Wer braucht schon einen Mann? - Mona Hodgson - E-Book

Wer braucht schon einen Mann? E-Book

Mona Hodgson

5,0

Beschreibung

Colorado, Ende des 19. Jahrhunderts: Ida Sinclair lässt sich in einer unkultivierten Bergarbeitersiedlung nieder. Doch im Gegensatz zu ihren Schwestern will sie sich hier keinen Ehemann angeln, sondern Karriere machen. Doch Gott hat andere Pläne für sie: Gleich zwei Männer treten in ihr Leben, die ihr Herz höher schlagen lassen. Da ist der erfolgreiche Anwalt Colin, der ihre beruflichen Ambitionen unterstützt, und der Wanderprediger Tucker. Und so steht Ida bald vor der entscheidenden Frage: Was nimmt den ersten Platz in ihrem Leben ein?

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Über die Autorin

Mona Hodgson hat bereits fast 30 Kinderbücher verfasst. Sie spricht regelmäßig auf Frauenfreizeiten, an Schulen und auf Konferenzen in den USA. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Arizona. Im Sommer 2013 erschien ihr erster Roman auf Deutsch: »Zwei Bräute zu viel«.

Mona Hodgson

Wer braucht schon einen Mann?

Roman

Aus dem Englischen von Elke Wiemer

Für zwei Schwestern …Meine Töchter Amy Eardensohn und Sara Hodgson

Gott aber sei in Ewigkeit dafür gedankt,

dass er uns den Sieg über das Gesetz,

die Sünde und den Tod geschenkt hat!

1. Korinther 15,57

1

Portland, Maine, 18. September 1896

Ida Sinclair wusste nicht, wohin ihr Ehrgeiz sie führen würde, aber sie wusste, dass sie eine ordentliche Portion davon besaß. Deshalb war die »Handelsschule Merton« auch genau der richtige Ort für sie. Und deshalb saß sie im Unterricht in der ersten Reihe. Sie wollte sich nicht das kleinste Detail des Unterrichts entgehen lassen – es konnte sie vielleicht dem Erfolg ein Stück näher bringen.

Ida sah von den Berechnungen an der Tafel zu den dunklen Augen ihres Dozenten, die von seinem mit Silbersträhnen durchsetzten Haaransatz eingerahmt wurden. Sie wartete, bis Mr Bradley Ditmer seine Anmerkungen über Kundenbetreuung beendet hatte, bevor sie ihre Hand hob.

»Haben Sie eine Frage, Miss Sinclair?«

Ida fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ja. Ich wüsste gerne, wie man bei einer Geschäftsgründung die Finanzierung sicherstellen –«

Ein tiefes, schallendes Lachen ließ sie erschrocken innehalten. Sie wandte sich um und starrte den schlaksigen jungen Mann mit der Hakennase an, der auf der anderen Seite des Gangs saß und der Auslöser des Gelächters war.

»Mach dir mal keine Gedanken um die Finanzen, Kleines«, sagte er. »Lern lieber, wie man guten Kaffee kocht und die Ablage in Ordnung hält, dann werde ich dich vielleicht in meinem Geschäft anstellen.«

Noch mehr Gelächter ertönte im Klassenzimmer, bis der Dozent auf den Tisch des vorlauten Studenten zuging. Beim Klang von Mr Ditmers Schritten verstummten alle anderen Geräusche.

»Mr Burn-«

»Burkett.«

»Ihre Überheblichkeit ist ausgesprochen kindisch. Behalten Sie sie zukünftig bitte für sich.«

Ida spürte wieder die vertraute Röte in ihrem Gesicht aufsteigen, die schon an ihrem ersten Unterrichtstag ihr Begleiter gewesen war. Ihre Klassenkameraden hielten nichts von ihren Plänen und Bestrebungen. Nicht einmal die anderen Frauen. Aber durch Mr Ditmers galantes Eingreifen ob eines so rüpelhaften Benehmens fühlte sie sich doch etwas bestätigt.

Der Dozent räusperte sich. »Um Ihre Frage zu beantworten, Miss Sinclair: Bankiers, private Investoren und Leute an der Börse können das nötige Kapital für eine Geschäftsgründung bereitstellen.« Er schlenderte wieder nach vorne, drehte sich dann um und sah sie an. »Aber Investoren verschleudern ihr Geld gewöhnlich nicht an leichtfertige Vorhaben. Jedes einzelne Geschäftsvorhaben wird genau auf seine Erfolgschancen geprüft.«

»Danke, Sir.« Ida verkniff sich die unzähligen weiteren Fragen, die seine Antwort aufgeworfen hatte.

Sie war immer noch dabei, ihre Gedanken und Ideen in ihr Notizbuch zu schreiben, als Mr Ditmer den Unterricht beendete, sodass sie die Letzte war, die den Raum verließ.

»Miss Sinclair?« Mr Ditmers klare Stimme hallte von den leeren Tischen im Raum wider.

Ida hielt inne, blieb wenige Schritte von der Tür entfernt stehen und wandte sich zu ihrem Dozenten um. Oh ja, er war sehr gutaussehend. Er war zwar kein Teddy Roosevelt, aber er besaß die gleiche eindrucksvolle Erscheinung und strahlte das gleiche unwiderstehliche Selbstbewusstsein aus.

Sie blickte auf ihr Handtäschchen, das sie in der einen, und die Büchermappe, die sie in der anderen Hand hielt. Dann sah sie wieder zu den ersten Tischreihen. Offenbar hatte sie nichts vergessen. Was also wollte Mr Ditmer von ihr?

Er kam auf sie zu, blieb dann aber in angemessener Entfernung stehen. »Ich wollte fragen, ob wir uns einmal unterhalten könnten.«

Ida nickte, während ihre Gedanken fieberhaft nach einer Erklärung suchten. Sie hatte an diesem Morgen im Unterricht viele Fragen gestellt, aber sie meinte nicht, Verärgerung in seinen Augen zu lesen. »Gibt es irgendein Problem, Mr Ditmer? Ich wollte den Unterricht nicht stören, Sir. Ich finde das Thema ›Geschäftsethik‹ nur sehr faszinierend.«

»Sie stören mit Ihren Fragen den Unterricht nicht, Miss Sinclair – ganz im Gegenteil.« Sein Lächeln ließ zwei Reihen perfekter Zähne aufblitzen. »Was mich betrifft, so schätze ich Ihre Beteiligung am Unterricht und finde Ihr Interesse und Ihre Fragen anregend, ja, sogar bereichernd. Diskussionen über Wirtschaftsethik können – meistens – etwas langweilig sein.«

Wenn ihr Dozent sie nicht wegen ihrer übermäßigen Neugier schelten wollte, worüber wollte er dann mit ihr sprechen?

»Miss Sinclair, Sie haben sich in den Kopf gesetzt, in einem Bereich erfolgreich zu sein, der als reine Männerdomäne gilt.« Das war keine Frage.

Obgleich er von ihren unkonventionellen Plänen nicht im Geringsten eingeschüchtert oder abgestoßen zu sein schien, straffte sie doch ihre Schultern ein wenig mehr. Sie war bereit, ihre Entschlossenheit ihm und jedem anderen gegenüber zu verteidigen, der ihr Vorhaben, in der Geschäftswelt Fuß zu fassen, infrage stellen würde. »Ja, Sir, das habe ich.«

»Dann würde ich gerne einige Möglichkeiten mit Ihnen besprechen.«

Ida verlagerte ihr Gewicht, in der Hoffnung, ihren Puls dadurch zu beruhigen und entspannter zu wirken, als sie es tatsächlich war. Bradley Ditmer besaß eine große Bekleidungskette in New York. Nichts täte sie lieber, als mit ihm über Geschäftliches zu reden, besonders wenn diese Unterhaltung es ihr ermöglichen könnte, sich künftig ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Sie sah auf die Wanduhr über dem Bücherregal. Diese zeigte fünf Minuten nach halb eins an. Es waren nur noch fünfundzwanzig Minuten von ihrer Mittagspause zwischen dem Unterricht und ihrer Arbeit im Schulsekretariat übrig.

Leider hatte sie an diesem Tag in ihrem Zeitplan keinen Spielraum, und ein solches Gespräch konnte leicht ihre gesamte Pause in Anspruch nehmen oder sogar noch mehr. Ihr Vorgesetzter würde erst am Montag wieder ins Büro kommen, und er verließ sich darauf, dass sie sich um den Berg an Arbeit kümmerte, den er ihr hinterlassen hatte, und sie sollte auch noch Vorstellungsgespräche mit zwei potenziellen Studenten führen. Aber hier stand der Mr Bradley Ditmer vor ihr, einer von New Yorks führenden Magnaten, und interessierte sich für ihre Geschäftspläne.

»Sie wollen mit mir über meine Zukunft in der Wirtschaft sprechen?«, fragte sie.

»Ja, wenn Sie dafür offen sind.«

»Natürlich.« Dabei klang ihre Stimme unbeabsichtigt viel zu erfreut. »Es würde mich sehr interessieren, was Sie zu sagen haben.«

»Zum Mittagessen habe ich eine Verabredung. Und ich weiß, dass Sie zur Arbeit müssen.« Er strich sich eine silberne Haarsträhne aus der Stirn, ganz so wie es ihr Vater immer tat, nur dass Vaters Haar eher meliert als grau war. »Wir könnten uns nach Ihrer Arbeit unterhalten.«

Das würde jedoch bedeuten, dass es ein sehr langer Tag werden würde und sie vielleicht erst nach Einbruch der Dunkelheit nach Hause käme, aber Mr Ditmer war sehr sachkundig und einflussreich. Ihr Vater würde wollen, dass sie ihren Traum verwirklichte, und es wäre tröstlich für ihn zu wissen, dass sie eine vielversprechende und sichere Zukunft hatte.

»Wir könnten uns bei einer Tasse Kaffee über berufliche Möglichkeiten unterhalten.« Dabei zog er fragend die Augenbrauen hoch.

»Kaffee klingt wunderbar.«

»Gut, dann werde ich um fünf Uhr in meinem Büro eine Kanne frischen Kaffee aufsetzen.«

In seinem Büro. Ida fingerte an dem Umhang über ihren Schultern. Natürlich wollte er sich mit ihr in seinem Büro treffen. Es war naheliegend, dass er seine Kontaktadressen in seinem Büro hatte – und alle seine Geschäftskontakte. Sie presste ihre Taschen an ihre Brust. Nicht dass sie nicht schon einmal in seinem Büro gewesen wäre. Sie hatte ihm Unterlagen und Telefonnotizen gebracht. Das ungute Gefühl in ihrer Magengegend war überflüssig. Sie benahm sich wie ein nervöses Schulmädchen, und das konnte sich eine Frau, die Erfolg haben wollte, nicht leisten.

Ida nickte ihm kurz zu, ging mit schnellen Schritten zur Tür hinaus und zog diese hinter sich zu. Sie zog die Taschenuhr ihrer Mutter aus ihrem Beutel und warf einen Blick auf das Ziffernblatt. Von ihrer Pause waren nur noch fünfzehn Minuten übrig. Das war kaum genug Zeit, um in den Waschraum zu eilen und dann um ein Uhr das Sekretariat aufzuschließen.

Nachdem sie vier Stunden lang Unterlagen geordnet, getippt und Buchhaltung gemacht hatte, holte Ida ihre Sachen unter dem Schreibtisch hervor und legte sich ihren Umhang um.

Mr Ditmer hatte als Gastdozent sein Büro am Ende des leeren Flures. Idas flache Absätze hallten auf dem Parkettfußboden wider, als sie um die Ecke bog und an drei leeren Klassenzimmern vorbeiging. Als sie sich seinem Büro näherte, holte sie noch einmal tief Luft, um Mut zu fassen.

Mr Bradley Ditmer war ihr Geschäftssinn aufgefallen. Ihr Vater und ihre Schwestern Kat und Nell erwarteten, dass sie nach ihrem Abschluss im nächsten Monat nach Cripple Creek in Colorado zog. Aber sie hätten sicher Verständnis dafür, dass sie eine einträgliche Arbeitsstelle in New York nicht ablehnen konnte. Das wäre einfach dumm.

Nachdem sie das glänzende Messingschild an der Tür bewundert hatte – Bradley P. Ditmer III., Industrieller und Gastprofessor –, klopfte sie leise an.

»Treten Sie ein.«

Als sie das tat, strömte ihr der vollmundige Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee entgegen. Ihr Dozent stand hinter einem Eichenschreibtisch und sein Jackett hing an einem Messinghaken hinter ihm. Er bedeutete ihr, auf einem der Lederstühle mit hoher Lehne Platz zu nehmen, die vor seinem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch standen.

Ida stellte ihre Taschen neben der Tür ab, setzte sich und sah zu, wie er auf einer Anrichte den dampfenden Kaffee in zwei Tassen goss. Sie hatte erwartet, dass er sie bitten würde, Kaffee zu kochen oder diesen wenigstens einzuschenken. Stattdessen bediente er sie. Wenn sie seine ruhigen Antworten auf ihre zahlreichen Fragen im Unterricht bedachte, war er wohl durchaus in der Lage, sich vorzustellen, dass eine Frau in der Geschäftswelt mehr als eine Küchenhilfe oder Sekretärin sein konnte.

»Sahne? Zucker?« Er stellte die Kaffeekanne zurück auf die Wärmeplatte auf der Anrichte und wandte sich zu ihr.

»Nein danke.«

Er kam herüber und reichte ihr eine volle Kaffeetasse. »Eine Tasse unverdünnten Kaffee.« Er lächelte. »Ich hätte mir denken können, dass Sie ihn schwarz trinken. Sie scheinen das Freimütige und Direkte zu schätzen.«

»Danke.« Ida stellte die Tasse auf den Tisch und löste ihren Umhang, sodass er über ihre Schultern glitt.

»Entschuldigen Sie. Dieses Büro ist ziemlich warm. Lassen Sie mich Ihren Umhang neben meinen Mantel hängen.«

Sie zog auch ihr Tuch ab, wobei sie sorgfältig auf die Tasse vor sich achtete, und gab es ihm.

Während er ihren Umhang an einen Haken hängte und dann wieder zur Anrichte ging, setzte Ida die Tasse an ihre Lippen und ließ den warmen Dampf ihr Gesicht befeuchten. Vorsichtig nahm sie einen Schluck und genoss die angenehme Wärme in ihrem Hals.

»Es ist eine brasilianische Mischung.« Mr Ditmer kam mit seiner Tasse herüber und setzte sich. Allerdings nicht hinter seinen Schreibtisch, wie sie erwartet hatte. Stattdessen setzte er sich auf die Kante des Stuhls neben ihr und nahm einen großen Schluck Kaffee.

Sie nahm genießerisch einen weiteren Schluck aus ihrer Tasse und fragte sich dabei, in welche Richtung sich diese Unterhaltung entwickeln würde.

»Nun, was haben Sie heute Nachmittag gemacht?«, fragte er.

Sie stellte ihre Tasse auf den Tisch. »Ich hatte ein Vorstellungsgespräch mit einem zukünftigen Studenten. Ein zweiter Bewerber kam nicht. Aber zum größten Teil habe ich getippt und Unterlagen sortiert.«

Er zog eine Augenbraue hoch und stellte seine Tasse wieder ab. »Das klingt für mich sehr nach einer stumpfsinnigen Betätigung. Ein wenig banal für jemanden mit einem so scharfen Verstand wie Sie, würde ich sagen.«

Seine direkte Art überraschte sie und sie errötete leicht. »Es ist natürlich nicht das, was ich anstrebe.« Sie hielt inne, aber das Schweigen war ihr unangenehm. Deshalb holte sie tief Luft und fuhr fort: »Und Sie? Sie haben eine gut gehende Ladenkette in New York und trotzdem unterrichten Sie hier in Portland.«

»Wir brauchen alle hier und da ein wenig Abwechslung.« Er ließ den Blick durch sein Büro schweifen. »Außerdem achte ich genau darauf, Mitarbeiter einzustellen, denen ich vertrauen kann und die das Geschäft in meiner Abwesenheit weiterführen können. Auf diese Weise biete ich ihnen eine Chance, sich hervorzutun.«

Ida richtete sich ein wenig auf und war bemüht, nicht auf ihrem Stuhl herumzurutschen. Ob sie wohl bald eine dieser vertrauenswürdigen Mitarbeiterinnen sein würde?

»Sie haben in unseren Gesprächen im Unterricht in den vergangenen zwei Wochen einmal erwähnt, dass Ihr Vater in Frankreich lebt und arbeitet.«

»Wie Sie ja Anfang der Woche im Unterricht sagten, ist es manchmal besser, wenn man nicht allzu fest an einem Ort verwurzelt ist, weil man dorthin ziehen muss, wo sich Möglichkeiten ergeben. Genau so war es bei meinem Vater. Seine Stelle als leitender Eisenbahningenieur hier in Portland wurde gestrichen, aber man gab ihm die Möglichkeit, in Paris die europäischen Ingenieure anzuleiten und zu betreuen.« Ida hatte genug davon, ihre eigene Stimme zu hören, und so setzte sie ihre Tasse an die Lippen. Es kam ihr so vor, als würde sie allein die ganze Zeit reden. »Aber ich glaube nicht, dass Sie sich mit mir treffen wollten, um über meinen Vater zu sprechen.«

»Nein, aber …« Er beugte sich vor und legte seine Hände auf seine Knie. »Haben Sie vor, zu ihm nach Frankreich zu gehen?«

»Nein, Sir, ich habe nicht vor, nach Paris zu ziehen.« Aber New York wäre …

»›Sir‹ ist eine ausgesprochen steife Anrede für Geschäftskollegen. Und apropos steif …« Er zog seine Weste aus und hängte sie über seine Stuhllehne. »Bitte nennen Sie mich Bradley. Darf ich Sie mit Ida anreden?«

»Natürlich, gerne.« Natürlich durfte er. Obwohl er ihr Dozent war und es auch noch zwei Wochen lang bleiben würde, schien er im Moment doch eher ein Kollege zu sein.

»Und wie sieht es mit Portland aus, Ida? Wollen Sie hierbleiben?«

»Nein, ganz und gar nicht. Damit rechne ich nicht und will es auch gar nicht.« Die Tatsache, dass ihre Familie von ihr erwartete, nach Cripple Creek zu ziehen, verschwieg sie.

»Das ist gut.« Er sah sie über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg an. In seinem Blick lag eine Herzlichkeit, die ihr bis dahin noch nicht aufgefallen war. »In ein paar Wochen haben Sie Ihre Kurse abgeschlossen. Was halten Sie davon, dann nach New York zu ziehen?«

»Mir gefällt New York.« Was machte es schon, dass sie noch nie dort gewesen war?

Er lächelte und stellte seine Tasse ein weiteres Mal auf den Tisch. »Gut. Ich hätte vielleicht eine freie Stelle in meiner Einkaufsabteilung.«

Er bot ihr eine Arbeitsstelle an. Ida hatte gerade den Mund geöffnet, um ihm zu sagen, dass die Vorstellung, in der Einkaufsabteilung tätig zu sein, interessant sei, schloss ihn aber sofort wieder, als ihr Dozent ihr die Tasse aus der Hand nahm. Er stellte sie auf den Tisch – ein wenig zu dicht neben seine Tasse, sodass beide aneinanderstießen.

Sie hatte ihren Kaffee noch nicht ausgetrunken. Und ihre Unterhaltung war auch noch nicht beendet, oder? Sie wollte mehr über die freie Stelle in seinem Unternehmen erfahren.

Bevor sie ihm noch weitere Fragen stellen konnte, bekam Ida einen ganz trockenen Mund. Eine unangenehme Stille erfüllte den Raum, als Mr Ditmer ihre Hände in seine nahm, aufstand und sie mit sich hochzog. Dann presste er seine Lippen auf die ihren und seine Hände wanderten langsam an ihrem Körper hinunter. Ida versteifte sich hilflos.

Dann riss sie die Arme hoch und befreite sich aus seiner Umarmung. Sie wich zurück und stieß gegen den schweren Schreibtisch, der hinter ihr stand. Sie musste schlucken und Galle brannte ihr im Hals.

Bradley Ditmer zuckte mit den Schultern. »Sie hatten doch gesagt, Sie wollten in die Geschäftswelt einsteigen.«

»Das will ich auch.« Sie sah an ihm vorbei zur Tür.

»Wenn Sie das wirklich wollen, dann sollten Sie wissen, dass für eine junge, unverheiratete Frau die einzige Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, die ist, die Gefährtin von jemandem zu werden, der ihr dieses Ziel ermöglichen kann.«

»Die Gefährtin?« Das Wort brannte ihr auf der Zunge und sie musste schlucken.

»Die Geliebte, wenn Sie so wollen. Ich kann alle Ihre Fragen beantworten und Sie für Ihre … persönlichen Dienste gut bezahlen.« Dabei zog er seine Augenbrauen anzüglich hoch. Er hatte ein selbstgefälliges Grinsen im Gesicht und strich ihr mit dem Finger über die Wange.

Ida verpasste ihm eine Ohrfeige. Der Schmerz in ihrer Hand zog durch ihren ganzen Arm, als sie herumwirbelte, um aus seiner Reichweite zu flüchten. Dabei stieß sie sich den Fuß an dem reich verzierten Tischbein.

»Sie irren sich«, fuhr sie ihn an, riss ihre Sachen an sich und knallte die Tür hinter sich zu.

Sie würde es ihm beweisen.

Fünfundzwanzig Minuten später zerrte Ida sich zu Hause die Hutnadeln aus den Haaren, als ihre jüngste Schwester in den Flur gerannt kam.

Mit ihren ein Meter zweiundsechzig und den großen braunen Augen wirkte Vivian viel jünger als ihre fast achtzehn Jahre. Aus ihrem Haarknoten hatten sich einige hellblonde Locken gelöst und wippten auf ihren schmalen Schultern, als sie einen Umschlag aus der Tasche ihrer gelb karierten Schürze zog. »Ein Brief von Nell!«

Idas Laune besserte sich etwas. Nachrichten von Nell würden sie ablenken.

»Wir sind froh, dass du endlich zu Hause bist.« Tante Alma erschien im Türrahmen. Ihre rotblonden Zöpfe waren wie ein Heiligenschein um ihren Kopf geschlungen. »Zeit für einen gemütlichen Plausch im Salon.«

Ida ließ sich dort auf dem großen Brokatsessel nieder. Sie steckte sich ein Samtkissen in den Rücken und ließ ihre müden Schultern gegen die Lehne sinken. Unter dem Rosenholztisch in der Ecke rührte sich Sassy, Vivians Siamkatze, die sich in ihrem Schlaf gestört fühlte. Sie streckte sich und strich dann um Idas Beine. Als die junge Frau sich vorbeugte, um dem Tier den Rücken zu kraulen, bemerkte sie die abgestoßene Stelle an der Spitze ihres Schuhs, eine Erinnerung an ihren Zusammenstoß mit Mr Ditmers Schreibtisch – und mit Mr Ditmer selbst.

Sie war eine solche Närrin gewesen.

Aber damit war jetzt Schluss.

Als Vivian und Tante Alma sich auf das halbrunde Sofa gesetzt hatten, sprang Sassy auf Vivians Schoß und rollte sich zusammen. Mit einer theatralischen Bewegung zog die junge Frau ein extradünnes Blatt Briefpapier aus einem Umschlag und räusperte sich, bevor sie anfing, die Nachricht laut vorzulesen.

Nell schrieb von einer neuen Badewanne mit Löwenfüßen, die Judson ihrer bescheidenen Einrichtung hinzugefügt hatte, und dem elektrischen Licht. Sie schrieb von der Vermieterin in der Pension und dann noch mindestens zwei lange Absätze über das neue, schönere Erscheinungsbild von Cripple Creek. Sie schrieb davon, dass die Stadt aus allen Nähten platzte und auf jedem freien Fleck im Zentrum und bis hinauf zu den Ausläufern der Berge neue Häuser aus Backstein und gehauenem Sandstein entstanden. Seit man Gold gefunden hatte und die Stadt zu Wohlstand gekommen war, zog es Menschen aus allen Teilen des Landes dorthin. Investoren, Börsenmakler, Rechtsanwälte, Bankiers, Eisenbahner, Unternehmer aller Sparten und auch jemand, der ein Konzerthaus eröffnet hatte, sowie eine Geschäftsfrau namens Mollie O’Bryan, die für ziemlichen Wirbel sorgte.

Es war eine blühende Stadt mit allem Komfort und den unterschiedlichsten kulturellen Angeboten. Ein Ort, an dem Ida die Grundlagen des Geschäftslebens lernen und genauso wachsen und gedeihen konnte wie die Stadt.

Vivian hielt den Brief mit abgespreiztem kleinen Finger hoch.

Ida, durch seine Arbeit als Buchhalter kennt Judson viele Geschäftsleute, Bankiers, Investoren, Börsenmakler. Er meint, Du könntest hier im Handumdrehen eine gute Stelle finden.

Aber Ida bekam die letzten Sätze kaum noch mit. Von dem Augenblick an, als sie gehört hatte, dass es in Cripple Creek eine Geschäftsfrau gab, kreisten ihre Gedanken nur noch um eines. Ida wusste, dass sie lieber für eine Frau arbeiten wollte. Und für eine erfolgreiche Geschäftsfrau zu arbeiten wäre das Sahnehäubchen.

Ida erhob sich von ihrem Sessel. »Mollie O’Bryan«, sagte sie und fing sich damit die missbilligenden Blicke ihrer Schwester und ihrer Tante ein.

Vivian senkte den Kopf und zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin noch nicht fertig. Nell hat noch viel mehr geschrieben.« Sie bedeutete Ida, sich wieder zu setzen, was diese auch tat.

Ich hoffe, euch geht es gut und ihr habt den Sommer genossen.

Ich vermisse euch schrecklich. Ich weiß, dass es Kat genauso geht. Sie meinte, sie werde euch diese Woche noch schreiben.

Ich mache jetzt einmal Schluss. Judson kommt gleich aus der Mine nach Hause und ich habe Haferplätzchen im Ofen.

In Liebe,

eure Schwester Nell

Vivian faltete den Brief zusammen und steckte ihn wieder in den Umschlag, der auf ihrem Schoß lag. Dann sah sie zu Ida, als erwarte sie eine Erklärung für deren ungestümes Verhalten.

»Ich bin früher mit der Schule fertig«, sagte Ida. »Also kann ich nächste Woche schon nach Cripple Creek fahren.«

Aber sie fuhr nicht wie ihre Schwestern nach Colorado, um die große Liebe zu finden und zu heiraten. Sie würde nicht zulassen, dass irgendetwas oder irgendjemand zwischen sie und ihre Ziele kam. Und sie würde auch ohne die Art von Kompromissen Erfolg haben, die Männer wie Bradley Ditmer von ihr erwarteten.

2

Cripple Creek, Colorado, 22. September 1896

Tucker Raines warf sich seine Ledertasche über die Schulter und trat vom Bahnsteig auf die staubige Straße vor der Midland Terminal-Bahnstation in Cripple Creek. Die Straßen unterschieden sich kaum von denen in Stockton; sie waren breit, ungepflastert und voller Menschen, Tiere und Karren. Anders war jedoch der überwältigende Lärm der Bauarbeiten. Seine Mutter hatte ihm von den Bränden geschrieben, die hier im April gewütet hatten, und von der Zerstörung und dem anschließenden Wiederaufbau. Aber bis zu ihrem letzten Brief hatte sie nie erwähnt, dass sein Vater krank war.

Tucker setzte sich seinen Filzhut wieder auf. Er war nicht bereit für das, was jetzt kommen würde, und wenn er das Nichterscheinen seiner Familie am Bahnhof richtig einschätzte, ging es ihnen genauso. Er hätte nicht herkommen sollen. Aber er wäre ein schlechter Sohn, wenn er nicht auf die Bitte seiner Mutter eingegangen wäre.

Er holte ihren Brief aus seiner Jackentasche. Tucker war sich nicht sicher, ob er sich dem wirklich stellen wollte, was in nächster Zeit auf ihn zukäme, aber er wollte zumindest die ersten Schritte gehen. Er schob seinen Hut tiefer in die Stirn, sodass ihn das grelle Sonnenlicht nicht länger blendete, und las dann noch einmal die Wegbeschreibung seiner Mutter.

Von der Bennett Avenue, der Hauptstraße, links auf die Dritte Straße abbiegen.

Dann rechts auf die Warren Avenue.

Danach wieder links auf die Zweite Straße. Dort ist es die zweite Hütte auf der linken Seite.

Er ging los, folgte der Bennett Avenue und hielt nach der Dritten Straße Ausschau. Es war schon über ein Jahr her, dass sein Vater das Kühlhaus in Stockton verkauft und von Kalifornien nach Cripple Creek gezogen war. Tucker war noch nie in Colorado gewesen, aber wenn man bedachte, dass Cripple Creek etwa dreitausend Meter hoch lag, hätte er nicht mit so schwülem Wetter gerechnet, vor allem nicht Ende September. Er schlüpfte aus seinem Mantel und stopfte ihn in seine Tasche.

Tucker stieß auf die Holzpromenade, die dort begann, wo sich die ersten neuen Steinhäuser befanden, von denen viele schon fertiggestellt waren. Die meisten befanden sich allerdings noch mehr oder weniger im Bau. Wegen seiner unförmig großen Tasche hielt er es allerdings für besser, nicht den hölzernen Gehweg zu benutzen, sondern auf der Straße zu bleiben, wo er niemandem den Weg versperrte.

Lautes, trällerndes Lachen lenkte seine Aufmerksamkeit auf eine Schar von Frauen, die aus einem Kaufhaus kamen und seinen Weg kreuzten. Ihrer Kleidung nach zu urteilen gingen sie dem ältesten Gewerbe der Welt nach. Er hielt inne und winkte sie vorbei. Die Letzte von ihnen blieb unmittelbar vor ihm stehen und sah ihn mit großen grünen Augen an. Ihre blonden Haare hatte sie sich auf einer Seite hochgesteckt.

Sie betrachtete prüfend seine Ledertasche. »Sieht aus, als wüssten Sie nicht genau, wo Sie hinmüssten, Mister. Und«, fuhr sie mit hochgezogenen Augenbrauen und klimpernden Wimpern fort, »ich wäre hocherfreut, wenn Sie in die gleiche Richtung gingen wie wir.« Dabei kreiste sie die Hüften unter ihrem Reifrock.

»Falls Sie zu einer Zeltversammlung unterwegs sind, Ma’am, dann tue ich das.« Das war er zwar nicht, aber wenn es nach seinen Wünschen ginge, wäre er das.

Das rauchige Lachen der jungen Frau verwandelte sich schnell in ein verächtliches Schnauben. Sie legte sich über dem tiefen Ausschnitt ihres Kleides die Hand auf die Brust. »Da habe ich wohl einen Wanderprediger erwischt, was?«

»Das haben Sie, Ma’am.« Er hob den Hut zum Gruß. »Tucker Raines.«

»Ich bin Felicia«, sagte sie langsam, leise und betont anzüglich. »Wenn Sie mal ganz … greifbare Liebe brauchen, Herr Pastor, dann kommen Sie einfach zu mir.« Sie deutete mit dem Kopf nach links in Richtung der Ecke, um die die anderen gerade gebogen waren. »Sie finden mich auf der Myers Avenue.« Nach einem kurzen Knicks folgte sie den anderen Frauen die Seitenstraße hinunter, die inzwischen von Männern gesäumt war.

Als Tucker sich umblickte und keine anständig angezogenen Frauen sah, schloss er daraus, dass in Cripple Creek am Dienstagmorgen die Frauen dieses Gewerbes einkaufen gingen.

Er entdeckte das Straßenschild der Dritten Straße und bog dort nach links ab, wo Felicia in die Seitenstraße gegangen war. Er war gerade einem Einspänner und ein paar frischen Pferdeäpfeln ausgewichen, als eine ungewöhnlich tiefe Stimme seinen Namen rief. »Mr Raines?«

Tucker drehte sich um. Zuerst sah er die beiden riesigen Arbeitspferde. Ein Mann, dessen Größe und Gestalt zu der tiefen Stimme passten, winkte ihm von seinem Sitz auf dem geschlossenen Wagen mit dem wohlbekannten Firmennamen darauf zu: »Raines Eislieferungen«. Ein Junge lugte hinter dem Mann hervor, als dieser Tucker noch einmal ansprach.

»Sind Sie Mr Tucker Raines, Sir?«

»Ich bin Tucker.« Er hatte schon ausgewachsene Bären gesehen, die kleiner waren als dieser Mann.

»Ich bin Otis Bernard, Sir.« Der Mann stieg vom Wagen herunter und streckte ihm seine kräftige, kohlrabenschwarze Hand entgegen.

Tucker schüttelte sie. Trotz seiner ein Meter zweiundachtzig kam sich Tucker neben dieser Eiche von einem Mann wie ein krüppeliger Busch vor. Otis’ linke Gesichtshälfte hing vom Auge abwärts schlaff herunter, sodass es aussah, als runzle er permanent die Stirn. Das erregte Tuckers Neugier, aber er achtete sorgfältig darauf, ihn nicht anzustarren.

Otis sah zu dem Jungen hinauf, der immer noch auf dem Wagen saß. »Das ist mein ältester Sohn, Abraham. Seit Ihr Vater krank geworden ist, hilft er mir bei den Lieferungen.«

Der Junge nahm seinen Strohhut ab und nickte zum Gruß. Er mochte etwa zehn Jahre alt sein, und da er bereits einen sehr muskulösen Oberkörper hatte, konnte man ahnen, dass er so riesig werden würde wie sein Vater.

»Sehr erfreut, Sie beide kennenzulernen«, sagte Tucker.

»Wir freuen uns auch, Sie kennenzulernen, Sir.« Abraham setzte seinen Hut wieder auf und beugte dabei seinen rechten Arm, um dem jungen Mann zu beweisen, wie groß sein Bizeps war. »Ich kann zehn Kilo heben, ohne dabei ins Schwitzen zu geraten.« Dabei funkelten seine dunklen Augen wie Sterne am Nachthimmel. »Wissen Sie, warum?«

Tucker ahnte die Antwort, aber er schüttelte trotzdem den Kopf. Das hätte er sich in diesem Alter von Erwachsenen auch gewünscht.

»Weil das Gewicht eiskalt ist.« Abraham schlug sich kichernd auf die Schenkel.

Tucker lachte. Otis stimmte mit stolzem Blick ein.

Tucker hielt dem Jungen den hochgestreckten Daumen hin. »Der war gut.«

»Ich fürchte, jetzt hört er nicht mehr auf, Mr Tucker. Dieser Junge hört erst auf, Witze zu machen, wenn er krank ist.« Otis hob Tuckers Ledertasche hoch und schwang sie mit einer Leichtigkeit nach oben hinter den Sitz des Wagens, als enthielte sie nur Federn. »Ihre Mutter hat uns geschickt, um Sie zu holen. Steigen Sie auf der anderen Seite neben Abraham ein, dann bringen wir Sie hin.«

Tucker hätte gerne gefragt, warum der Junge nicht in der Schule war. Aber er wusste, dass es im Westen nicht viele Schulen gab, die Schwarze mit weißen Kindern zusammen in die Schule gehen ließen. Er hätte auch gerne gewusst, warum seine Mutter ihn nicht selbst vom Bahnhof abgeholt hatte. Entweder wusste sein Vater nichts von seinem Besuch, oder er war so krank, dass sie ihn nicht allein lassen konnte.

Tucker verkniff sich seine Fragen, ging auf die andere Seite des Wagens und kletterte neben Abraham auf den Sitz. »Dein Witz gefällt mir.«

»Danke, Sir. Ich will später einmal Witze für Varieté-Künstler wie Dan Leno schreiben. Ich habe gehört, wie sich einige Männer im Laden über ihn unterhalten haben. Sie haben gesagt, er ist so lustig, dass er sogar einen Löwen zum Lachen bringen könnte.«

Tucker bewunderte den Ehrgeiz des Jungen und hatte keinen Zweifel daran, dass er es schaffen würde, wenn er etwas älter war und an sich arbeitete. »Na, für den Anfang bist du schon ganz gut.«

»Mama sagt, Übung macht den Meister, solange ich nicht immer mit ihr übe.«

Otis grinste schief, als er die Pferde leicht mit den Zügeln antrieb und dabei mit der Zunge schnalzte. Er wendete und lenkte die Pferde zurück zur Bennett Avenue.

»Nach meinen Anweisungen wohnt meine Familie in der Zweiten Straße«, sagte Tucker und fragte sich, wohin sie jetzt fuhren.

Otis’ schiefes Lächeln verschwand. »Sie sind nicht zu Hause, Sir.«

»Tucker. Bitte nennen Sie mich einfach Tucker.« Er war so weit gereist und jetzt waren sie nicht zu Hause?

»Ihr Dad liegt im Krankenhaus.« Otis sprach langsam, im Rhythmus mit den Hufen der Pferde, die den Wagen jetzt auf der anderen Seite der Bennett Avenue bergauf zogen.

»Wie lange schon?«

»Es sind jetzt schon ein paar Tage. Seit letzten Donnerstag.«

»Meine Mutter hat geschrieben, er hätte Anfälle gehabt. Sie bat mich zu kommen, aber sie hat nichts Näheres darüber geschrieben.«

»Ich habe gehört, dass er heute Nachmittag wieder entlassen wird«, sagte Otis. »Es war Anfang August, und wir haben gerade Eis ausgefahren, als er einen bösen Hustenanfall bekam.«

»Vor sieben Wochen?«

Otis nickte. »Ihr Vater würde das zwar nicht sagen, aber er schleppt sich schon die ganze Zeit nur herum. Seit letztem Winter ist er nicht mehr derselbe.«

Tucker spürte, wie sich ihm der Magen zusammenzog.

Nach der nächsten Querstraße kam ein großes Backsteingebäude, das noch im Bau war. Otis lenkte die Pferde um die Ecke. »Das da ist das neue Krankenhaus, das die Schwestern der Gnade bauen lassen.« Er sprach lauter, um sich über den Lärm der Maurer hinweg verständigen zu können.

»Vergangene Woche hat Ihr Vater angefangen, Blut zu spucken.« Abraham spie die letzten Worte förmlich aus und machte dabei große Augen. »Ich hab’s gesehen.«

Tucker sah zu Otis und versuchte, die Angst zu verbergen, die ihn zu überkommen drohte. »Blut? Er spuckt beim Husten Blut?« Er hatte nicht viel Ahnung von Medizin, aber er hatte bei seinen Zeltversammlungen schon genug Witwen kennengelernt, die unter Schwindsucht litten.

Otis erwiderte Tuckers Blick, aber obwohl die Mittagssonne hell strahlte, verfinsterte sich sein Gesichtsausdruck. »Es steht nicht gut um ihn, Mr Tucker.« Er hielt inne und tätschelte seinem Sohn das Knie.

»Er kann nicht mehr arbeiten?«

»Nein, Sir.«

Ein älterer Mann mit weiten Arbeitshosen und einem breiten Strohhut stand vor einer chinesischen Wäscherei und winkte ihnen zu.

»Ich komme vor dem Mittagessen noch einmal vorbei und bringe Ihnen Ihr Eis, Mr Wang.« Otis winkte zurück und sah dann zu Tucker. »Er und seine Frau haben oben in ihrer Wohnung einen Eisschrank.«

Aber Tuckers Gedanken waren ganz woanders. Wenn dieser Mann nicht wäre, gäbe es »Raines Eislieferungen« nicht länger. Tucker hatte ihn vom ersten Augenblick an gemocht, aber diese Zuneigung verwandelte sich jetzt schnell in Bewunderung, da er ahnte, dass er die gesamte Last des Geschäftes trug.

Tucker selbst wusste nichts über das Unternehmen seines Vaters hier in Cripple Creek. Er zögerte, Otis seine Unwissenheit zu gestehen, aber sein Verlangen, mehr zu erfahren, war größer als der Wunsch, so zu tun, als wisse er Bescheid. Es musste größer sein, seiner Mutter wegen. Er hatte ihr in seinen Briefen jede Menge Fragen über das Geschäft gestellt, aber sie hatte es vorgezogen, davon zu erzählen, dass die Stadt neu entstanden war und wie die majestätische Bergwelt die Jahreszeiten ankündigte. Sie schrieb über alles, nur nicht über die Beziehung zwischen Tucker und seinem Vater oder das Geschäft.

»Wie viele Wagen und Pferde haben wir?«, fragte Tucker.

Otis sah zu den zwei Arbeitspferden, die den Wagen zogen. »Titan und Trojan sind die einzigen Pferde, Mr Tucker. Und das ist der einzige Wagen.«

»Und das Kühlhaus?«

Otis schüttelte den Kopf. »Er hatte große Pläne, aber …« Seine Stimme brach ab und sein Blick glitt in die Ferne. Der riesige Mann hob seinen Schlapphut an, um sich mit einem roten Halstuch die Schweißperlen von seiner hohen Stirn zu wischen. »Deshalb sind ich und Abraham auch zu spät gekommen. Drei oder vier Mal in der Woche holen wir an der Bahnstation eine Ladung Eis ab. Dann liefern wir sie aus. Manchmal lassen wir was davon über Nacht im Wagen, für die ganz Ungeduldigen, die ihr Eis gleich früh am Morgen haben wollen.« Er brachte die Pferde vor einem Haus aus Holzschindeln zum Stehen. »Das hier ist das Krankenhaus der Schwestern der Gnade, bis nächstes Frühjahr das neue eröffnet wird.«

Tucker sprang herunter. Bevor er nach seiner Tasche greifen konnte, hatte Abraham sie schon vom Wagen gehoben und ihm gereicht.

»Danke.« Tucker hängte sich die Tasche über die Schulter.

»Mr Tucker, wissen Sie, was ein Block Eis –«

»Jetzt nicht, mein Sohn«, sagte Otis.

»Ja, Sir.« Abraham wandte sich wieder Tucker zu. »Den Witz heb ich für nächstes Mal auf.«

»Dann werde ich dir vielleicht auch einen erzählen.«

Für Tucker war das breite Lächeln des Jungen mehr wert als ein ganzer Berg voll Gold.

»Sie finden Ihren Vater auf dem Flur links«, sagte Otis. »Sein Zimmer ist ganz am Ende. Er liegt im hintersten Bett.«

»Danke, Otis.« Tucker tippte grüßend an seinen Hut und nickte dem Mann zu, der so einschüchternd wirkte, sich aber als das genaue Gegenteil entpuppt hatte. »Dir auch, Abraham. Vielen Dank für eure Arbeit.«

»Wir sind stolz darauf, Mr Tucker.« Otis hielt die Zügel bereit. »Ich bringe den Wagen zurück, sobald er leer ist, dann können Sie Ihre Familie nach Hause fahren.«

Tucker nickte und winkte ihnen nach. Als Otis mit dem Wagen um die Ecke bog, ging er langsam auf die Tür zu.

Seine Familie. Reue brannte in Tuckers Brust. Der wertvollste Teil seiner Familie war nicht hier. Er hatte sie in Stockton gelassen.

Du sollst Vater und Mutter ehren.

Deshalb war er nach Colorado gekommen. Als er das Krankenhaus betrat, betete er, dass sein Entschluss, seine Eltern zu ehren, stark genug sein würde, um ihn durch die ungewisse Zukunft hindurchzutragen. Als er die erste Ecke erreichte, bog er nach links. Eine Schwester im Kittel schob einen Rollstuhl an ihm vorbei. Eine weißhaarige Schwester in voller Tracht lehnte sich an die Wand und hielt eine weinende Frau mit einem Kind im Arm.

Der Missklang eines Hustens führte Tucker ans Ende des Ganges, zur letzten Tür auf der rechten Seite. Er hauchte noch einmal ein Gebet und trat durch die offene Tür. Zwischen den Betten standen verblichene Raumteiler in der Farbe einer staubigen Straße. Stöhnen und leise Gespräche erfüllten den Raum. Als er in den hinteren Teil des Zimmers kam, verlangsamte er seine Schritte und lauschte, ob er eine vertraute Stimme hören würde. Am Fußende des letzten Bettes auf der linken Seite blieb er schließlich stehen.

Sein Vater lag reglos da, und unter der dünnen Decke, die auf beiden Seiten unter die Matratze gesteckt war, zeichnete sich sein zusammengesunkener Körper ab. Seine Mutter saß auf einem Stuhl neben dem Bett. Sie war nach vorn gebeugt und ihre Stricknadeln arbeiteten sich klappernd durch ein Knäuel orangefarbenes Garn.

Plötzlich hielten ihre Hände still und sie richtete sich auf. Mit eindringlichem Blick musterte sie Tucker von seinen staubigen Stiefeln bis zu seinem Gesicht und ließ ihn dann auf dem Hut des Predigers ruhen, den er in der Hand hielt. Als sie aufstand und ihr Strickzeug auf den Stuhl gleiten ließ, standen ihr Tränen in den Augen.

Sein Vater öffnete die Augen. Ein wütender Blick verlieh seinen blassen Zügen etwas Hartes. Sein Gesicht war aschfahl und seine Augen eingesunken. »Was willst du denn hier?«

Tucker zuckte mit den Schultern.

»Ich habe ihn gebeten zu kommen.« Tucker war noch nie zuvor aufgefallen, wie kraftvoll die Stimme seiner Mutter war und wie entschlossen ihr Ausdruck.

»Ich habe doch gesagt, dass du das nicht tun sollst!«

»Ich brauche meinen Sohn jetzt!« Sie eilte zu Tucker, um ihn zu umarmen, blieb aber im Vorhang der Trennwand hängen und hätte diesen beinahe vom Rahmen gerissen. Tucker fing sie auf, als sie ins Stolpern geriet, und sie schlang ihre Arme um ihn.

»Ich brauche ihn jedenfalls nicht hier. Und ich will ihn nicht hier.« Die Stimme seines Vaters wurde zunehmend lauter. Ein anhaltendes röchelndes Husten zerriss die abgestandene Luft und hallte in Tuckers Innerstem wider.

Es musste etwas geschehen, um diese Hustenanfälle zu unterbinden. Tucker ließ seine Mutter los, eilte zum Bett und streckte seinem Vater die Arme entgegen, aber es traf ihn nur eine um sich schlagende Hand, die während eines weiteren Hustenanfalls seinen Arm zur Seite schlug.

Gott, steh uns bei. Sein Vater brauchte ihn wirklich hier, auch wenn er das niemals zugeben würde.

Die Nonne, die er auf dem Flur gesehen hatte, kam mit trippelnden Schritten herein. »Mr Raines, das hört sich ganz so an, als ob Sie noch eine Inhalation vertragen könnten, bevor wir Sie heute Nachmittag nach Hause schicken.« Sie schob eine lose Strähne ihres weißen Haares zurück unter ihre Haube und sah Tucker über den Rand ihrer Nickelbrille hinweg an. »Das wäre eine gute Gelegenheit für Sie und Mrs Raines, sich in der Küche eine Tasse Kaffee zu holen.«

Tucker nickte. Ihr leichter Akzent hatte etwas Warmes und Tröstendes. Er nahm seine Mutter am Arm und führte sie aus dem Zimmer.

Der lange Tisch im Speisesaal der Schwestern war leer. Tucker stellte zwei Tassen Kaffee an ein Ende des Tisches und rückte seiner Mutter einen Stuhl zurecht. Die Stärke, die er gerade eben noch bei ihr erlebt hatte, schien verschwunden zu sein. Dieses Gefühl war ihm nur allzu vertraut.

Er setzte sich neben sie. Durstig setzte er die Tasse mit der heißen Flüssigkeit an die Lippen. Dass der Kaffee bitter schmeckte, störte ihn nicht, solange er nur sein Inneres wärmte.

»Es tut mir leid«, sagte seine Mutter schniefend. Ihr Rücken war jetzt stärker gebeugt, als er dies in Erinnerung hatte. »Ich hätte dich nicht bitten sollen zu kommen, aber ich wusste einfach nicht, was ich sonst tun sollte.«

Er stellte seine Tasse ab und drückte ihre Hand. »Du hast das Richtige getan, Mutter.« Er hoffte, dass er damit recht hatte, aber die Tatsache, dass sein bloßes Erscheinen bei seinem Vater einen Hustenanfall ausgelöst hatte, war kein gutes Zeichen.

»Er kann sich nicht selbst helfen. Es geht ihm nicht gut, und das ist schon so seit …« Sie verzog das Gesicht und legte die Hände um die dampfende Kaffeetasse vor sich. »Wie geht es Willow?«

Tucker blickte zu dem Kreuz an der Wand über dem anderen Ende des langen Tisches und atmete tief durch. Was Christus am Kreuz getan hatte, war genug, ganz gleich, wie er sich fühlte. »Ich habe sie vergangenen Mittwoch das letzte Mal besucht, und da war alles immer noch unverändert.«

Seine Mutter stützte die Ellbogen auf den Tisch, vergrub das Gesicht in den Händen und fing an zu weinen.

Tucker holte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und reichte es ihr. »Ich habe die Ärzte gebeten, mir die Berichte hierherzuschicken.«

Sie schauderte, als sie sich das Gesicht abtupfte. »Du bleibst?«

»So lange ich hier gebraucht werde.«

Als sie Schritte hörten, richteten sie ihre Aufmerksamkeit auf die Tür und den Mann, der dort in diesem Augenblick erschien. Tucker erhob sich.

Seine Mutter rieb sich die Augen und richtete sich auf. »Tucker, das ist Dr. Morgan Cutshaw. Er kümmert sich um deinen Vater.«

»Doktor.« Tucker schüttelte ihm die Hand und stellte dabei fest, dass der Arzt einige Zentimeter kleiner war als er selbst. Genau wie Sam. »Ich bin Tucker Raines.«

Dr. Cutshaw zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Tuckers Mutter.

»Können wir ihn mit nach Hause nehmen?« Die alte Kraft war wieder in die Stimme seiner Mutter zurückgekehrt.

»Ja. Schwester Coleman kümmert sich gerade um die Papiere.« Er sah von Tucker zu Mrs Raines. »Die Ergebnisse meiner Untersuchungen sind eingetroffen.«

»Es ist Tuberkulose, nicht wahr?«, fragte sie.

»Ja, Ma’am. Aktive Tuberkulose.« Dr. Cutshaws Stimme klang sanft und voller Mitgefühl. »Es tut mir leid, Mrs Raines, aber wir können hier nichts mehr für ihn tun.«

Tucker ergriff die zitternden Hände seiner Mutter. »Haben Sie das meinem Vater schon mitgeteilt?«

Der Arzt nickte. »Ich habe gerade mit ihm gesprochen.«

»Wie hat er es aufgenommen?«

Seine Mutter wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. »Er hat es wahrscheinlich so aufgenommen wie jemand, der glaubt, unbesiegbar zu sein.«

Wieder nickte der Arzt.

»Danke.« Tucker hielt die Hände seiner Mutter fester. »Es muss doch etwas geben, das wir tun können.«

»Ich habe mit dem Glockner-Sanatorium unten in Colorado Springs telefoniert. Die dortigen Ärzte sind darauf spezialisiert, Tuberkulosepatienten zu pflegen.«

Pflegen. Tucker war sich nicht sicher, ob seiner Mutter die ganz besondere Wortwahl aufgefallen war, aber er hatte es bemerkt. In diesem Stadium gab es für Tuberkulose kein Heilmittel mehr, keine nachgewiesene erfolgreiche Behandlungsmethode. Wenn sein Vater hierblieb, würde es ihm weiter immer schlechter gehen, und seine Mutter würde immer schwächer werden, wenn sie mitansehen musste, wie er litt.

Das wünschte Tucker keinem von beiden. Sie hatten schon genug durchgemacht. Er konnte nicht tatenlos zusehen. Im Sanatorium würde sein Vater die Pflege bekommen, die er brauchte, und seine Mutter konnte nahe genug bei ihm sein, um ihn zu besuchen. Gleichzeitig hätte sie auch die Unterstützung ihrer Schwester, denn Tante Rosemary lebte ebenfalls in Colorado Springs.

Dr. Cutshaw richtete seine Aufmerksamkeit auf Tuckers Mutter. »In etwa einer Woche könnte er dort ein Zimmer bekommen – nächsten Montag.«

»Wird er bis dahin reisen können?« Sie legte ihre Hände wieder um die Kaffeetasse.

»Wenn er sich gut ausruht, sollte er die Zugfahrt überstehen.«

»Was meinst du, Tucker?«

Hatte sie ihn deshalb herbestellt – damit er diese Entscheidung traf? Er sah zu Dr. Cutshaw.

»Wir haben die Flüssigkeit aus seiner Lunge entfernt. Die Blutung ist erst einmal gestoppt. Aber ich kann nicht sagen, wie lange das anhalten wird.«

Tucker sah in die müden Augen seiner Mutter. »Wir müssen das tun, was am besten ist für Vater – und für dich. Und ich glaube, das ist das Sanatorium.«

Sie nickte.

Dr. Cutshaw erhob sich. »Ich rufe dort an und reserviere einen Platz für ihn.«

Tucker blickte dem Arzt nach, als dieser den Raum verließ, und fragte sich, wie er für die Pflege seines Vaters aufkommen sollte. Er hatte sich von seiner Tätigkeit als Prediger befreien lassen, um hierherzukommen, und sein Vater hatte nur einen einzigen Wagen, um die Eislieferungen zu erledigen. Das würde doch nie für ihren Lebensunterhalt reichen, geschweige denn, um Otis zu bezahlen und die Kosten für Willows Pflege zu decken.

Drei Stunden später hatte sein Vater das Krankenhaus bereits verlassen und hatte sich in sein eigenes Bett zurückgezogen. Tucker trug ein Tablett in das spärlich eingerichtete Schlafzimmer. Eine Zitrone wäre noch süß gegen den Gesichtsausdruck seines Vaters. Dieser saß mit zusammengekniffenen Augen an eine Reihe von Kissen gelehnt im Bett.

»Du kannst bleiben«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.

»Danke.« Tucker stellte ihm das Tablett auf den Schoß und gab mit einem Löffel Honig in die Tasse.

»Aber nur wegen deiner Mutter.«

Tucker nickte. »Der Arzt meinte, Pfefferminztee mit Honig sei beruhigend für deinen Hals.«

»Du schläfst in der Scheune.«

Tucker stieß mit dem Löffel gegen den Rand der Tasse.

Ehre deinen Vater.

Offensichtlich vertrat sein Vater die Ansicht, er müsse Buße tun. Auch wenn noch so viel Wiedergutmachung Sam nicht zurückbringen würde.

Oder Willow.

Tucker schluckte seinen Ärger und sein tiefes Bedauern hinunter, wandte sich um und verließ den Raum.

3

Colorado Springs, Colorado, 28. September 1896

Das schrille Pfeifen des Zuges jagte einen Adrenalinstoß durch Idas schmerzende Beine. Sie packte ihr Täschchen und ihre Schultermappe fester, eilte durch die Tür des Bahnhofs hinaus auf den Bahnsteig und stieg in den Zug nach Colorado Springs.

»Abfahrt!« Der Schaffner hielt sich an der Haltestange fest und beugte sich über die Plattform des letzten Waggons. »Alle einsteigen!«

Der Zugführer löste die Bremsen und das Pochen ihres Herzens wurde noch von einem ohrenbetäubenden Zischen begleitet. Eine Dampfwolke stieg unter dem Waggon auf, wehte ihren Übermantel zur Seite, sodass ihr Kleid feucht wurde.

Ida packte das Geländer und zog sich die Stufen hinauf, während der Zug sich schon in Bewegung setzte. Im Waggon winkte der Schaffner sie in den hinteren Teil zu einem Sitzplatz am Fenster – der einzige freie Platz im gesamten Waggon. Während sie durch den Wagen schritt, hielt Ida ihre Sachen mit einer Hand vor sich und griff mit der anderen nach den Rückenlehnen der Sitze, um sich bei den ruckartigen Bewegungen des Zuges abzustützen.

Als sie bei der vorletzten Reihe angelangt war, schnappte sie erschrocken nach Luft. Auf dem Sitz am Gang hatte es sich ein sehr beleibter Mann bequem gemacht. Seine Augen waren geschlossen, sein Doppelkinn hing auf die Brust herab. Sein zerknittertes Hemd und sein wirres, graues Haar verrieten seine mangelnde Körperhygiene.

Obgleich er nicht ihre erste Wahl als Sitznachbar war, gab es keine andere Möglichkeit. Ida verstaute ihre Mappe in dem mit Rohren eingefassten Fach über den Sitzen und legte ihren Mantel darüber. Das junge Paar, das dem Mann und dem einzigen freien Platz gegenübersaß, hatte sich zusammengekauert.

»Entschuldigen Sie«, sagte Ida.

Die beiden zogen ihre Beine ein und ließen sie zu ihrem Fensterplatz durch. Im Vorbeigehen stieg ihr der Geruch von Alkohol in die Nase und verursachte eine leichte Übelkeit. Der Mann stank regelrecht danach – was auch erklärte, weshalb er trotz dieses Geschaukels schlafen konnte.

Ida quetschte sich in die schmale Lücke neben dem Mann und hielt ihr Täschchen auf dem Schoß. Wie sollte sie nur die nächsten zwei Stunden ertragen? Hoffentlich stieg er früher aus.

Sie hatte eigentlich vorgehabt, für den letzten Abschnitt ihrer Reise von Maine nach Cripple Creek schon früh am Morgen am Bahnsteig zu sein. Sie hatte die Nacht sogar extra in einem Hotel in der Nähe des Bahnhofs verbracht, um pünktlich zu sein. Aber wer hätte schon damit rechnen können, dass der Regen der letzten Nacht auf der Straße regelrechte Seen hinterlassen würde, die sich als kleine Pfützen tarnten? An der Bahnstation angekommen, war sie sofort in den Waschraum gegangen, um sich trockene Sachen anzuziehen, was allerdings eine ganze Weile in Anspruch nahm, da sie bis auf den Unterrock nass war.

Ida bekam Kopfschmerzen und presste sich die Finger an die Schläfen, um den Schmerz etwas zu mildern. Sie holte tief Luft und hoffte, dadurch ihre Frustration loszuwerden. Sie war jetzt im Zug und hatte einen Sitzplatz. Und obgleich ihr Platz viele Nachteile hatte, war er doch noch weitaus komfortabler als der Gepäckwagen – die einzige andere Option, die ihr noch geblieben wäre. Außerdem warteten am Ziel ihre Schwestern auf sie. Im Vergleich zu den beinahe sieben Tagen, die die Reise bis hierher gedauert hatte, war diese letzte Etappe nicht mehr als ein Wimpernschlag. Sie würde es schon schaffen.

Sie musste sich nur mit irgendetwas beschäftigen. Glücklicherweise hatte sie sich genau darauf vorbereitet. Ida zog den Umschlag heraus, den sie in eine Seitentasche ihrer Mappe gesteckt hatte. Vivian hatte Ida das mysteriöse kleine Päckchen zugesteckt, bevor diese in Portland in den Zug gestiegen war, und hatte ihr gesagt, sie solle sich die Überraschung für einen besonders ermüdenden Abschnitt der Reise aufheben. Und daher war jetzt der richtige Augenblick gekommen.

Ida öffnete den Umschlag und holte ein farbenfrohes, zusammengefaltetes Blatt heraus, das offensichtlich aus einer Zeitschrift stammte. Als sie das verräterische Blatt von der Größe einer Zeitungsseite auffaltete, erkannte sie, dass es aus einer Ausgabe von Harper’s Bazaar stammte. Vivian, die Modebewusste in der Familie, kaufte sich hin und wieder eine Ausgabe dieser Zeitschrift.

Ida betrachtete das Blatt, auf dem nur Anzeigen für Pears