Wenn nichts bleibt außer Schmerz - Dania Dicken - E-Book

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Dania Dicken

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Beschreibung

Zwei kleine Kinder und ihre schwangere Mutter sind tot. Tatverdächtig: Der Familienvater, der mit einem blutigen Messer in der Hand aufgewacht ist, sich jedoch an nichts erinnert.
Als die Hiobsbotschaft Gregory in England erreicht, glaubt er fest an die Unschuld seines deutschen Cousins. Um ihm zu helfen, tut er etwas, das er zuvor selbst nie für möglich gehalten hätte: Er bittet Andrea, noch einmal als Profilerin aktiv zu werden.
Ihrem Mann zuliebe versucht Andrea, die deutsche Polizei bei den Ermittlungen zu unterstützen. Dabei stößt sie in ungeahnte Abgründe vor und gerät schließlich selbst in tödliche Gefahr ...
Neuauflage des unter dem Titel "Am Ende der Schmerz" erschienenen Thrillers von be.thrilled (2017)

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Dienstag, 8. September
Donnerstag, 10. September
Freitag, 9. September
Dienstag, 15. September
Dienstagnacht
Mittwoch, 16. September
Freitag, 18. September
Samstag, 19. September
Sonntag, 20. September
Montag, 21. September
Donnerstag, 17. September
Dienstag, 22. September
Dienstagabend
Mittwoch, 23. September
Mittwochabend
Donnerstag, 24. September
Freitag, 25. September
Samstag, 26. September
Montag, 28. September
Montag, 5. Oktober
Epilog
Nachbemerkung
Impressum

 

 

 

Dania Dicken

 

 

Wenn nichts bleibt außer Schmerz

 

Profiler-Reihe 7

 

 

 

Psychothriller

 

 

 

 

 

 

Neuauflage 2023

 

Zuerst erschienen unter dem Titel „Am Ende der Schmerz“ bei be.thrilled, Köln (2017)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eifersucht enthält mehr Eigenliebe als Liebe.

 

François de La Rochefoucauld

Dienstag, 8. September

 

Es gibt Dinge, die bleiben.

Fähigkeiten wie Schwimmen oder Fahrradfahren. Einmal erlernt, bleiben sie.

Aber auch Narben bleiben. Narben am Körper, auf der Haut. Und dasselbe gilt für Narben auf der Seele. Auch die bleiben.

Der Tag, an dem Andreas bisheriges Leben endete, war einer der ersten sonnigen Frühlingstage gewesen. Ein Tag, an dem sie die Kraft hatte, einem Mädchen zu helfen, dem man nicht nur die Kindheit, sondern das Recht auf ein eigenes Leben geraubt hatte. Jahrelang hatte sie die Kraft und den Mut besessen, dem Schrecken zu begegnen, den die menschliche Psyche hervorbringen konnte. So wie bei dem Mädchen, das noch als Kind von Männern als Sklavin gehalten worden war und in das tiefste, dunkelste Loch geblickt hatte, das man sich denken konnte. Nicht einmal das hatte sie abgeschreckt, obwohl sie diesem Schicksal selbst nur knapp entronnen war.

Doch seit Andrea Katies Entführern selbst begegnet war, hatte sie keine Kraft mehr, um in die Abgründe der menschlichen Seele zu blicken. Dieses eine Mal hatte sie kein Glück gehabt. Sie hatte ihren schlimmsten Alptraum durchlebt und obwohl sie aufgewacht war, war er nicht vergessen. Es hatte ihn gegeben. Er war real.

Das wusste sie auch anderthalb Jahre später noch. Denn sie spürte es an jedem Tag, an dem sie ihre Arbeit an der Universität verrichtete. Dort sprach sie über das Profiling, ohne es selbst noch durchzuführen. Es war nur noch Theorie. Passivität. Mit jedem Tag, den sie dort in ihrem Büro verbrachte, sehnte sie sich nach ihrem alten bei der Polizei. Sehnte sich nach dem Beruf, der ihr alles bedeutet hatte. Aber sie hatte sich zu schwach gefühlt, um ihn noch auszuüben. Zu versehrt.

Sie zog die Schultern hoch und richtete ihre Gedanken wieder auf Julie, zumindest für einen Moment. Die kleine Hand fest um den Bleistift geschlossen, saß sie vornübergebeugt über ihrem Heft und grübelte über ihrer Rechenaufgabe. Sie hatte sich sehr verändert in der Zeit, in der sie zum Schulkind herangewachsen war. Inzwischen hatte sie keine kleinen krausen Locken mehr, sondern sanftere, weichere Wellen – vermutlich, weil ihr Haar inzwischen mehr als schulterlang war. Sie mochte es so. Für ihr Alter war sie verhältnismäßig klein und hatte den Babyspeck verloren, so dass sie inzwischen eher drahtig wirkte. Andreas aufgeweckte, hübsche Tochter. Sie war sehr stolz auf Julie.

Gregory hatte verstanden, dass Andrea keine weiteren Kinder mehr wollte. Sie fürchtete, dem nicht gerecht zu werden. Sie brauchte doch ihren Beruf, der sie daran erinnerte, dass sie manches sehr gut konnte.

Daneben hatte Julie all ihre Liebe. Wie sollte Andrea ihr noch gerecht werden, wenn sie diese Liebe mit einem weiteren Kind teilen musste? Greg hatte ihr daran zwar klargemacht, dass sie zu sehr auf ihre Tochter fixiert war, aber das konnte und wollte Andrea nicht ändern. Noch nicht. Sie verlor Julie noch früh genug an die Welt – und würde fürchten müssen, dass sie das hässliche Gesicht dieser Welt kennenlernte, das Andrea bereits begegnet war. Vor sieben Jahren zum ersten Mal.

Aber vor sieben Jahren war ihr auch Gregory begegnet. Der Mensch, bei dem sie sich am sichersten und wohlsten fühlte. Er sah ihr alles nach, unterstützte sie, hatte meistens Verständnis und zeigte ihr immer seine Liebe. All das war ihm hoch anzurechnen, denn sie wusste, es war oft auch schwierig, mit ihr zusammen zu sein.

Besonders seit diesem einen Tag.

Andrea wusste nicht, was sie ohne Greg getan hätte. In ihr war das starke Gefühl, ohne ihn nicht leben zu können, und vielleicht stimmte das sogar. Dieses Gefühl war so intensiv, dass er nicht befürchten musste, ihre Liebe zu ihm hätte gelitten, seit sie ein Kind hatten. Ihre Liebe für Julie hatte die für Gregory nicht verdrängt. Nichts auf der Welt war Andrea so wichtig wie die beiden. Sie entschädigten sie.

Für vieles. Aber nicht für alles.

Mit einer Frage riss Julie sie aus ihren Gedanken. Während Andrea versuchte, sie ihr zu beantworten, dachte sie daran, wie stark Julies Akzent inzwischen war, wenn sie Deutsch sprach. Das war anders als bei ihrem Vater. Andrea genehmigte sich einen kurzen Blick auf die Uhr, um zu sehen, wann er nach Hause kam. Er fehlte ihr in jedem Augenblick, in dem sie getrennt waren. Seine Ruhe, die immer auf sie abfärbte; die Art und Weise, in der er sowohl Julie als auch ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Bei ihm fühlte man sich angenommen.

„Ich habe keine Lust mehr“, postulierte Julie knatschig und verzog die Lippen. „Kann ich nicht erst etwas spielen?“

„Wie viel hast du denn noch?“, fragte Andrea.

„Das da.“ Sie zeigte auf einen kleinen Aufgabenblock.

„Und für Englisch?“

„Ein Blatt.“

Noch rang Andrea mit sich. „Wenn wir uns darauf einigen können, dass alles bis zum Abendessen fertig ist, kannst du jetzt auch noch ein bisschen spielen.“

Julie strahlte und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. Lächelnd schaute Andrea ihr nach, als sie in den Garten lief. Draußen war so schönes Wetter, dass sie Julies Wunsch verstehen konnte, nicht den ganzen Nachmittag drinnen mit den Hausaufgaben zu verbringen. Sie hatten einen verregneten Sommer gehabt, aber dafür war der Herbst golden. So golden wie vor sieben Jahren, als sich alles für sie entscheidend verändert hatte.

Sie schob den Gedanken beiseite und ging in den Flur, um von der Kommode die Akte zu holen, die sie zuvor dort hingelegt hatte. Ein Detective Inspector aus Devon hatte ihr Kopien der Akte eines Mordfalls geschickt, an dem er gerade zu verzweifeln drohte. Auch wenn Andrea es offiziell nie zugegeben hätte, half sie immer noch manchmal mit einem Kurzprofil bei Ermittlungen, die ins Stocken geraten waren. Joshua leitete die Akten aus London an sie weiter, ohne je ein Wort darüber zu verlieren. Anfangs hatte Andrea geglaubt, er tat es, um sie für sein Team zurückzugewinnen. Aber dann war ihr klargeworden, dass er es ihr zum Gefallen tat.

Sie setzte sich mit der Akte aufs Sofa und schlug sie auf. Sexualmord an einer jungen Friseurin. Man hatte DNA-Spuren gefunden, wusste aber nicht, wie man zu einer sinnvollen Eingrenzung für einen Massengentest gelangen sollte. Der Freund des Opfers hatte freiwillig eine Speichelprobe abgegeben und war bereits entlastet worden. Weitere Verdächtige gab es nicht.

Das war ein Punkt, den Andrea von vornherein in Zweifel zog. Bei den meisten Sexualverbrechen kannten sich Täter und Opfer. Das glaubte sie auch hier, denn die junge Frau war in ihrer Wohnung vergewaltigt und getötet worden. Einbruchsspuren gab es nicht, man hatte die Leiche zugedeckt gefunden. Andrea war sicher, dass die junge Frau ihren Mörder gekannt hatte. Vielleicht eine Internetbekanntschaft?

Sie schrieb all ihre Gedanken auf, um nichts zu vergessen. Schließlich war sie so vertieft, dass sie fast überhört hätte, wie die Haustür ins Schloss fiel. Die Schlüssel klimperten am Schlüsselbrett, Stoff raschelte. Augenblicke später erschien Gregory im Wohnzimmer.

„Hey“, sagte sie lächelnd und legte die Akte auf den Tisch. „Da bist du ja schon.“

„Ja, ich war pünktlich an der Reihe“, erwiderte er, kam zu ihr und küsste sie zur Begrüßung. Irritiert blickte sie zu ihm auf, doch dann fiel es ihr wieder ein. Er hatte einen Arzttermin gehabt, im Kalender war er eingetragen. Nur hatten sie nicht mehr darüber gesprochen.

„Und, was meint er?“, fragte sie.

„Dasselbe wie du. Zuviel Stress.“ Achselzuckend wandte Greg sich ab und ging in die Küche.

„Was schlägt er vor?“

„Das Übliche. Weniger arbeiten, Urlaub nehmen, Ausgleich, mehr Schlaf. Als ich ihm sagte, dass da eins der Probleme liegt, hat er mir etwas gegen die Schlafstörungen aufgeschrieben“, kam es aus der Küche zurück. Andrea hörte, wie der Kühlschrank geöffnet wurde.

„Daddy?“ Julie steckte ihren Lockenschopf durch die Tür und fegte Richtung Küche, als sie erst einmal festgestellt hatte, dass Greg tatsächlich da war.

„Sweetie”, sagte er. Obwohl Andrea es nicht sehen konnte, wusste sie, dass er Julie zur Begrüßung umarmte. Die beiden hatten ein bestimmtes Ritual.

„Come, play with me!“, forderte Julie wie üblich auf Englisch.

„Maybe later. I‘m tired“, erwiderte Greg. Julie brummte enttäuscht und trottete mit Schmollmund zurück in den Garten. Andrea grinste. Gregory erschien mit einem Glas Saft in der Hand in der Tür und lehnte sich an den Türrahmen. Er sah tatsächlich erschöpft aus. Schon seit einigen Wochen wirkte er immer wieder abgeschlagen, saß abends ohne Energie auf dem Sofa und schlief beim Fernsehen ein, lag dafür aber nachts wach. Als Andrea ihn darauf angesprochen hatte, hatte er es mit dem Stress auf der Arbeit begründet. Es waren Stellen abgebaut, die Arbeit auf die verbliebenen Mitarbeiter verteilt und Umstrukturierungen vorgenommen worden. Da Gregory allerdings nichts mehr hasste als Überstunden, arbeitete er wie besessen, um pünktlich fertig zu werden.

Die Folgen gefielen Andrea nicht. Über Psychosomatik musste er ihr nichts erklären, damit kannte sie sich aus leidvoller Erfahrung hervorragend aus. Schwierig war nur, dass er gern seine Probleme mit sich selbst ausmachte – und außerdem war er sowieso nie krank, so wie die meisten Männer. Sie hatte ihn ziemlich lang überreden müssen, bis er sich endlich einen Arzttermin hatte geben lassen. Die Blutabnahme war jedoch ohne Ergebnis geblieben.

„Aber sonst ist alles in Ordnung?“, fragte Andrea. Ihre Blicke begegneten sich.

„Alles gut“, sagte er knapp und nahm noch einen Schluck.

„Du musst nicht den Helden spielen, das weißt du.“

„Ich spiele nicht den Helden. Ich muss kürzer treten, das ist alles. Ich werde auch nochmal hingehen, wenn es dich beruhigt.“

Unverwandt sah sie ihn an und lächelte. Irgendwie mochte sie doch seinen fürchterlichen Sturkopf. Dennoch blickte sie forschend in seine braunen Augen und überlegte, ob er ihr etwas verheimlichte. Zwar kannte sie Greg schon so lang und sie waren schon ewig verheiratet, aber wenn er ihr etwas nicht sagen wollte, dann behielt er es für sich. Er konnte besser schweigen als ein Grab und ihr war nicht dieselbe Fähigkeit gegeben, wie sein Bruder Jack sie besaß, ihm alles zu entlocken. Und das, obwohl Jack ihn immer fürchterlich ärgerte und in Gregs dunklen lockigen Haaren gern nach ersten Anzeichen für graue Haare suchte. Andrea jedenfalls fand, man sah Gregory seine inzwischen siebenunddreißig Jahre nicht an. Er sagte immer, Julie hielt ihn jung. Dabei tollte er in letzter Zeit auch nicht mehr so ausgelassen mit ihr herum.

Vielleicht hatten die letzten Jahre nur genauso ihre Spuren an ihm hinterlassen wie an Andrea. Die Begegnung mit Amy Harrow hatte ihn verändert, und ihre Begegnung mit den Entführern von Katie und Tracy Archer hatte nicht nur Auswirkungen auf sie, sondern auf ihre gesamte Beziehung gehabt.

„Ich freue mich auf Samstag“, sagte Gregory in die Stille hinein.

„Ja. Kaum zu fassen, dass Emma schon ein Jahr alt ist“, sagte Andrea. Emma war die Tochter von Jack und Rachel und hatte einige Tage vor ihrem Vater Geburtstag, so dass die Gelegenheit günstig war, beide Feste auf einmal zu feiern. Jacks Geburtstag war am Sonntag, so dass sie hineinfeiern konnten. Auch Christopher und Sarah waren eingeladen, denn inzwischen gehörten sie so gut wie zur Familie. Detective Sergeant Christopher McKenzie war nicht nur Andreas Kollege gewesen, vor allem war er ein Freund – genau wie Sarah, ihre Freundin aus Studienzeiten.

Gregory gesellte sich nach draußen zu Julie und schaffte es irgendwie, sie kurz darauf dazu zu bewegen, doch die Hausaufgaben mit ihm zu Ende zu bringen. Eigentlich ging Julie gern zur Schule. Sie mochte ihre Lehrerin und ihre Mitschüler. Was sie jedoch nicht mochte, waren Hausaufgaben.

„Zwei plus vier“, sagte Gregory und deutete auf etwas in Julies Mathebuch. „Was ist dann vier plus zwei?“

Verlegen sah Julie ihn an. Greg griff zu einem zusätzlichen Blatt und malte in verschiedenen Farben kleine Punkte darauf.

„Das ist das Gleiche“, sagte Julie schließlich. „Das ist genauso viel.“

„Richtig. Und wie viel ist es?“

Sie zählte die Punkte einzeln ab. „Sechs.“

„Richtig. Gut gemacht.“ Gregory strich ihr übers Haar und Julie strahlte. Sie ging jetzt seit ein paar Wochen zur Schule, war im Mai fünf geworden. In England wurden Kinder schon in diesem Alter eingeschult, was Andrea zuerst skeptisch betrachtet hatte, doch dann hatte sie festgestellt, dass Julie gut damit zurechtkam. Und dadurch, dass die Schule nicht schon am Mittag endete, hatte Andrea mehr Zeit, um auch einer Arbeit nachzugehen. Für sie hatte sich nie die Frage gestellt, dass sie sich hauptsächlich um die Kleine kümmerte. Sie brauchte das. Doch Greg brachte sich ebenfalls stark ein und sie wusste, er war traurig, dass sie es bei einem Kind belassen wollte – aber sie konnte doch nicht anders ...

Bis zum Abendessen war Julie mit ihren Hausaufgaben fertig. Andrea fand es spannend, dabei zuzusehen, wie sie Lesen und Schreiben auf Englisch lernte und wie Greg ihr ganz vorsichtig die deutsche Bedeutung der Buchstaben zeigte, so wie Anna es früher bei ihm und Jack auch getan hatte. Glücklicherweise hatte sie keinerlei Schwierigkeiten damit.

Weil Greg sich schließlich darum kümmerte, sie ins Bett zu bringen, konnte Andrea noch einen Blick in die Fallakte aus Devon werfen. Sie wertete die Hinweise aus, die sich aus dem Tatort und der Auffindesituation der Leiche ergeben hatten und machte den Detective Inspector auf einige Schlüsse aufmerksam, die in ihren Augen falsch waren. Außerdem formulierte sie einige Kriterien, nach denen die Polizei eine Eingrenzung für den Massengentest vornehmen konnte. Sie sollten jeden jungen Mann mit einbeziehen, von dem es Nachrichten auf dem Computer oder im Handy der Toten gab, ganz egal wie verdächtig jemand nun wirklich aussah.

Schließlich sah Andrea nach Julie, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben. Als sie friedlich in ihrem Bett lag, gingen Gregory und Andrea wieder nach unten und schauten sich die Nachrichten an. Ein Abend wie jeder andere in den letzten anderthalb Jahren. Andrea wusste, dass Gregory froh war, weil sie nicht mehr im Profiler-Team arbeitete – und auch nicht als Polizeipsychologin. Dass sie sich seitdem wieder Fallakten anschaute, war auch eine rein freiwillige Sache, kein Muss. Das ließ sie wehmütig an ihren alten Job zurückdenken und ihn als etwas verklären, das er nicht war. Man tauchte ein in die Gedankenwelt von psychisch kranken Mördern, von Vergewaltigern, menschenverachtenden Verbrechern. Sie hatte von einem Vierzehnjährigen die blutigen Ohren entgegengenommen, die er einem Säugling abgeschnitten hatte. Sie hatte wiederholt mit der Frau gesprochen, die ihr Buchstaben in den Bauch geritzt hatte. Sie hatte sich einem Sexualsadisten gegenübergesehen, einem Entführer, Kinderschändern ...

Warum fehlte ihr das immer noch?

 

Donnerstag, 10. September

 

„Für die USA sind ausnehmend viele Serienmorde dokumentiert. Allerdings war das FBI auch die erste Behörde weltweit, die sich so eingehend mit dem Phänomen Serienmord beschäftigt hat. Der Begriff Profiling wurde Ende der 1970er Jahre durch den FBI-Agenten Robert Ressler geprägt, der ein Pionier auf diesem Gebiet war. Andernorts echauffiert man sich gern über die Amerikaner und nennt den Serienmord ein ausschließlich amerikanisches Phänomen, aber das stimmt nicht. Da, wo mehr geforscht wird, wird auch mehr dokumentiert. Und genauso, wie der Serienmord nicht auf eine bestimmte geographische Zone begrenzt ist, hat es auch schon immer Serienmorde gegeben. Denken Sie nur an Gilles de Rais, Elisabeth Bathory oder – ganz profan – Jack the Ripper. Und schaut man sich an, welche Serienmörder am aktivsten waren, kommt man auf Namen aus der ganzen Welt.

Luis Alfredo Garavito, genannt La Bestia, wurde in Kolumbien für 138 Morde verurteilt, die ihm nachgewiesen werden konnten. Vermutet werden über vierhundert. In Brasilien wütete Pedro Rodrigues Filho, tötete mindestens 71 Menschen, darunter seinen Vater, von dessen Herz er danach gegessen hat. Der aktivste Serienmörder der USA ist der Green River Killer Gary Ridgway, der für Morde an 49 Frauen verurteilt wurde. Dagegen sieht Ted Bundy mit seinen 37 Opfern beinahe harmlos aus. 1994 wurde der Ripper von Rostow in Russland hingerichtet – Andrei Romanowitsch Tschikatilo, der für den Mord an 53 Menschen verurteilt worden war. Ihn zu schnappen, war nicht besonders leicht gewesen, da er keinen bestimmten Opfertyp präferierte. Im Jahre 1984 hat dieser Mann insgesamt 15 Menschen ermordet, was zu der Überlegung führte, eine ganze Stadt zum Schutz der Bevölkerung zu evakuieren. Durchgeführt wurde das nicht, weil man befürchtete, den Mörder ebenfalls mit umziehen zu lassen, so dass das Morden nur an anderer Stelle weitergegangen wäre.“

Während sie sprach, zeigte Andrea immer wieder verschiedene Bilder der Menschen, über die sie referierte. Tschikatilo entsprach auf einem Foto dem Prototyp des gestörten Mörders, denn er starrte wie ein Wahnsinniger durch ein Gitter. Gebannte Stille lag über dem Hörsaal.

„Sie sind hier, weil diese Fälle Sie faszinieren. Wenn Sie auch die Folgeveranstaltungen besuchen, können Sie hier nach drei Semestern ein Zertifikat erhalten, das Sie als ausgebildeten Profiler ausweist. Damit ist diese Vorlesung neben dem Fortbildungsseminar, das ich selbst besucht habe, die einzige Veranstaltung im Land, die Ihnen diese Fertigkeiten vermittelt. Sie dauert länger als das Seminar der Profiler in London, weil hier mehr Grundlagenwissen vermittelt wird. Es wird nicht so viel als bekannt vorausgesetzt und die Vorlesung ist gut mit den Inhalten abgestimmt, die Sie ansonsten in Ihrem Studium vermittelt bekommen. Seit ich hier studiert habe, hat sich auch nicht allzu viel geändert.“

Was auch eher unwahrscheinlich war, denn Andrea hatte ihren Abschluss vor fünf Jahren gemacht. So gesehen hatte sie nicht einmal lang als Profilerin gearbeitet – seit anderthalb Jahren war sie nun schon ausschließlich an der Uni. Sie hatte erst einige Psychologievorlesungen gehalten und dann die alte Profilingvorlesung von Dr. Marlowe übernommen, die sie selbst besucht hatte. Außerdem hatte sie gemeinsam mit Joshua eine Folge an Vorlesungen konzipiert, die einen Abschluss ähnlicher Qualifikation wie der seines eigenen Seminars hervorbringen sollte. Die Einführung hielt sie jetzt zum ersten Mal.

„Dass ich Profilerin werden wollte, hatte mit dem Campus Rapist zu tun, der hier vor sieben Jahren sein Unwesen trieb“, fuhr sie fort und zeigte die nächste Präsentationsfolie. Jetzt hatte sie sein Foto im Rücken, spürte den Blick seiner Augen, wie sie sie anstarrten.

„Jonathan Harold hat mindestens ein halbes Dutzend Studentinnen hier am Campus und im nahen Eaton Park vergewaltigt, bevor er dazu überging, sie zu entführen, tagelang zu foltern und zu ermorden. Das erste Mal habe ich ihm Auge in Auge gegenübergestanden, als ich ihn von Caroline Lewis vertreiben wollte. Das hat seine Mordserie ausgelöst. Im exakten Abstand von jeweils vier Wochen tötete er Jenna Roberts, Mary Hillthorpe, Jenny Morsdale und Andrea Jackson. Damals habe ich der Polizei inoffiziell geholfen und ein psychologisches Profil geliefert, das nur leider nicht dazu beitragen konnte, ihn zu schnappen. So entführte er in der Nacht zum zehnten Februar Caroline Lewis aus ihrer Wohnung. Dass ich ihm zwei Nächte später selbst wieder gegenüberstehen würde, hatte ich da nicht für möglich gehalten. In den folgenden achtzehn Stunden hatte ich den Beweis dafür, dass die meisten Annahmen meines Profils stimmten.“ Sie atmete tief durch. „Zusammen mit Caroline Lewis war ich im Keller seines Elternhauses. Er hat sie vor meinen Augen getötet, Stunden bevor ich gefunden wurde. Damals stand für mich fest: Ich will nicht, dass solche Menschen frei herumlaufen. Ich will sie finden und ihre unschuldigen Opfer schützen.“

Es raschelte nicht das kleinste Blatt Papier. Ihr war, als wagten die Studenten kaum zu atmen.

„Wir werden über diesen Fall hier sprechen, weil ich keinen besser kenne als diesen. Auch werde ich Ihnen erklären, was passiert, wenn Menschen entführt oder als Geisel genommen werden und das Gefühl haben, niemand hilft ihnen: Sie werden mit ihren Peinigern unter gewissen Umständen sympathisieren. Das ist bei der Entführung von Trisha Michaels, einer Millionärstochter, anderthalb Jahre später in London passiert. Sie werden auch hören, unter welchen Umständen ein Mensch zu einem sadistischen Mörder werden kann und welche Auswirkungen Missbrauch auf die Psyche haben kann. Das habe ich vor drei Jahren erfahren, als man hier glaubte, der Campus Rapist sei zurückgekehrt. Dabei war es eine Frau, Amy Christine Harrow, die aufgrund des eigenen Missbrauchs in ihrer Kindheit fasziniert war von den Taten des Rapist und sie nachahmte, um ihrer Opferrolle zu entkommen. Ich habe erst spät gemerkt, dass Amy an einer dissoziativen Identitätsstörung leidet – das ist das, was Sie wahrscheinlich noch als multiple Persönlichkeit kennen.

Außerdem werden Sie hier davon hören, welche psychischen Störungen dazu führen können, dass selbst Jugendliche zu brutalen Mördern werden. Vielleicht erinnern Sie sich an den Fall des Yorkshire Infant Rippers – der Junge litt schon früh an paranoider Schizophrenie und hat Kinder ermordet.“

Eine Studentin in der zweiten Reihe hob langsam die Hand. Andrea hielt inne. „Ja?“

„Das waren alles Ihre Fälle, oder?“, fragte sie.

„Ja, das waren alles meine Fälle. Diejenigen, die ich als Profilerin bearbeitet habe, auch wenn da noch die Sache mit dem FutureLife-Konzern in Glasgow war und der Fall von Katie und Tracy Archer, die ganz ähnlich wie Natascha Kampusch jahrelang in einem finsteren Keller gefangengehalten wurden. Katie war damals nach ihrer Flucht bei mir. Die beiden möchten jedoch nicht, dass ihr Fall hier erörtert wird, weil sie sich nicht länger als Opfer sehen möchten.“

Andrea suchte in der Präsentation nach dem aktuellsten Bild der Schwestern und Tracys Sohn Jonah, der inzwischen auch schon anderthalb Jahre alt war. Andrea wusste noch, wie Julie in diesem Alter gewesen war ...

„Was machen die beiden heute?“, fragte jemand.

„Sie holen die Schule nach“, sagte Andrea. Dass sie ihr jedes Mal Kopien ihrer Zeugnisse, Fotos von sich und Jonah und lange Briefe schickten, in denen sie von sich erzählten, behielt sie für sich.

Jetzt trauten sich auch weitere Studenten, Fragen zu stellen. Andrea ließ alle Fragen zu und fuhr erst später mit dem Rest ihres Vortrags fort. Pünktlich fertig wurde sie trotzdem, weil sie das einkalkuliert hatte.

Sobald sie die Vorlesung beendete, wurde es laut im Hörsaal. Geraschel, Gemurmel, Schritte. Andrea begann einzupacken und schaute auf, als eine junge Studentin mit fast hüftlangen glatten Haaren vor ihr stand, ihre Schreibmappe vor die Brust gedrückt.  

„Das war toll“, sagte sie.

Andrea lächelte. „Freut mich, dass es Ihnen gefallen hat.“

„Ich wusste noch nicht, ob mir dieses Thema liegt. Ich habe nur von Kommilitonen gehört, die Vorlesung wäre so spannend. Das wollte ich mir mal ansehen. Aber ich glaube, ich bleibe hier.“

„Das ist schön zu hören. Schließlich will ich niemanden langweilen.“

„Gar nicht! Überhaupt nicht. Ich meine ... das haben Sie alles erlebt. All das, was Sie da vorhin erwähnt haben. Das kann ich mir kaum vorstellen. Ich war ja fast noch ein Kind, als damals der Campus Rapist hier Angst und Schrecken verbreitet hat. Aber dass Sie ...“ Sie wusste gar nicht, wie sie den Satz zu Ende bringen sollte.

Andrea erwiderte ihren Blick und seufzte. „Es ist sieben Jahre her, aber es vergeht kein Tag, an dem ich nicht daran denken muss.“

„Aber anstatt davor wegzulaufen, sind Sie Profilerin geworden. Sie hatten immer mit solchen Fällen zu tun.“

„Ja, weil ich weiß, wie es ist, wenn man einem solchen Menschen ins Auge blicken muss und nicht weiß, ob man das überlebt.“ Rasch packte Andrea ihren Laptop ein und schulterte ihre Tasche. „Ich wollte einfach nicht, dass jemand anders dasselbe erleben muss wie ich.“

Gemeinsam verließen sie den Hörsaal. Für einen Moment blickte die junge Frau nur auf den Boden. Sie sagte nichts.

„Ich hatte noch Glück“, sagte Andrea. „Er hat mich nie verletzt. Caroline Lewis war diejenige, die am meisten gelitten hat. Ich hatte Glück, dass ich so schnell gefunden wurde.“

Die junge Frau nickte nur. „Trotzdem finde ich es faszinierend, dass Sie daraus Ihren Beruf gemacht haben.“

„Vielleicht das Helfersyndrom, das man Psychologen nachsagt“, sagte Andrea achselzuckend.

„Ich meine, man konnte hören, dass Sie es gern gemacht haben. Ich kenne keinen anderen Dozenten, der seine Studenten so mitreißen kann.“

„Dann hatten Sie noch keine Veranstaltung bei Dr. Brown.“

Sie lächelte. „Nein. Aber guter Tipp.“

Augenblicke später standen sie vor Andreas Büro. Sie kramte ihren Schlüssel heraus und erwiderte ihr Lächeln. „Dann sehe ich Sie ja nächste Woche wieder.“

Sie nickte und sah Andrea unsicher an, so als wolle sie noch etwas sagen. Andrea drängte sie nicht.

„Warum haben Sie aufgehört?“, platzte sie heraus. „Wenn Sie das doch so gern gemacht haben. Das verstehe ich nicht.“

„Weil es sehr belastend war“, hörte Andrea sich ihre Standardantwort erwidern. „Diese Fälle gehen einem sehr nah. Der Fall von Tracy und Katie hat mich sehr berührt. Ich weiß nicht, wie lang man diesen Beruf machen kann, ohne daran kaputtzugehen.“

In ihrem Blick standen Fragezeichen. „Und es fehlt Ihnen nicht?“

„Interessieren Sie sich für den Beruf?“, fragte Andrea ausweichend.

„Vielleicht. Ich ... ach, schon gut. Danke für das Gespräch.“ Hastig wandte sie sich ab und stapfte den Flur hinab. Irritiert blickte Andrea ihr nach. So, wie sie sie angeschwindelt hatte, hatte sie ihr auch nicht die Wahrheit gesagt. Sie hatte all das aus einem bestimmten Grund wissen wollen.

Andrea schloss die Tür auf und betrat ihr Büro. Nachdem die Tür laut hinter ihr ins Schloss gefallen war, blickte sie aus dem Fenster und atmete tief durch.

Warum sie aufgehört hatte? Weil sie nicht damit zurechtgekommen war, dass Ray Byrne und Doug Elliott sie vergewaltigt hatten. Seitdem fehlte ihr die professionelle Distanz, die sie in diesem Beruf brauchte. Das war immer noch so. Denn sie hatte es ja auch nicht überwunden.

Freitag, 9. September

 

 

Ratlos stand sie vor dem Kleiderschrank und blickte auf Pullover, Jeans, ihren Hosenanzug. Nein, der schied aus. Wenn sie darin erschien, warf Jack sie postwendend wieder raus. Aber Jeans?

Ihre Blicke schweiften über alles, was auf dem Regalbrett lag, aber es bot sich ihr nichts an. Normalerweise tat sie sich doch nicht so schwer damit.

Ein Wassertropfen lief aus ihrem Haaransatz im Nacken ihren Hals hinab und ließ sie schaudern. Das kitzelte. Sie hatte gerade geduscht, stand in ein großes Handtuch gewickelt vor dem Schrank und hatte sich ein kleineres Handtuch um den Kopf geschlungen. Als sie in den Spiegel an der Schranktür blickte, hielt sie inne.

Damals hatte sie auch so dagestanden und sich angesehen. Entschlossen, sich nicht davon beherrschen zu lassen – von ihrer Angst vor dem Campus Rapist, der damals noch keinen Namen für sie gehabt hatte. Damals hatte er ihr wenige Wochen zuvor an Weihnachten ein makabres Geschenk zukommen lassen, Unterwäsche in einer kleinen Schachtel. Er hatte sich wohl vorgestellt, wie sie diese Sachen trug. Sich an dem Gedanken ergötzt.

Er hatte die Wäsche vermisst, als sie halbnackt vor ihm gestanden hatte, an die Wand gefesselt, gegenüber von Caroline ...

Andrea schloss die Augen und ballte die Hände zu Fäusten. Wo war der Trotz, den sie damals, mit dreiundzwanzig, gehabt hatte?

Sie öffnete die Augen wieder und schaute in den Schrank. Ihr Blick fiel auf die schlichte, weiße Unterwäsche, die vorn auf dem Brett lag. Darunter verborgen lagen die Sachen, die sie seit anderthalb Jahren nicht angezogen hatte. Hübsche, reizvolle Unterwäsche, die sie eines Tages während ihrer Krankschreibung genommen und unter den neuen Sachen vergraben hatte, um nicht ständig an sie erinnert zu werden.

Ja, sie hatte mit Gordon gesprochen. Und wie damals nach ihrer Entführung auch hatte er ihr helfen können. Und trotzdem hatte sich etwas verändert. Sie hatte die Hose, an der ihr Blut geklebt hatte, wieder und wieder gewaschen, bis kein Blut mehr zu sehen gewesen war. Getragen hatte sie sie jedoch nie mehr. Warum besaß Andrea sie eigentlich noch?

Als sie sich erneut im Spiegel ansah, blickte sie sich selbst traurig entgegen und erschrak. Dass man ihr die innere Traurigkeit so deutlich ansehen konnte, überraschte sie. Sie hatte doch nie gewollt, dass es sie verändert. Aber das alles hatte sie verändert, jeder einzelne Fall, und deshalb war sie geflohen. Sie war nicht mehr die Profilerin, an die Joshua stets und uneingeschränkt geglaubt hatte. Das tat er auch jetzt noch, aber sie glaubte nicht mehr an sich.

Um Katie zu schützen, hatte Andrea die Männer von ihr weggelockt. Sich mitnehmen lassen. Sie hatte bis zum Schluss nicht gemerkt, in welche Situation sie sich gebracht hatte, wie die Stimmung gekippt war. Wie die Männer sie bestrafen, ihren Frust an ihr abreagieren wollten.

Sie sah es immer noch im Schlaf.

Sie schluckte, griff wahllos nach einem Pullover und einer Hose und verschwand wieder im Bad. Sehr zu ihrer Überraschung war sie dort nicht mehr allein – eine kleine Lady stand auf ihrem Hocker, bäuchlings ans Waschbecken gelehnt und angestrengt in den Spiegel starrend. In den Händen hielt Julie einen der beiden Lippenstifte, die Andrea besaß, und malte damit akribisch an ihren Lippen herum. Lächelnd beobachtete Andrea ihre konzentrierte Arbeit, bis sie sich, angemalt wie ein Clown und trotzdem stolz, zu Andrea umdrehte und strahlte.

„Guck mal, Mami!“

„Du bist ja total rot.“

„Ist das richtig so?“

„Nein. Komm her.“ Andrea zupfte ein Blatt Toilettenpapier von der Rolle und wischte ihr damit den Mund ab, dann zeigte sie ihrer Tochter noch einmal ganz gründlich, wie man es besser machen konnte. Julie war begeistert.

„Darf ich so gehen?“, fragte sie mit leuchtenden Augen.

„Von mir aus“, sagte Andrea. Mindestens ein frecher Kommentar war ihr sicher, aber damit konnte sie bestimmt leben.

In Windeseile zog sie sich an und föhnte sich die Haare, dann begab sie sich zu Gregory und Julie und machte sich mit den beiden auf den Weg. Julie hatte ihren kleinen Übernachtungsrucksack mit Gregs Hilfe gepackt, so dass sie zu gegebener Zeit bei ihrer Kusine Emma schlafen konnte. Julie war ganz vernarrt in die Kleine, die schon ihre ersten Schritte gemacht hatte und ein undeutliches Gebrabbel von sich gab. Rachel war eine der glücklichsten Mütter, die Andrea je gesehen hatte, und Jack hatte sich durch seine Tochter sehr verändert. Zwar war er immer noch der alte Quatschkopf, aber er hatte gelernt, Verantwortung zu übernehmen. Er war erwachsen geworden –- und er vergötterte seine Tochter. Musste irgend so eine Thornton-Eigenschaft sein, denn da stand er seinem Bruder in nichts nach.

Rachel und Jack wohnten in einem Haus ganz in der Nähe. Man konnte zu Fuß hinlaufen und das taten sie auch, weil sie das schöne Herbstwetter genießen wollten. Sie ließen sich Zeit und schlenderten langsam die Straßen entlang, doch während Julie ohne Unterlass plapperte, gab Greg sich überraschend schweigsam. Fragend sah Andrea ihn an, doch er erwiderte ihren Blick mit einem Lächeln.

Schließlich standen sie bei Jack und Rachel vor der Tür und klingelten. Durchs Erkerfenster konnte man das hell erleuchtete Wohnzimmer sehen. Augenblicke später wurde die Tür aufgerissen. Rachel stand atemlos darin und begrüßte sie freudestrahlend. Neben Sarah war Rachel, wenn man das so sagen konnte, Andreas beste Freundin.

„Da seid ihr ja schon! Pünktlich wie immer und trotzdem nicht die ersten.“ Der Reihe nach umarmte sie sie.

„Lass mich raten: Mum war schneller?“, mutmaßte Greg und holte tief Luft.

„Klar. Kennst sie ja. Kommt rein!“

Sie folgten Rachel ins Wohnzimmer, wo Anna und Jack sich mit Emma um ihr Spielzeug geschart hatten und die Kleine bespaßten. Das war jedoch kein Grund, die Spielrunde nicht zu unterbrechen.

„Da seid ihr ja“, sagte Andreas Schwiegermutter und versuchte, aufzustehen. Gregory hielt ihr die Hand hin und half ihr. Im letzten Jahr war Anna siebzig geworden und beklagte sich ständig darüber, dass ihre Knochen nicht mehr mitmachten, dass sie schlechter schlief und überhaupt. Das Alter war ihr ein Gräuel. Wozu war Älterwerden eigentlich gut?

„Meine Liebe“, sagte sie zu Andrea, nachdem sie ihren Ältesten umarmt hatte, und drückte sie an sich. Andrea erwiderte ihre Umarmung und fühlte sich behaglich und aufgehoben, als sie ihr Parfüm roch. Seit sie Anna kannte, trug sie immer dasselbe Parfüm. Ihre liebe Schwiegermutter.

Prüfend sah Anna sie an, lächelte aber dabei. Andrea wusste nicht, wie sie das einzuordnen hatte. Manchmal hatte sie das Gefühl, Gregs Mum hatte einen Röntgenblick. Oder einfach nur Lebenserfahrung.

Nachdem Julie ihre Großmutter begrüßt hatte, stürzte sie sich auf Emma. Zufrieden beobachtete Andrea, wie die beiden sich mit ihrem Spielzeug in eine Ecke setzten. Jacks und Rachels Tochter hatte interessanterweise die dunkelblonden Haare ihres Vaters geerbt und nicht die fast schwarzen ihrer hübschen Mutter. Darüber hinaus hatte auch sie kleine Löckchen, die ebenfalls nicht von Rachel stammen konnten. Was Haare anging, mussten Thornton-Gene ziemlich dominant sein. Julie hatte ebenfalls die Haarpracht ihres Vaters geerbt.

Rachel atmete hörbar auf, als sie sich zu Andrea stellte. „Herrlich. Die beiden sind versorgt.“

„Jetzt beschwer dich auch noch. Du wolltest doch so dringend ein Kind“, giftete Jack grinsend von der Seite.

„Wollte ich auch, aber dieses Kind, wie du es nennst, ist manchmal anstrengend. Das darf ich doch wohl noch feststellen“, erwiderte Rachel nüchtern.

„Anstrengender als du kann Emma kaum sein“, stichelte Anna von der Seite. Empört sah Jack sie an.

„Warum genau haben wir meine Mum eingeladen?“, fragte er Rachel. Andrea lachte und fragte sich, wie den beiden eigentlich immer wieder etwas Neues einfiel, um sich gegenseitig zu ärgern.

„Ist Julie eigentlich in einen Farbtopf gefallen?“, fragte Jack grinsend. Andrea hatte geahnt, dass er einen Kommentar abgeben würde, und schüttelte den Kopf.

„Sie ist doch jetzt eine Lady“, sagte sie bedeutungsvoll.

„Ach so. Klar.“

Neugierig spähte Andrea in die Küche und begutachtete das kleine kalte Büffet, das Rachel und Jack hergerichtet hatten. Es klingelte, den Augenblicke später ertönenden Stimmen nach zu urteilen ein Kollege von Jack mit Frau.

„Na, wie geht es dir?“, fragte Rachel von hinten. Andrea drehte sich um.

„Alles gut. Und wie geht es dir?“

„Hervorragend. Du hast mir nie gesagt, dass es so toll ist, ein Kind zu haben!“

„Kinder sind etwas Besonderes.“

„Wir überlegen ja, ob wir nicht noch eins wollen.“

„Tatsächlich?“ Andrea war verdutzt. Das hatte sie Jack nicht zugetraut.

„Jack ist noch nicht überzeugt“, sagte Rachel, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. „Aber ich arbeite dran. Was zu trinken?“

Andrea hatte gerade den ersten Schluck von ihrem alkoholfreien Cocktail genommen, als es wieder klingelte. Diesmal waren es Christopher und Sarah. Sie schlängelte sich in den Flur, um die beiden zu begrüßen. Christopher zwinkerte ihr zu, während er das Geschenk abstellte.

„Du siehst gut aus“, sagte er.

„Danke. Du aber auch.“ Andrea konnte das Kompliment nur zurückgeben. Christopher war groß und dunkelhaarig und machte wirklich etwas aus sich, seit er mit Sarah zusammen war.

„Hör bloß auf. Wenn wir das nächste Mal bei uns feiern, dann deshalb, weil ich schon fast vierzig werde“, lamentierte er.

„Nun, soweit ich weiß, gab es hier jemanden, der sehr auf ältere Männer steht, wenn ich das mal so nennen darf“, erwiderte Andrea und blickte zu Sarah. Sie hatte noch immer Sommersprossen auf der Nase und ihre roten Haare glänzten beneidenswert im Lampenlicht. Seit sie mit Christopher zusammenlebte, putzte sie sich immer wieder so heraus. Er liebte ihre roten Haare, wie Andrea wusste. Es war nun schon zwei Jahre her, dass Sarah seinetwegen nach Norwich zurückgekehrt war.

In diesem Augenblick drehte sie sich zu Andrea um und sah sie strahlend an. „Andrea!“

„Hey“, sagte sie und umarmte Sarah. Ihre Augen blitzten fröhlich.

„Wir haben uns viel zu lang nicht gesehen“, fand Sarah.

„Das stimmt allerdings. Wie geht es euch?“

Plaudernd verzogen sie sich ins Wohnzimmer und holten sich kurz danach etwas vom Büffet. Greg war mit seiner Mutter in ein Gespräch vertieft, Jack war bei seinem Kollegen und dessen Frau und Rachel fegten durch die Küche. Die Kinder spielten in der Ecke und Sarah erzählte Andrea von ihrer Arbeit, bis Christopher sich einschaltete. Er hatte seine offizielle Polizisten-Miene aufgesetzt.

„Kann ich dich etwas fragen?“

„Nur zu“, sagte Andrea.

„Ich habe da den etwas vertrackten Fall einer jungen Frau, die ausgesagt hat, von ihrem Bruder missbraucht worden zu sein. Außer ihrer Aussage gibt es allerdings keinerlei Beweise. Es gibt doch da diese aussagepsychologischen Methoden ...“

„Du möchtest, dass ich mit ihr spreche, oder?“, fragte Andrea.

Christopher nickte. „Ich möchte wissen, was da dran ist. Irgendwie bin ich mir nicht sicher.“

Sie kräuselte die Lippen. „Du weißt, ich mache das nicht mehr.“

„Ja, sicher. Aber ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll.“

„Gordon. Er kommt bestimmt dafür her. Oder ihr fahrt nach London.“

„Ja, ich weiß, aber du ... du warst immer so gut darin.“ Bittend sah er sie an.

„Aber ich mache es nicht mehr.“

„Du musst ja nicht, wenn du nicht willst.“ So ganz aufgeben wollte er wohl trotzdem nicht.

„Chris“, sagte Sarah von der Seite. „Nicht bei solchen Sachen.“

„Der Missbrauch ist nicht das Problem“, sagte Andrea direkt. „Ich versuche nur, mir nicht zu viel Arbeit aufzuhalsen. Ja, Christopher weiß, dass ich immer wieder Kurzprofile erstelle. Ich gebe dir auch immer meinen Rat, das weißt du.“ Er nickte. „Aber ich bin nun mal keine Polizeipsychologin mehr. Was ist denn mit meinem Nachfolger?“

„Er ist ein Mann. Sie will nicht mit ihm reden.“

„Vielleicht würde sie wirklich mit Gordon reden. Er kann das. Ich kann ihn gern für dich fragen.“

„Okay“, sagte Christopher, aber es klang nicht zufrieden. Das konnte Andrea verstehen, denn er hatte immer große Stücke auf sie gehalten. Sie waren Kollegen gewesen, hatten seit Jonathan Harold gemeinsam Verbrecher gejagt. Und sie waren auch Freunde – er war beinahe ihretwegen gestorben. Aber trotzdem – sie konnte nichts für ihn tun. Irgendwo musste sie einen Schlussstrich ziehen.

Die Feier war sehr gesellig und sie hatten viel Spaß. Jack und sein Kollege verschwanden immer wieder draußen zum Rauchen, zwischendurch brachten Rachel und Andrea erst Emma und schließlich auch Julie ins Bett. Zu Andreas Erstaunen trank Gregory überhaupt keinen Alkohol. Spaß hatte er offenbar trotzdem, sie hörte ihn immer wieder lachen. Schließlich beschloss sie, ein wenig frische Luft zu schnappen und betrat die Terrasse. Im Augenblick waren keine Raucher dort, die ihrem Vorhaben im Weg gestanden hätten, doch sie blieb nicht lang allein.

„Er hätte dich nicht fragen sollen“, sagte Sarah.

„Das war schon okay. Ich kann ja Nein sagen.“

„Ich meine wegen der Umstände. Schon wieder Missbrauch. Davon willst du doch bestimmt nichts hören.“

Andrea winkte ab. „Damit habe ich mich jahrelang beschäftigt, bevor Elliott und Byrne mir über den Weg gelaufen sind.“

Sarah zog die Schultern hoch. „Dass du die Namen sagen kannst.“

„Mittlerweile schon. Ich habe auch Jonathan Harold immer beim Namen genannt.“

„Der hat aber nicht ...“

„Nein, hat er nicht. Aber ich habe mir stundenlang vorgestellt, er könnte. Ich will sie nicht mystifizieren, weißt du? Sie sind alle tot. Es ist nun mal passiert und ich muss damit leben. Du lebst ja schließlich auch damit, dass du Robert vergessen hast.“

„Was soll ich auch sonst machen?“, erwiderte Sarah.

„Was soll ich denn sonst machen?“, echote Andrea und vergrub die Hände in ihren Hosentaschen.

Sarah hatte bei dem Anschlag auf ihren damaligen Freund Robert eine Amnesie erlitten, die zwei Jahre ihres Lebens aus ihrem Gedächtnis gelöscht hatte. Unwiderruflich. Sie hatte Robert vergessen, nicht einmal mehr gewusst, dass sie mit ihm in Glasgow gelebt hatte. Andrea hatte sich oft vorgestellt, wie sehr eine Amnesie ihr das Leben erleichtert hätte. Keine Alpträume mehr.

Sarah gehörte zu den wenigen Menschen, die nicht nur wussten, was ihr überhaupt vor anderthalb Jahren passiert war, sondern mit denen sie auch über ein paar Einzelheiten gesprochen hatte. Ausgerechnet Greg gehörte jedoch nicht dazu. Ihm reichte es, zu wissen, dass etwas passiert war und dass die beiden Männer, die dafür verantwortlich waren, nicht mehr lebten. Seitdem hatte er sich fast nie mehr dazu geäußert, auch nicht zu den Veränderungen, die Andrea durchgemacht hatte.

„Zwei so schöne Frauen ganz allein hier?“, vernahm Andrea Jacks Stimme im Rücken.

„Raspel nicht so viel Süßholz. Du bist doch schon verheiratet“, sagte Sarah grinsend.

„Trotzdem mache ich Frauen gern Komplimente. Ich meine, wenn euch das nicht passt, gehe ich wieder ...“

„Jetzt bleib hier“, sagte Andrea und fasste ihn am Arm. Schon zeigte er sich versöhnt.

„Habt ihr Geheimnisse?“, fragte er ganz direkt.

„Nein. Es ist niemand schwanger und es ist auch sonst nichts passiert“, sagte Andrea.

„Oh, schwanger ... Rachel hat wieder Sehnsucht danach.“ Das klang wenig begeistert.

„Hat sie mir vorhin schon erzählt. Und du willst nicht?“

„Ich weiß nicht ... Emma ist toll. Keine Frage. Aber ich will keine ganze Schar“, sagte er entrüstet.

„Wir machen etwas falsch. Eigentlich müssten Rachel und Greg und wir beide uns zusammentun“, feixte Andrea.  

„Ja, da hast du wohl Recht. Warum wollen die bloß so viele Kinder?“

Andrea zuckte mit den Schultern. „Manchen geht‘s auch nur ums Machen.“

Sarah lachte herzhaft und gab ihr einen Stoß.

„Was?“, fragte Andrea irritiert.

„Du hast ja so Recht.“

Jack steckte sich eine Zigarette an und riss einige zotige Witze. Auf diese Art wurde es nicht langweilig bis Mitternacht, als sie auf Jacks Geburtstag anstießen. Andrea stutzte, als Gregory sogar in diesem Moment die Finger vom Sekt ließ.

„Was ist los?“, fragte sie ihn, während Rachel Jack umarmte und ihr Geschenk überreichte.

„Rat vom Arzt“, sagte er. „Verträgt sich außerdem nicht mit meinem Medikament.“

Andrea nahm es zur Kenntnis. Was sollte sie auch dazu sagen? Sie hielt schließlich auch Orangensaft in der Hand.

„Alles Gute zum Vierunddreißigsten“, sagte Gregory, als er seinem Bruder kameradschaftlich auf die Schulter klopfte.

„Reib auch noch Salz in die Wunde!“

Gregory lachte. „Ich bin der Ältere, ich darf das.“

„Du darfst gar nichts. Doch, mir euer Geschenk überreichen“, sagte Jack und packte kurz darauf alle seine neuen Errungenschaften aus.

Als sich wenig später Anna auf den Heimweg machte, hatte Gregory es plötzlich ganz eilig, sich ihr anzuschließen. Und nicht nur das, er drängte sogar darauf, dass Andrea mit nach Hause ging. Jack war völlig überrascht, doch als Greg ihm etwas ins Ohr flüsterte, grinste er plötzlich wissend und verabschiedete die beiden bereitwillig. Sie brachen jedoch erst auf, als sie sich auch von allen anderen verabschiedet und geklärt hatten, dass sie Julie am nächsten Morgen wieder abholen würden.

Anna begleitete sie noch etwa den halben Weg, wenn auch schweigend. Trotzdem verabschiedete sie die beiden sehr herzlich. Kaum dass sie fort war, fragte Andrea Gregory: „Warum hattest du es eigentlich gerade so eilig?“

„Nun, Julie ist nicht da – diese Gelegenheit sollten wir doch nutzen, oder?“, fragte er augenzwinkernd.

„Ach, so meinst du das“, sagte sie verstehend und schwieg.

„Abgeneigt?“

„Nein.“

Er legte einen Arm um sie und schlenderte so mit ihr nach Hause. Dort angekommen, begab er sich ohne große Umwege nach oben, streifte seinen Pullover über den Kopf und setzte sich dann auf die Bettkante. Das fand Andrea gemein. Er wusste, wie schwach sie jedes Mal wurde, wenn sie ihn so sah. Allein der bloße Blick auf seine Lendengegend war zu verlockend.

„Darf ich dich verführen?”“, fragte er.

„Okay“, erwiderte sie lächelnd und zog sich bis auf die Unterwäsche aus. Nur unnötiger Ballast. Schweigend legte sie sich neben ihn und sah ihn an. Als er sich über sie beugte, um sie zu küssen, schloss sie die Augen und genoss den Duft seines Aftershaves. Durch seine sanften Berührungen bekam sie eine Gänsehaut. Sie liebte die Zärtlichkeit, die er jedes Mal zeigte. Nach sieben Jahren wusste er einfach genau, was sie gern hatte und setzte dieses Wissen schamlos zu seinen Gunsten ein. Andrea schlang ein Bein um seins und spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, als er ihr das Höschen stahl. Er war erst zufrieden, als sie splitternackt dalag.

„Ich liebe dich“, sagte er, ohne sich besonders zu beeilen. Er spannte sie gern auf die Folter. Dann endlich war es so weit. Sie schlang die Arme um ihn und dachte an nichts, denn in diesem Moment gab es nur sie beide. Sie hatten sozusagen sturmfrei. Das war perfekt ...

Überall spürte sie seine Hände, seinen schnellen Atem, seine Küsse. Doch als er sie mit einer Hand an der Hüfte fasste, war sie plötzlich wie gelähmt. Sie wusste, es war keine Absicht und sie wollte nicht, dass er merkte, dass sie wie elektrisiert war. Die Art, wie er die Finger in ihr Fleisch grub, ließ sofort ein Bild aus ihrer Erinnerung vor ihrem inneren Auge aufblitzen.

Die schmutzige Matratze. Sie spürte, wie sie keine Luft mehr bekam, weil das Tuch, das einer der Männer ihr in den Mund gedrückt hatte, sie am Atmen hinderte. Das und die bitteren Tränen, die sie weinte. Mit auf dem Rücken gefesselten Händen konnte sie nicht weg, denn sie kniete vor ihm am Boden. Er hielt sie gepackt. Fest, mit beiden Händen, unnachgiebig und grob. Schmerz.

Andrea öffnete die Augen und blickte ganz fest in Gregorys. Er war es. Nicht Elliott. Es war Greg ... ihr Mann. Braune Augen. Andrea hing wie hypnotisiert an ihnen und kämpfte gegen die aufsteigende Panik.

Er merkte es tatsächlich nicht. Sie versuchte, ganz ruhig zu atmen und starrte zur Decke, als er einen Arm unter ihr durch schob und sie an sich drückte. Ihre Finger krallten sich ins Laken.

Es hörte nicht auf ...

Sie wusste nicht, ob es falsch war, nichts zu sagen. Mit einer Hand fuhr sie ihm durchs Haar, hielt sich geradezu krampfhaft daran fest. Vielleicht deutete er es falsch. In diesem Moment hielt er inne und sank schließlich keuchend in ihre Arme, stets darauf bedacht, sie nicht zu erdrücken. Dass sie sich trotzdem so fühlte, war ja nicht seine Schuld.

Plötzlich sah er sie an. Andrea betete, dass er die Tränen, die in ihren Augen brannten, nicht sah.

„Sorry. Jetzt war ich zu schnell“, murmelte er atemlos und wandte verlegen den Blick ab.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ist doch alles okay.“

Er wollte sie küssen, doch sie erwiderte den Kuss nur halbherzig. Ihm schien es nicht aufzufallen, er kämpfte immer noch darum, wieder zu Atem zu kommen.

„Dir muss kalt sein“, sagte er und wollte sie zudecken. Tatsächlich fröstelte sie, doch sie winkte ab.

„Ich muss pinkeln“, sagte sie und floh hastig aus dem Bett.

„Oh. Tut mir leid. Meine Schuld?“

„Nein“, erwiderte sie vom Flur aus. Eine Träne löste sich aus ihrem Auge.

Dienstag, 15. September

 

 

Die frische kühle Luft brannte in der Lunge. Andrea drosselte ihre Geschwindigkeit, um nicht zu schnell zu erschöpfen. Eigentlich hätte sie es regelmäßiger machen müssen, aber sie hatte nicht immer die Gelegenheit, laufen zu gehen, und wenn sie schon Zeit hatte, hatte sie nicht immer Lust. Sie hatte im letzten Sommer damit begonnen, um einen Ausgleich zu finden. Unter Psychologen war die heilsame Wirkung von Sport allgemein bekannt und auch, wenn sie sich früher niemals dafür hatte begeistern können, hatte sie festgestellt, dass es tatsächlich half. Beim Laufen wurden irgendwann Glückshormone freigesetzt – das tat gut.

Ihr Zopf war im Begriff, sich aufzulösen. Sie zog das Haarband wieder fest und strich sich die übrigen Haarsträhnen hinters Ohr, doch ansonsten lief sie unbeeindruckt weiter. Irgendwann hatte sie sich gute Laufschuhe und Sportkleidung gekauft, in der man im Sommer nicht allzu sehr schwitzte, im Winter aber auch nicht fror.

Ihr Weg führte zum Harford Park ganz im Süden der Stadt. Er war ein grüner Fleck in ihrem Wohngebiet und zog viele Jogger und Spaziergänger an.

Sie hatte einfach etwas tun müssen. Wenn sie Greg zu Hause zu lang ansah, packte sie das schlechte Gewissen. Dass sie so die Fassung verloren hatte, war inzwischen fast drei Tage her. Trotzdem schleppte sie es mit sich herum. Es war ja nicht zum ersten Mal passiert. Greg wusste nicht, dass sie in den ersten Monaten nach der Vergewaltigung immer wieder Beruhigungsmittel genommen hatte, bevor sie sich näher gekommen waren. Niemand außer ihrem Arzt wusste davon, denn er hatte sie ihr verschrieben, weil er ihre Not verstanden hatte. Gespräche mit Gordon waren schön und gut, aber schließlich war er nicht dabei, wenn es darauf ankam und sie seinen Beistand wirklich gebraucht hätte.

Dabei konnte Greg nichts dafür. Was sollte er machen? Er gab sich schon immer Mühe, sorgte sich um seine Frau, war immer zärtlich und rücksichtsvoll. Mehr, als man hätte erwarten dürfen. Er tat nie etwas, was Andrea nicht wollte und er hatte sich nie darüber beklagt, dass sie sich seltener auf Zärtlichkeiten einließ als früher. Kein einziges Mal hatte er ein Wort darüber verloren.

Aber das war kein Zustand. Anfangs hatte Andrea das Trauma überwunden geglaubt, denn nach den ersten harten Monaten hatte sich nichts mehr bemerkbar gemacht. Aber er musste nur eine falsche Bewegung machen, einfach irgendetwas, das sie an diese Männer erinnerte – und es war vorbei. Anfangs hatte er es gemerkt, weil sie nicht in der Lage gewesen war, es zu verstecken. Unter Tränen war das schwierig. Aber inzwischen machte sie es mit sich selbst aus, weil sie es unfair ihm gegenüber fand, ihn auch nach anderthalb Jahren damit noch zu behelligen.

Hatte er noch nicht genug Opfer für sie gebracht?

Diese Gedanken brachten sie derart in Rage, dass sie das letzte abschüssige Stück vorm Park beinahe rannte. Erst, als sie dort angekommen war, lief sie wieder langsamer und drehte eine Runde um den kleinen Park, bevor sie sich auf den Heimweg machte. Haare klebten an ihrer verschwitzten Stirn, ihr war heiß, sie fühlte sich erschöpft – aber es war ein angenehmes Gefühl. Dadurch konnte sie sich immer selbst spüren. Die Anstrengung und Aktivität vertrieb jede Lethargie.

Der Gedanke ans Abendessen trieb sie zurück nach Hause. Leider ging das letzte Stück immer bergauf, deshalb wurden ihre Beine schwer und am Schluss ging sie nur noch, um überhaupt noch lebend anzukommen. Trotzdem war sie zufrieden.

Nachdem sie die Haustür aufgeschlossen hatte, schlug ihr ein köstlicher Geruch aus der Küche entgegen, der ihr gleich das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Aus dem Wohnzimmer hörte sie die Stimmen von Julie und Greg.

„Please don‘t be so skittish, dear“, sagte Gregory. Als Andrea ins Wohnzimmer spähte, um zu sehen, was Julie Wildes trieb, musste sie grinsen. Auf dem Fußboden lagen Kissen, in der Mitte lag Greg und auf seiner Brust hatte Julie Platz genommen.

„Ich bin wieder da“, sagte Andrea.

„Oh, sehr gut. Unsere Kleine wollte mich schon schlachten.“

„Tatsächlich?“, sagte Andrea grinsend. Julie stand auf und ließ Greg in Frieden, was er auch dringend nötig zu haben schien. Er war ziemlich rot im Gesicht und völlig außer Atem.

„Was habt ihr nur angestellt?“, fragte Andrea kopfschüttelnd und wollte nach oben gehen. Neugierig lief Julie ihr hinterher und erzählte ihr stolz, dass sie ihre Hausaufgaben fertig gemacht hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---