Wenn keiner weiterweiß - Cordelia Edvardson - E-Book

Wenn keiner weiterweiß E-Book

Cordelia Edvardson

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Beschreibung

Die Stimme der Vernunft und Humanität Das Judentum, der Israel-Palästina-Konflikt und das Weiterleben nach Auschwitz bilden den Rahmen für Cordelia Edvardsons Berichte von der Grenze. Man findet die »kleinen Schauplätze« der Einzelschicksale ebenso wie die großen politischen Fragen. Sie betont das Existenzrecht für beide Staaten, Israel und Palästina, und hält mit guten Gründen an der Möglichkeit einer Versöhnung fest. Ihre eigene Erfahrung mit der Shoa und die jahrzehntelange Tätigkeit als Korrespondentin in Israel verleihen ihrer Stimme besonderes Gewicht.  

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Seitenzahl: 256

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Cordelia Edvardson

Wenn keiner weiterweiß

Berichte von der Grenze

Aus dem Schwedischen von Sigrid Engeler

Deutscher Taschenbuch Verlag

Deutsche Erstausgabe 2010

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Lizenzausgabe mit Genehmigung des Carl Hanser Verlags

© 2010 der deutschsprachigen Ausgabe:

Carl Hanser Verlag, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital– die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41503-3 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-34574-3

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

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Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Inhaltsübersicht

Vorwort

Ich erinnere mich an sie

I. 1979

… und der Traum bekam ein Gesicht

II. Die Angst deines Feindes

Der Handschlag vor dem Weißen Haus

Die Urangst und ihre schleimigen Monster

Das Leugnen des Holocaust

Der Friedenskämpfer Amos Oz streut Sand in die Augen

III. Israel und Palästina

Der Dimmer, das Ghetto und der Junge. Zu Besuch beim Autor Uri Orlev in Jerusalem

Ein Engel steht

Heimweh. Im palästinensischen Flüchtlingslager Deheishe

Smadar, umgekommen bei einem Terrorangriff in der Ben Yehuda. Eine israelische Familiengeschichte

Wo Kinder schlecht träumen

Wenn keiner weiterweiß. Zwei Staaten für zwei Völker

IV. Fühlen und Denken

Die Alten und die Jungen

Die Frau am Schalter

Das Warten

Verstehen und nicht verzeihen

Nostalgie

Chamsin

Abwasch

V. Die Symbole und die Wirklichkeit

Gedanken zum Antisemitismus

Jerusalem – die geteilte Stadt

Die heilige Stadt

Symbol des Stolzes oder der Scham?

VI. Schweden, Zeit und Zuhause

Urlaub

Schwedisches Märchen

Zweierlei Krieg

Biblisches

VII. Was kann man tun?

Einen Staat aus Clans aufbauen

VIII. Sprache, Düfte, Plätze

Iwrit

Das Öde Land

Für Primo Levi

Gedenkräume

Das Zeitliche

Religionen

Mut

IX. Gazastreifen und Westjordanland

Die Israelis und ihre Politiker

Die Siedler in Gaza vor dem Auszug

Offener Brief an Elie Wiesel

Ein Jahr nach der Räumung: die Hand reichen

Jom Kippur: Versöhnung beginnt mit Wahrheit

X. Die Kinder und die Dörfer

Qibiya

Bäume

Pessach

Dahab

Neophyten

Kinder

XI. Okkupation, Krieg, Intifada

Die Okkupation in neuer Gestalt

Israel in der Krise nach dem Fiasko des Krieges

Die Zweite Intifada ist sechs Jahre alt

Spiralbewegungen der Gewalt

XII. Eine Kerze tief im Dunkeln

Anstreichungen

Ein Weg

Glücksmomente

Hotel Palestine

Gottesglaube

Bibelschule

Zwei Städte

60 Jahre Israel. Meine israelische Reise

XIII. Dank

Dankeschön Ihnen allen meinen treuen Lesern

Rede anlässlich der Überreichung des Kulturpreises

Ich bin

Nachwort und kurzes Interview von Agneta Pleijel

Textnachweise

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Dieses Buch ist meinen Kindern und Enkelkindern gewidmet

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Die Welt strömt ein,

Ich atme sie zurück

Elisabeth Langgässer (1899–1950)

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Vorwort

Die schwedische Originalausgabe dieses Buches trägt den Titel Geschichten von der Grenze. Das steht für sich, und sagt eigentlich schon alles, was ich hier zu sagen habe.

Ich bin eine Grenzgängerin. Das fängt schon bei der Sprache an: in Deutschland geboren, aufgewachsen mit den Märchen der Brüder Grimm, die Gedichte von Matthias Claudius und Goethe in Ohr, Herz und Sinn, waren mir alle anderen Sprachen fremd. Heute kann ich Deutsch zwar noch lesen und leidlich sprechen, schreiben aber kann ich es nicht mehr.

Die ersten Bücher von Heinrich Böll habe ich bereits in schwedischer Übersetzung gelesen. Das war wohl um 1950, zu dieser Zeit war die Grenze von der deutschen in die schwedische Sprache also schon überschritten. Und das von der ältesten Tochter von Elisabeth Langgässer! Der Dichterin und Hohen Priesterin, die berauscht und verzaubert der deutschen Sprache diente.

Gewiss, heute kann ich ahnen, dass mein sprachlicher ›Grenzübergang‹ nicht nur die Ablehnung der ›Auschwitzsprache‹ war. Dort wurde das kleine, deutsche, sehr katholische Mädchen Cordelia Maria zur ›Judensau‹ und zur ›Mistbiene‹ (Letzteres war wohl die sprachliche Neuschöpfung einer der SS-Wächterinnen). Mag sein, dass meine plötzliche Abwendung von der deutschen Sprache, meiner Muttersprache, auch Ausdruck einer stillen, nie ausgesprochenen Ablehnung der Mutter war. Aber das steht auf einem anderen Blatt.

Nicht nur die Sprache ist eine Grenze, auch Länder definieren ihre Grenzen, und damit das Gebiet einer bestimmten Staatsangehörigkeit. Mir, so wie allen anderen deutschen Juden, wurde die deutsche Mitbürgerschaft aberkannt. Im Mai 1945, als ich, mehr tot als lebendig, nach Schweden kam, war ich demnach staatenlos. Erst als ich wenige Jahre später einen schwedischen Mann heiratete, wurde ich auch auf dem Papier zur schwedischen Staatsbürgerin. Damit wurde der Grenzübertritt zwischen Deutschland und Schweden auch amtlich bestätigt. In Wirklichkeit hatte ich ihn schon lange vollzogen. Nicht nur war mein damaliger Mann ein ausgezeichneter Kenner der schwedischen Literatur, die er mir natürlich sofort in die Hand drückte, in Schweden erfuhr ich auch zum ersten Mal, was Freiheit, Demokratie, Solidarität und Gleichberechtigung bedeuten.

Es dauerte jedoch nicht lange, bis ich wieder vor einem Grenzpfahl stand. Als ich nach Schweden kam, waren Kirche und Staat noch nicht getrennt, man gehörte also automatisch der schwedischen Kirche an, soweit man sich nicht zu einer anderen Glaubensgemeinschaft bekannte. Schlicht Agnostiker oder gar Atheist zu sein ging nicht. Ich wurde als Katholikin registriert. Etwas anderes fiel mir auch gar nicht ein. Nach einigen Jahren wurde mir jedoch klar, dass man sowohl loyale Staatsbürgerin einer Nation sein kann als auch Mitglied eines anderen Volkes, in meinem Fall des jüdischen. Ja, ich war und bin froh und dankbar, schwedische Staatsangehörige zu sein, aber gleichzeitig war und bin ich auch ein Glied in der Kette und Geschichte des jüdischen (nicht des israelischen) Volkes. Gewiss, es war Nazi-Deutschland gewesen, das mich zur Jüdin erklärt hatte, aber nun war es meine eigene Entscheidung, mich zum jüdischen Volk (nicht der Religion) zu bekennen. Gerade als Überlebende war es meine Pflicht, auch diese Grenze zu überschreiten.

Und was war mit Israel? Für Israel interessierte ich mich damals offen gesagt nicht sonderlich, und ich hatte auch nie die Absicht, dorthin zu übersiedeln. Nach Israels überraschendem Sieg 1967, im Sechstagekrieg, schien der Staat nichts mehr zu fürchten zu haben. Aber dann kam der arabische Überfall 1973.Israel kämpfte um sein Überleben. Dies konnten (oder wollten?) die meisten meiner Kollegen, nicht nur die aus Schweden, nicht begreifen. Ich war von einer schwedischen Zeitung als Berichterstatterin nach Israel geschickt worden. Nach der täglichen Fahrt an die Front, oder jedenfalls so nah wie möglich, hockten wir in der Hotelbar in Tel Aviv. Dort hörte ich Aussprüche wie: »Gar nicht so falsch, wenn die hochnäsigen Israelis mal eins aufs Dach bekommen. Die Bäume sollen ja nicht in den Himmel wachsen.« Oder auch: »Hast du dir mal überlegt, warum die Juden (die Juden, sagte er, nicht die Israelis) durch die Jahrtausende immer gehasst und verachtet wurden? Kein Rauch ohne Feuer.« Konnte es am Ende sein, dass sich unter diesem Gerede etwas ganz anderes verbarg? Mit spöttischem Lachen verkündet ein anderer Kollege: »Ja, jetzt können die da sitzen und ihr koscheres Fleisch essen– jetzt geht’s ihnen an den Kragen.« Keiner fragte, was die jüdischen Speisegesetze mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt und dem israelischarabischen Krieg zu tun haben sollten. Auch ich nicht. Wenn man aber so denkt wie diese Kollegen, und einige arbeiteten für angesehene Zeitungen, dann färbt das natürlich auf die Berichterstattung ab.

Ich fuhr zurück nach Schweden und packte meine Koffer. Noch einmal wurde ich zur Grenzgängerin. Israelische Staatsbürgerin wurde ich allerdings nicht. Denn als schwedische Korrespondentin war es mir sehr wichtig, alle Grenzübergänge offen zu halten. Nicht nur die ›grüne Linie‹ zwischen Israel und dem Westjordanland, die ja nie eine Grenze, sondern vielmehr eine Waffenstillstandslinie war. Ich wollte auch die Möglichkeit haben, Ägypten und Jordanien (vor dem Friedensvertrag) wie auch Syrien und den Libanon zu besuchen. Am wichtigsten waren mir natürlich die Treffen und Gespräche mit den Palästinensern in den besetzten Gebieten, die das Territorium eines selbstständigen, unabhängigen palästinensischen Staates werden sollten. ›Zwei Staaten für zwei Völker– beide mit sicheren und anerkannten Grenzen!‹ Das ist der Wahlspruch und das Credo der israelischen Friedensbewegung. Die meisten Palästinenser, von der Hamas abgesehen, stimmen diesem Ziel zu. Für die Hamas sowie für die Fanatiker unter den nationalreligiösen israelischen Siedlern im Westjordanland ist ›Kompromiss‹ ein verpöntes Wort. Ich habe von beiden Seiten immer wieder wortwörtlich dasselbe Argument gehört: »Das Land zwischen Mittelmeer und Jordan ist uns von Gott/ Allah gegeben, und niemand, weder ein palästinensischer noch ein israelischer Führer, hat das Recht, auch nur einen Zentimeter dieses Landes aufzugeben.«

Es ist meine Hoffnung, in diesem Buch die menschlichen, mehr noch als die politischen Hintergründe dieser Situation freilegen zu können.

Cordelia Edvardson

September 2009

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Ich erinnere mich an sie

wir flohen aus unserem Dorf

die Olivenbäume

die Apfelsinenhaine

weit hinter uns schon

da entdeckte sie plötzlich

einen Teppich hielt sie im Arm

anstatt des jüngsten Kinds.

Sie hatte fehlgegriffen.

Ich werde sie niemals vergessen

es war während der Feuerstürme

in Hamburg

sie kam in den Schutzraum gestürzt

ein Kissen fest an die Brust gedrückt

doch ihr Baby war hinausgeglitten

unterwegs.

Mehr als einen brauchte es

sie im Keller zu halten.

Niemand erinnert sich ihrer

und des Kindes an ihrem nackten Körper

keiner ist geblieben zu erzählen, zu bezeugen

ihre letzten erstickenden Atemzüge

aber Mutter und Kind sind unter uns

wie der Rauch in der Luft, die wir atmen.

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I

1979

… und der Traum bekam ein Gesicht

Du,

ja du. Ich weiß nicht einmal, wie du heißt. Dennoch weiß ich alles, was für dich und dein Schicksal entscheidend war: Du warst jüdisch geboren, du warst eine Frau, du starbst in Auschwitz. Ich habe Grund zu der Annahme, dass du jung warst und noch kinderlos.

(Natürlich kann es sein, dass du ein Kind auf dem Arm oder an der Hand hattest, als du aus dem Güterwaggon ausgeladen wurdest. Du sahst den Rauch, der aus dem Schornstein auf dem roten Ziegelgebäude am Ende der Straße aufstieg. Und du überließest dein Kind irgendeiner alten Frau im Transport– und gingst selbst durch das Tor mit dieser ironischen Devise »Arbeit macht frei«.

Aber ich glaube nicht, dass es so war. Zu der Zeit, Anfang der vierziger Jahre, wusste es fast niemand, und die menschliche Phantasie hat Grenzen. Der Rauch kam wohl aus einer Fabrik, dachtest du. Und das tat er ja auch– auf seine Weise. Und selbst wenn du es gewusst hättest, dann hättest du doch dein Kind auf dem letzten Stück Weg begleitet. Fast alle Mütter taten das.)

Du musst jung gewesen sein, um vor Dr.Mengeles Blick Gnade gefunden zu haben (o ja, seinen Namen kenne ich). Mit einer blasierten Geste schickte er dich nach links, durch das Tor. Jemand packte deinen linken Arm und tätowierte die Nummer darauf: 37 09.Das Vieh muss ein Brandzeichen erhalten. Ich kam einige Jahre nach dir an. Da hatten Millionen von Menschen das Tor passiert, und die Nummern waren so lang, dass der menschliche Arm nicht mehr ausreichte– und man hatte es ja eilig. »Schnell, schnell, los, fertigmachen...!« Deshalb fing man von vorne an, aber mit einem A vor der Nummer. Meine Nummer ist A 37 09.

Aber woher weiß ich denn, dass du tot bist?

Nun, durch einen merkwürdigen Zufall entdeckte ich in der Schreibstube des Lagers das »Todesbuch«, das, zumindest anfangs, mit der bekannten Ordnungsliebe geführt wurde. Das war im Frauenlager, Auschwitz-Birkenau, und folglich warst du eine Frau, und hinter deiner Nummer, wie hinter fast allen, stand ein Kreuz. Dort war auch ein Dreieck, dessen Farbe anzeigte, dass du Jüdin warst. (Die politischen Gefangenen, die sogenannten Asozialen und die Zeugen Jehovas hatten andere Farben.) Das Kreuz war entweder rot oder schwarz. Rotes Kreuz für den Tod durch Gas, schwarzes für den sogenannten »natürlichen Tod«, oder war es anders herum? Ich erinnere mich nicht mehr. Ich erinnere mich auch nicht daran, ob dein Kreuz rot oder schwarz war, ob du durch Seuche, Misshandlung, Verhungern oder Gas starbst. Vermutlich durch alles zusammen– mit dem Tod durch Gas als dem »barmherzigen Befreier«, wie es manchmal heißt.

Ich überlebte. Nein, ich lebte nicht, ich überlebte. Gewiss zeigte ich alle Anzeichen und Gebärden des Lebens, mehr als die meisten anderen, ich musste doch mich und die Welt überzeugen, dass ich wirklich lebte. Aber ich war dir treu, meine Schwester. Zwischen Knochen und Asche suchte ich nach deinem und meinem Leben– oder unserem Tod. Mehr als zehn Jahre später schrieb ich (unter Pseudonym) mein erstes Buch, und dort gibt es ein– im Übrigen ziemlich schlechtes– Gedicht für dich. Von A 37 09 an 37 09 heißt es. Und als ich etwa zur gleichen Zeit zum ersten Mal die Gelegenheit bekam, einen sogenannten Kulturartikel zu schreiben, erschien der in einer Serie, die »Ewige Gefährten« hieß.

Ich beschloss, über François Mauriacs ›Thérèse‹ zu schreiben, insbesondere über den zweiten Teil des Romans, der »Das Ende der Nacht« heißt. Wenn ich heute, fast zwanzig Jahre später, diesen Artikel wieder lese, erschüttern mich meine eigene Verzweiflung und meine eigene Sehnsucht danach, dass die Nacht ein Ende haben möge. Dass das Leben ein Ende haben möge. Denn jenseits des Lebens, jenseits des Todes, jenseits aller unserer Angst und Schuld müsste das Licht sein. Mit meiner katholischen Erziehung (ja, die habe ich genossen, und wenn ich sie auch weit hinter mir gelassen habe, so habe ich ihr doch viel zu verdanken), mit dieser Erziehung also stimmte ich Mauriacs Motto vollständig zu: »Bedenke, oh Gott, dass wir uns selbst nicht kennen, dass wir nicht wissen, was wir wollen, und dass wir uns unendlich weit von dem entfernen, wonach wir uns sehnen.«

Wir leben also im Finstern, und Mauriac zufolge sollten wir nichts weiter begehren, als uns im Finstern nicht zurecht zu finden, nicht zur Ruhe zu begeben. Sondern, mit anderen Worten, nicht aufhören zu verzweifeln, besonders nicht über unseren Mangel an Verzweiflung. Im selben Artikel polemisiere ich gegen den Juden Franz Kafka, der schrieb: »Verzweifle nicht, verzweifle doch nicht– auch nicht darüber, dass man nicht verzweifelt.« Aber welche Verzweiflung würde für das Feuer des Bösen (das ist buchstäblich gemeint) ausreichen, das uns, dich und mich, meine Schwester, blendete? Wer den Anblick überlebte, war dazu verurteilt, in einer traumgleichen Schattenwelt zu leben, geblendet, blind.

»Mit einem solchen Wissen, gibt es da Versöhnung?« T.S.Eliot, noch ein Katholik, stellt diese Frage. Die christliche Antwort auf diese Frage sollte der Jubel der Osternacht sein, der unsere Schuld im Jubel der Auferstehung als »glückliche Schuld« preist, felix culpa. Und allein eine über alle Maßen große Schuld sollte ein solches Erlösen beanspruchen. Andernfalls wäre das Passionsdrama sozusagen überflüssig. Wir und unsere Schuld starben mit Ihm, und wir sind bereits auferstanden in Ihm. Wir leben!

Tun wir das? Du und ich? Wenn ich ehrlich sein will, was ich nicht einmal wollte, wozu mich aber eine feste und liebevolle Hand allmählich zwang, dann müsste ich antworten: NEIN.Und außerdem: Wenn Auschwitz, Hiroshima, alle Folterkammern der Welt, wenn der Tod, dieser Tod der notwendige Preis der Auferstehung sein soll– ja, dann ziehe ich es vor, tot zu sein. Oder lass mich mit einem Zitat von Dostojewski antworten, das etwa so geht: Wenn die Eintrittskarte in den Himmel und die ewige Harmonie das Weinen eines einzigen gequälten Kindes sein soll, bitte ich darum, sie zurückgeben zu dürfen.

Der Skeptiker Iwan sagt das, als er Zeuge wird, wie ein Gutsbesitzer seine Hunde ein Kind hetzen und es in Stücke reißen lässt– alles im Angesicht der Mutter. Iwan meint auch, dass die Mutter dem, der ihrem Kind solche Qual zufügt, weder verzeihen müsse noch dürfe. Sie kann ihren eigenen Schmerz verzeihen, aber sie hat kein Recht, im Namen ihres Kindes zu vergeben. Aber wenn Verzeihung und Versöhnung die Eintrittskarte in das Himmelreich sind, dann: nein danke.

Mit einem solchen Wissen gibt es keine Versöhnung. Nicht für uns. Der Weg der Mystik ist nicht für uns, meine Schwester. Das käme mir, mit Verlaub, zu einfach vor. Und das Christentum ist letztendlich eine Mysterienreligion. Das sage ich ohne zu werten. Natürlich.

Gibt es denn einen anderen Weg zurück ins Leben? Denn ich will leben! Ohne dich zu verlassen, meine Schwester. Im Gegenteil, ich will, dass du, durch mich, ein Teil des Lebens sein sollst, nicht nur der Schatten einer Überlebenden.

Ich brauchte dafür mehr als dreißig Jahre, aber vielleicht wage ich heute zu sagen: Ja, es gibt einen Weg für uns. Das ist der Weg der VERNUNFT.Ach, sagt der Leser jetzt enttäuscht, wie armselig, wie schäbig, wir haben doch nicht die Vernunft gesucht, sondern eine neue Geistigkeit. Ja, antworte ich, aber die Vernunft ist vielleicht geistiger als ihr glaubt. Und die Kraft der Vernunft ist auch nicht zu unterschätzen. Wie Papa Freud es ausdrückte: »Die Stimme der Vernunft ist zwar leise, aber durchdringend.«

Wenn man hinhören will, müsste man vielleicht ergänzen.

Aber war denn nicht die Vernunft die Ursache all des Elends? Der Sündenfall, die Erbsünde, die Vertreibung aus dem Paradies? Hat nicht die Frucht vom Baum der Erkenntnis Adam und Eva und allen folgenden Geschlechtern das Leben vergiftet? Hat nicht die Frucht vom Baum der Erkenntnis den Menschen die Schuld und der Schöpfung das Böse und den Tod gebracht?

Nein, vielleicht nicht wirklich. Denn das Böse war vor dem Sündenfall da, nur: dass die Menschen zwischen Gut und Böse zu unterscheiden vermögen, das ist eine Folge des Sündenfalls. Das dürfte aus der Geschichte klar und deutlich hervorgehen. Und zieht man daraus die Konsequenz, dann würden sich die Menschen im Garten Eden, genau wie die Tiere, bei Bedarf getötet und aufgegessen haben– in aller Unschuld. Aber nachdem der Mensch im Besitz einer Art Geistigkeit sein soll, wurde er doch als Ebenbild Gottes geschaffen, dann müsste er sich schon vor dem Sündenfall der Existenz des Bösen bewusst gewesen sein. Das Böse gab es ja, das war offenkundig ein Teil der Schöpfung, aber es hatte kein Gesicht.

Und dieses gesichtslose Böse, das erschreckt am allermeisten– meiner nicht geringen Erfahrung auf diesem Gebiet zufolge. Diesem Bösen ist der Mensch schutzlos und hilflos ausgeliefert, mit dieser Angst kann er nicht umgehen, sie hat ja kein Gesicht. Möglich, dass sich die Menschen der Schöpfungsgeschichte in einem Schlaf- und Traumzustand jenseits von Gut und Böse befanden, aber den Schlaf müssen die entsetzlichen Alpträume des gesichtslosen Bösen gestört haben. Da ist es kein Wunder, dass sie aufwachen wollten– und sehen! Aber um das zu tun, mussten sie vom Baum der Erkenntnis essen, und da öffneten sich ihre Augen und sie sahen, was gut und was böse war. Das war zweifellos ein unsanftes Erwachen, aber die Geburt ist ja auch kein schmerzfreier Prozess.

Und das war das erste Mal, dass Adam und Eva als Menschen geboren wurden.

Sie erwachten und sie sahen– das Gesicht des Bösen, das Gesicht des Todes, ja– aber auch das Gesicht des Guten, das Gesicht des Lebens. Diese Zwei sind ja unauflöslich miteinander verbunden. Jetzt konnten sie auch wählen. In ihrem früheren, gewiss unschuldigen, aber meiner Meinung nach höchst ungeistigen Zustand wussten sie nichts vom Unterschied zwischen gut und böse. Insofern konnten sie nicht wählen. Und erst viel später befahl ihnen Gott: »Wählt das Leben!« Aber wie kann einer ohne Erkenntnis und Wissen wählen? Er wählt nicht, er wird heimgesucht!

Und jetzt muss ich wieder die Zeit wechseln, zurückgehen. Zurück in eine Frühlingsnacht, Anfang der vierziger Jahre in Berlin. Und ich sehe. Ich sehe ein kleines Mädchen in einem Bett mit Jugendstilverzierungen. Sie ist nicht bei ihrer Familie, gemäß den Rassegesetzen ist sie nämlich jüdischer Herkunft, als einzige in der Familie. Deshalb hat man sie bei einer jüdischen Frau einquartiert, die auf jeden Fall zu den Verurteilten gehört. Die auf jeden Fall den Judenstern tragen und ihn an der Tür zu ihrer Wohnung in einem großen Mietshaus befestigen muss. Und diese Nacht ist die Nacht des Gerichts.

Das Mädchen wacht von Schreien und Lärmen auf. Sie und die Frau, bei der sie wohnt, sind schreckensstarr, aber nie kämen sie auf den Gedanken, in dem pechschwarzen Raum Licht anzumachen. Die schwarzen Rollos sind, wie es der Luftschutz verlangt, ordentlich heruntergelassen. »Raus, raus, schneller, fertigmachen...« Befehle, Schläge, Schreie, Türklingeln, Koffer und Menschen, die mit Tritten die Treppe hinunterbefördert werden. Und gleich, jeden Moment wird es an ihrer Tür klingeln. Aber so lange liegen sie totenstill. Das Mädchen betet ihre Kindergebete zur Jungfrau-Mutter, oder vielleicht zu ihrer Mutter? »Maria breit’ den Mantel aus, mach uns ein Schutz und Schirm daraus.«

Und mit einem Mal wird es still. Ganz still. Es ist vorbei. Die Henker haben ihre Wohnung übersprungen. Ein Wunder, dachte das Mädchen. Die Mutter war ihr zu Hilfe gekommen. Hatte sie gerettet. So vergingen einige Monate, und dann wurde das Mädchen doch gefunden, natürlich. Sie wurde aufgegriffen und verschleppt, wurde auf die Nummer A 37 09 reduziert. Dann, als Überlebende, sucht sie über all die Jahre hin der gleiche, immer wiederkehrende Alptraum heim: Sie liegt in ihrem Bett und schläft, da hört sie, wie jemand versucht, in die Wohnung einzudringen, sie tastet nach dem Lichtschalter, sie findet ihn, aber das Licht geht nicht an!

Sie kann nichts sehen! Das Böse hat kein Gesicht. Noch Stunden später hält die Angst sie in ihrem Würgegriff. Nie träumt sie vom Lager, von den Selektionen, von den Henkern. Und die erwachsene Frau lernte nie richtig zu unterscheiden zwischen denen, die ihr Gutes wollen und denen, die ihr Böses wollen. Sie war dem Gutdünken »der Mächte« ausgeliefert. Aber dann geschah etwas. Jemand nahm sie an der Hand und führte sie zum Baum der Erkenntnis. Jemand sprach zu ihr mit der Stimme der Vernunft.

Mehrere Jahre lang. Und die Stimme der Vernunft war nicht immer sehr leise– sie musste ja so viel Angst übertönen. Aber die Frucht pflücken und davon essen– das musste sie selbst tun. Und das war gar nicht leicht. Aus vielerlei Gründen. Wer vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, weiß nicht nur zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, der muss auch wählen, und er ist für seine Wahl verantwortlich. Wer das getan hat, muss seine eigene Schuld bekennen. Der ist nicht länger hilfloses Opfer, sondern auch Henker. Mit anderen Worten: der wird zum Menschen.

Nun, nach und nach glückte es der Stimme der Vernunft, zu ihr durchzudringen. Und die erwachsene Frau pflückte die Frucht und aß davon. Und sie sah! Das Böse bekam ein Gesicht, bekam viele Gesichter. Sie sah die, die ihr Böses angetan hatten, und warum. Sie sah den Zusammenhang, und sie ertrug den Anblick ihrer eigenen Schuld.

Nicht so, dass sich Auschwitz jemals ganz in politischen, ökonomischen, sozialen und psychologischen Begriffen wird »erklären« lassen– es wird wohl immer einen Bereich geben, wo die Vernunft keinen Einfluss mehr geltend machen kann. Aber so lange man Auschwitz und anderes dieser Art als unerklärliche Auswirkung »des Bösen« in der Schöpfung ansieht, so lange ist man wehrlos und entmündigt.

Dann wird Auschwitz sich immer aufs Neue wiederholen. Die Mächte und das gesichtslose Böse werden das Kommando übernehmen und man selbst wird eine der Überlebenden. Aber man lebt nicht. Und was vielleicht noch schlimmer ist: damit macht man auch »das Gute« zu einer abstrakten Größe, dem menschlichen Willen und menschlicher Kontrolle nachdrücklich entzogen. Ungefähr wie die Gnade– sie widerfährt einem oder sie widerfährt einem nicht– aber darauf hat man keinen Einfluss.

Das heißt keineswegs, dass ich die Gebete meiner Kindheit zur Schutzmantelmadonna leugne. Aber es heißt auch, dass dieses abstrakte Symbol des Guten ein Gesicht bekommen hat. Es trägt die Züge all jener, die in der Wirklichkeit einen schützenden und bergenden Mantel über die Verfolgten gebreitet haben. Die Züge derer, die das Leben wählten, das Recht der anderen auf Leben, und die das oft mit dem eigenen Leben bezahlen mussten.

Ja, meine Schwester, ich glaube, ich habe für uns einen Weg und ein Leben gefunden. Und das Eigentümliche daran ist, dass mich dieser Weg zurück zu unserem gemeinsamen Ursprung führte, dem Judentum. Es hat mich in das Land gebracht, in dem wir als Volk und Nation geboren wurden: Israel. Und in die Stadt, von der wir jedes Jahr beim Passahfest (Ostern) sagten: »Nächstes Jahr in Jerusalem«.

Weder kann noch will ich mich auf theologische Deutungen einlassen. Eines wird mir jedoch klar: Wenn das Judentum als Religion überlebt hat, und wenn das jüdische Volk zweitausend Jahre Versprengtsein und Verfolgung als Volk überlebt hat, dann deshalb, weil die Stimme der Vernunft nie verstummt ist. Das Judentum ist keine Mysterienreligion, auch wenn es natürlich mystische Strömungen gab und gibt. Ihr Ursprung jedoch muss im Baum der Erkenntnis gesucht werden. Im Wissen darum, was gut ist und was böse– und in der Verpflichtung, zu wählen.

Was ist damals geschehen, als ein primitives Nomadenvolk einen Pakt mit dem einen, dem unsichtbaren Gott schloss? Das Volk wurde mündig und schloss einen Pakt mit dem eigenen Gewissen. Die Menschen hörten auf, die Schöpfung als Tummelplatz der Willkür guter oder böser Mächte zu betrachten. Mächte, die man dann und wann mit Menschenopfern besänftigen muss. Gut oder Böse verlieh nicht länger der Sonne, einem Stein, einem Baum oder einer launischen Göttin ein »Gesicht«. Das Gute und das Böse bekamen ein menschliches Gesicht. Mein Gesicht. Und deines.

Diese Sichtweise machte unter anderem Menschenopfer unmöglich. Man kann einen Menschen opfern, um eine unsichtbare Gottheit zu erweichen, deren Stärke in einem Stein, einem Baum oder irgendwo über den Wolken liegt, oder auch, um ihr gehorsam zu sein. Aber wenn man weiß, dass man selbst oder seinesgleichen den Schlüssel zu dem, was böse und was gut ist, in der eigenen Hand hält und dass es in der eigenen Verantwortung liegt, welche Wahl man trifft– dann wird der Gedanke an Menschenopfer absurd.

Das Judentum verwirft den Menschen und das Leben nicht, noch verherrlicht es sie. Es hält sie heilig. Um Leben zu retten, kann fast jedes Gebot, selbst das, den Sabbat zu heiligen, gebrochen werden. Aber das Judentum macht sich auch keine Illusionen über die Menschen, die Welt und das Leben. Mit seiner Geschichte würde das auch etwas schwerfallen. Juden wissen alles, was es über die Grausamkeit des Lebens zu wissen gibt, über Erniedrigung und das Böse– und doch ist ihnen nichts kostbarer als dieses Leben.

Der Pogrom überfiel das kleine jüdische Dorf, aber kaum waren die Kosaken abgezogen und das Donnern der Hufe ihrer Pferde verklungen, krochen die Überlebenden hervor, kehrten die Scherben zusammen, begruben ihre Toten und trafen die Vorbereitungen für die feierliche Sabbatmahlzeit am Freitagabend.

Wieder einmal sollte der Jude König sein, ein königlicher Bräutigam, der seine Braut, Königin Sabbat begrüßte. Jeder Jude, wie arm er auch war, sollte, und sei es mit Hilfe der Gemeinde, ein weißes Tuch auf den Tisch legen können und jede jüdische Frau sollte eine Festmahlzeit zubereiten und die Sabbatskerze anzünden können. Und jeder Jude sollte an einem Tag der Woche frei sein von den täglichen Mühen und seine Seele sättigen, entweder durch eigenes Studium der Schriften oder indem er den Auslegungen anderer zuhörte. Mit anderen Worten: jeder Jude sollte zumindest an einem Tag der Woche das Licht des ›Guten Lebens‹ sehen.

Auf dass er vermochte, auch weiter das Leben zu wählen– und nicht den Tod.

Es war so unendlich wichtig, dass Juden damit fortfuhren, dieses Leben zu verteidigen, hier und jetzt, denn es galt nicht nur ihr Leben, sondern das Leben des Volks. Dieses einzige »ewige Leben«, das es gibt– und die Ewigkeit war in seine Hände gelegt. (Natürlich gibt es im Judentum den Gedanken eines jenseitigen ewigen Lebens. Aber nach Ansicht vieler Gelehrter ist dies kein Dogma. Man kann daran glauben oder es sein lassen.) Wenn man manchmal junge Menschen sagen hört, dass sie aus Angst vor der Atombombe, vor Krieg oder anderen Katastrophen keine Kinder haben wollen, so ist dieser Gedanke so unjüdisch wie nur möglich.

Im Gegenteil: Die Juden, die nach der großen Sintflut an die damaligen Strände Palästinas gespült wurden– wenn nicht die Engländer sie entdeckten und zurück in neue Lager schickten, dieses Mal auf Zypern– wenn sie also die Gelegenheit für ein neues Leben erhielten, dann gründeten sie schnell Familien. Und insbesondere wenn sie aus Osteuropa kamen, wo man immer sehr viel von Armut und Hungersnot gewusst hat, eröffneten sie oftmals irgendeinen kleinen Kiosk, aus dem sich hoffentlich ein kleiner Laden entwickelte– ein Lebensmittelgeschäft.

Sie warteten also nicht darauf, dass die Nacht zu Ende gehen und der Messias kommen würde.

Natürlich kennt das Judentum eine Sehnsucht nach dem Messias und das Warten auf ihn, aber auf sachliche Weise. Wenn man unbedingt etwas tun müsste und es nicht länger aufschieben sollte, gibt es in der Alltagssprache zum Beispiel folgenden Ausdruck: »Du hast doch wohl nicht die Absicht, damit zu warten, bis der Messias kommt?« Nein, meine Schwester, in dieser Welt sind wir für uns selbst und für einander Opfer, Henker und Erlösung in einem. Kann dieser Umstand den Anspruch erheben, »neue Geistigkeit« genannt zu werden?

Auf einen kleinen Vorbehalt kann ich insgeheim doch nicht verzichten: Falls und wenn der Messias kommt, dann braucht er doch einen Ort, an den er kommt, oder? Einen kleinen Lebensmittelladen, um für den Sabbat das weiße Brot zu kaufen (ist er arm, bekommt er es sicher umsonst, die Frau ist nett). Es muss einen festlich gedeckten Sabbattisch geben, an den man ihn einladen kann– mit vielen Kindern rings um den Tisch. Denn Kinder soll er ja mögen. Wir, die wir vom Baum der Erkenntnis gegessen und gelernt haben, was gut und was böse ist– und das Leben gewählt haben– wir müssen da sein.

Und du, meine Schwester, wirst zwischen uns sein. Wir sind ein Volk mit einem guten Gedächtnis. An einem bestimmten Tag im Jahr heulen in ganz Israel die Sirenen. Jeglicher Verkehr steht still, die Menschen auf den Straßen bleiben stehen, die Schüler in allen Schulen des Landes stehen auf– und wir erinnern uns. Wir erinnern uns an dich und an alle, die dein Schicksal teilten. Alle, die es von Angesicht zu Angesicht sahen– das Gesicht des Bösen. Das ist alles, was wir für euch tun können. Aber das ist viel. »Bedenke, mein Freund, dass wir danach streben müssen, uns selbst kennenzulernen, dass wir ermitteln müssen, was wir wollen und dass wir auf diese Weise dem Ziel unserer Sehnsucht näher kommen.« Das heißt: sehen und sehend bleiben wollen, trotz allem, nur allein auf diese Weise überwinden wir den Tod. Deinen Tod, meine Schwester– und meinen.

1979

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II

Die Angst deines Feindes

Der Handschlag vor dem Weißen Haus

Ich erinnere mich an das Schauspiel im Jahr 1993 auf dem Rasen vor dem Weißen Haus. Ein überglücklicher Präsident Clinton schob den damaligen israelischen Premierminister Yitzhak Rabin und den Anführer der Palästinenser, Jassir Arafat, in der allgemeinen Erwartung eines Handschlags behutsam aufeinander zu.