Zwei Bräute zu viel - Mona Hodgson - E-Book

Zwei Bräute zu viel E-Book

Mona Hodgson

5,0

Beschreibung

Colorado, Ende des 19. Jahrhunderts: Die Schwestern Kat und Nell Sinclair lassen das zivilisierte Maine und ihre Familie hinter sich und machen sich auf den Weg in eine unkultivierte Bergarbeitersiedlung im Westen. Dort wollen sie ein neues Leben beginnen. Als "Bräute auf Bestellung" kennen sie ihre zukünftigen Ehemänner nur aus Briefen. Nell träumt von Romantik, während Kat diese Verbindung nur eingeht, um versorgt zu sein. Doch als die beiden Damen den kleinen Ort erreichen, ist keiner der beiden Herren in Sicht. Die wohlerzogenen Sinclair-Schwestern sind in der lebhaften Stadt am Ende der Zivilisation nun ganz auf sich selbst gestellt. Doch Gottes Gnade ist auch an diesem Ort nicht fern ...

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Über die Autorin

Mona Hodgson hat bereits fast 30 Kinderbücher verfasst. Sie spricht regelmäßig auf Frauenfreizeiten, an Schulen und auf Konferenzen in den USA. Sie lebt mit ihrem Ehemann in Arizona.

Mona Hodgson

Zwei Bräute zu viel

Roman

Aus dem Englischen übersetzt von Elke Wiemer

Originally published in English under the title»Two Brides Too Many« by Mona Hodgson.

Copyright © 2009 by Mona Hodgson

Published by WaterBrook Pressan imprint of The Crown Publishing Group,

a division of Random House, Inc.,

12265 Oracle Boulevard, Suite 200, Colorado Springs, Colorado 80921, U.S.A.

Published in association with the literary agency of Janet Kobobel Grant

Books & Such, 4788 Carissa Avenue, Santa Rose, CA 95405

International rights contracted through:

Gospel Literature International,

P.O. Box 4060, Ontario, California 91761-1003, U.S.A.

This translation published by arrangement with WaterBrook Press,

an imprint of The Crown Publishing Group,

a division of Random House, Inc.

© 2013 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar

1. Auflage 2013

Bestell-Nr. 816789

ISBN 978-3-96122-077-9

Covergestaltung: Michael Wenserit; Mark D. Ford

Coverfoto: Gaylon Wampler

Bearbeitung: Nicole Schol

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

Für Cindy, Tammy und Linda – meine eigenen Schwestern

Denn siehe, ich will ein Neues schaffen,

jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?

Ich mache einen Weg in der Wüste

und Wasserströme in der Einöde.

Jesaja 43,19

1

Portland, Maine, 1895

Jetzt hab ich dich!«

Kat sah von ihrem Tagebuch auf und schaute zum Tisch hinüber, wo Nell mit einem breiten Grinsen dasaß. Nell und Ida hatten an diesem Sonntagnachmittag besonders angeregt gespielt. Beide waren sehr ehrgeizig, und Kat verspürte nicht das Verlangen, eine der beiden zu einer Partie Dame oder einem anderen Spiel aufzufordern.

Ida saß angespannt auf der Kante eines gepolsterten Stuhls. Die älteste der vier Sinclair-Schwestern war es nicht gewohnt zu verlieren, wie an ihrer gerunzelten Stirn unschwer zu erkennen war. Sie starrte auf das Spielbrett, aber die Anordnung der roten und schwarzen Steine wollte sich einfach nicht ändern. Als sie schließlich einen Stein rückte, schnappte sich Nell den roten Spielstein, und ihre blauen Augen blitzten auf.

»Jetzt steht es fünf zu zwei, Ida.« Vivian, die mit sechzehn die jüngste der vier war, verkündete den Spielstand vom Sofa aus, wo sie mit Sassy, ihrer Siamkatze, saß.

»Damit hat sie dich vom Thron gestoßen, liebe Schwester.« Kat schlug ihr Tagebuch zu. »Die Sinclairs haben eine neue Dame-Königin.«

Während Ida so tat, als nehme sie sich eine Krone vom Kopf, stand Nell auf und strich ihr Kleid glatt. Dann setzte Ida die unsichtbare Krone auf Nells blonden Haarschopf. »Hiermit präsentiere ich euch die neue Dame-Königin.« Ida knickste ehrerbietig. Alle vier kicherten.

Kat nahm ihr Tagebuch und ging zum Fenster. Die karierten Vorhänge waren mit Stoffbändern zurückgebunden und bildeten den Rahmen für einen idyllischen Ausblick. Die Ahornbäume und die Eiche im Garten waren mit tiefroten und goldgelben Blättern geschmückt, und ein paar Eichhörnchen tobten herum, während eine Handvoll Blätter wild durch die Luft wirbelten wie herbstliche Akrobaten.

Akrobaten in Herbsttönen.

Wild herumwirbeln …

Kat eilte zum Sekretär zurück und hielt die Worte in ihrem Tagebuch fest. Ihr Bleistift flog regelrecht über die Seite. Der Sonntag war der inspirierendste Tag der Woche. Sie hatte an diesem Ruhetag Zeit zum Nachdenken, was sie immer erfrischend fand und auf neue Gedanken brachte.

Nell räusperte sich. »Ich nehme nicht an, dass du gerade einen Beitrag für den ›Portland Press Herold‹ verfasst und darin von meinem Sieg berichtest?«

»So großartig dein Sieg auch war – ein Bericht über unsere klägliche Schlacht ist nicht so sehr Kats Fall.« Vivian lachte. Ihre freche kleine Katze passte sehr gut zu ihr.

»Wenn Nell die Schriftstellerin in unserer Familie wäre, würden wir alle eine hochromantische Liebesgeschichte zu lesen bekommen«, wandte Ida ein, als sie das Spielbrett ins Regal zurückstellte.

»Ich glaube eben an die große Liebe«, hielt Nell ihr achselzuckend entgegen. »Ist das so schlimm?«

»An die Liebe zu glauben ist ganz und gar nicht schlimm, mein Schatz.« Als sie die herzliche Stimme ihres Vaters hörten, blickten die vier zur Tür. Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte er am Türrahmen. Er trug einen Anzug mit Fischgrätenmuster und hatte seinen rotbraunen Bart ordentlich gestutzt.

»Wir haben eine neue Dame-Königin, Vater.« Nell deutete mit erhobenen Händen eine Krone auf ihrem Kopf an. »Mich.«

»Welch eine bescheidene Siegerin.« Auf seinem Gesicht zeigte sich ein schwaches Lächeln, und Kat bekam ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Irgendetwas stimmte nicht.

Während Vater sich zu den vier Mädchen an den Tisch setzte, kam Tilda schlurfend herein und stellte das Teetablett auf den Mahagonitisch. Sie arbeitete schon seit zehn Jahren als Hausangestellte bei den Sinclairs, und Kat würde niemals vergessen, wie liebevoll sie bis zum Tod für ihre Mutter gesorgt hatte, damals, vor acht Jahren. Tilda goss heißen Apfelsaft in die Tassen und richtete sich langsam auf.

Kat hob ihre Tasse an, sog den aromatischen Duft tief ein, nahm ein Stück Zitronengebäck vom Teller und reichte diesen dann Ida.

»Ihre Herrschaft wird nicht von Dauer sein«, wahrsagte Ida und setzte sich aufrecht hin. »Nächsten Sonntag werde ich mir meine Krone zurückholen.«

»Meine Mädchen – eigenwillig und doch zugleich zarte Pflänzchen.« Vater hob seine Tasse hoch. »Das hat mich durchgetragen, als eure Mutter starb.« Nachdem er einen Schluck von dem Apfelsaft genommen hatte, stellte er seine Tasse wieder ab. »Ich habe Neuigkeiten für euch, und ich zähle dabei auf eure Eigenständigkeit.«

Während Kat darüber nachdachte, was für Neuigkeiten das wohl sein mochten, bei denen Vater auf ihre Eigenständigkeit hoffte, schluckte sie den letzten Bissen ihres Gebäckstücks hinunter.

»Was für Neuigkeiten sind das, Vater?« Nell hatte die Frage gestellt, bevor Kat sie aussprechen konnte.

»Meine Arbeit hier wird nächstes Jahr im Mai beendet sein.«

»Das ist ja schrecklich.« Vivians leere Tasse stieß klirrend gegen ihre Untertasse. »Das können sie doch nicht machen!«

Nell runzelte angesichts von Vivians pessimistischer Einstellung die Stirn. Das war etwas, über das sich die beiden häufig uneins waren. »Du wirst bald etwas Neues finden, Vater«, wandte sie daher ein. »Da bin ich mir ganz sicher.«

»Nell hat recht.« Kat konnte nicht glauben, was sie soeben gesagt hatte. Seit sie denken konnte, hatte ihr Vater für Wyatt Locomotive gearbeitet, und hier in Portland gab es sonst nicht viele Möglichkeiten. »Bis Mai sind es noch acht Monate. Bis dahin hast du wahrscheinlich sogar etwas Besseres gefunden.« Dabei hoffte sie, dass ihre Stimme zuversichtlicher klang, als ihr zumute war.

Vivian schob ihren Stuhl zurück und verschränkte beleidigt die Arme. »Ganz egal, wie viel Zeit sie dir noch einräumen, du hast ihnen viel mehr gegeben.«

»Nun ja, sie haben mir ja nicht ganz gekündigt«, entgegnete er seufzend. »Sie haben mir eine Stelle als leitender Eisenbahningenieur angeboten. In Paris.«

Nell schnappte nach Luft, und Vivian stieß einen Schrei aus. Erschrocken sprang Sassy von Vivians Schoß und versteckte sich unter dem Sofa. Kat saß regungslos und entgeistert da.

Ihr Vater würde eine Stelle in Frankreich annehmen.

Während für die meisten Schriftsteller eine Stadt wie Paris exotisch und verlockend gewesen wäre, empfand Kat nicht so. Sie liebte das Leben in Maine und hatte ihr gesamtes Leben in Portland zugebracht. Hier hatte ihre Mutter gelebt, und hier war sie auch gestorben.

Ida rieb sich den Nasenrücken, was ein sicheres Zeichen dafür war, dass sie wieder einmal Kopfschmerzen bekam. »Ich kann nicht aus Portland weggehen, Vater. Ich stecke mitten in meiner Ausbildung zur Sekretärin.«

»Ja«, erwiderte er, »darüber habe ich mir ebenfalls Gedanken gemacht.« In diesem Augenblick kündigte die Wanduhr die volle Stunde an, und Vater wartete alle vier Schläge ab, bevor er fortfuhr. »Dieses Haus gehört der Firma«, erklärte er und legte die Handflächen auf die Stuhllehne, »und in Paris werden sie mir nur ein Ein-Zimmer-Apartment zur Verfügung stellen.«

Das flaue Gefühl in Kats Magen verwandelte sich rasch in Übelkeit. Sie konnte es nicht fassen, dass Vater sie hier zurücklassen wollte. Sie war zwar schon fast neunzehn und hätte darauf vorbereitet sein sollen, aber nachdem ihre Mutter bereits gestorben war, war er alles, was ihnen geblieben war.

»Du willst uns hier zurücklassen?«, fragte Nell mit dünner Stimme.

»Ich darf nicht mit nach Paris?«, flüsterte Vivian.

Vater erhob sich und ging langsam zum Kamin. Er nahm das Bild ihrer Mutter vom Kaminsims und starrte es an, als könne es ihm Kraft geben. »Ich muss es tun«, erklärte er. »Ich sehe keine andere Möglichkeit.«

Ihr Vater wirkte so verlassen, dass Kat beinahe aufgestanden wäre und ihn in den Arm genommen hätte. Auch wenn es ihr nicht gefiel, so wusste sie doch, dass die Entscheidung, die Stelle in Paris anzunehmen, für ihn genauso hart sein musste wie für sie. »Wir kommen schon klar, Vater.«

»Das weiß ich, Kat. Ich vertraue auf jede Einzelne von euch. Eure Mutter hat euch zu außergewöhnlichen jungen Frauen erzogen.« Vater stellte das Bild wieder auf das Kaminsims zurück. »Ich muss sicher sein, dass für euch vier gut gesorgt ist, bis ich wieder zurückkomme. Deshalb werden Vivian und Ida hier in Portland bei Tante Alma bleiben, bis sie mit ihrer Ausbildung fertig sind. Dann werden sie zu dir und Nell nach Colorado gehen.«

»Colorado?«, fragte Nell mit zitternder Stimme.

»Ja. Ich denke, Colorado wäre der beste Ort für euch«, meinte er und betrachtete sie traurig. »Die Städte dort wachsen schnell, die Berge sind von einmaliger Schönheit, und ich war oft geschäftlich dort.« Vater griff wieder nach seiner Tasse und nahm einen großen Schluck. »Dort gibt es gute, zuverlässige Männer, und so sehr es mich auch schmerzt, euch gehen zu lassen: Colorado bietet euch viele Möglichkeiten. Und das wünsche ich mir für meine Mädchen.«

Fragen über Fragen stiegen in Kat auf, und ihr wurde etwas mulmig. Wovon sprach Vater da? Welche Möglichkeiten? Und was hatten die Männer in Colorado mit ihr und Nell zu tun? Kat warf Ida einen fragenden Blick zu, aber ihre große Schwester erwiderte ihren Blick genauso entgeistert.

»Nach dem Krieg sind viele Männer hier aus dem Osten nach Westen gezogen, wo sie in den Minen, bei der Eisenbahn und in den Geschäften gut verdienen. Manche sind sogar regelrecht reich geworden. Vivian ist noch nicht im heiratsfähigen Alter. Aber der Rest von euch schon, und ich fürchte, es wird Zeit, dass wir Ehemänner für euch finden.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Ida muss zuerst ihre Ausbildung abschließen, aber ihr beide solltet im Anzeigenblatt von Cripple Creek in Colorado Annoncen aufgeben.«

»Annoncen?« Mehr als dieses eine Wort brachte Kat nicht heraus.

»Ja, mein Schatz. Heiratsannoncen.«

Kat hielt sich die Serviette vors Gesicht und versuchte, ihre Bestürzung zu verbergen. Es war eine Sache, in den Westen zu reisen, um einen Mann zu finden. Aber eine Zeitungsannonce aufzugeben war noch einmal etwas ganz anderes. Wohlerzogene, gutsituierte Damen taten so etwas einfach nicht.

Aber ein Blick auf den schmerzlichen Gesichtsausdruck ihres Vater verriet ihr, dass ab jetzt alles anders sein würde.

2

Cripple Creek, Colorado, 1896

Während Kat in ihr Tagebuch schrieb, versuchte sie, das gleichmäßige Rattern des Zuges auszublenden.

Ein Abenteuer. Mit diesem Wort will ich die Reise beschreiben, auf der Nell und ich uns befinden. Es ist keine romantische Liebesgeschichte, sondern vielmehr ein Abenteuerroman. Die Geschichte zweier Schwestern.

»Mein Name ist Lucille Reger. Ich fahre mit meiner Mutter zu meiner Tante.«

Kat legte den Stift auf ihr Tagebuch und wandte sich dem Mädchen zu, das ihr gegenüber saß.

»Ich bin Kat Sinclair«, sagte sie und betrachtete ihre Mitreisende, die einige Jahre jünger war als sie selbst. Lucille war gemeinsam mit ihrer Mutter, die jetzt zusammengesunken gegenüber von Nell saß und so fest schlief, als hätte sie seit Tagen kein Auge zugetan, in Colorado Springs zugestiegen. Das Mädchen hatte die Nase die meiste Zeit in ein zerlesenes Exemplar von »Grimms Märchen« gesteckt. Aber jetzt lag das Buch auf ihrem Schoß. »Und das ist meine Schwester, Nell.«

Die Angesprochene sah von dem Brief in ihren Händen auf und lächelte das Mädchen freundlich an. »Hallo, Lucille.«

»Schreiben Sie ein Buch, Miss Kat Sinclair?«

»Das ist nur mein Tagebuch.« Bei diesen Worten schlug Kat den weichen Ledereinband zu. »Meine Schwester und ich sind vor fast einer Woche in Maine losgefahren, und ich habe über unsere Fahrt geschrieben.«

Nell zog eine Augenbraue hoch und sah zu Kat hinüber, während sie einen weiteren Brief aus dem Bündel auf ihrem Schoß zog. »Du könntest aber ein Buch schreiben, wenn du wirklich wolltest.«

»Vielen Dank, aber – «

»Ich würde das Buch auch lesen, wenn darin Prinzessinnen vorkommen«, warf Lucille ein. »Oder eine böse Hexe.« Der Zug machte einen weiteren Bogen um einen Berg, und die strohblonden Locken des Mädchens wippten auf seinen Schultern. »Schreiben Sie über so etwas?«

»Manchmal schreibe ich über meine Schwester.«

Nell stieß sie mit dem Ellbogen an. »Die liebe Prinzessin.«

»Ich schreibe lieber Gedichte und halte die Ereignisse in meinem Tagebuch fest. Ich bin nicht wirklich eine Schriftstellerin.«

Nell schnaubte. »Und wie nennst du das dann, wenn du einen Artikel für den ›Portland Press Herold‹ schreibst?« Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster und richteten die Aufmerksamkeit ihrer Mitreisenden auf ihre Sommersprossen.

»Geschichte«, erwiderte sie. Sie hatte zwei Artikel für diese Zeitung geschrieben, und selbst wohlwollend betrachtet war das keine regelmäßige Tätigkeit gewesen. Kat war dankbar für die ermutigenden Worte ihrer Schwester, aber jetzt, da sie in den Westen fuhr, um einen Minenarbeiter zu heiraten, würden ihre Tagebucheinträge wohl ihre einzige schriftstellerische Tätigkeit sein. Es wäre vermutlich besser, wenn sie ihre volle Aufmerksamkeit auf dieses neue Kapitel in ihrem Leben richtete – ihre Zukunft in Colorado an der Seite von Mr Patrick Maloney. Kat verstaute ihr Tagebuch und zog ein Briefbündel heraus. Es war viel kleiner als das von Nell.

Sie standen erst seit drei Monaten in Briefkontakt mit ihren zukünftigen Bräutigamen, aber es waren die hoffnungsvollsten Wochen gewesen, die sie und ihre Schwester erlebt hatten, seit Vater seinen Umzug nach Paris verkündet hatte. Kat konnte kaum glauben, dass sie Patrick nun tatsächlich kennenlernen sollte.

Lucille hob ihr Buch hoch. »Ich lese gerade ›Aschenputtel‹. Das ist meine Lieblingsgeschichte. Was lesen Sie?«

»Das hier sind Briefe von meinem Prinzen«, sagte Nell lächelnd und blickte ihr Gegenüber strahlend an.

Lucilles blaue Augen wurden groß. »Sie heiraten einen Prinz?«

Nell zog eine handkolorierte Fotografie ihres Zukünftigen aus einem verschlissenen Umschlag. »Das ist Judson Archer«, erklärte sie und betrachtete sein Gesicht zum bestimmt zwanzigsten Mal in dieser Woche.

»Er sieht tatsächlich aus wie ein Prinz.« Lucilles Locken wippten, als sie bestätigend nickte.

Nell tippte auf das Briefbündel in Kats Schoß. »Meine Schwester hat auch einen Prinzen.«

Lucille sah zu Kat auf. »Haben Sie ein Bild von Ihrem Prinz?«

Kat wollte Patrick Maloney nicht als ihren Prinzen bezeichnen. Sie hatte ihn ja noch nicht einmal getroffen, aber er war Vorarbeiter in einer großen Mine, er suchte eine Frau, und er hatte ihr Geld für die Zugfahrt geschickt. Das hatte ausgereicht, um Vater zu beruhigen, und so bemühte sich Kat ebenfalls, optimistisch zu sein. Sie zog Patricks Bild aus seinem letzten Brief. Sie hatte ihn an dem Tag bekommen, an dem Vater verkündet hatte, dass sie und Nell nicht noch einige Wochen warten konnten, um die beiden Männer zu heiraten, die sie zur Frau haben wollten. Und gleich am nächsten Tag waren sie und Nell in Portland in den Zug nach Westen gestiegen.

Kat rutschte auf die Sitzkante vor, um Lucille die Blechfotografie zu zeigen. Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Mir gefällt sein Kinn, aber ich glaube nicht, dass ein Prinz einen solchen Hut trägt.«

Dieses Mädchen war viel zu frühreif für sein Alter. Auf dem Bild trug Patrick eine Melone mit einer Straußenfeder im Hutband. Aber die Kleidung allein entschied wohl nicht darüber, ob jemand nicht zum Prinzen taugte – oder zum Ehemann. Ihr fielen ein Dutzend Antworten auf die Bemerkung des Kindes ein, sie hielt es aber für besser, nichts zu erwidern.

»Hast du gesehen, was für tiefblaue Augen mein Judson hat?« Nell betrachtete weiterhin verträumt ihr Bild.

»Die Fotografien sind handkoloriert, Nell. Die Farbgebung ist sicher sehr schmeichelhaft.«

»Aber aus ihren Tiefen spricht die Hingabe.«

Aus ihren Tiefen spricht die Hingabe. Kat seufzte. Und dabei warf man ihr immer vor, dass sie eine blumige Sprache verwendete.

Sie sah nach unten und betrachtete Patricks bodenständiges irisches Gesicht mit dem akkurat gestutzten Oberlippenbart. Sie strich mit dem Finger über seinen Kiefer und stellte sich dabei vor, die Bartstoppeln zu spüren. »Weißt du, was das Grübchen in seinem Kinn bedeutet?«

»Dass er so störrisch ist wie ein Maultier.« Nell kicherte, und Lucille machte sie nach.

»Es ist ein Zeichen für seine Entschlossenheit.« Sie hatte diese Theorie selbst aufgestellt. Aber wenn man die Kürze von Patricks Briefen bedachte, konnte es durchaus zutreffen. Was machte es schon, wenn er nicht so wortgewandt war wie Nells Judson? Er hatte sich nur einfach schneller entschieden. Außerdem war er Vorarbeiter in der Mary-McKinney-Mine und bei der freiwilligen Feuerwehr, also musste er wohl auch ein sehr fleißiger Mann sein.

»Mrs Judson Archer.« Das sehnsüchtige Flüstern ihrer Schwester erinnerte an den romantischen Klang einer Flöte in einer Rhapsodie, als sie einen der Briefe zur Hand nahm und daraus vorlas. »›Meine liebste Nell, ich zähle die Tage, bis du nach Cripple Creek kommst und ich dich zu meiner geliebten Frau nehmen kann. Bis zum fünften Juni ist es noch viel zu lange hin.‹«

Patrick hatte offensichtlich zu viel zu tun, um fortwährend Briefe zu schreiben. Und wahrscheinlich war er auch zu schüchtern, um solch persönlichen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Aber das störte Kat nicht. Sie konnte ja das Schreiben übernehmen.

»Er schreibt vom fünften Juni. Aber heute ist erst der achtundzwanzigste April.« Lucille erhob sich, um nach dem Brief zu greifen, und wäre aufgrund des Ratterns des Zuges beinahe auf Nell gefallen, bevor sie sich wieder setzen konnte.

»Wir waren gezwungen, unsere Reise vorzuverlegen, weil unser Vater früher aus Maine abreisen musste als erwartet.« Nell schob Judsons Bild und den Brief wieder in den zerknitterten Umschlag und steckte das Briefbündel in ihre Tasche. »Wir haben ihnen Telegramme geschickt, um ihnen mitzuteilen, dass wir einige Wochen früher anreisen werden.« Nell versuchte, etwas Ruß vom Ärmel ihres Kleides zu wischen.

»Ich will Ihre Prinzen unbedingt sehen! Werden sie Sie am Bahnhof abholen?«

Kat zog eine Augenbraue hoch. Lucille klang viel zu verträumt für ihr Alter.

»Ja, sie werden da sein.« Nell sah auf den nackten Ringfinger ihrer linken Hand.

»Werden Sie sie heute noch heiraten?«

Nells geschlossenen Lippen entwich ein nervöses Lachen.

Kat seufzte. Ihre Schwester war viel zu geduldig mit dem Kind. »Nein.«

»Kats Prinz hat uns die Adresse einer Pension geschickt, in der wir bleiben können, bis wir heiraten.«

Ihre Schwester gab Nell mit einem Blick zu verstehen, dass es jetzt genug war.

»Sie ist doch nur neugierig«, flüsterte Nell.

»Aber du ermutigst sie auch noch.«

Der stampfende Rhythmus des Zuges verlangsamte sich, als er einen Berghang hinaufschnaufte. Augenblicke später öffnete der Schaffner die Tür des Abteils, und mit ihm kam ein eiskalter Windstoß herein und weckte Lucilles Mutter.

»Was ist?« Die Frage hätte auch genauso gut von ihrer Tochter stammen können, die mit dem Finger auf den untersetzten Mann mit der Nickelbrille deutete.

Der Schaffner hatte den Daumen in die Knopfleiste seiner gestreiften Weste gehakt und verkündete: »Noch eine Viertelstunde bis zur Eisenbahnstation von Cripple Creek, meine Damen.«

Nell sah an ihrem beschmutzten Leinenkleid hinunter. »Wir sehen schrecklich aus … von Kopf bis Fuß voller Ruß. Ich wünschte, wir hätten noch Zeit, uns in der Pension frisch zu machen, bevor wir unsere zukünftigen Ehemänner treffen.«

»Wir müssen einfach das Beste aus dem machen, was wir haben«, erwiderte Kat seufzend. »Schließlich werden sie uns und unser Gepäck zur Pension bringen.« Sie holte ein Taschentuch und einen Spiegel aus ihrem Beutel, und Nell tat es ihr gleich.

Als Kat sicher war, dass sie ihr Möglichstes getan hatte, um für den Mann, den sie schon bald ihren Gatten nennen würde, so gut wie möglich auszusehen, wandte sie sich zum Fenster, um ihr neues Zuhause zu betrachten. Doch bei dem Anblick verschlug es ihr den Atem. Über einer von Bäumen gesäumten Anhöhe stiegen weiße Wolken auf, und unter den kahlen Zweigen waren holzgedeckte Dächer zu erkennen. Die Stadt war weitaus größer, als sie erwartet hatte. Schneebedeckte Gipfel umgaben den Ort und erinnerten sie an den geriffelten weißen Rand an Mutters Lieblingsschüssel. Im Osten erhob sich Pikes Peak, und die Lichtstrahlen der Sonne fielen auf die violett gefärbten Hänge der Bergkette im Westen. Am liebsten hätte Kat ihr Tagebuch wieder hervorgeholt, aber ihr blieb nicht mehr genug Zeit zum Schreiben.

»Das sind die berühmten Rocky Mountains«, flüsterte Lucilles Mutter, als sie ihre mit einer Perle verzierte Hutnadel zurechtsteckte.

In diesem Moment ertönte das schrille Pfeifen des Zuges und kündigte ihre Ankunft an. Kat hängte sich ihren Beutel um, rückte ihren Hut zurecht und steckte ihn gut fest, während Nell ihren Wollmantel nahm und den Samtkragen glatt strich.

Kat trat ans Fenster, um zu sehen, ob sie eine Melone mit einer Pfauenfeder entdecken konnte, aber in der dicht gedrängten Menschenmenge auf dem Bahnsteig konnte man nichts erkennen.

»Hier hat es gebrannt.« Kat sog die Luft durch die Nase ein und deutete auf das verkohlte Bahnhofsgebäude. Nell nickte und sah zu dem schwarzen Hang hinter der Station. »Wo sind wir da nur hineingeraten?«, flüsterte Kat.

Nell straffte ihre Schultern. »Wir wussten doch, dass es nicht leicht werden würde«, sagte sie und versuchte, dabei zuversichtlich zu klingen. »Es wird alles gut werden. Du wirst schon sehen.«

Das musste es wohl. Vater war viele Tausend Meilen entfernt, in Frankreich, und Ida und Vivian mussten sich darauf verlassen, dass sie beide hier den Weg für einen Neuanfang für alle vier Sinclair-Schwestern ebneten.

Schließlich kam der Zug quietschend und kreischend zum Stehen, und plötzlich kam Bewegung in die Fahrgäste. Männer stopften Zeitungen in ihre Taschen und setzten breitkrempige Filzhüte und Melonen auf. Die anderen drei Frauen im Abteil steckten Haarnadeln fest, rückten Schals zurecht und hängten sich bei ihren männlichen Begleitern unter.

Kat und Nell hielten ihre Taschen fest und stellten sich zu den anderen in den Mittelgang, der sie schließlich wieder auf festen Boden und zu ihren Prinzen führen würde.

Nell sah, wie die junge Frau vor ihr sich bei ihrem Mann einhakte. Die beiden gingen lachend durch die Tür, und Nell spürte tief im Innern das Verlangen nach einer solchen Geborgenheit.

Schon bald würde sie am Arm von Judson Archer durch Türen gehen!

Die Reisenden in der Nähe der vorderen Wagentür nahmen ihre Umhänge und Übermäntel von den Haken. Als Nell den Ausgang erreichte, warf sie sich ihren Umhang über, zog ihn eng um die Schultern und knöpfte ihn zu.

Sie betraten den Bahnsteig und bewegten sich mit der Menge wie Schafe in einer Herde. Nachdem sich die Neuankömmlinge und die Wartenden begrüßt hatten, verlief sich die Menge allmählich, während Nell weiter nach irgendeinem Zeichen ihrer Zukünftigen Ausschau hielt.

Doch niemand am Bahnsteig sah Judson ähnlich, und Mr Maloneys Pfauenfeder hätte man schwerlich übersehen können. »Sie sind nicht hier, Kat.«

»Sie kommen sicher noch.« Kats angespannte Kiefermuskeln standen im Widerspruch zu ihren Worten.

»Wo ist denn Ihr Prinz?« Lucille stand mit großen Augen vor ihr, einige Schritte von ihrer Mutter und einer Frau entfernt, von der Nell annahm, dass es sich dabei um ihre Tante handelte.

Kat hatte recht – sie hatte dem Kind zu viel erzählt. Das Mädchen war eine Fremde und noch dazu sehr jung, und jetzt musste sich Nell Fragen stellen, auf die sie keine Antwort wusste.

»Wahrscheinlich wurden sie aufgehalten. Schließlich haben wir sie mit der Nachricht von unserer verfrühten Ankunft überrascht.« Nell sah zu Kat. Ihre Schwester stand mit hochgezogenen Augenbrauen und zusammengepressten Lippen da und gab mit keiner Miene zu erkennen, dass sie ihr gleich zu Hilfe kommen würde. »Oder vielleicht war es auch nur ein Missverständnis. Das wäre nicht verwunderlich. Es kann so viel schiefgehen, wenn man ein Telegramm schickt.«

»Komm jetzt, Lucille«, rief die Mutter des Mädchens von der Bahnhofstür aus. Das Mädchen drehte sich mit hängenden Schultern zögernd um. Nell seufzte. Sie hatte ihre Lektion gelernt – sie würden niemandem mehr den Grund für ihr Kommen nennen.

Innerhalb von wenigen Minuten waren ihre beiden Koffer die einzigen, die noch auf dem Bahnsteig verblieben waren. Alle waren gegangen, und sie standen allein da.

Nell ließ sich auf ihren Koffer sinken. Die späte Vormittagssonne blendete sie. »Wir haben ihnen doch telegrafiert. Sie müssten hier sein!«

»Lass uns noch eine Viertelstunde warten.« Auch Kat ließ sich auf ihren Koffer sinken.

Doch niemand kam.

Eine halbe Stunde später machte sich Nell auf die Suche nach einem Gepäckträger, der ihr den Weg zu »Hatties Pension« beschrieb. Sie versuchte, den mitleidigen Ausdruck auf seinem Gesicht zu ignorieren, als sie mit ihm vereinbarte, er solle ihre Koffer dorthinbringen.

Die beiden Schwestern schlurften zur Treppe und stiegen vom Bahnsteig hinunter in den matschigen Schnee. Eiskaltes Wasser durchdrang Nells Stiefel. Es blies ein schneidender Wind, und sie mussten ihre Hüte festhalten, als sie durch den Ausgang auf die Straße hinausgingen, an deren Rändern noch Schnee lag. Aber die Sonne auf ihren Gesichtern fühlte sich warm an. Nell hakte sich bei Kat unter – zum Teil, um sich zu stützen, aber auch um Zusammenhalt zu signalisieren.

Nell war froh, nicht mehr im Zug zu sein, auch wenn ihre Ankunft nicht so verlaufen war, wie sie es sich vorgestellt hatten. Vielleicht war es aber auch besser so. Aufdiese Weise könnte sie sich frisch machen und würdegut aussehen, wenn sie Judson zum ersten Mal begegnete.

Sie gingen die Straße entlang an einigen ausgebrannten Geschäften vorbei und wichen dabei Männern, Pferde- und Eselskarren aus. So viele Männer. Überall. Zu Pferd, mit Eseln, hinter Fuhrwerken. Und alle starrten die beiden Schwestern an. Nell hielt den Blick fest auf den Boden gerichtet, aber etwas erregte doch ihre Aufmerksamkeit. Es war ein Mann, der einen vertraut aussehenden Hut trug. Sie hielt abrupt inne und hätte Kat beinahe zu Fall gebracht, als sie sich umwandte.

»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich ihre Schwester und wollte sie stützen. »Bist du gestolpert?«

Nell schüttelte den Kopf und deutete auf die andere Straßenseite. »Sieh mal … Der Mann dort drüben vor dem Gemischtwarenladen.«

»Das ist … Patricks Hut«, sagte Kat leise. Der Mann hatte seinen Arm um eine zierliche Frau in einem roten Satinmieder gelegt. Ihre langen, blonden Haare fielen ihr seitlich über die Schulter. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr, und er warf lachend den Kopf in den Nacken.

»Aber er kann es nicht sein!« Nell hätte zu gerne geglaubt, dass es nicht Mr Maloney sein konnte – nicht, wenn er eine andere Frau im Arm hielt. Und nicht in dieser Aufmachung.

Kat riss sich von Nell los und machte Anstalten, über die Straße zu stürmen.

Doch Nell packte ihre Schwester am Umhang und zerrte daran. Sie durfte nicht zulassen, dass diese sich lächerlich machte. »Wir müssen zuerst in unsere Unterkunft«, sagte sie und zog ihre Schwester wieder zu sich. »Außerdem weißt du nicht mit Sicherheit, ob es Patrick ist. Hier gibt es wahrscheinlich Dutzende von Männern mit Melonen. Du willst dein Leben hier doch nicht so anfangen?«

Nell sah, wie der Mann der Frau die Tür zu »Ollies Saloon« aufhielt, und dann verschwanden beide darin.

Kat seufzte und drehte sich wieder zu ihrer Schwester um. »Ich werde es wohl ohnehin noch früh genug erfahren.«

Diese nickte. Die beiden machten sich erneut auf den Weg zur Pension, versuchten aber, den Pfützen auszuweichen. Kat würde die Wahrheit früh genug erfahren.

Und eben darum machte Nell sich Sorgen.

3

Kat saß neben Nell auf dem Sofa in Witwe Hatties Salon, wippte mit dem Fuß und fingerte am Saum ihrer Bluse herum. Auf dem Tisch vor ihnen standen drei Teetassen, und von dem neuen Phonographen, der in der Ecke des Zimmers stand, erklang Musik.

Kat war dankbar, dass sie eine komfortable Unterkunft hatten, vor allem nachdem sie all die ausgebrannten Gebäude und behelfsmäßigen Behausungen in der Stadt gesehen hatte – von denen viele nicht bewohnbar aussahen, geschweige denn komfortabel. Aber ihr war nicht nach Plaudern zumute. Nell und sie waren kurz vor ihrem Gepäck in der Pension angekommen und hatten vor dem Abendessen, das aus Hähnchen mit wildem Reis bestand, gerade noch Zeit für ein Bad gehabt.

Das Essen war zwar sehr schmackhaft, aber die Mahlzeit wurde von den unangenehmen Fragen ihrer Vermieterin und der anderen beiden Ehepaare begleitet, die dort wohnten. Nell hatte jedes Mal das Thema gewechselt, sobald Hattie oder einer ihrer Gäste den Grund für die Reise der beiden Schwestern nach Cripple Creek ansprach. Nun wussten alle im Haus, dass Kat gerne Gedichte schrieb und Nell gerne kochte. Sie wussten auch alles über Maine und Ida und Vivian.

Die anderen Gäste waren mittlerweile nach oben gegangen, und Kat brauchte nun etwas Zeit zum Nachdenken. Sie musste überlegen, was sie in Bezug auf Mr Patrick Maloney tun sollte. Auch wenn Nell nicht sicher war, so musste jener Mann vor dem Gemischtwarenladen doch Kats Zukünftiger gewesen sein. Braunes Haar mit Pomade. Oberlippenbart. Iren mit Oberlippenbart gab es in Goldminen wahrscheinlich so häufig wie Fliegen im Stall, aber Kat bezweifelte, dass es mehr als einen gab, der seine Melone keck etwas schief trug und mit einer Straußenfeder schmückte.

Ihre Vermieterin saß ihnen gegenüber auf der Kante eines Schaukelstuhls, und Kat wartete unwillkürlich darauf, dass der Stuhl kippen würde. Hattie nahm ihre Tasse mit der Untertasse vom Tisch und sah sie über deren Rand neugierig an. »Warum verratet ihr beiden mir nicht, weshalb ihr hier seid?«

Die beiden Schwestern sahen sich mit weit aufgerissenen Augen an.

»Ihr seid nicht verheiratet, nicht wahr?« Hattie stellte ihre Tasse ab und lehnte sich in ihren Stuhl zurück.

»Ja, Nell und ich sind nicht verheiratet, Ma’am.« Kat nippte an ihrem Tee. Er war heiß, aber zu süß.

»Nun, die meisten nicht verheirateten Mädchen, die nach Cripple Creek kommen, unterrichten an der Schule.« Dabei zog die ältere Dame ihre bereits ergrauten Augenbrauen fragend hoch.

Nell rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. »Mrs Adams …«

»Nennt mich doch Hattie.«

»Gut, Hattie.« Nell warf Kat einen Blick zu. »Beim Abendessen haben Sie Ihren Mann George erwähnt. Wie haben Sie sich eigentlich kennengelernt?«

Hattie sah die beiden Schwestern an, und ihre Augen funkelten wie poliertes Silber. »Ihr beiden seid die verschlossensten Menschen, die ich kenne.«

»Man hat uns erzählt, dass es hier wunderschön sein soll«, fügte Kat mit einem Blick zum Fenster schnell hinzu. »Aber der Blick aus dem Zugfenster war wahrlich atemberaubend. In Maine haben wir das Meer, aber diese Berge hier sind einfach überwältigend.«

»Ich glaube, so viel Spaß hatte ich nicht mehr, seit mein George gestorben ist«, sagte Hattie und rieb sich dabei die Hände. »Ich liebe Ratespielchen. Mal schauen. Ihr seid keine Lehrerinnen. Es gibt kaum unverheiratete Mädchen, die aus geschäftlichen Gründen hierherkommen, abgesehen von den zweifelhaften Geschäften auf der Myers Avenue.« Kat spürte, wie sie errötete, aber Hattie zeigte keinerlei Regung. »Und wenn eine junge Frau aus diesem Grund herkommt, dann wohnt sie ganz sicher nicht bei mir. Ihr beide gehört nicht zu dieser Sorte. Also …«

Kat erkannte, dass diese Frau nicht lockerlassen würde … niemals. »Unser Vater ist für die Eisenbahn tätig und hat hier Geschäftskontakte«, sagte sie und hoffte, damit die Neugier der Frau zu befriedigen.

»Euer Vater ist hier in Cripple Creek?«

»Nein, Ma’am«, gab Kat zögernd zu. »Er ist in Paris.«

»Paris in Frankreich? Er muss ja ein richtig vornehmer Mann sein, wenn er so weit herumkommt.«

Kat konnte sich bei dem Gedanken daran, dass eine Frau, die ein Haus mit elektrischem Licht, fließend Wasser, Teppichen und Mahagonimöbeln besaß, ihren Vater als vornehm bezeichnete, ein Lächeln nicht verkneifen. Sie würde die Wahrheit noch früh genug herausfinden.

Hattie tippte sich an ihr kantiges Kinn, stand auf und schaltete den Phonographen aus. »Wir haben hier also zwei ledige Schwestern, deren Vater nach Paris gezogen ist und sie allein zurückgelassen hat.«

Nell stellte ihre Tasse geräuschvoll auf den Tisch und richtete sich auf. »Vater hat uns nicht – «

Hattie hob ihren Zeigefinger. »In eurem Telegramm hieß es, ihr braucht das Zimmer nur für ein oder zwei Nächte. Bleibt ihr nicht länger?«

Kat ertrug die Raterei nicht länger, auch wenn es bedeutete, dass sie ihr Geheimnis preisgeben mussten. »Ma’am, haben Sie schon einmal von einem gewissen Patrick Maloney gehört?«

Hattie nickte und sank in ihren Schaukelstuhl zurück. Kats Herz sank mit ihr.

»Fast jeder in der Stadt kennt ihn. Er ist dem Alkohol sehr zugetan. Sie nennen ihn auch ›Pullen-Paddy‹. Was habt ihr mit ihm zu tun?«

Kat stiegen die Tränen in die Augen, und sie hatte Mühe, sie zurückzudrängen. Ihr Auserwählter war ein Trinker.

»Meine Güte! Ihr sagtet zwar, ihr seid nicht verheiratet, aber nicht, dass ihr nicht vergeben seid …« Hattie hielt sich die Hände an die Wangen, und ihre Augen wurden ganz groß. »Ihr kennt eure Männer also gar nicht wirklich?«

Nell spitzte die Lippen und warf Kat einen Blick zu, dann schüttelte sie den Kopf.

»Oh.« Die Frau starrte Kat kopfschüttelnd an. »Oh nein. Nicht Paddy Maloney!«

Kat nickte und dabei lief ihr eine Träne über die Wange.

»Hat er dir geschrieben?«

»Ja.« Kat nahm einen Schluck Tee, um die Fassung zurückzuerlangen. »Er hat aber wohl versäumt, das mit dem Alkohol zu erwähnen oder dass er eine andere Frau hat.«

»Eine andere Frau?«

»Er war zwar nicht am Bahnhof, als wir heute ankamen, aber auf dem Weg hierher haben wir ihn vor dem Gemischtwarenladen gesehen. Und er war nicht allein.« Dass sie diese anklagenden Worte nur geflüstert hatte, machte die Sache nicht weniger schmerzhaft.

»Ihr habt ihn mit einer anderen Frau vor dem Gemischtwarenladen gesehen?« Hattie schnalzte missbilligend. »Heute ist Dienstag.« Ihre Vermieterin nickte nachdenklich, als sei nun alles klar.

»Was ist denn dienstags beim Gemischtwarenhändler los?« Kat war sich nicht sicher, ob sie es wirklich wissen wollte, aber sie musste einfach fragen.

»Ihr beide seid feuchter hinter den Ohren als frisch geschlüpfte Küken.«

Kat wollte protestieren, aber die Frau hatte recht – Vater hatte sie immer vor unanständigen Dingen beschützt. Bisher war ihr das nicht einmal bewusst gewesen, aber jetzt schien ihre Ahnungslosigkeit ein Fluch zu sein.

»An einem Vormittag in der Woche bleiben anständige Frauen hier zu Hause.« Hattie verschränkte die Arme vor der Brust. »Denn am Dienstagmorgen erledigen die anderen ihre Geschäfte.«

Die anderen?

»Oh!« Kat wurde plötzlich ganz heiß. Wie konnte sie einen Mann heiraten, den sie mit einer … Dirne gesehen hatte?

Sie wollte sich die Antwort nicht eingestehen. Sie konnte es nicht. Aber wenn sie Patrick nicht heiratete, was sollte sie dann tun?

Zwei Stunden später lag Kat im Bett und wartete mit angehaltenem Atem auf das leise Schnarchen ihrer Schwester. Ihre Vermieterin hatte ihre Zimmertür schon früh verriegelt und das Licht ausgemacht, aber Kat hatte schon gedacht, ihre Schwester würde niemals zur Ruhe kommen und aufhören, von ihrer neuen Umgebung zu schwärmen, geschweige denn einschlafen. Kat wagte es nicht, Nell von ihrem Plan zu erzählen. Diese wäre niemals damit einverstanden, und wenn Kat nicht klein beigab, würde Nell darauf bestehen mitzukommen.

Als sie beruhigt feststellte, dass alle im Haus schliefen, schlüpfte Kat aus dem Bett. Leise ging sie zum Stuhl hinüber, wo ihre Kleider lagen. Als sie sich angezogen hatte, schlüpfte sie in ihre Stiefel und trat auf den Korridor hinaus. Die Treppenstufen knarrten bei jedem Schritt, und siefragte sich, warum sie sich überhaupt solche Mühe gab, leise zu sein. Schließlich schlich sie zur Haustür hinaus, zog diese leise hinter sich zu und wickelte ihren Umhang enger, um sich vor dem eisigen Wind zu schützen. Der Vollmond tauchte die Straßen in ein düsteres Licht, als sie den Berg zur Bennett Avenue hinuntereilte. Sie schenkte den Männern, die ihr hinterherriefen, keine Beachtung und ging mit langen Schritten die Promenade zu »Ollies Saloon« entlang. Sie hatte gerade den Gemischtwarenladen hinter sich gelassen, als ein grauhaariger Mann direkt vor ihr aus dem Saloon getorkelt kam.

»Hey, Süße, gib mir ’n Küsschen.« Er lallte und stank so sehr nach Alkohol, dass es Kat in den Augen brannte. Kichernd torkelte der bärtige Mann auf sie zu und grapschte nach ihrem Mieder.

Kat sog erschrocken die Luft ein und stieß die Hand des Betrunkenen von sich. Er taumelte ein paar Schritte, und sie machte vorsichtig einen Bogen um ihn und ging auf den Eingang zum Saloon zu. Sie atmete tief durch, straffte ihre Schultern und stieß die Tür auf.

Rauchwolken von Zigarren und Pfeifen kamen ihr entgegen, und die Klänge eines schlecht gestimmten Klaviers erfüllten den Raum. Angewidert zog sich ihr Magen zusammen, und das Abendessen wäre ihr beinahe wieder hochgekommen. Die junge Frau schluckte und presste sich ihre behandschuhte Hand auf den Magen. Je schneller sie wieder draußen war, umso besser. Aber zuerst musste sie herausfinden, ob Patrick hier war.

Kat blinzelte und bemühte sich, im gedämpften Licht des Raums etwas zu erkennen. Dann schlängelte sie sich zwischen den Tischen hindurch, an denen die Männer mit Glücksspielen beschäftigt waren. Sie schenkte ihren lüsternen Blicken und Pfiffen keine Beachtung und betrachtete aufmerksam jedes Gesicht und jeden Hut, aber keiner gehörte Patrick.

»Ich habe gesagt, du hast jetzt genug anschreiben lassen, und das habe ich ernst gemeint.« Die Männerstimme wurde mit jedem Wort lauter. »Bezahl oder verschwinde, Paddy!«

Paddy.

Weibliches Gekicher lenkte Kats Aufmerksamkeit auf die linke Seite des Raums, wo sich ein stämmiger Barkeeper vor einem Mann aufgebaut hatte, der auf einem Barhocker saß und sich über die Theke fläzte. Von beiden Seiten drängten sich Frauen an ihn. Kat erkannte in einer davon die Blonde wieder, die er am Vormittag in den Gemischtwarenladen begleitet hatte. Die andere trug einen Reifrock, schmiegte sich ebenfalls eng an den Iren und hatte die Hand auf seinen Arm gelegt. Es fiel Kat schwer zu glauben, dass es Patrick war, der da zwischen den beiden Frauen saß, aber da er einen Hut mit Pfauenfeder trug, war er es zweifellos.

»Mr Maloney?«

Der Mann fuhr herum und betrachtete Kat von Kopf bis Fuß. »Na, wenn ich heute mal nicht der glücklichste Mann auf Erden bin. Da tauchen doch wie aus dem Nichts die hübschesten Frauen auf und wollen unbedingt zu mir.« Ein schiefes Grinsen erschien unter seinem Schnauzbart, und er rieb sich das Kinn.

Kat erkannte, dass sie wirklich den Mann von dem Foto vor sich hatte, aber der Mann vor ihr war definitiv nicht der, den sie heiraten wollte. Sie legte erneut die Hand auf ihren protestierenden Magen. »Mein Name ist Katherine Sinclair.«

Er blickte sie mit offenem Mund an und stand auf, wobei er sich mit einer Hand am Tresen festhielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dabei hätte er beinahe eine kleine Blumenvase umgestoßen, die direkt vor seiner blonden Begleiterin stand.

»Die Kleine aus Maine?« Die Frage kam von der Frau mit dem Reifrock.

Kat verschränkte die Arme und unterdrückte einen zornigen Aufschrei. Wie konnte so ein Weib von Patricks persönlichen Angelegenheiten wissen … und von ihren? »Ich habe Ihnen ein Telegramm geschickt und Ihnen mitgeteilt, dass ich früher komme, Mr Maloney. Haben Sie es nicht bekommen?«

Patrick ließ die Theke los und schwankte leicht, richtete sich dann aber auf und strich seine Arbeitshose glatt. »Es tut mir leid, dass ich Sie nicht vom Bahnhof abgeholt habe, aber Sie hatten geschrieben, Sie kämen am Dienstag.«

»Heute ist Dienstag.«

Mit großen Augen nahm er den Hut ab und hielt ihn sich vor die Brust. »Das tut mir aufrichtig leid. Ich muss wohl durcheinandergekommen sein. Ich versichere Ihnen, Miss Sinclair, wenn ich gewusst hätte, dass Sie kommen, hätte ich diese Feier niemals für heute Abend angesetzt.«

»So nennen Sie das hier? Eine Feier?«

Patrick setzte seinen Hut wieder auf. »Meine Lieben«, sagte er mit einer Handbewegung in Kats Richtung, »darf ich euch meine wunderbare Braut vorstellen, Miss Katherine Sinclair.«

Die Frau vom Gemischtwarenladen lächelte und zog dabei die Mundwinkel ihrer rot bemalten Lippen hoch. »Na, ich schätze, da hat es sich doch gelohnt, dass ich mich bei den Briefen ganz schön ins Zeug gelegt hab«, meinte sie.

Kat fuhr zusammen. Es war für sie wie ein Schlag ins Gesicht. »Sie haben nicht einmal die Briefe selbst geschrieben?«

»Sie hat mir nur ein wenig geholfen.« Patrick nickte, und die Feder an seinem Hut wippte auf und ab. »Kein Grund zur Aufregung.«

Kat sah zu ihm auf und fühlte sich gedemütigt. Ihr schwindelte.

»Ich habe ein Haus, und Sie können es sich schön einrichten, ganz nach Ihrem Geschmack. Wir können die Sache mit der Heirat gleich morgen erledigen.«

»Einkäufe erledigt man, Mr Maloney.« Kat ging einen Schritt auf Paddy zu, griff nach seiner Gürtelschnalle und zog daran. Mit der anderen Hand griff sie nach der Vase auf dem Tresen und kippte ihm den gesamten Inhalt mitsamt den Blumen in die Hose.

Um sie herum brachen alle in lautes Grölen aus. Kat drückte der Frau vom Gemischtwarenladen die Vase in die Hand und marschierte dann erhobenen Hauptes nach draußen.

4

Lewis P. Whibley schlüpfte in ein paar Jeans und griff nach dem roten Hemd, ein Geschenk der Witwe mit den sanften Augen, die am anderen Ende von Denver lebte. Wie spät es war, konnte er nicht sagen. In seinem eisigen Kellerraum konnte er Tag und Nacht nicht unterscheiden. Wenigstens stimmte der Preis, weil die alte Dame, der das Haus gehörte, Mitleid mit ihm hatte. Auf eines konnte er zumindest stolz sein: Er war ein besserer Kartenbetrüger als sein Vater, obwohl Lewis sich lieber als Zauberkünstler bezeichnete.

Er zog eine silberne Taschenuhr aus seinem Mantel, der am Haken neben der Tür hing, und wiegte sie in der Hand. Er hatte sie im vergangenen Monat einem schottischen Minenarbeiter »weggezaubert«. Ein Blick auf das Ziffernblatt verriet ihm, dass es zwei Uhr morgens war.

Soweit er sich erinnern konnte, hatte er den Saloon um halb zwei verlassen. Es musste also schon mindestens zwei Uhr morgens gewesen sein, als er endlich im Bett lag. Lewis versuchte, das stehen gebliebene Uhrwerk zu stellen. Schließlich zog er die Uhr auf und rieb dann über das Glas. Ungeduldig starrte er auf den zweiten Zeiger, aber dieser bewegte sich nicht. Wie die meisten Menschen in seinem Leben wollte auch dieses verdammte Ding ihm nicht gnädig sein. Er steckte die Uhr wieder in die Manteltasche und knöpfte sein Hemd zu.

Morgen … Mittag … was machte das schon? In diesem Loch folgte doch ein schlechter Tag auf den anderen. Die einzige Tageszeit, die für ihn von Bedeutung war, war der Moment, in dem seine Beute an seinen Spieltisch kam. Darauf setzte er in dieser Woche seine ganze Hoffnung, denn er konnte Denver noch nicht wieder verlassen. Er brauchte noch mindestens den Wochenlohn eines Minenarbeiters, bevor er weiterziehen konnte. Zwei wären noch besser. Falls er nicht schon vorher in Ungnade fiel – eine Gefahr, die in seinem Beruf durchaus bestand.

Lewis hatte in seinem Leben säckeweise Geld verdient, das er allerdings schon längst wieder auf den Kopf gehauen hatte. Doch sein schönster Gewinn war ein Haus in Cripple Creek gewesen – das war allerdings schon fast ein Jahr her. Was für eine fette Beute, und der Ahnungslose hatte noch nicht einmal etwas gemerkt! Auf seiner Stirn hatte »leichte Beute« gestanden – das verriet alles an ihm, von der Seemannsjacke bis hin zu den klingelnden Sporen an seinen Stiefeln. Lewis lachte leise in sich hinein. Sein Job machte ungehörig viel Spaß. Und außerdem konnte er morgens so lange schlafen, wie er wollte.

Leider hatte er nach dieser fetten Beute seinen gesunden Menschenverstand ignoriert und war nicht rechtzeitig verschwunden. Dieser Fehler kam ihn teuer zu stehen und schmerzte immer noch zutiefst. Sein Vater hatte niemals eine so hohe Summe verloren.

Natürlich hatte er auch nie an einem Abend so viel gewonnen wie Lewis – dreihundert Riesen, ein Maultier, einen Koch und ein Haus auf einem Hügel. Wenn er nur ausgestiegen wäre, bevor dieser elende Säufer die Treppe zu seinem Tisch hinuntergefallen war. Lewis fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Er griff nach dem Streichriemen neben der Waschschüssel, um sein Rasiermesser zu schärfen. Dann strich er mit der stumpfen Klinge über das dicke Lederband, und seine Anspannung ließ mit jedem Streich etwas nach.

Ein leckerer Fleischgeruch drang in sein Zimmer, und Lewis atmete tief durch. Er legte das Rasiermesser wieder an seinen Platz neben der Waschschüssel. Das Rasieren hatte noch bis morgen Abend Zeit, wenn er wieder loszog, um sich sein nächstes Opfer zu suchen. Seiner guten Freundin, der Witwe Sanchez, würden ein paar Bartstoppeln nichts ausmachen. Vielleicht würde sie ihn damit sogar attraktiv finden.

Angesichts des Dufts, der aus der Küche kam, lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Lewis konnte schon vor sich sehen, was die alte Jungfer da oben ihren Gästen vorsetzte: Schinken. Brötchen mit Honig. Spiegeleier. Bratkartoffeln. Wenn es nach seinem knurrenden Magen gegangen wäre, wäre er aus dem Zimmer gestürmt und hätte die Treppe hinauf immer zwei Stufen auf einmal genommen, aber heute wagte er es nicht, sich ihr zu zeigen. Lewis hatte zu viele Versprechungen gemacht und keine davon gehalten. Er sollte lieber ein paar Tage abwarten, bis sie wieder an etwas anderes dachte. Entschlossen nahm er ein Stück Dörrfleisch aus einem auf dem Tisch liegenden Beutel und biss ein hartes Stück ab. Das musste bis zum Abendessen genügen. Die Witwe Sanchez hatte sich als gute Schneiderin und auch als gute Köchin erwiesen, zumindest wenn man mexikanische Maisteigtaschen und Peperoni mochte. Er mochte beides. Alles war besser als der Fraß, mit dem er jetzt seinen Hunger stillte.

In diesem Augenblick vernahm er Schritte auf der Treppe vor seiner Tür. Er hielt inne. Die Schritte kamen näher. Lewis ging zum Tisch und öffnete seinen Koffer, in dem sein wichtigstes Handwerkszeug lag. Aber als er erkannte, dass die schlurfenden Schritte draußen zu der kleinen, alten Jungfer gehörten, entspannte er sich wieder. Die Schritte, bei denen er sein doppelläufiges Gewehr brauchte, waren nicht so zögerlich und langsam. Die graue Maus kam wahrscheinlich herunter, um ihn zum Frühstück zu holen. Schließlich war es Mittwoch – und am Mittwoch war Gebetstreffen.

»Mr Whibley.« Auf den kurzen, schneidenen Ruf der Frau folgte ein energisches Klopfen. Es klang, als hätte sie seine Schulden noch immer nicht vergessen, aber er hatte keine Lust, sich mit ihr zu streiten. »Mr Whibley, ich weiß, dass Sie da drin sind. Sie täten gut daran, die Tür zu öffnen.« Ein erneutes Klopfen folgte.