Das Modell der Arbeitsteilung und Ausdifferenzierung führt zu immer engerem Spezialistentum und einer Vervielfältigung der Gesundheitsberufe. Die Folge: einerseits vertiefte Expertise, die insbesondere Patienten mit seltenen Krankheiten zugutekommt. Andererseits entsteht dadurch ein überproportional hoher Bedarf an Koordination, interdisziplinärer Kooperation und interprofessioneller Kommunikation.

(2) Szientismus: Das naturwissenschaftlich-technische Modell präsentiert sich heute in seiner Form 4.0, als digitale, automatisierte Medizin, die dank wissenschaftlicher Erkenntnisse und technischer Fortschritte viel vermag. Aber zugleich vernachlässigt sie alle human- und sozialwissenschaftlichen Elemente der Medizin und schätzt Kommunikation gering. Szientismus meint dabei die ideologische Illusion, man könne alle Praxisprobleme durch naturwissenschaftlich-technische Mittel lösen, ohne Grenzen anzuerkennen.

(3) Systemcharakter der Medizin: Durch die vielen Akteure und ihre engen Verflechtungen ist das Gesundheitswesen so komplex geworden, dass kaum mehr jemand es ganz durchschaut und versteht, wir sprechen von einer Opazität des Systems. Das erschwert es aber auch, das Gesundheitssystem zu reformieren. Es ist träge wie eine große, schwere Masse. Zudem ist das System durch eine juristische Überregulierung, durch Bürokratisierung, Kommerzialisierung und selbstverstärkende Beschleunigung charakterisiert.

(4) Sozialisierung der Medizin: Wir erleben seit Jahrzehnten, dass die Medizin mehr und mehr herangezogen wird, um alle möglichen gesellschaftlichen Probleme zu lösen: Behinderung, Kriminalität, Leistungseinbußen, Schönheitsideale. Die Lifestyle-Medizin bietet entsprechend Medikamente und Operationen für alle möglichen Wünsche an. Medizin soll auch Geburt und Sterben komfortabler machen. Die Medikalisierung der Gesellschaft ist zugleich eine Vergesellschaftung bzw. Sozialisierung der Medizin.

Wieso braucht es in der Medizin Ethik?

Unsere heutige industrialisierte Medizin (siehe Info-Box) ist immer häufiger mit der Frage konfrontiert, ob sie das, was sie tun kann, auch tun soll. Zugleich aber bröckelt seit Jahrzehnten der Rahmen traditioneller moralischer Orientierungsinstanzen: Die Kirchen sind marginal geworden, die Parteien geben keine klaren Werte mehr vor, die moralische Autorität bestimmter Berufsgruppen wird hinterfragt, auch in den Familien ist die klassische Autorität der Eltern eigentlich Schnee von gestern. Und das ist gut so. Denn es schafft Raum für die beste Form ethischer Orientierung: den Dialog, das fruchtbare ethische Gespräch.

Aber Sie ahnen es schon. Die Ethik ist kein Medikament, das unser Gesundheitswesen heilen kann. Das wäre zu simpel gedacht. Die Ethik ist eine Denktradition, ein gedankliches Werkzeug, die Suche nach Gründen für moralische Urteile. Und Ethik braucht Zeit, will entschleunigen. Ethik denkt bewusst langsam und ist kritisch. Aber, die Ethik ist auch wohlgesonnen. Sie versucht, Vorurteile und Vorverurteilungen möglichst zu vermeiden. Die Ethik handelt von dem, was uns wirklich wichtig ist. Von unseren Werten. Von dem, was wirklich zählt. Von den ganz großen Fragen. Und manchmal sind es auch ganz kleine Fragen, aber wichtige. Das heißt, die Ethik verhandelt Existenzielles. Aber was uns wichtig ist, das merken wir oft erst, wenn wir in einen Wertekonflikt geraten, wenn wir uns nicht recht entscheiden können. Wenn wir nicht wissen, was wir tun sollen. So wie Dr. Helsen im folgenden Beispiel.

• Fallbeispiel: Lilly will schon wieder abtreiben

Lilly ist ein 22-jähriges Au-pair-Mädchen. Sie kommt ursprünglich aus Belarus. Seit acht Monaten arbeitet sie in der Schweiz und spricht bereits gebrochen Deutsch. Aktuell ist sie in der elften Woche schwanger und stellt sich in der Frauenklinik bei Herrn Dr. Helsen vor. Lilly ist gekommen, weil sie eine Abtreibung will. Sie habe keinen Partner, nein, und sie wolle auf gar keinen Fall ihre Au-pair-Stelle verlieren. Dr. Helsen erfährt dann aus ihren Krankenakten, dass dies schon Lillys dritte Abtreibung in den letzten acht Monaten ist.

Er wird unsicher. Weiß sie nicht, wie man verhütet? Wurde sie vergewaltigt? Ist hier Prostitution im Spiel? Lilly beharrt auf der Abtreibung. Eine ethische Fallbesprechung wird einberufen. Die Frage steht im Raum: Was soll man tun? Wie soll man mit Lillys Wunsch am besten umgehen?

Das Telefonat erreichte uns am Freitagmorgen. Dr. Helsen war am Apparat, unsicher und etwas verärgert: «Wir bräuchten eine ethische Fallbesprechung. Diese Frau möchte schon wieder abtreiben. Ich bin doch nicht Gynäkologe geworden, um in acht Monaten drei gesunde Kinder umzubringen! Kann jemand von euch heute Mittag noch vorbeikommen? Ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich brauche euch.»

Hier wird schnell deutlich. Es geht hier zuerst mal um den Gynäkologen und sein Team. Es ist nicht Lilly, die uns anruft. Der Gynäkologe hat Mühe mit seinen eigenen Wertvorstellungen, seiner Berufsethik. Und nicht nur er, auch die zuständige Hebamme fühlt sich unsicher. Lilly will keinen Dolmetscher, sie verweigert genauere Aussagen. Sie will auch keine weiteren Untersuchungen. «Vielleicht müssten wir auch die Polizei einschalten», denkt Dr. Helsen laut am Telefon, «es könnte sich ja auch um Menschenhandel drehen. Vielleicht müssen wir sie retten, diese Lilly.»

Was ist denn eigentlich eine solche ethische Fallbesprechung, die Herr Dr. Helsen gewünscht hat? Es geht nicht darum, eine höhere Instanz anzurufen, die wie ein Gericht entscheidet. Nein, es handelt sich um ein dialogisches Mittel, wie ethische Herausforderungen in der Klinik möglichst konsensuell und konstruktiv gemeistert werden können (s. Info-Box).

Info-Box: Ethische Fallbesprechungen

Ethische Fallbesprechungen (man spricht auch von Ethik-Fallberatungen) können helfen, in einer ethisch herausfordernden Situation zu einer bestmöglichen Lösung zu gelangen. Die Fallbesprechung wird in der Regel von ethisch geschulten Personen moderiert und im klinischen Kontext oft mit dem gesamten Behandlungsteam durchgeführt (je nach Situation können Patienten und Angehörige auch dabei sein). Das Hauptziel ist dabei eine ethisch gut begründete Entscheidung, eine verantwortete Praxis im Gesundheitswesen. Ethische Fallbesprechungen wirken aber auch über den Einzelfall hinaus: Sie haben einen Fortbildungscharakter und schulen die Beteiligten, in künftigen Situationen ethisch sensibler vorzugehen und Entscheidungen umsichtiger zu treffen. Zudem steigern Fallbesprechungen gemeinhin die Mitarbeiterzufriedenheit. Sie dienen auch zur Reflexion des eigenen Verhaltens und können Burn-out vorbeugen. Methodisch sind sie nicht mit einer offenen Diskussion vergleichbar. Im Gegenteil, ethische Fallbesprechungen werden in klar strukturierten Schritten durchgeführt. Meist beginnt man mit einer Faktensammlung. Man nimmt sich viel Zeit, um Werte und Werthaltungen aller Beteiligten zu verstehen. Fakten werden von Bewertungen getrennt. Dann werden meist präzise Handlungsoptionen entwickelt, bevor man begründete Entscheidungen trifft.

Eine Stunde später findet also die von Dr. Helsen gewünschte Ethik-Fallbesprechung statt. Als Ethiker moderieren wir die Besprechung. Es geht darum, über die Fakten hinauszudenken. Anwesend ist nicht nur Dr. Helsen selbst, sondern auch die zuständige Hebamme, eine Pflegende, zwei Assistenzärztinnen und eine Sozialarbeiterin. Alles dreht sich um die ethische Frage: Wie sollen wir Lilly am besten behandeln? Sollen wir ihrem Wunsch einfach nachgeben? Oder sollen wir zunächst einen neuen Dolmetscher hinzuziehen? Eine Assistenzärztin sagt: «Aber es ist doch ihre Selbstbestimmung, sie kann doch entscheiden, was sie will.» Dr. Helsen antwortet: «Ihr Körper wird nicht unzählige Abtreibungen verkraften, wir müssen Lilly auch schützen. Wir haben doch auch eine Fürsorgepflicht ihr gegenüber.»

Die Aufgabe der Ethik-Fallbesprechung ist es nun, hier eine Ordnung in die Argumente und Emotionen zu bringen, eine Abfolge zu schaffen, eine Art Auslegeordnung. Auf dieser Basis wollen die Hebamme und der Arzt später noch mal gemeinsam mit Lilly sprechen. Eine Assistenzärztin fragt: «Ja, sollen wir Lilly nicht zu dieser Besprechung direkt dazu nehmen?» Nein, entscheiden die anderen, wir müssen uns zunächst selbst sortieren, wir brauchen diese ethische Besprechung zunächst für uns selbst.

Interessant ist hier: Aus rechtlicher Sicht wäre der Fall sehr leicht zu verhandeln. Jede Frau in der Schweiz hat in den ersten zwölf Wochen ihrer Schwangerschaft das Recht, diese Schwangerschaft abzubrechen, ohne Angabe von Gründen. Aber es geht hier eben nicht nur um den Buchstaben des Gesetzes. Es geht auch nicht um einfache technische Lösungen. Es geht vielmehr um die ethische Frage: Wie sollen wir handeln? Es stehen Werte auf dem Spiel. Es geht darum, für Lilly die beste Möglichkeit zu finden, nicht die einfachste.

Am Ende wird schließlich entschieden, dass man vor dem Abbruch noch einmal einen neuen Dolmetscher hinzubitten wolle, nicht um Lilly zu überreden, das Kind zu behalten, sondern um sicher zu sein, dass Lilly auch die körperlichen und seelischen Konsequenzen einer dritten Abtreibung versteht. Man will auch noch einmal nachfragen, ob sie nicht Hilfe brauche, ob es irgendwo Gewalt oder soziale Probleme gebe. Hierzu wurde auch eine neue Fachperson eingeschaltet, eine Sozialarbeiterin. Dr. Helsen sagt noch: «Danke. Manchmal wächst mir das hier alles über den Kopf.» Zwei Wochen später hören wir, dass die Abtreibung vorgenommen wurde: Lilly war von einem früheren Freund zum Sex ohne Verhütung gedrängt worden. Sie war sich der Risiken und Konsequenzen wohl bewusst, konnte mithilfe der Sozialarbeiterin eine fundierte, wohl abgewogene und aufgeklärte Entscheidung treffen.

Ethisch herausfordernd war hier auch die Rolle, die Lilly spielte. Vordergründig wollte sie keine Konversation, sie wollte nicht viel erzählen. Sie wollte sich auch nicht von der Hebamme untersuchen lassen. Das mag ihr gutes Recht sein, aber es erschwerte dem Behandlungsteam, die Hintergründe und Beweggründe ihrer Entscheidung zu verstehen. Man hatte Angst, sie handle nicht aus Selbstbestimmung, sondern aus einer Form von Zwang, der auf sie ausgeübt wird. Selbstbestimmung ist ein zentrales Konzept in unserem Gesundheitssystem. Grund genug also, etwas ausführlicher darüber nachzudenken. Um wirklich selbstbestimmt handeln zu können, muss man «selbst denken» wollen. Fangen wir damit also mal an.

Ärztlicher Paternalismus ist passé

Selbst denken klingt leicht, ist es aber keineswegs. Viele von uns gehen mit der Überzeugung durch ihr Leben, dass sie ihr Leben selbst in der Hand hätten. Sie denken, dass sie ihre Entscheidungen selbstbestimmt treffen. Sie meinen zu wissen, was sie wollen. Und sie wollen sich nicht von anderen vorschreiben lassen, wie sie handeln sollen. Das ist Teil unserer Individualität, eine Grundkomponente unseres westlich geprägten Lebensstils. In medizinischen Kontexten ist das nicht anders, aber zugleich auch ungemein schwieriger.

Eineinhalb Jahrhunderte lang war die Medizin nämlich dadurch geprägt, dass Ärzte als die einzigen Experten von Gesundheit und Krankheit verstanden wurden, die sogenannten ‹Halbgötter in Weiß›. Wie fürsorgliche Väter entschieden sie allein, was für die ihnen untergebenen Patienten am besten sei und was diese zu tun hatten, um ihre Krankheiten zu bekämpfen. In diesem ärztlichen Paternalismus mussten, ja durften die Patienten selbst nicht mitdenken. Man hatte die Krankheit zu bekämpfen, um sie zu besiegen. Die Kriegsmetapher kommt nicht von ungefähr. Krankheiten galt es auszumerzen. Der Arzt fungierte als General, der Patient bestenfalls als Fußsoldat.

Das sollte heute anders sein. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich etabliert, dass alle Patientinnen und Patienten mitdenken und mitentscheiden sollen, selbst wenn es manchmal schwerfällt. Die Kranken sollen den Gesundheitsfachpersonen möglichst auf Augenhöhe begegnen, man spricht von partnerschaftlicher Medizin. Wichtig dafür ist die Health literacy aller Menschen, also eine Art Sprach- und Lesefähigkeit in Sachen Medizin, eine Gesundheitskompetenz, die jeder besitzen sollte, um angemessen mitdenken und selbstbestimmt entscheiden zu können.

Schnell können hier natürlich auch Zweifel aufkommen. Mancher mag sich fragen: Wie soll ich mitdenken, ich habe doch nicht Medizin studiert, ich bin doch kein Experte … Nein, wir sind nicht alle medizinische Experten und sollen es auch nicht werden. Wir sind aber Experten unseres eigenen Lebens, unserer Werte, unserer Empfindungen. Diese beiden Formen von Expertise sollten wir nicht gegeneinander ausspielen, sondern miteinander in Verbindung bringen. Das heißt: Es ist sicherlich nicht nötig, dass jede Patientin jetzt schnell vor ihrem ersten Krankenhausbesuch einen Online-Crashkurs in Medizin belegt. Es ist aber nötig, dass Patienten offen und bereit dafür sind, mitdenken zu wollen. Dies insbesondere in Bezug auf sie selbst. Wir müssen alle zu Zeugen unserer eigenen Lebenswelt werden können. Wir müssen ausdrücken können, was uns wichtig ist. Wir müssen unsere Werte versprachlichen können. Wir dürfen auch keine Angst mehr haben vor den Halbgöttern in Weiß. Genau das ist Selbst-Denken. Nicht mehr und nicht weniger.

Selbst bestimmen ist gefragt

In der Medizinethik sprechen wir nicht so sehr von Selbst-Denken, sondern vielmehr von Selbstbestimmung. Wenn jemand selbst entscheidet, nach selbst gesetzten Zielen und Normen, dann ist das seine oder ihre Selbstbestimmung. Manchmal sagen wir dazu auch Autonomie – obgleich dieser Begriff in der Philosophie ursprünglich noch andere Bedeutungsnuancen hatte. Die Selbstbestimmung der Patienten, die Patientenautonomie, ist ein Grundpfeiler unserer aktuellen Medizinethik. Ziel sollte es immer sein, den Willen und die Wünsche des Patienten in den Mittelpunkt zu stellen, als Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen. In der Idealvorstellung einer gemeinsamen Entscheidungsfindung sollten Ärztin und Patientin gemeinsam überlegen, welche Behandlungsschritte der jeweiligen Krankheits- und Lebenssituation angemessen scheinen. Diese Selbstbestimmung ist grundsätzlich ein Ideal, das nicht immer verwirklicht ist. Zuweilen sind Menschen nicht in der Lage, ihre Selbstbestimmung zu verwirklichen, oder wollen sie nicht verwirklichen. Manchmal sind sie auch in sozialen Kontexten aufgewachsen, in denen der Wert der Selbstbestimmung keine Rolle gespielt hat. Das hat oft mit der Religion und Kultur zu tun. Diese Menschen tun sich dann konsequenterweise schwer, in unseren westlichen Gesundheitswesen dem Ideal der selbstbestimmten Patienten zu entsprechen. Unser Anspruch an selbstbestimmtes Denken kann sie überfordern.

Wir erinnern uns an eine über zehn Jahre zurückliegende Episode, die sich bei der Weltgesundheitsorganisation in Genf zugetragen hat: ein Seminar über Medizinethik vor chinesischen Gesundheitsministern. In der Unterrichtspause kam ein chinesischer Gesundheitsminister und sagte mehr oder weniger wörtlich auf Englisch: «Ich verstehe ja, was Sie uns über Selbstbestimmung in der Medizin erzählen. Wir sind aber zu viele Leute in China. Für uns macht dieses Konzept deshalb keinen Sinn.» Das war eine durchaus nuancierte Aussage, aber sie zeigt sehr deutlich auf, wie sich kulturelle Wahrnehmungen unterscheiden können.

Info-Box: Prinzipien der biomedizinischen Ethik

Die aktuell in der Medizin am häufigsten angewandte ethische Theorie ist die sogenannte Prinzipienethik der US-Amerikaner Tom L. Beauchamp und James F. Childress. Im Jahr 1979 veröffentlichten die beiden ihr Buch Principles of Biomedical Ethics, das seither siebenmal gründlich überarbeitet wurde und seit 2024 auch in deutscher Übersetzung erhältlich ist. Darin formulieren sie vier Prinzipien mittlerer Reichweite, die Gesundheitsfachpersonen helfen sollen, ihre Überlegungen und Diskussionen in ethisch herausfordernden Situationen zu strukturieren. Formuliert sind diese in der Form von vier Verpflichtungen für Gesundheitsfachkräfte: (1) Achtung der Patientenautonomie (respect for autonomy), (2) Wohltun (beneficence), (3) Nichtschaden (nonmaleficence) und (4) Gerechtigkeit (justice). Philosophisch salopp mag man diese Prinzipienethik als einen Mix aus konsequentialistischer und deontologischer Ethik bezeichnen. Die Prinzipien haben sich in der Praxis bewährt und werden heute in der Aus-, Fort- und Weiterbildung der meisten Gesundheitsfachpersonen unterrichtet. Diese Prinzipienethik bildet oftmals auch das Gerüst für ethische Fallbesprechungen in der klinischen Praxis (s. Kap. 10).

Moralismus als Holzweg

Sie merken es vielleicht, wir versuchen hier, Sie von etwas zu überzeugen. Wir sind ein wenig normativ. Das heißt, wir sind wertend und wollen Ihnen eine Richtung vorgeben. Das stimmt. Wir wollen Sie tatsächlich anstoßen und ermutigen, mehr Verantwortung für Ihre eigenen Wünsche im Gesundheitswesen zu übernehmen. Wir wollen Ihnen Mut machen, sich auf Ihre eigenen Gedanken und Entscheidungen zu verlassen. Das ist ein wichtiger Grund, warum wir dieses Buch geschrieben haben. Es soll Sie zum Mit-Denken und zur Selbstbestimmung inspirieren.

Allerdings heißt das nicht, dass wir Ihnen eine Meinung vorgeben oder gar vorschreiben. Auch in unserer Arbeit im Krankenhaus versuchen wir, möglichst nicht normativ Partei zu ergreifen. Es geht bei unserer Arbeit nicht darum, dass wir die Gesundheitsfachpersonen von unserer eigenen Meinung überzeugen. In den meisten Situationen, in denen wir als klinische Ethiker im Krankenhaus tätig sind, versuchen wir eher, neutral zu sein und die anderen dabei zu unterstützen, selbst ethisch begründete Urteile zu fällen und Verantwortung zu übernehmen.

Wie wichtig dieser feine Unterschied zwischen parteiisch und neutral ist, hat sich gerade in der Corona-Pandemie deutlich gezeigt. Wir finden, dass manche von uns Ethikerinnen und Ethiker – und wir selbst leider teilweise auch – sich in der Pandemie von den Medien und der aufgeheizten, polarisierten Stimmung dazu haben verleiten lassen, eher als ‹Moralapostel› denn als bescheidener neutraler Mitdenker im Gesundheitswesen aufzutreten.

Sicher, die meisten von uns waren nicht darauf eingestellt, so schnell von Nachrichtenmedien, von Radio und Fernsehen bestürmt zu werden. Ständig neue Nachfragen zu Triage-Kriterien, Patientenverfügungen, Besuchsverboten im Krankenhaus, Impfgegnern und so weiter – es war für uns alle nicht einfach, hier neutral Stellung zu beziehen. Die meisten Menschen, auch die Medien, wollten von uns schnelle, glasklare moralische Urteile, kein vorsichtiges Abwägen. Und in diese Falle sind viele von uns hineingetappt. Moralismus ist aber ein Holzweg, denn er gaukelt einem vor, man könne sicher moralisch urteilen, ohne sich die Mühe zu machen, gute Gründe zu finden.