Wenn Liebe nicht reicht - Nova Meierhenrich - E-Book
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Wenn Liebe nicht reicht E-Book

Nova Meierhenrich

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Beschreibung

Laut Statistik erkrankt jeder fünfte Deutsche einmal in seinem Leben an einer behandlungsbedürftigen Depression. Dabei geht es nicht darum, dass man sich mal traurig, erschöpft oder antriebslos fühlt. Eine Depression ist eine ernstzunehmende und folgenschwere Erkrankung, die auch die Menschen im Umfeld des Erkrankten, insbesondere die nächsten Angehörigen, betrifft. Die Auswirkungen können bis hin zu einer so genannten Co-Depression reichen. Wie sehr die Krankheit das gesamte familiäre Umfeld in einen Strudel aus Hilflosigkeit, Verzweiflung, Hoffnung, Wut, Zuversicht, Trauer und Schuldgefühlen zieht, weiß Moderatorin und Schauspielerin Nova Meierhenrich. Ihr Vater litt über ein Jahrzehnt an Depressionen und verschwand immer mehr hinter dieser tückischen Krankheit. Am Ende wählte er den Freitod. Nun hat sie – nach eindrücklichen Gesprächen mit ihrer Mutter Helga – das Buch geschrieben, das der Familie damals so sehr gefehlt hat: Ein Buch für Betroffene und Angehörige, das die Depression zeigt, wie sie wirklich ist. In "Wenn Liebe nicht reicht" schildert Nova Meierhenrich mit großer Offenheit, wie sie und ihre Familie lange Jahre der psychischen Erkrankung hilflos gegenüberstanden, sich von Institutionen und auch dem Umfeld allein gelassen fühlten und wie sie letztlich selbst an einer Co-Depression erkrankte, der sie sich in einer Therapie stellte. Ergänzt durch Beiträge von Dr. Mazda Adli, einem der führenden Depressionsforscher Deutschlands, soll "Wenn Liebe nicht reicht" für die Erkrankung sensibilisieren, mit Vorurteilen aufräumen und Aufklärung leisten. Ein Buch, das gegen die immer noch vorherrschende Stigmatisierung und Tabuisierung einer Volkskrankheit ein Zeichen setzen, Mut machen und Betroffenen die konkrete Hilfestellung bieten will, die sich Nova Meierhenrich lange Jahre selbst so sehr gewünscht hat.

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Seitenzahl: 161

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Für dich, ich hätte mir keinen besseren Vater wünschen können

VORWORT

Es ist etwas über sechs Jahre her, dass ein einfacher Anruf am Vormittag eines kalten Februartages alles veränderte. Ein Anruf, in dem ein Journalist mir mitteilte, dass man von meinem »Schicksal« erfahren hätte und es oberste journalistische Sorgfaltspflicht wäre, darüber zu berichten … notfalls gegen meinen Willen. Es war der Moment, in dem mir unsere Familiengeschichte, die ich viele Jahre wie meinen Augapfel gehütet hatte, aus den Händen gerissen wurde. Ich erinnere mich, dass er am Ende des Gesprächs fast heiter fragte: »Haben Sie vielleicht vor, darüber ein Buch zu schreiben? Ist doch ’ne tolle Geschichte!« Ich habe damals etwas Abwehrendes gestammelt und aufgelegt. Fassungslos über so wenig Taktgefühl und Empathie.

Die nächsten Monate sprach ich mit niemandem mehr. Das brauchte ich auch nicht, die Geschichte unserer Familie wurde zigfach vervielfältigt, abgeschrieben, an den verschiedensten Orten veröffentlicht. Ich fühlte mich einfach nur machtlos und ausgeliefert. Ich war zu diesem Zeitpunkt selbst noch überhaupt nicht in der Lage, die Situation für mich zu greifen, geschweige denn hatte ich all das, was hinter uns lag, auch nur annähernd verarbeitet. Zu diesem Zeitpunkt immer wieder öffentlich damit konfrontiert zu werden, war ein Albtraum.

Es hat noch viele Monate gedauert, bis ich mich durchringen konnte, einmalig, öffentlich und freiwillig über das Thema Depression, die Geschichte unserer Familie und meine ganz persönliche Geschichte zu sprechen. Die Redaktion der Sendung »Beckmann« hatte mir nach vielen Malen, die sie angeklopft hatten, glaubhaft machen können, dass der richtige Rahmen geschaffen wurde, um über meine Erfahrungen mit dieser tückischen Krankheit zu sprechen. Es war eine der schwersten Aufgaben, denen ich mich bis dahin in meinem Leben stellen musste. Und diese waren auch schon all die Jahre zuvor nicht rar gesät. In den Stunden vor der Sendung saß ich völlig fertig in meiner Garderobe. Mein Puls auf 180, meine Hände zitterten. Und nach dem Interview, ganz knapp nachdem wir vom Sender waren, brach ich dann völlig in Tränen aus. Wer genau hinschaut, sieht es schon bei der Verabschiedung in meinen Augen glitzern. Ich fühlte mich wie nach einem Marathonlauf. Womit ich aber nicht gerechnet hatte: Noch in der Nacht der Ausstrahlung erreichten mich fast 1000 E-Mails. Von Betroffenen, von Angehörigen, von Menschen, die ihre ganz persönliche Geschichte rund um diese furchtbare Krankheit Depression mit mir teilten. Und die sich bedankten. Dafür, dass endlich jemand offen über diese vermeintliche Tabukrankheit spricht. Dafür, dass sie sich mit ihrer eigenen Geschichte nicht mehr ganz so allein fühlen. Dafür, dass sie ein klein wenig mehr verstanden haben, wie sich ihre Kinder, ihre Eltern, ihre Geschwister, ihre Angehörigen fühlen. Vielleicht war das der erste Moment, in dem ein winzig kleiner Gedanke in mir keimte, dass es alle eigene Anstrengung wert ist, über dieses Thema zu reden. Einfach nur, weil es anscheinend anderen geholfen hat, dass ich diesen für mich schweren Weg gegangen bin. An ein Buch habe ich zu diesem Zeitpunkt noch keinen Gedanken verschwendet. Es sollten noch viele Jahre ins Land gehen, bevor ich überhaupt auf Mails und Angebote dieser Art reagiert habe. Über sehr lange Zeit landeten alle Anfragen in diese Richtung unbeantwortet im Papierkorb.

Es war ein sehr langer Prozess, der sich über viele Jahre zog, in denen in mir schleichend und sehr langsam das Bedürfnis wuchs, dass all das, all der Schmerz, die Kraft, die erzwungene öffentliche Auseinandersetzung, doch für irgendetwas gut gewesen sein muss. Und langsam, ganz langsam nahm dieses Buch Gestalt an. Mir war von Anfang an wichtig, dass es auf keinen Fall nur eine Aufzeichnung meiner Geschichte sein sollte. Wenn dieses Buch geboren werden sollte, dann sollte es helfen. Es sollte aufklären, informieren, Hilfestellung leisten für all diejenigen, die diese benötigen. Denn auf meiner Suche nach Hilfe habe ich damals nichts gefunden, was Angehörigen eines depressiven Familienmitgliedes auch nur ansatzweise Hilfe geleistet hätte. Unsere Suche nach Hilfe war eine 18 Jahre dauernde Odyssee. Wenn dieses Buch es schafft, das auch nur einem Leser zu ersparen, war es all die Kraft wert, die die letzten Monate mir abverlangt haben.

Mein Wunsch ist es, diese bis heute tabuisierte Krankheit Depression greifbar zu machen und mit Vorurteilen aufzuräumen. Aus diesem Grund war es mir auch ein sehr großes Anliegen, einen der besten Ärzte in der Depressionsforschung mit an Bord zu haben. Ich bin sehr dankbar, dass Dr. med. Mazda Adli sofort zugesagt hat und mit seinen Ausführungen dazu beiträgt, zu verstehen, mit was wir es eigentlich zu tun haben. Als Chefarzt der auf psychische Störungen spezialisierten Fliedner Klinik Berlin und Leiter der Abteilung für »Affektive Störungen« an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Berlin ist er einer der führenden Depressionsforscher in Deutschland. Mit seinem Fachwissen wird er meine persönlichen Ausführungen begleiten und einordnen.

Aber ohne die wichtigste Person in meinem Leben wäre es gar nicht gegangen, und ohne sie gäbe es dieses Buch auch heute nicht. Mir war von Anfang an klar, dass ich unsere Geschichte nicht ohne meine Mutter aufschreiben können würde. Sie war als Ehefrau die Erste, die mit der Krankheit konfrontiert wurde, die Erste, die nach Hilfe suchte, die Erste, die gegen Mauern rannte, die Erste, die sich selbst Hilfe suchte, um ihrem Mann helfen zu können. Wir haben in den letzten Jahren viel über meinen Vater geredet, uns viel ausgetauscht. Aber die Arbeit an diesem Buch erforderte noch einmal ganz tief zu gehen, sich zu erinnern, gut Verschlossenes wieder hervorzuholen. Ich bin ihr unendlich dankbar, dass sie sich auf diesen schweren Weg mit mir gemacht hat. Dass sie den Mut hatte.

Das Buch ist in langen Gesprächen zwischen uns entstanden. Tage, an denen wir viele Stunden zusammensaßen und uns erinnerten. In denen wir redeten, schwiegen und weinten. Und lachten. Denn auch die schönen Erinnerungen haben wir natürlich nicht ausgespart. Wer sich fragt, warum meine drei Brüder auf den nächsten Seiten fast unerwähnt bleiben, dem sei gesagt, dass dies ganz bewusst, in Absprache und aus Respekt ihnen gegenüber geschieht. Wir alle haben unsere ganz persönliche Geschichte, unsere eigene Gefühlswelt, unsere eigene Art und Weise, mit unserer Geschichte umzugehen. Ich kann nur meine Geschichte erzählen, über meine Gefühle, über meine Herausforderungen. Genau das habe ich versucht. In der Hoffnung, dass es einen kleinen Beitrag dazu leistet, dass wir uns endlich trauen offen über diese Krankheit zu reden.

»Mama, hasst du Papa eigentlich dafür, dass er das getan hat?«

»Ich war furchtbar wütend, dass er das getan hat, aber ich habe meinen Frieden damit gemacht. Ich glaube, er war hier nur noch unglücklich.«

DER ANRUF

Es gibt diese Tage, an denen weiß man noch Jahre später genau, wo man zu welchem Zeitpunkt war. Was man in diesem Moment gemacht hat, wie das Wetter war, wie es roch. Manche Ereignisse im Leben sind so einschneidend, alles bestimmend, dass alles so klar ist, als wäre es gestern gewesen. Dieser Tag im Frühjahr 2011 ist so ein Tag. Die Ereignisse so klar in meinem Kopf, als sei alles erst gestern gewesen.

Ich war zu diesem Zeitpunkt in München, hatte die Hauptrolle in einer ZDF-Serie übernommen und stand gerade Tag für Tag vor der Kamera. Morgens war ich um sechs Uhr in der Maske, am Abend oft erst gegen 22 Uhr wieder zu Hause. Ich hatte mir für diese Zeit eine kleine möblierte Ein-Zimmer-Wohnung in München genommen, in der ich nach Drehschluss meinen Text für den nächsten Tag lernte. Der Serienstart stand kurz bevor. Jeden Tag Pressetermine. Die Maschinerie lief auf Hochtouren. Genau in dieser Phase kam der Anruf.

Es war ein Sonntagmorgen, vielleicht halb sieben, an dem mein Handy klingelte. Auf dem Display der Name meiner Mutter. Und da wusste ich es. Ich wusste es, bevor ich abgenommen hatte. Ich wusste es, weil es so klar war. Es ist vorbei. Er hat es getan. Mein Vater ist tot.

Ich kann mich erinnern, dass ich danach den ganzen Tag weinend durch München gelaufen bin. Ich habe mich an die Isar gesetzt, in die Ferne geschaut und einfach nur geweint. In dieser großen, anonymen Stadt, in der ich kaum jemanden kannte, in der ich zu dieser Zeit keine wirklich engen Freunde hatte, die für mich zu diesem Zeitpunkt nur Produktions- und Arbeitsort darstellte, war ich allein. Und neben meiner unendlichen Traurigkeit tat sich mir auch gleich das nächste riesige Problem auf. Ich wollte um jeden Preis verhindern, dass irgendjemand etwas von meinem privaten Schicksalsschlag erfährt. Eine Woche vor Sendestart wäre für die Pressestelle des Senders jeder Aufhänger mit Kusshand genommen worden, um Aufmerksamkeit für die neue Serie zu generieren. Und das ist nicht böse gemeint, so ist unsere Branche einfach, so tickt das Business. Ich spielte eine junge Ärztin; da hätte die Schlagzeile »Hauptdarstellerin verliert Vater« gut gepasst. Aber von seinem Tod sollte niemand etwas mitbekommen. Ich hatte es all die Jahre geschafft, die Krankheit meines Vaters aus der Öffentlichkeit herauszuhalten. Meinen Vater, meine Familie zu schützen. Das musste mir auch jetzt, nach seinem Tod, gelingen.

Also habe ich versucht zu funktionieren. Zwei Visagistinnen hatte ich eingeweiht, ebenso zwei meiner Schauspielkolleginnen, die mir sehr vertraut waren. Wenn ich zwischendurch mal wieder weinend zusammengebrochen bin, haben sie mich abgeschirmt, mich neu geschminkt, mir ein bisschen Raum und Zeit verschafft, um mich zu sammeln. Das war eine verdammt harte Zeit. Der Drehplan war eng und voll. Es war unmöglich, zwischendurch für eine längere Zeitspanne nach Hause zu fahren. Es gab keine Zeit, um mich meiner Trauer richtig zu stellen. Eine Woche, nachdem ich vom Tod meines Vaters erfahren hatte, konnte ich zumindest kurz meine Familie besuchen. Nur für ein Wochenende. Hier konnte ich mich erstmals fallen lassen. Weinen, nicht funktionieren müssen, meinen Gefühlen freien Lauf lassen. Das tat unendlich gut. Insgesamt dauerten die Dreharbeiten noch mehrere Monate an, bis in den Sommer hinein. Fast niemand hat mitbekommen, wie schlecht es mir in dieser Zeit eigentlich ging. Und auch wenn unsere Familie schon immer ein enges Band verbunden hat, so ist der Zusammenhalt zwischen mir, meinen Brüdern und meiner Mutter in dieser Zeit noch stärker geworden.

Jetzt, wo ich hier sitze und die Geschehnisse dieser Tage und der Jahre zuvor, gemeinsam mit meiner Mutter, Revue passieren lasse, kommen alle diese Gefühle wieder hoch. Obwohl wir es geahnt haben, obwohl wir auf diesen Tag schon fast gewartet haben – es überrollt dich komplett. Es ist ganz schwer zu beschreiben, diese jahrelange Anspannung und plötzlich ist der Tag, den du wie keinen anderen gefürchtet hast, da. Für mich war es ein völliger Zusammenbruch. Ich war verzweifelt, aber auch so unfassbar wütend. Wütend, dass er es wirklich getan hat. Wütend, dass er sich entschieden hatte zu gehen, obwohl wir doch alle da waren. Wütend, weil mein Vater uns mit diesen lebenslangen Schuldgefühlen zurückgelassen hat. Dieser eine Gedanke »Hätte ich nicht vielleicht doch noch etwas tun können?« lässt dich nie mehr los. Wenn ein dir nahestehender Mensch eines natürlichen Todes stirbt, findest du irgendwann deinen Frieden. Bei jemandem, der bewusst geht, bleibt immer das Gefühl, du bist nicht gut genug gewesen, um ihn in dieser Welt halten zu können. Das ist es, was ich bis heute mit mir herumtrage: Du warst nicht gut genug.

Auch meine Mutter kämpft bis heute immer wieder mit ihren Schuldgefühlen. Sie werden weniger, flachen ab, aber sie verschwinden nie ganz. »Es kommen immer wieder Tage, an denen auch ich mich bis heute frage, ob es noch etwas gegeben hätte, dass ich hätte tun können. Darauf werden wir alle niemals eine Antwort erhalten«, sagt sie.

So eine Nachricht lässt sich nicht in wenigen Minuten erfassen. So eine Nachricht braucht Zeit, um sich durch den ersten Schock zu fressen. Meine Mutter hat noch uns Kinder angerufen, uns informiert und dann war Stille. Wir haben mit niemandem geredet, nur später am Tag noch einmal miteinander telefoniert. Jeder hat für sich versucht, mit dem ersten Schmerz klarzukommen. Meine Mutter zu Hause mit meinen Brüdern, ich allein in München. Aber die eigentliche Trauerarbeit hat erst viel später eingesetzt. Auch wenn vor allem meine Mutter und ich viel geredet haben, hat es Jahre gedauert, bis wir über bestimmte Dinge sprechen konnten, ohne anzufangen zu weinen. Und wenn wir jetzt hier miteinander sitzen und reden, gibt es noch immer Fragen, die ich meiner Mutter bis heute nie gestellt habe. Und doch haben wir heute alle irgendwie unseren Frieden mit unserer Familiengeschichte gemacht, jeder auf seine Art.

Ich bin der festen Überzeugung, dass es meinem Vater jetzt besser geht. Das Leben, das er zuletzt gelebt hatte, wollte er nicht mehr. Die Krankheit hatte jegliche Lebensfreude in ihm getötet. Ich weiß, so kann alles jetzt nur besser für ihn sein, egal, was das jetzt ist. Das ist die Brücke, die ich mir gebaut habe, die mir jeden Tag aufs Neue hilft, seinen Freitod irgendwie zu akzeptieren.

»Wir haben anfangs nie darüber geredet, wie Papa sich verändert hat. Du hast die ersten Jahre immer Entschuldigungen für sein Verhalten gesucht.«

»Ich habe natürlich versucht, ihn in Schutz zu nehmen.«

»Alles wurde immer grundsätzlich auf die Arbeit geschoben.«

SCHLEICHENDE ANFÄNGE

Im Rückblick ist heute gar nicht mehr klar zu sagen, wann genau mein Vater angefangen hat, sich zu verändern. Es waren Kleinigkeiten in seinem Verhalten, die uns manchmal wunderten und verwirrten, die aber alle für sich genommen keine große Sache darstellten. Für viele dieser kleinen Veränderungen fanden sich anfangs noch einfache Erklärungen. Erst die Summe der Verhaltensauffälligkeiten ließ uns irgendwann erkennen, dass mit meinem Vater etwas nicht stimmte. Mit dem Wissen von heute fügt sich das Bild natürlich wie ein Puzzle zusammen. Mein Vater rutschte damals Stück für Stück in eine schwere Depression. Viele seiner Verhaltensweisen lassen sich heute als typische Symptome für diese Krankheit identifizieren. Aber es ist wie so oft im Leben: Im Nachhinein ist man immer schlauer … Es hat Jahre gedauert, bis wir überhaupt erkannt haben, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung war. Und da war von Depressionen noch lange keine Rede. Diese Krankheit wird im Grunde erst seit wenigen Jahren öffentlich wahrgenommen.

Vielleicht war es der Fall von Robert Enke, Torwart des Bundesligisten Hannover 96 und Mitglied der Fußball-Nationalmannschaft, der dafür sorgte, dass das Thema Depressionen in Deutschland erstmals in einen breiten öffentlichen Fokus rückte. Robert Enke nahm sich aufgrund seiner Depressionen im Herbst 2009 das Leben und lenkte damit die Aufmerksamkeit auf eine viel zu lang unterschätzte Krankheit. Vielleicht hätten wir früher erkannt, was mit meinem Vater los ist, wenn über diese Krankheit schon mehr bekannt gewesen wäre. Aber als es bei meinem Vater mit den ersten Anzeichen losging, wussten wir so gut wie nichts über Depressionen. Das war Anfang, vielleicht Mitte der 1990er Jahre.

Wenn ich meinen Vater in einem Wort charakterisieren sollte, würde ich sagen: Familienmensch. Ich habe ihn als einen absoluten Familienmenschen in Erinnerung, der uns über alles gestellt hat. Ursprünglich wollten meine Eltern mal sechs Kinder haben; es wurden vier. Für meinen Vater war die Familie das höchste Gut. Natürlich hat er in der Woche gearbeitet – und das nicht wenig, aber am Wochenende war er nur für uns da. Er hat wirklich viel, viel Zeit mit meinen Brüdern und mir verbracht, und aus meiner Sicht hatten wir eine absolut erfüllte und schöne Kindheit. Mein Vater liebte es zum Beispiel, Ausflüge mit uns zu machen. Er dachte sich ständig neue Überraschungen aus. Mal wollte er uns unbedingt den Kölner Dom zeigen, ein anderes Mal musste es der Henninger Turm in Frankfurt sein. Das waren Tagesausflüge mit der gesamten Familie. Wir wussten vorher nie, wohin es an diesen Tagen gehen würde. Mein Vater packte uns morgens ins Auto und düste einfach los. Plötzlich hieß es dann: Wir sind da – und der Tag konnte beginnen. Den Tag in Frankfurt erinnere ich nur noch schemenhaft. Wir standen oben auf dem Henninger Turm, wo es eines dieser drehbaren Restaurants gab. Dort aßen wir und hatten einen wunderschönen Blick über Frankfurt. Später gingen wir noch in den Frankfurter Zoo. Mein Vater fuhr natürlich nicht mehrere Stunden mit uns Kindern über die Autobahn, nur um ein Mal vor irgendeinem Turm zu stehen. Diese Touren waren immer komplett durchgeplante Tagesausflüge, denn mein Vater liebte es, Zeit mit uns zu verbringen, und wollte an diesen besonderen Tagen möglichst viele Erlebnisse und Erinnerungen schaffen.

Dazu gehörten auch unsere zahlreichen, langen Spielenachmittage. Am liebsten spielten wir Brettspiele, dabei war uns jede Art von Gesellschaftsspiel recht, von »Monopoly« bis »Mensch ärgere Dich nicht«. Wir waren vier Kinder und besaßen sicher mehr als 50 der unterschiedlichsten Gesellschaftsspiele. Oft genug kam es vor, dass uns ein Abend oder Nachmittag nicht ausreichte. Dann belagerten wir mit dem noch nicht beendeten Spiel unseren Esstisch, sodass manchmal tagelang woanders gegessen werden musste. Das Spiel ging immer vor. In unserem Wohnzimmer stand ein großer, runder Tisch, den man auseinanderziehen und vergrößern konnte, indem man weitere Platten einfügte. Diese hatten auf der einen Seite eine normale Holzoberfläche und waren auf der anderen Seite mit Filz beklebt, sodass man darauf besser spielen konnte. Und diese zweite Seite wurde intensiv genutzt.

Mein Vater ließ es sich auch nie nehmen, bei unseren Kindergeburtstagen dabei zu sein. Es machte ihm Spaß, diese für uns besonderen Tage zu planen. Und er dachte sich immer etwas Großes aus. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Schnitzeljagd, die er organisiert hat. Keine einfache Schnitzeljagd, sondern eine große, aufwendige, komplizierte. Bevor wir Kinder loszogen, gab er uns 20 Pfennig. Denn am Ende der Jagd stand eine Telefonzelle, von der aus wir eine bestimmte Nummer anrufen sollten. Das war immer alles richtig ausgefuchst. Er liebte solche Spielereien und durchdachten Pläne.

Ich glaube, dass unser Familienleben für ihn der Ausgleich zu seinem anstrengenden Berufsalltag war. Mein Vater war ein Workaholic, ein Ingenieur und Tüftler, der gemeinsam mit seinem Bruder den Familienbetrieb des Vaters übernommen hatte. Die Firma verarbeitete Kunststoff und produzierte die unterschiedlichsten Dinge. Ich weiß noch, dass für »4711« mal ein Apfel aus Plastik hergestellt wurde, der dem legendären Eau de Cologne dann als Verpackung diente. Solche Artikel konstruierte mein Vater, ließ die entsprechenden Spritzgut-Werkzeuge dafür bauen und produzierte sie dann im familieneigenen Betrieb. Genauso gut konnte es aber auch sein, dass die Firma Blutwäsche-Filter für die Dialyse herstellte. Oder Segelbedarf. Das Sortiment war äußerst vielfältig. Solange es mit Kunststoff zu tun hatte, konnte er es bauen. Ich war oft in der Firma meines Vaters und entsprechend oft in den Werkshallen unterwegs. Schon zu der Zeit, als mein Opa noch lebte, liebte ich es, dort zu sein. Alles dort war einfach nur spannend, diese ganzen Maschinen, Lagerräume und sogar die Büros. Da standen riesige Säcke mit buntem Plastikgranulat herum, es roch sehr speziell und alles war immer voller öliger Schmiere. Mein Vater hatte immer schwarze Hände, weil er als Ingenieur ständig an den Maschinen zugange war. Überall an den Ein- und Ausgängen der Werkshallen standen große Kübel mit einer speziellen Waschpaste herum, ohne die man die Hände nie wieder sauber bekommen hätte. Diese Waschpaste – es gab sie sogar in Fünf-Liter-Bottichen – brachte mein Vater auch immer mit nach Hause, um uns Kinder nach ganz intensiven Lehmbergtagen wieder sauber zu bekommen. In der Phase unseres Hausbaus spielten wir Kinder fast ausschließlich auf den Lehmbergen, die rund um die Baustelle unseres Hauses aufgetürmt waren. Dementsprechend sahen wir abends auch aus. Für meine Eltern, die beide immer schon sehr pragmatisch waren, kein Problem. Meine Mutter sagte immer: »Die Kleidung können wir waschen – und die Kinder auch.« Hier kam dann auch immer mal wieder die Waschpaste zum Einsatz.