Wer den vorletzten Fehler macht, gewinnt - Elisabeth Pähtz - E-Book

Wer den vorletzten Fehler macht, gewinnt E-Book

Elisabeth Pähtz

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Beschreibung

Während der Pandemie hat das Schachspiel einen neuen Boom erlebt. Das freut auch Elisabeth Pähtz, die Deutschlands beste Schachspielerin ist und seit 17 Jahren unangefochten die deutsche Rangliste der Frauen anführt. Bereits im Alter von fünf Jahren saß sie das erste Mal am Brett und startete ihre einzigartige Schachkarriere, die sie aktuell auf Platz 13 der Weltrangliste geführt hat. Als erste deutsche Frau errang sie 2021 ihre dritte Großmeisternorm. Die Gültigkeit einer früheren Norm wird allerdings noch überprüft. In ihrem Buch berichtet sie von der Faszination des Spiels und erklärt, warum Frauen im Profischach nicht gegen Männer spielen. Sie kämpft für Gleichberechtigung in einer männerdominierten Sportart und erzählt von völkerverbindenden Freundschaften, großen Siegen, schmerzhaften Niederlagen und welche Strategien man aus dem "Spiel der Könige" auch für das Spiel des (echten) Lebens nutzen kann.

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Seitenzahl: 177

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Ebook Edition

Elisabeth Pähtz

Wer den vorletzten Fehler macht, gewinnt

Strategien für das Spiel des Lebens

Mehr über unsere Autor:innen und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-876-1

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2022

Redaktion: Johannes Bröckers

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Titel

Bevor es losgeht, möchte ich mich bedanken

Vom Umgang mit Fehlern

Über fehlerhafte Züge beim Schachspielen

Leben als Wunderkind

Die ELO-Zahl macht keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen

Zwischen Freundschaft und Rivalität

Schach in den Zeiten des Krieges

Hängepartie Großmeister

Meine kleine Taktikschule

1994 ELO noch keine Wertung, DWZ 1745

1995 DWZ 1905

1996 ELO 2105

1997 ELO 2175

1998 ELO 2230

1999 ELO 2276

2000 ELO 2343

2001 ELO 2392

2002 ELO 2385

2003 ELO 2419

2004 ELO 2399

2005 ELO 2421

Meine GM-Norm-Partien

Schachbundesliga 2012

Europameisterschaft 2016

Riga Grand Swiss 2021

Glossar der Schach­begriffe

Orientierungspunkte

Titel

Inhaltsverzeichnis

Bevor es losgeht, möchte ich mich bedanken

Oft stehen in Büchern die Danksagungen ganz am Ende. Hier aber soll mein Dank an erster Stelle stehen, was auch Sinn macht, weil meine Schachkarriere sicher anders verlaufen wäre, hätte ich auf meinem Weg zum Großmeister nicht so viel Unterstützung erfahren. Und dann – wer weiß – hätte es auch dieses Buch nicht gegeben, in dem ich davon erzähle, wie das so ist, sich als Mädchen und junge Frau in dieser noch immer männerdominierten Schachwelt durchzusetzen und zu behaupten.

Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, denen mein Dank gebührt. Allen voran meinen Eltern, durch die ich zum Schach gekommen bin und ohne deren Unterstützung ich das alles nicht geschafft hätte. Mein Vater opferte in den frühen Zeiten der Wende seine eigene Schachkarriere für die schachliche Entwicklung und Ausbildung meines Bruders und mir. Meine Mutter nahm dabei einen gesunden Gegenpol ein. Sie sorgte für Harmonie im Hause Pähtz und musste dafür ab und an auch meinem Vater ein wenig die Leviten lesen, denn für ihn war es auch nicht immer leicht, die richtige Balance zwischen Vater- und Trainerrolle zu finden. Meine Mutter war auch immer diejenige, die uns Kinder in nicht so erfolgreichen oder gar traurigen Momenten in den Arm genommen und getröstet hat. Danke dafür!

In den letzten sieben Jahren sind mir drei Menschen besonders ans Herz gewachsen, die nicht nur sehr wesentlich zum Erreichen meines Großmeistertitels und dem Gewinn von vielen Medaillen seit 2017 beigetragen haben, sondern auch zu meinem Comeback in allen Bereichen jenseits des Schachbretts.

Da ist zunächst der Großmeister Dorian Rogozenco, der 2014 als neuer Bundestrainer des Deutschen Schachbunds in mein Leben trat. Dorian war der erste Verbandstrainer, der mir nicht nur mit Rat und Tat zur Seite stand, sondern mir auch in vielen anderen Dingen den Rücken stärkte. Es war hauptsächlich sein Verdienst, dass ich 2016 die ELO-Marke von 2 500 Punkten überschritt, meine zweite (vermeintliche) Großmeisternorm erzielte und es 2018 auch zum ersten Mal in die Top Ten der Frauenweltrangliste schaffte. Ohne seine Motivation und die Arbeit mit ihm wäre meine Rückkehr in die Weltspitze nicht möglich gewesen.

Ein besonderer Dank gilt meinem französischen Trainer, dem Großmeister Yannick Gozzoli. Yannick besitzt Nerven aus Stahl und unendlich viel Geduld. Bei ihm konnte ich immer ich selbst sein und er wich mir, trotz meines bisweilen schwachen Nervenkostüms, nie von der Seite. Er hat mich seit 2019 bei sämtlichen wichtigen Grand-Prix-Turnieren betreut. Nur durch seine Entschlossenheit und seine psychologische Unterstützung habe ich beim Grand Swiss 2021 in Riga nach meiner Niederlage in Runde neun zurück ins Turnier finden können. Danke, Yannick!

Mein weiterer Dank gilt einem Menschen, der mir nach einer Reihe von schlimmen Erfahrungen und schweren Rückschlägen eine große Hilfe war. Ich lernte Markus Kolb während eines Schachturniers im irländischen Bunratty kennen und es dauerte nicht lange, bis sich daraus eine tiefe Freundschaft entwickelte. Ohne ihn hätte ich während der Corona-Pandemie und einer ganz persönlichen Krise nicht so einfach ins Leben und zum Schach zurückgefunden. Er war es, der mir dabei half, wieder aufzustehen und weiterzukämpfen. Dafür bin ich dir sehr dankbar, Markus!

Auch den Journalisten Raj Tischbierek und Axel Eger möchte ich meinen Dank aussprechen. Beide haben mich von Kindesbeinen an bis heute journalistisch begleitet und über die wichtigen Höhepunkte meiner schachlichen Laufbahn in Schachzeitschriften und der regionalen Presse berichtet. Auch heute noch sind sie für mich väterliche Freunde.

Mein Dank gilt darüber hinaus Frederic Friedel von ChessBase. Er half uns häufig auf der Suche nach Sponsoren und stand mir stets mit Rat und Tat zur Seite. Er hat mir den Weg geebnet, bereits während meiner Kinder- und Jugendzeit Schachgrößen wie Garry Kasparov und Viswanathan Anand persönlich kennenlernen zu dürfen. Danke auch dafür!

Ein besonderer Dank gilt dem Westend Verlag und seinem wunderbaren Team, ohne das dieses Buch nicht zustande gekommen wäre.

Es gibt natürlich noch viele weitere Menschen, denen ich zu Dank verpflichtet bin – auch ihnen möchte ich Danke sagen. Ein paar dieser Menschen werden Sie auf den folgenden Seiten kennenlernen, weil sie mich in meinem Schachleben seit vielen Jahren begleiten, als Freunde, als Gegnerinnen und als Kolleginnen – trotz allem Wettkampf immer mit großem Respekt.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei diesem Ausflug in die Schachwelt und beim Schachspielen. In Meine kleine Taktikschule im zweiten Teil dieses Buchs habe ich die Schachbiografie meiner Kinder- und Jugendzeit am Beispiel ausgewählter Schachpartien nachgezeichnet und für die ambitionierteren Leserinnen und Leser auch ein paar Großmeisternorm-Partien zum Nachspielen dokumentiert.

Vom Umgang mit Fehlern

Was wäre die Welt ohne Fehler? Schlicht nicht vorstellbar, würde ich behaupten. Fehler gehören zum Leben und der Umgang mit Fehlern zählt sicher zu den größten Herausforderungen, denen wir uns immer wieder stellen müssen. Vor allem, wenn es um unsere eigenen Fehler geht. Manchmal frage ich mich, ob wir hier bei uns – jedenfalls soweit ich das überblicken kann – nicht eine völlig falsche Kultur im Umgang mit Fehlern entwickelt haben. Das fängt bereits in der Schule an, wo wir für Fehler, die wir machen, mit schlechten Noten bestraft werden. Vielleicht führt diese frühe Prägung ja dazu, dass viele Menschen auch im späteren Leben, sei es nun im privaten Bereich oder im Beruf, viel Energie darauf verwenden, eigene Fehler kleinzureden, unter den Teppich zu kehren, nach Ausreden zu suchen oder, noch schlimmer, die Schuld an einem Fehler auf andere zu schieben. Das erscheint vielen auf den ersten Blick die leichtere Lösung zu sein, statt sich den eigenen Fehlern zu stellen.

Ich spiele seit meinem fünften Lebensjahr Schach und dieses Spiel hat mich eine andere Haltung zum Thema Fehler gelehrt. Ich denke beim Schachspielen nicht über Fehlervermeidung nach, sondern will vor allem eine saubere Partie spielen. Aber gibt es das eigentlich, die perfekte Schachpartie? Mal für alle, die sich mit diesem Spiel nicht so gut auskennen: Es gibt Schätzungen, wonach es im Schach mehr Zugvarianten als Atome im Universum gibt, was immerhin einer Zahl von etwa 1086 entspricht. Und dieses Universum entfaltet sich im Schach auf 64 Feldern. Schon für die ersten beiden Züge gibt es theoretisch mehr als 72 000 Varianten. Und genau das macht eine Schachpartie so unberechenbar. Ein Leben reicht nicht aus, um alle Varianten durchzuspielen. Jede Partie stellt dich vor neue Herausforderungen und das macht für mich die Faszination und den großen Reiz dieses Spiels aus.

Schach ist im Hinblick auf Fehler brutal, denn es gibt keine Ausreden. Es sind immer deine Fehler und sie lassen sich auf dem Schachbrett auch nicht verstecken. Die zentrale Regel im Schach heißt »berührt-geführt«: Du kannst einen Zug nicht zurücknehmen. Du musst mit deiner Entscheidung leben. Mal abgesehen von groben Patzern, die auch Spielern auf sehr hohem Niveau mitunter passieren, weil ihnen vielleicht im Laufe einer langen Partie irgendwann die Kraft ausgeht und die Konzentration nachlässt, ist es beim Schach nicht immer ganz leicht zu entscheiden, was ein Fehler ist. Am wenigsten anfällig für Fehler ist in einer Schachpartie ganz sicher die Eröffnungsphase. Man könnte wohl eine ganze Bibliothek mit Analysen und Theorien zur Spieleröffnung füllen, und seit es leistungsstarke Schachcomputer gibt, kann sich jeder Spieler unzählige Eröffnungsvarianten in aller Tiefe durchrechnen lassen, was mögliche Fehlerquellen deutlich reduziert oder ausschließt. Doch irgendwann kommt in jeder Partie der Moment, in dem du deine Gegnerin oder deinen Gegner mit einem Zug überraschst oder sie beziehungsweise er einen Zug macht, mit dem du in deiner vorbereiteten Eröffnung nicht gerechnet hast. Jetzt, im sogenannten Mittelspiel, bist du ganz auf dich gestellt. Du alleine triffst die Entscheidung für deinen nächsten Zug und damit steigt auch deutlich die Gefahr, dass dir ein Fehler unterläuft. Ich habe kürzlich ein Match zwischen zwei Großmeistern verfolgt, bei dem einem der beiden ein in meinen Augen krasser Fehler unterlaufen ist. Sein Gegner hätte daraus einen klaren Vorteil für sein eigenes Spiel ableiten und die Partie wahrscheinlich gewinnen können, doch er hat den Fehler nicht gesehen und schlussendlich die Partie verloren. Ein Fehler kann dir also auch im Nichterkennen der eigenen Chancen unterlaufen. Das sind aus psychologischer und emotionaler Sicht die spannenden Momente einer Schachpartie. In der Partie sitzt du deinem Gegner direkt gegenüber. Natürlich haben wir über die Jahre gelernt, uns Fehler, die wir begehen, nicht anmerken zu lassen. Dabei kommt es darauf an, wie trivial der Fehler ist. Bei einem sehr offensichtlichen Fehler helfen dir auch keine Psychotricks, weil schon klar ist, dass dein Gegner ihn sehen und ausnutzen wird. Bei weniger offensichtlichen Fehlern musst du ein Pokerface aufsetzen und es am besten so lange behalten, bis dein Gegenüber den nächsten Zug gemacht hat. Schon das kleinste Stirnrunzeln, leicht zusammengekniffene Lippen, ein kleines Zucken deiner Gesichtsmuskeln, ein etwas zu lautes Ausatmen oder minimales Kopfschütteln könnten deinem Gegner signalisieren, dass du gerade verunsichert bist und dich mit deinem letzten Zug nicht wirklich wohlfühlst. Wenn er deinen Fehler erkennt und ausnutzt, kannst du immer noch den Kopf schütteln und stöhnen. Ich kenne Kolleginnen, die schaffen es, immer mit einem superoptimistischen Gesicht am Brett zu sitzen, selbst wenn sie gerade eine komplett schlechte Stellung haben. Ich muss in solchen Momenten immer in mich hineingrinsen und denke mir: Du kannst gucken, wie du willst, ich weiß genau, dass du total auf Verlust stehst. Doch eine versteinerte Mimik ist kein Muss für eine erfolgreiche Partie: Garry Kasparov, langjähriger Weltmeister, war nie ein cooles Pokerface, sondern eher ein Meister der Grimassen. Das Auf und Ab einer Partie konnte man aus seiner Mimik und Gestik während einer Schachpartie wunderbar ablesen.

Im Schach kommst du immer wieder in Situationen, in denen es nicht den einen richtigen Zug gibt, sondern vielleicht zwei oder drei mögliche Züge, die alle gut sind, aber dein Spiel in komplett unterschiedliche Richtungen lenken können. Ich mache meine Zugentscheidungen dann häufig auch vom Spielstil meiner Gegner abhängig. Ist er zum Beispiel ein aggressiver Spieler, dann ist es für ihn vielleicht unangenehmer, wenn ich einen Weg einschlage, der ein paar Züge später in ein langweiliges Endspiel verflacht. Und manchmal mache ich einen Zug, der objektiv betrachtet gar nicht der stärkste Zug ist, aber gegen meinen Gegner doch der effektivste, weil ich davon ausgehe, dass er in den daraus resultierenden Stellungstypen weniger Erfahrung mitbringt. Ich bin da sehr pragmatisch und flexibel und gehe nicht unbedingt den Weg, auf dem ich selbst am stärksten bin. Das funktioniert natürlich am besten bei Gegnern, die ich wirklich gut kenne. Wenn man ihn nicht gut kennt, kann man sich zwar anhand seiner Partiedaten, die man in der Regel vorher analysiert, ein ganz gutes Bild machen und seinen Spielstil studieren, doch das sagt natürlich noch nichts über seinen Charakter aus.

Es gibt im Schach sehr unterschiedliche Spielertypen. Man kann sie grob in zwei Gruppen ordnen: die positionellen und die dynamischen Spieler. Letztere sind in der Regel extrem taktisch unterwegs und versuchen, auf dem Brett immer eine Stellung herzustellen, die sehr verwickelt, komplex und von hoher Dynamik gekennzeichnet ist. Die positionellen Spieler mögen es dagegen, wenn das Zimmer aufgeräumt ist. Sie lieben eher die einfachen und klaren Stellungen. Ich favorisiere im Schach Stellungen, die mir sehr viele taktische Möglichkeiten eröffnen.

Es gibt Menschen, die überqueren lieber eine Einbahnstraße, weil sie dann wissen, aus welcher Richtung der Verkehr kommt. Ich gehöre zu denen, die auch noch auf einer Fahrbahn klarkommen, auf der der Verkehr von links, von rechts, von vorne und hinten kommt oder womöglich auch noch diagonal. Man muss alles im Auge behalten und manchmal siebenspurig rechnen, um die möglichen Gefahren von allen Seiten einschätzen zu können. Beim Positionsspiel musst du im Schach sehr viele technische Feinheiten beherrschen und auch auf Kleinigkeiten achten. Kommst du auf der siebenspurigen Straße mal vom Weg ab, hast du immer noch genug Dynamik im Spiel, das eventuell auszugleichen. Die Genauigkeit ist hier nicht der alles entscheidende Faktor. Machst du dagegen in der Einbahnstraße einen Fehler, kann der gravierende Folgen haben, weil du im Unterschied zur siebenspurigen Schnellstraße nur wenige Möglichkeiten hast, vielleicht noch irgendwo abzubiegen.

Interessanterweise bin ich im echten Leben, was Navigation oder Orientierung angeht, ein hoffnungsloser Fall. Im Schach dagegen verliere ich den Überblick nicht so leicht und komme auch mit Überraschungen, dem Unbekannten sehr viel besser klar als Spielerinnen, die immer nur eine Eröffnung spielen und größere Probleme haben, wenn sich daran etwas ändert. Ich habe im Schach schon so ziemlich alles ausprobiert und mich mit vielen unterschiedlichen Strukturen beschäftigt, um auf dem Brett besser vor bösen Überraschungen gefeit zu sein. Der Nachteil dieser Strategie ist, dass du dich auf kein System wirklich spezialisiert hast. Du bist also nicht so tief in der Materie, wie ein Spieler, der sein System bis in die kleinsten Verästelungen ausanalysiert hat und beherrscht.

Welchen Spielstil man generell bevorzugt, hat viel mit der eigenen Persönlichkeit zu tun. Karsten Müller unterscheidet in seinem Buch Die Endspielkunst der Weltmeister vier Spielertypen: den Aktivspieler, den Theoretiker, die Reflektoren und die Pragmatiker. Zu den Aktivspielern zählt er Weltmeister wie Boris Spassky, Michail Tal, der auch für mich immer ein Vorbild war, oder Garry Kasparov. Diesen bescheinigt er ein gutes Gespür für Initiative und Dynamik sowie Variantenberechnungen, die auf intuitiver Abschätzung basieren. Ihre Schwächen sieht er in der Verteidigung, weil sie mit hohem Risiko lieber auf Sieg spielen. Theoretiker wie Michail Botvinnik oder Vladimir Kramnik spielen konsequent logisch und systematisch, weil sie sich, wie der Name schon sagt, bestens mit ihren Spielstrukturen auskennen und insbesondere im Endspiel ihre Stärken ausspielen. Diese beherrschen sie aus dem Effeff. Die Schwächen der Theoretiker sieht Müller in ihrer mangelnden Flexibilität. Sie halten zuweilen zu lange an ihren Prinzipien fest, auch wenn diese nicht zur aktuellen Stellung im Spiel passen. Spieler wie Magnus Carlsen oder Anatoly Karpov hingegen zeichnen sich als Reflektoren durch ein sehr tiefes Spielverständnis und ein feines Gespür für die Harmonie und die Koordination der Figuren auf dem Brett aus. Gerade Magnus Carlsen ist für seine Endspielstärke bekannt. Auch das ist ein ganz typisches Merkmal für diesen Spielertyp. Einen Spieler wie Bobby Fischer zählt Karsten Müller zu den Pragmatikern, denen selten grobe Fehler unterlaufen, weil sie in der Lage sind, viele mögliche Varianten sehr genau und tief zu berechnen und ihre Partien immer einem sehr konkreten Plan folgen.

Die hier exemplarisch erwähnten Weltmeister lassen sich wie auch alle anderen Welt- und Großmeister nicht unbedingt nur einer dieser Kategorien zuordnen oder auf diese Weise gar in der kompletten Dimension ihres Könnens beschreiben. Wenn ich die Hauptaspekte meines Spielstils betrachte, würde ich mich zu den Aktivspielern zählen, genauer gesagt war ich in meiner Kindheit sogar eher eine Hyperaktivspielerin. Ich bin – ganz ehrlich – vom Typ her nicht die Fleißigste in Sachen Theoriepauken. Ich will mich nicht komplett auf nur ein System fokussieren und mich so intensiv damit beschäftigen, weil ich immer das Gefühl habe, egal wie tief ich es durchdringe, meine Gegner könnten es noch sehr viel besser beherrschen. Deshalb fahre ich lieber mehrgleisig und variantenreicher. Ich gehe davon aus, dass sich meine Gegner schon aus Zeitgründen nicht auf alles gleichzeitig konzentrieren und vorbereiten können. Das gibt mir ein sicheres Gefühl, wobei mir natürlich klar ist, dass umgekehrt auch meine Gegner wissen, dass es mir in manchen Eröffnungsstellungen womöglich an der nötigen Tiefe fehlt.

Ich liebe eher das Chaos auf dem Schachbrett. Und auch jenseits des Bretts werde ich eher polarisierend und weniger als gute Diplomatin wahrgenommen. Mir imponiert zum Beispiel eine Frau wie Sahra Wagenknecht, nicht weil ich inhaltlich alles unterschreibe, was sie sagt, aber sie traut sich, die Dinge, die ihr wichtig sind, klar anzusprechen, selbst wenn sie von allen Seiten Gegenwind bekommt. Ich weiß ganz gut, wie sich das anfühlt und was das bedeutet. Wenn ich etwas als ungerecht empfinde, dann spreche ich das auch gerne laut aus. Und mit den Worten ist es ganz ähnlich wie bei einem Zug im Schach – berührt ist geführt und gesagt ist gesagt. Was du ausgesprochen hast, kannst du nicht zurücknehmen. Du musst dazu stehen.

In der Phase des Mittelspiels darfst du dich weder von einem starken Zug deines Gegners noch von einem eigenen Fehler verunsichern lassen. Auch das coolste Pokerface hilft wenig, wenn du im Inneren die Partie schon verloren gibst. Jetzt sind kreative Lösungen gefragt: Wie kannst du dich aus einer gefährlichen Stellung herauswinden? Gibt es einen Trick, mit dem du dein Gegenüber in eine Falle locken kannst? Es ist nicht tragisch, einen Fehler zu machen, es sollte bloß nicht der letzte im Spiel sein. Denn der vorletzte Fehler gewinnt. Auch wenn du bereits klar auf Gewinn stehst, können dir schwache Züge und Konzentrationsfehler unterlaufen. Ich kann mich an eine Partie während meiner ersten Europameisterschaft 1994 in Herculane in Rumänien erinnern, die hätte ich ganz locker gewinnen müssen. Aber ich sah plötzlich die Chance auf einen relativ komplizierten Figurengewinn, verhaspelte mich jedoch auf dem Weg dorthin in der Zugfolge und verlor die Partie schlussendlich. Auch Überheblichkeit oder ein zu großer Siegeswille statt der Bereitschaft, dich vielleicht mit einem Remis zu begnügen, wird im Schach zuweilen bitter bestraft. Umgekehrt kann es passieren, dass du während einer Partie plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommst und trotz starker Stellung einen defensiveren Zug machst. Plötzlich traust du dir selbst nicht über den Weg. Der äußere Kampf auf dem Schachbrett wird während einer langen Partie von vielen inneren Kämpfen begleitet, denen du dich in den unterschiedlichsten Spielphasen stellen musst und die dich manchmal auch völlig aus dem Konzept bringen können. Gerade im Profibereich kommt der Psychologie, insbesondere der mentalen Stärke, eine große Bedeutung zu. Wie gut kannst du deine Emotionen oder Ängste kontrollieren und wie wirken sie sich eventuell auf deine Spielweise aus?

Ein ziemlich ungewöhnliches Beispiel dafür ist eine Partie, die ich 2015 gegen Pia Cramling gespielt habe. Pia ist die wohl beste schwedische Schachspielerin aller Zeiten, eine tolle Frau, die ich schon immer als eins meiner großen Vorbilder bewundert habe. 1983 wurde ihr der Titel eines Internationalen Meisters verliehen und sie führte über viele Jahre die schwedische Frauenrangliste an. Seit 1992 ist sie Großmeister und zum Zeitpunkt unseres Matchs lag sie, wenn ich mich richtig erinnere, unter den Top 20 der Frauen-Weltrangliste der Internationalen Schachföderation FIDE, die sie zeitweise auch auf Platz eins anführte. Während unserer Partie, in der ich dank einer guten Stellung eine echte Siegchance hatte, unterlief Pia ein ungewöhnlicher Fehler, den ich vorher und nachher nie erlebt habe: Sie vergaß nach ihrem Zug, ihre Uhr zu drücken, was automatisch dazu führte, dass ihre Bedenkzeit weiter ablief. Im Schach sind solche Zugabläufe für jeden Spieler ein Automatismus, über den man nicht nachdenkt. Du machst einen Zug, drückst deine Uhr und notierst deinen Zug auf dem Partieformular. Als ich bemerkte, dass Pias Uhr noch tickte, begannen in meinem Kopf die Gedanken zu kreisen. Ich starrte aufs Brett, konnte mich aber nicht mehr auf die Berechnung meiner nächsten Züge konzentrieren. Was sollte ich tun? Während einer Schachpartie ist es nicht erlaubt, deinen Gegner anzusprechen. Sollte ich also gegen diese Regel verstoßen? Andererseits empfand ich es als höchst unsportlich, Pia, eine von mir sehr verehrte Gegnerin, nicht darauf hinzuweisen. Schließlich gewann mein Sportgeist und ich machte sie auf ihren Fehler aufmerksam, worüber Pia sichtlich froh war und sich bei mir bedankte. Mein Problem war nur, dass mir danach für mein eigenes Spiel komplett der Faden gerissen war und ich die Partie am Ende verlor. Fair geht vor – mit diesem Gedanken konnte ich mich trösten und ich hätte es mir wahrscheinlich nicht verziehen, wenn ich dank eines solchen Fehlers einen doch ziemlich unsportlichen Sieg davongetragen hätte. Das Beispiel zeigt, dass dich in einer Phase höchster Konzentration und Fokussierung schon eine kleine und in diesem Fall eine etwas größere Irritation völlig aus der Bahn werfen kann.