Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann - Volker Halfmann - E-Book

Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann E-Book

Volker Halfmann

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Beschreibung

"Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!" Wenn das Leid seiner Kinder zum Himmel schreit, bleibt Gott nicht ungerührt auf dem Sofa liegen: Denn nur ein barmherziger Vater ist auch ein liebender Vater! Warum diese Erkenntnis die Kraft hat, unseren Glauben und unser Handeln zu verändern, zeigt Volker Halfmann in diesem Buch. Erst wenn die Barmherzigkeit des Vaters unser Leben durchdringt, werden wir selbst zu echten Nachfolgern, die diese Barmherzigkeit in die Welt hinaustragen. Dann gehen wir an den Notleidenden nicht mehr achtlos vorbei. So werden wir zu Menschen, die fühlen, was sie sehen. Und Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann!

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VOLKER HALFMANN

WER FÜHLT,WAS ER SIEHT,DER TUT, WASER KANN

EIN PLÄDOYER FÜR MEHR

BARMHERZIGKEIT

SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22994-3 (E-Book)

ISBN 978-3-417-26966-6 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2021 SCM Verlagsgruppe GmbH

Bodenborn 43 · 58452 Witten

Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: [email protected]

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Weiter wurden verwendet:

LUT: Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. HFA: Hoffnung für alle ® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel

NGÜ: Bibeltext der Neuen Genfer Übersetzung – Neues Testament und Psalmen, Copyright © 2011 Genfer Bibelgesellschaft

Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de

Titelbild: © Bounce, Marsek (shutterstock.com)

Autorenfoto: © Michaela Heelemann

Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Wahrhaft, Jesus, Angst überkommt mich, wenn ich auf mein Elend schaue, doch gleichzeitig beruhige ich mich, wenn ich auf Deine unergründliche Barmherzigkeit sehe, die um die ganze Ewigkeit größer ist als mein Elend.

Schwester Maria Faustyna Kowalska1

Die Kirche ist nicht auf der Welt, um zu verurteilen, sondern um den Weg zu bereitenfür die ursprüngliche Liebe, die die Barmherzigkeit Gottes ist.Damit dies geschehen kann, müssen wir hinausgehen auf die Straße.Hinaus aus den Kirchen und Pfarrhäusern, um den Menschen dort zu begegnen, wo sie leben, wo sie leiden, wo sie hoffen.

Papst Franziskus2

INHALT

Über den Autor

Prolog: Die Schnapsleiche am Wegesrand

Teil 1 »Unter die Räuber gekommen« – Warum wir Barmherzigkeit brauchen

1  | »Mein Lebensretter« – Weshalb mir dieses Buch so wichtig ist

2  | »Unter Räubern« – Wie schnell unsere Lebensträume zerplatzen

3  | »Mach es genauso« – Was Jesus von uns erwartet

4  | »Barmherzigkeit üben« – Weil die Not zum Himmel schreit

Teil 2 »Samariter-Style« – Wie Barmherzigkeit funktioniert

5  | »Gottes Herz« – Barmherzigkeit im Alten Testament

6  | »Umgedrehte Eingeweide« – Gottes Barmherzigkeit im Neuen Testament

7  | »Göttlicher Dreiklang« – Sehen, Fühlen, Handeln

8  | »Dein Reich komme« – Die Folgen der Barmherzigkeit

Teil 3 »Einfach vorbeigegangen« – Was Barmherzigkeit bremst

9  | »Fromme Barrieren« – Angst vor der Barmherzigkeit

10  | »Unter Verdacht« – Skepsis gegenüber der Barmherzigkeit

11  | »Harte Herzen« – Mangelnde Erfahrung von Barmherzigkeit

12  | »Sich festkrallen« – Das Risiko der Barmherzigkeit

Teil 4 »Imitatio Dei« – Wie wir barmherziger werden

13  | »Hungrig sein« – Die Sehnsucht nach der Barmherzigkeit

14  | »Leid erfahren« – Das Angewiesensein auf Barmherzigkeit

15  | »Schuld bekennen« – Das Leben aus der Barmherzigkeit

16  | »Wurzeln schlagen« – Der Herr der Barmherzigkeit

Teil 5 »Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann« – Barmherzigkeit praktisch

17  | »Sieben Werke« – Barmherzigkeit im persönlichen Umfeld

18  | »Nachfolge 2.0« – Barmherzigkeit in der digitalen Welt

19  | »Salz und Licht« – Barmherzigkeit in Gesellschaft und Politik

20  | »I have a Dream« – Mein Traum von einer barmherzigen Kirche

Epilog: Die Glocke der Gleichgültigkeit

Vertiefende Literatur

Anmerkungen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

ÜBER DEN AUTOR

VOLKER HALFMANN ist Ehemann, Vater, Gotteskind, Chaot, Musiker, Fan von Progressive-Rock und der Fußball-Bundesliga. Außerdem arbeitet er als Pastor im Bund Freier evangelischer Gemeinden und als Suchtberater beim Blauen Kreuz. Er ist Jesus-Schüler mit Sprung in der Schüssel.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

PROLOGDIE SCHNAPSLEICHE AM WEGESRAND

Inzwischen zitterte ich am ganzen Körper und spürte meine tiefgefrorenen Finger nicht mehr. Ich wollte nur noch eins: endlich am Ziel ankommen und mich dort aufwärmen!

Es war Sonntagmorgen und ich fuhr mit dem Motorrad von Hattingen nach Dortmund, um dort in der Freien evangelischen Gemeinde zu predigen. Die »Eisheiligen« hatten ganze Arbeit geleistet, denn über Nacht hatte es Frost gegeben, mitten im Mai 2012. Inzwischen waren es zwar zwei oder drei Grad »über 0«, doch für eine Fahrt mit dem Motorrad war dies noch immer mehr als grenzwertig.

»Der Weg ist das Ziel« – was für ein Blödsinn. Für mich war einzig das Ziel entscheidend dafür, durchzuhalten. Es fehlte nicht mehr viel. Laut Navi war ich nur noch fünf Minuten von einem Platz an der warmen Heizung entfernt. Ich wurde schneller und spähte unentwegt zum Straßenrand, um nicht geblitzt zu werden. Da sah ich auf dem Bürgersteig einen jungen Mann. Regungslos lag er da, neben sich eine leere Flasche.

Am Tag zuvor hatte der BVB zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte das Double geholt. Durch einen historisch hohen Sieg gegen den FC Bayern war der Dortmunder Fußballklub nicht nur Deutscher Meister, sondern nun auch Pokalsieger. In dieser fußballverrückten Stadt hatte das einen gewaltigen Freudenrausch ausgelöst – bei einigen der Fans leider verbunden mit einem ebenso gewaltigen Alkoholrausch. Auch dieser Typ am Straßenrand hatte es eindeutig übertrieben. Nun lag er da und schlief seinen Rausch aus. »Soll er doch«, dachte ich, »was hat das mit mir zu tun?«

Ich fuhr an ihm vorbei, blieb in Gedanken aber bei ihm. »Was soll da schon groß passieren?«, dachte ich. »Irgendwann wacht er auf, taumelt nach Hause und wirft sich eine Kopfschmerztablette ein. Wenn ich jetzt anhalte, dann muss ich vielleicht auf Hilfe warten und verpasse den Gottesdienst. Sicher kommt bald ein Fußgänger vorbei, der sich um ihn kümmern kann. Alles halb so wild …«

Doch während ich auf diese Weise versuchte, meine unterlassene Hilfeleistung zu rechtfertigen, kam mir auf einmal ein Gleichnis von Jesus in den Sinn, das im Evangelium nach Lukas überliefert ist und das ich schon seit meiner Kindheit kannte: das Gleichnis vom barmherzigen Samariter:

Ein Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel unter Räuber, die ihn auch auszogen und ihm Schläge versetzten und weggingen und ihn halb tot liegen ließen. Zufällig aber ging ein Priester jenen Weg hinab; und als er ihn sah, ging er an der entgegengesetzten Seite vorüber. Ebenso aber kam auch ein Levit, der an den Ort gelangte, und er sah ihn und ging an der entgegengesetzten Seite vorüber. Aber ein Samariter, der auf der Reise war, kam zu ihm hin; und als er ihn sah, wurde er innerlich bewegt; und er trat hinzu und verband seine Wunden und goss Öl und Wein darauf; und er setzte ihn auf sein eigenes Tier und führte ihn in eine Herberge und trug Sorge für ihn. Und am folgenden Morgen zog er zwei Denare heraus und gab sie dem Wirt und sprach: »Trage Sorge für ihn! Und was du noch dazu verwenden wirst, werde ich dir bezahlen, wenn ich zurückkomme.« 3

Sofort wurden mir die Parallelen klar: Ich bin keinen Deut besser als diese frommen Männer, die achtlos an einem hilflosen, mit dem Tode kämpfenden Mann auf ihrem Weg vorbeigehen! Das war keine Lappalie, denn auch die Schnapsleiche an meinem Wegesrand war vom Tod bedroht. Entgegen der landläufigen Meinung wärmt Alkohol den Körper nicht, sondern öffnet die Poren und lässt den Körper schneller auskühlen. Dadurch können Menschen, die im Rausch irgendwo im Freien eingeschlafen sind, über Nacht erfrieren. Daneben gab es für diesen jungen Mann noch eine weitere tödliche Gefahr: Sollte er sich im Schlaf von der Seite auf den Rücken drehen, so konnte er an seinem Erbrochenen ersticken (er wäre nicht der Erste). Es bestand also wirklich dringender Handlungsbedarf: Diesem Menschen musste sofort geholfen werden!

Schuldbewusst drehte ich um und fuhr zurück zu der Stelle, an der ich ihn gesehen hatte. Er lag noch immer dort und rührte sich nicht. Während ich versuchte, ihn zu wecken, kam ein Fußgänger und gemeinsam riefen wir einen Krankenwagen. Der Gottesdienst war plötzlich zweitrangig geworden.

Ich habe mich später nicht danach erkundigt, was aus ihm geworden ist, aber ich gehe sehr stark davon aus, dass er inzwischen wieder alle zwei Wochen kerngesund in der Nordkurve steht und seinen Verein anfeuert.

Dieses Buch ist ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Barmherzigkeit, doch wie Sie an dieser Geschichte sehen können, schreibe ich es mir auch selbst. Ich will barmherziger werden! Ich bin ein Mensch, der sich mit seinem zerbrechlichen und chaotischen Leben an Jesus hängt und ihm vertraut. Ich bin ein Jesus-Schüler. Und Jesus sagt unmissverständlich:

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! 4

An diesem einen Satz hängen für mich sowohl die Wirklichkeit als auch die Relevanz des christlichen Glaubens, denn ein Gott, der angesichts des zum Himmel schreienden Leidens seiner Kinder ungerührt auf dem Sofa liegen bleibt, ein solcher Gott hätte es nicht verdient, geliebt zu werden. Einzig ein barmherziger Gott ist auch ein liebenswürdiger Gott!

Zugleich weist uns diese Aufforderung von Jesus den Weg, auf dem die Barmherzigkeit Gottes zu den Notleidenden kommt, die sie so dringend brauchen: durch Menschen, die ihm nachfolgen, durch seine Schülerinnen und Schüler. Das aber bedeutet: Eine Kirche, die an den Leidenden am Wegesrand achtlos vorbeigeht, weil sie ständig mit sich selbst beschäftigt ist und ihr frommes Programm pflegt, eine solche Kirche hat es nicht verdient, beachtet und gehört zu werden. Einzig eine barmherzige Kirche ist auch eine glaubwürdige Kirche! Beim Thema »Barmherzigkeit« geht es somit um die Existenzberechtigung unseres Glaubens.

Darum lassen Sie uns gründlich prüfen, ob es wahr ist, dass wir einen Vater im Himmel haben, der barmherzig ist. Und wenn dies so ist, dann lassen Sie uns alles dafür tun, dass seine göttliche Barmherzigkeit unser Leben durchdringt und unsere Herzen erobert. Denn dann – und erst dann! – werden wir zu Nachfolgerinnen und Nachfolgern von Jesus, die Gottes Barmherzigkeit in diese Welt tragen, indem wir an den Notleidenden auf unserem Lebensweg nicht achtlos vorbeigehen. Bewegt von der Barmherzigkeit unseres himmlischen Vaters werden wir zu Menschen, die fühlen, was sie sehen.

Und wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann!

Volker Halfmann

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

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»MEIN LEBENSRETTER« – Weshalb mir dieses Buch so wichtig ist

Ein Mann befand sich auf der Straße von Jerusalem nach Jericho, als er von Räubern überfallen wurde. Sie raubten ihm seine Kleider und sein Geld, verprügelten ihn und ließen ihn halb tot am Straßenrand liegen.

Lukas 10,30

Barmherzigkeit hat mir das Leben gerettet

Auch ich bin »unter die Räuber« gekommen. Auf meinem Lebensweg gibt es Zeiten, in denen ich verprügelt und ausgeraubt am Wegesrand lag. Allerdings nicht physisch, sondern psychisch. Geraubt wurde mir nicht mein materieller Besitz, sondern meine Selbstachtung und mein Lebenswille.

Seit dem Beginn meiner Pubertät leide ich unter einer Zwangserkrankung, vor allem unter völlig irrationalen Zwangsgedanken und Ängsten, aber auch unter Zwangshandlungen, doch wirklich therapiert wurde diese Erkrankung erst, als ich 40 Jahre alt war. Die Jahre zuvor habe ich versucht, mich irgendwie über Wasser zu halten, vor allem mit der Betäubung meines kranken Gehirns durch Alkohol sowie der Übertönung meiner verrückten Gedanken durch laute Rockmusik. Eine Weile funktionierte das gut, doch dann geriet ich mehr und mehr in einen zerstörerischen Kreislauf aus Abhängigkeiten, Scham, Selbsthass und tiefer Depression, den ich in dem Buch »Mein goldener Sprung in der Schüssel« genauer beschreibe.

Meinen ersten Tiefpunkt erreichte ich im Herbst 2006 als Pastor der Freien evangelischen Gemeinde Karlstadt. Ich verachtete mich aus tiefstem Herzen und war der Überzeugung, mehr Schaden anzurichten als für irgendwen von Nutzen zu sein. Aus meiner Sicht war ich ein Stück Dreck und eine Zumutung für meine Mitmenschen. Die Bilanz der vergangenen Jahre sah für mich verheerend aus: 5

Als Gemeindepastor hatte ich total versagt. Trotz vieler Anstrengungen war es mir nicht gelungen, die Gräben zwischen den verfeindeten Geschwistern zuzuschütten und unter ihnen Versöhnung zu stiften.

Meine Gottesbeziehung war eine riesige Baustelle. Ich hatte viel mehr Fragen als Antworten und sah mich außerstande, weiter zu predigen.

Gemessen an meinem kranken Ideal hatte ich sieben Kilo Übergewicht und verachtete meinen Körper zutiefst. Inzwischen war ich nicht einmal mehr in der Lage, in den Spiegel zu schauen. Stattdessen fing ich wieder damit an, aus Frust zu essen und mein Essen anschließend zu erbrechen, da ich es als einen Angriff auf meinen Körper verstand.

In meinem Kopf war die Hölle los. Meine irrationalen Zwangsgedanken und Ängste sowie die ständigen Grübeleien machten es mir nahezu unmöglich, mich auf irgendetwas zu konzentrieren oder gar zur Ruhe zu kommen. Verzweifelt versuchte ich, dieser Hölle mit einer Mischung aus »Pink Floyd« und »Faxe«-Starkbier zu entfliehen, doch das gelang mir immer seltener.

Ich war ein Heuchler und Lügner. Über Wochen hatte ich meine Frau Claudia belogen und ihr vorgespielt, ich würde keinen Alkohol mehr trinken. Dabei konnte ich ohne diesen Stoff keinen einzigen Tag überstehen – deshalb versteckte ich meine Flaschen im Haus und trank dort immer wieder heimlich.

Ich war am Ende: am Ende mit meiner Selbstachtung, am Ende mit meinem Glauben, am Ende mit dem Versuch, zu funktionieren, und am Ende mit der Hoffnung, dass es für mich noch einmal besser werden könnte. Bei einem meiner Lieblingsautoren, Martin Walser, hatte ich den folgenden Satz gelesen: »Jedes Mal meint man, das Schlimmste sei vorbei. Das ist die Illusion, die das Leben verlängert. Das Schlimmste ist immer.« 6 Wenn das stimmte, warum sollte ich mein Leben dann noch verlängern? Wäre es nicht viel sinnvoller, dieser Illusion zu entfliehen und es schnell zu beenden?

Ich dachte darüber nach, wie ich mich umbringen konnte, ohne dass dies als Suizid erkennbar wäre. Während einer Fahrt nach Würzburg zu meiner Supervisionsgruppe kam mir schließlich eine Idee: Es müsste ein tragischer Motorradunfall sein, bei dem niemand anderes mit hineingezogen wurde. So etwas passierte ja leider immer wieder mal: Motorradfahrer kamen aufgrund überhöhter Geschwindigkeit von der Straße ab und verunglückten tödlich. Im nüchternen Zustand würde mir dazu sicherlich der Mut fehlen, aber zugedröhnt sollte dies möglich sein. In meinem Kopf war ich schon verdammt nah am Abgrund. Erschrocken über mich selbst ging ich in die Gesprächsgruppe und wagte dort einen verschlüsselten Hilferuf.

Wir sprachen über die schrecklichen Folgen, die ein Suizid für die Hinterbliebenen hat. Doch ich betonte, dass es durchaus Situationen und Schicksale geben kann, in denen ein Selbstmord nachvollziehbar ist, getreu dem Motto: »Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.« Dabei muss ich in meiner Argumentation wohl so verzweifelt gewirkt haben, dass unser Supervisor mich erschrocken ansah. Am Ende unserer Gruppensitzung nahm er mich beiseite und fragte mich sehr direkt, ob ich vorhätte, mir das Leben zu nehmen.

Es hätte damals eine Menge Gründe gegeben, mich einfach ziehen zu lassen. Schließlich war mein Supervisor ein viel beschäftigter Mann. Er arbeitete als evangelischer Seelsorger in einer großen Uniklinik und war zudem in mehreren Gremien sowie als Ausbilder von anderen Supervisoren aktiv. Was mich betraf, so gehörte ich als Freikirchler noch nicht einmal zu seinem Stall: »Sollen sich seine eigenen Leute um ihn kümmern!«, so hätte er sich sagen können. Doch eben das tat er nicht. Stattdessen nahm er sich meiner an. Warum? Weil er in der Lage war, genau hinzusehen. Und das, was er sah, ließ ihn nicht kalt, sondern berührte sein Herz.

Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann.

Darum beschwor mich dieser Mann mit Tränen in den Augen, mein Leben nicht einfach wegzuwerfen. Am Ende unseres Gesprächs versicherte ich ihm, dass ich mir bei einem Psychologen in Würzburg professionelle Hilfe holen würde. Und als ich dann schließlich gehen wollte, lud er mich noch zum Mittagessen in die Kantine des Krankenhauses ein.

Für mich war diese Begegnung der erste und entscheidende Schritt auf einem langen Weg in die Freiheit. Es war die Barmherzigkeit meines Supervisors, die mich dazu bewog, diesen Schritt wirklich zu gehen, anstatt mich volllaufen zu lassen und mein Leben im wahrsten Sinne des Wortes vor die Wand zu fahren.

Barmherzigkeit hat mir das Leben gerettet!

Barmherzigkeit hat mir eine Zukunft eröffnet

Ich bin in meinem Leben immer wieder barmherzigen Samaritern begegnet: Menschen, die meine inneren Nöte gespürt haben und denen ich nicht egal war. Durch ihre Nähe, ihren Zuspruch und ihre praktische Hilfe konnte ich wieder aufstehen, wenn ich – an meiner Seele verwundet – am Boden lag und nicht mehr weiterwusste. Ohne diese Menschen würde es dieses Buch nicht geben, denn ohne ihre Barmherzigkeit würde es auch mich nicht geben – zumindest nicht so, wie ich heute bin und lebe.

Schon recht früh während meines Theologiestudiums wurde ich mit meinen Studienkollegen zu einem »missionarischen Praktikum« nach Mainz geschickt. Zu den Herausforderungen eines solchen Praktikums gehörten auch sogenannte evangelistische Straßeneinsätze: Wir machten in der Fußgängerzone durch kurze Theaterstücke auf uns aufmerksam und sprachen dann die neugierigen Passanten an, um ihnen von Jesus Christus zu erzählen. Für einen Menschen mit sozialen Ängsten und Zwangsstörungen ist solch ein Einsatz der ultimative Horrortrip. Dass ich dies irgendwie überstanden habe, habe ich einzig der Barmherzigkeit von Heiko zu verdanken, bei dem ich damals untergebracht war. Wenn ich mit verheulten Augen völlig in mich gekehrt in einer Ecke hockte, dann zog Heiko mich aus dem Loch der Depression: Er nahm mich in den Arm, brachte mich zum Lachen, betete für mich und sprach mir Mut zu. Durch seine barmherzige Zuwendung schaffte ich es, nicht aufzugeben.

Das Gleiche gilt für meine Zeit in Frankfurt am Main. In der dortigen Freien evangelischen Gemeinde absolvierte ich als Student ein sechsmonatiges Praktikum – und wäre an meinen zahlreichen Ängsten fast zerbrochen. Von Zeit zu Zeit schloss ich mich auf dem Klo ein, um dort unbemerkt zu weinen und mich den Fragen der Leute zu entziehen. In dieser Phase war es Felix, der mich wieder aufpäppelte. Bei ihm und seiner Frau fühlte ich mich geborgen und hatte keinerlei Ängste, verletzt oder beschämt zu werden. Ihre liebevolle Zuwendung und ermutigenden Rückmeldungen brachten mich letztlich zu der Ahnung, dass ich anderen Menschen tatsächlich etwas zu geben habe. Ohne ihre Barmherzigkeit hätte ich mein Praktikum abbrechen müssen. Doch dank ihrer Hilfe nahm ich auch diese Hürde und kam am Ende sogar ganz gut zurecht.

Während meiner ersten Stelle als Pastor in Oberursel wurde ich in einen fetten Konflikt zwischen einzelnen Gemeindemitgliedern verwickelt, bei dem es sowohl um Macht und Anerkennung als auch um die zukünftige Ausrichtung der Gemeinde ging (das war in der Zeit, in der eine Gemeinde bereits als »charismatisch« galt, wenn sie die Lieder im Gottesdienst nicht aus Liederbüchern singen ließ, sondern stattdessen einen Overheadprojektor verwendete, um die Texte an die Wand zu projizieren). Da es sich um eine Krankheitsvertretung und befristete Anstellung handelte, wohnten meine Frau Claudia und ich zunächst nicht in einer eigenen Wohnung, sondern bei Helmut und Sabine. Helmut war Mitglied der Gemeindeleitung und eben dieser Umstand bewahrte mich davor, bereits nach wenigen Wochen zu scheitern. Denn bevor Helmut mich überhaupt kannte, hatte er sich bereits fest vorgenommen, den zukünftigen Pastor nach allen Kräften zu unterstützen und ihm zur Seite zu stehen.

Durch Helmut habe ich letztlich begriffen, was die Bibel mit dem Begriff »Erwählung« meint. Und während ich mich durch diese erste schwere Zeit quälte, war es seine Barmherzigkeit, die mich davor bewahrte, einfach alles hinzuschmeißen. Seine Frau und er gehören zu den Menschen, die sehr genau hinsehen – und die fühlen, was sie sehen. Das Leid ihrer Mitmenschen geht ihnen zu Herzen, sodass sie sich mit allen Kräften einsetzen, um zu trösten, zu ermutigen, zu verbinden und zu heilen. Für eine geschundene Seele sind solche Menschen Balsam. Und das waren sie auch für mich. Wie oft haben sie mich bestätigt, beraten, gesegnet oder einfach in den Arm genommen.

Und noch eine barmherzige Samariterin gilt es zu nennen, durch die ich heute dieses Buch schreiben kann: meine Frau Claudia. Ich weiß, dass sie dies überhaupt nicht gerne mag, denn Claudia ist – wie jeder Mensch – nicht perfekt. Und sie weiß um ihre Schwächen. Darum mag sie es nicht, wenn andere auf sie das Bild einer tadellosen, vorbildlichen Heiligen projizieren. Ich kann Ihnen versichern: Das ist sie nicht! Dennoch war es an der entscheidenden Stelle meines Lebens ihre Barmherzigkeit, die mich ermutigt hat, mir helfen zu lassen, statt mich einfach aufzugeben.

Bedingt durch die psychische Erkrankung sowie meine Alkoholabhängigkeit erhielt ich später von der Arbeitsagentur die Möglichkeit einer Umschulungsmaßnahme. So zogen wir als Familie von Unterfranken ins Ruhrgebiet und ich begann mit einer Ausbildung zum Medienkaufmann. Als dann jedoch immer klarer wurde, dass ich den mir anvertrauten Aufgaben nicht gewachsen war und mein Ausbildungsbetrieb keinen dauerhaften Arbeitsplatz für mich haben würde, kam es bei mir zu einem seelischen und körperlichen Zusammenbruch. Mein Alkoholkonsum geriet völlig außer Kontrolle und am Ende fand ich mich in der Psychiatrie wieder. Dieser zweite Tiefpunkt war für mich noch entsetzlicher als der erste, denn schließlich hatte ich eine Chance bekommen, mein Leben in den Griff zu kriegen – und nun hatte ich es völlig verkackt.

Ich weiß, dass meine Frau damals nicht nur besorgt um mich war, sondern auch enttäuscht und wütend – und das völlig zu Recht. Ich hatte unsere Zukunftsträume vor die Wand gefahren, sie immer wieder belogen und tief verletzt. Ich hätte es darum sehr gut verstanden, wenn sie sich von mir abgewendet hätte, um sich selbst zu schützen. Doch das tat sie nicht. Stattdessen blieb sie an meiner Seite und unterstützte mich, wo immer sie konnte.

Ich werde nie vergessen, wie wir gemeinsam durch unseren damaligen Wohnort Hattingen-Welper spazierten (wir gingen über den Friedhof – ein Ort, an dem man wirklich zur Ruhe kommt und zudem an die eigene Sterblichkeit erinnert wird). Einige Tage zuvor hatte Claudia mich mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus gebracht und nun sprachen wir darüber, wie es mit mir weitergehen sollte. Ich empfand eine abgrundtiefe Scham und Ekel vor mir selbst. Und Claudia packte mich nicht in Watte. Vielmehr erklärte sie mir klipp und klar, dass sie nicht länger bereit sei, dies alles mitzumachen. Doch dann kam ein Satz, der sich mir sehr tief eingeprägt hat: »Volker, Gott hat dich nicht aufgegeben, ich habe dich nicht aufgegeben und du solltest dich auch nicht aufgeben!«

Damals hatte ich keinerlei Perspektive für mein Leben, aber durch die Zuwendung meiner Frau schöpfte ich neue Hoffnung.

Barmherzigkeit hat mir eine Zukunft eröffnet!

Barmherzigkeit hat mir Gottes Liebe gezeigt

Ich habe mir Gott nicht ausgesucht, er war einfach da, immer schon. Die Verkündigung dieses Gottes gehörte für meine frühkindliche Seele zu den Grundnahrungsmitteln, ich habe ihn gleichsam mit der Muttermilch aufgesogen. Doch für meine traumatisierte Seele war diese Milch das reinste Gift. Aufgrund meiner Zwangserkrankung entstand in mir ein furchtbares Gottesbild, das mir das Leben zur Hölle machte. Für mich war Gott ein grausamer und gnadenloser Sklaventreiber. Einer, der mich, ohne mit der Wimper zu zucken, auspeitschen würde, sobald ich einen Fehler machte. Beispiele seines schrecklichen Zorns gab es ja im Alten Testament zur Genüge.

Dennoch wäre ich damals nie auf den Gedanken gekommen, vor diesem Gott zu fliehen, um mein eigenes Leben zu leben. Denn wohin sollte ich denn fliehen, wenn er mich von allen Seiten umgab und sogar alle meine kranken und gotteslästerlichen Gedanken kannte? 7 Ich war mir sicher: Einen solchen Fluchtversuch hätte ich wie seinerzeit der Prophet Jona mit einer persönlichen Katastrophe bezahlt.

Also blieb ich über viele Jahre bei Gott und wurde sogar seine Stimme: Ich ließ mich zum Pastor ausbilden und übte diesen Beruf knapp 15 Jahre lang aus. Doch dann wurden meine psychischen Probleme so stark und die Abhängigkeit vom Alkohol so offensichtlich, dass ich eine Auszeit brauchte. So ging ich für mehrere Wochen in eine psychosomatische Klinik, die sich auf die Arbeit mit Suchtkranken spezialisiert hatte. Durch die Therapie kamen meine verdrängten Gefühle immer stärker an die Oberfläche, vor allem der über Jahre gebunkerte Zorn. Schon lange brodelte es in mir wie in einem Vulkan, in der Klinik kam es schließlich zum Ausbruch.

Der Gott, den ich bis dahin gekannt hatte, hatte mir die Luft zum Atmen genommen und mein Leben immer wieder klein gemacht. Als mir dies so richtig bewusst wurde, kannte mein Zorn keine Grenzen mehr. Auf Anraten meines Therapeuten schrieb ich einen Brief an Gott, in dem ich radikal und schonungslos mit ihm abrechnete. Ich schickte diesen Brief sogar an eine christliche Zeitschrift in der Hoffnung, dass er veröffentlicht würde (was zwei Jahre später tatsächlich geschah) 8. Und als ich die Klinik endlich einmal für ein paar Stunden verlassen durfte, fuhr ich sofort in die Großstadt, klaute bei »H&M« ein Herrenarmband aus Leder und hielt es diesem Gott triumphierend vor die Nase: »Siehst du und begreifst du endlich, dass du mich nicht mehr kleinkriegst mit deinen endlosen Geboten und Strafandrohungen? Es ist ein für alle Mal vorbei. Ich lasse mich von dir nicht mehr einschüchtern. Ich lebe jetzt ohne dich!«

Zugleich hatte ich jedoch schreckliche Angst, dass dieser grausame Himmelsdespot irgendwann erbarmungslos zurückschlagen würde. Er würde mich hart strafen für meinen Ausbruch. Und ich wusste, dass er mich am empfindlichsten treffen konnte, wenn er nicht mir etwas antat, sondern stattdessen meiner Familie – meiner Frau oder meinen Kindern. Ich rechnete mit dem Schlimmsten und wollte doch nie mehr zurück zu diesem furchtbaren Gott. Kurze Zeit nachdem ich aus der Klinik entlassen worden war, beantragte ich bei der Arbeitsagentur die schon erwähnte Umschulung und versuchte, diesen Gott aus meinem Leben zu verbannen. Ich wollte endlich mein eigener Herr sein.

In der Folgezeit blieben die von mir befürchteten Plagen Gottes aus. Stattdessen erfuhr ich sehr viel Gutes: So wohnten wir in einem perfekten kleinen Zechenhaus, von dem aus ich mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren konnte. Meine Frau fand eine Arbeitsstelle als Erzieherin und ich eine ortsnahe Selbsthilfegruppe, in der ich herzlich aufgenommen wurde. Unsere Kinder kamen im Kindergarten und in der Schule immer besser zurecht und schlossen neue Freundschaften. Es ging uns wirklich gut in dieser Zeit. Dennoch scheiterte ich am Ende kläglich mit dem Versuch, mein Leben aus eigener Kraft wieder auf die Reihe zu kriegen. Ich hatte einen Rückfall, landete in der Psychiatrie und heulte mir die Augen aus.

Wieder einmal dachte ich darüber nach, meinem Leben ein Ende zu setzen. Nachdem meine Familie mich besucht hatte, ging ich in die Kapelle der Klinik und schrie mit dem Mut der Verzweiflung um Hilfe. Alle meine Fragen und Zweifel zählten in dieser Situation nicht mehr. Wie der blinde Bartimäus schrie ich zu Jesus: »Herr, erbarme dich meiner!«

Was daraufhin geschah, hat sowohl mein Gottesbild als auch mein Leben verändert: Ich habe Gottes Barmherzigkeit erfahren! Gott hörte mein Schreien und zog mich aus dem Schlamm. Er verband meine inneren Wunden, erfüllte mein nach Liebe und Annahme suchendes Herz und gab mir die Kraft, wieder aufzustehen. 9

Heute weiß ich, dass Gott fühlt, was er sieht, und darum tut, was er kann. Deshalb bekenne ich gemeinsam mit König David: »Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und voll großer Gnade« (Psalm 103,8). Es ist wirklich erstaunlich, aber inzwischen liebe ich diesen Gott, der mir in Jesus begegnet, weil ich durch seine konkrete Hilfe am eigenen Leib und in der eigenen Seele erfahren habe, wie leidenschaftlich er mich liebt.

Barmherzigkeit hat mir die Liebe Gottes gezeigt!

Barmherzigkeit hat mir meine Schuld vergeben

Im Laufe der Jahre musste ich erkennen, dass ich nicht nur das arme Opfer bin: das Opfer meiner Erziehung, meines evangelikalen Umfelds, meiner psychischen Erkrankungen oder der widrigen Umstände in meiner frühen Kindheit. Das alles hat mich ohne jeden Zweifel entscheidend geprägt und beeinflusst, aber dennoch bin ich zugleich auch Täter, denn ich habe in meinem Leben oft gegen meine Erkenntnis und gegen mein Gewissen gehandelt, indem ich die falschen Entscheidungen getroffen habe. Ich wurde nicht nur gelebt, sondern ich habe gelebt – und bin schuldig geworden an den Menschen, die ich doch so sehr liebe: an meiner Frau und meinen Kindern. Hinzu kommt das, was ich ihnen schuldig geblieben bin, weil ich ständig nur mit mir selbst beschäftigt war. Ich trage eine Verantwortung für mein Handeln. Diese Last wog schwer, so schwer, dass ich darunter fast zusammenbrach.

Mir ist völlig klar, dass ich als Zwangserkrankter oft ein überstrenges Gewissen habe, und dass es nicht nur echte, sondern auch falsche Schuldgefühle gibt. 10 Doch jenseits meiner ungerechtfertigten Selbstzerfleischung bleibt immer noch ein gewaltiger Teil an Schuld in meinem Leben, der sich nicht relativieren und auch nicht wegtherapieren lässt. Und eben unter diesem Teil litt ich. Wieder und wieder schaute ich zurück und musste feststellen, dass ich meine früheren Fehlentscheidungen nicht rückgängig und meine Versäumnisse nicht ungeschehen machen konnte. Was geschehen war, war geschehen. Aber wie konnte ich damit leben?

König David betete: »Als ich mich weigerte, meine Schuld zu bekennen, war ich schwach und elend, dass ich den ganzen Tag nur noch stöhnte und jammerte. Tag und Nacht bedrückte mich dein Zorn, meine Kraft vertrocknete wie Wasser in der Sommerhitze« (Psalm 32,3-4). Ich verstehe ihn gut, denn auch ich habe die Erfahrung gemacht, dass die schwere Belastung des Gewissens durch eigene Schuld letztlich zu psychosomatischen Symptomen führen kann. Ich war ebenfalls fix und fertig und spürte meine Schuld am ganzen Körper.

Es war Gottes Barmherzigkeit, die mich von meiner Last befreit hat. Als ich nicht mehr weiterwusste, entschloss ich mich, zu beichten. Ich nannte vor einem anderen Menschen meine Schuld ungeschönt beim Namen, ich bekannte sie. Das fiel mir nicht leicht, ganz im Gegenteil. Ich schämte mich abgrundtief und heulte während meines Bekenntnisses Rotz und Wasser. Aber diese Beichte befreite mich. Gemeinsam mit meinem Beichtvater betete ich und bat um Vergebung – und er wiederum sprach mir diese Vergebung im Namen von Jesus zu und stellte mich unter Gottes Segen.

Als ich später nach Hause fuhr, hätte ich das Auto eigentlich nicht gebraucht: Ich hätte fliegen können, so leicht fühlte sich mein Leben an.

Barmherzigkeit hat mir meine Schuld vergeben!

Die Sprache der Barmherzigkeit sprechen

In meinem Leben gab es immer wieder barmherzige Samariter: Frauen und Männer, denen meine Not zu Herzen ging, sodass sie nicht einfach achtlos an mir vorübergingen, sondern mich verbanden und versorgten. Und ich kann es nicht oft genug betonen: Ohne diese Samariter gäbe es mich heute nicht!

Der Theologe und Psychologe Wunibald Müller schreibt:

Niedergehalten von Selbstzweifeln, Schuldgefühlen, der täglichen Erfahrung von Unzulänglichkeit und Fehlerhaftigkeit, sind wir auf Barmherzigkeit angewiesen, sehnen wir uns immer wieder nach der gnadenvollen Erfahrung von Barmherzigkeit. Sind es doch die Momente, in denen wir uns wie befreit und erlöst fühlen von so manchen Lasten, die schwer auf uns drücken. 11

Eine solche gnadenvolle Erfahrung habe ich gemacht. Eben darum ist mir dieses Thema so wichtig, denn es gibt in unserem persönlichen Umfeld sehr viele Menschen, die in ihrem Leben verletzt, erniedrigt und ausgeraubt wurden. Menschen, die halb tot an unserem Wegesrand liegen und denen wir der oder die Nächste sein können. Diese Verwundeten brauchen zunächst nicht unsere moralischen Urteile, nicht unsere tollen Ratschläge und auch nicht unsere wohl formulierten Handzettel. Was sie zuerst und vor allen Dingen brauchen, ist unsere Barmherzigkeit! Sie brauchen jemanden, der fühlt, was er sieht, und darum tut, was er kann – eine Samariterin oder einen Samariter, der sie aufrichtet, die Wunden reinigt und verbindet, ihnen zur Seite steht, sie auf dem Weg der Heilung begleitet und ihnen so ihre Würde zurückgibt und neues Leben ermöglicht.

Es ist meine tiefste Überzeugung: Wir werden die Menschen um uns herum nur dann mit der frohen Botschaft von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, erreichen, wenn wir ihnen mit Barmherzigkeit begegnen. Der von mir sehr geschätzte Papst Franziskus drückt dies sehr treffend und leidenschaftlich aus:

Wir brauchen Christen, die für die Menschen unserer Zeit die Barmherzigkeit Gottes und seine Zärtlichkeit allen Geschöpfen gegenüber sichtbar machen. Wir alle wissen, dass die derzeitige Krise der Menschheit nicht nur oberflächlich ist, sie geht in die Tiefe. Aus diesem Grund muss sich die Neuevangelisierung der Sprache der Barmherzigkeit bedienen, während sie dazu aufruft, den Mut zu haben, gegen den Strom zu schwimmen, sich von den Götzen zum einzig wahren Gott zu bekehren – einer Barmherzigkeit, die zuerst aus Gesten und Haltungen besteht und erst dann aus Worten. Die Kirche sagt mitten unter den Menschen von heute: Kommt alle zu Jesus, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe schaffen (vgl. Matthäus 11,28-30). Kommt zu Jesus. Er allein hat Worte des ewigen Lebens. 12

Indem wir die Sprache der Barmherzigkeit sprechen, tun wir letztlich nichts anderes, als dem Vorbild unseres Vaters im Himmel zu folgen, so wie es Jesus Christus von uns erwartet, wenn er sagt: »Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!« 13.

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»UNTER RÄUBERN« – Wie schnell unsere Lebensträume zerplatzen

Ein Mann befand sich auf der Straße von Jerusalem nach Jericho, als er von Räubern überfallen wurde. Sie raubten ihm seine Kleider und sein Geld, verprügelten ihn und ließen ihn halb tot am Straßenrand liegen.

Lukas 10,30

Barmherzigkeit kennt keine Auswahlkriterien

Wörtlich sagt Jesus: »Ein Mensch (ἄνθρωπός) ging hinab von Jerusalem nach Jericho.« Für die damaligen Hörer ist sofort klar: Bei diesem Menschen muss es sich um einen Mann handeln, da eine Frau diesen Weg niemals allein gehen würde. Zudem wird es sich um einen Juden handeln, denn er geht von der Hauptstadt Israels hinab in die bedeutende jüdische Stadt Jericho – ein Weg, der zu 95 Prozent von Juden genutzt wurde.

Auch wir haben vermutlich gleich ein Bild vor Augen, wenn wir diese Erzählung hören, und das ist völlig in Ordnung. Nur dürfen wir dabei nicht vergessen, dass Jesus hier sehr bewusst offenlässt, um wen genau es sich bei dem Reisenden handelt. Es ist einfach ein Mensch – und das bedeutet: Seine Herkunft und soziale Stellung sind ebenso bedeutungslos wie sein Geschlecht oder seine Hautfarbe. Jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes, ist sein Ebenbild. Jeder Mensch ist von Gott geliebt und gewollt – das gibt ihm seine unantastbare Würde. Und wenn ein solcher Mensch unsere Hilfe benötigt, weil er sich in einer Notlage befindet, dann hat er genau diese Hilfe zu erhalten – unabhängig von seiner Nationalität, seinem sozialen Milieu, seiner Religion oder seinen Überzeugungen.

Barmherzigkeit kennt keine Auswahlkriterien – Gottes Barmherzigkeit nicht, und unsere sollte sie auch nicht kennen! Letztlich ist es nicht einmal entscheidend, ob der notleidende Mensch seine schlimme Lage selbst verschuldet hat. Wer seelisch oder körperlich verblutet, braucht keine Moralpredigten und Ratschläge, sondern lebensrettende Erste-Hilfe-Maßnahmen!

Der Abstieg von Jerusalem hinab nach Jericho ist ein Trampelpfad, der sich über rund 27 Kilometer erstreckt und dabei durch die Judäische Wüste führt, eine Gegend voller Steine und Geröll mit zahlreichen Höhlen und unübersichtlichen Abzweigungen. Hier lebte (oder besser hauste) zur Zeit von Jesus ein Teil der verelendeten Landbevölkerung und versuchte, sich durch regelmäßige Raubzüge das Überleben zu sichern.

Bereits der Einstieg in den über eintausend Höhenmeter hinabführenden Pfad wurde die »Blutsteige« genannt, da jeder wusste, dass hinter diesem Einstieg die Gefahr lauerte. Diesen Weg alleine zu gehen war also ziemlich verantwortungslos – es war geradezu eine Einladung, überfallen zu werden. Und eben dies könnte man unserem Reisenden natürlich vorwerfen, als er blutüberströmt und halb tot am Wegesrand liegt: »Wie kann man nur so blöd sein und sich in eine solche Gefahr begeben? Jeder weiß doch, dass es in dieser Gegend von Räubern nur so wimmelt. Tja, mein Freund, nun musst du selbst schauen, wie du hier wieder rauskommst. Wer nicht hören will, der muss halt manchmal fühlen.« So in etwa würde die typische Reaktion eines Besserwissers lauten, der selbst über jeden Fehler erhaben erscheint und den das Leid des Überfallenen völlig kaltlässt. Der Barmherzige jedoch verzichtet auf solche Belehrungen und tut stattdessen das, was wirklich vonnöten ist: Er packt an, um zu helfen und Leben zu retten.

Barmherzigkeit kennt keine Auswahlkriterien, sie gilt auch jenen, die ihr Leiden selbst verschuldet haben! Wer sich mit dieser Vorstellung schwertut, der sollte sich von Zeit zu Zeit daran erinnern, dass Gottes Barmherzigkeit genauso handelt. Auch sie gilt jenen Menschen, die sich durch ihren Ungehorsam und ihr unachtsames Verhalten selbst in Todesgefahr begeben haben. Wer darum heute als Christ lebt, wer Jesus Christus nachfolgt und Gott seinen Vater nennt, der kann dies nur, weil Gott eingegriffen und angepackt hat, indem er in Jesus Mensch geworden ist und die Welt mit sich versöhnt hat: »Gott ist so barmherzig und liebte uns so sehr, dass er uns, die wir durch unsere Sünden tot waren, mit Christus neues Leben schenkte, als er ihn von den Toten auferweckte. Nur durch die Gnade Gottes seid ihr gerettet worden!« 14

Das Kennzeichen von Gnade ist, dass man sie nicht verdient hat und sie sich auch nicht verdienen kann. Gottes Barmherzigkeit gilt uns gerade nicht, weil wir so tadellos wären, dass er einfach nicht anders kann, sondern weil er unser Elend gesehen hat und ihm das, was er gesehen hat, zu Herzen gegangen ist.

Persönliche Schicksale

Jeder von uns ist früher oder später auf Barmherzigkeit angewiesen. Mir ist noch kein Mensch begegnet, der nicht an irgendeiner Stelle seines Lebensweges »unter die Räuber« gekommen wäre, wobei diese Räuber sehr verschieden aussehen können. Hier nur eine kleine Auswahl von Menschen, denen ich begegnet bin und die sich ihr Leben eigentlich ganz anders vorgestellt hatten:

Ich stehe in der Halle des Hamburger Hauptbahnhofes und frage mich, was ich mit den verbleibenden zweieinhalb Stunden machen soll, da fällt mein Blick auf Georg. Der alte Mann hockt in einer offenen Fotokabine, stützt sich auf seinen Handwagen und kämpft gegen den Schlaf. Sein verwahrlostes Erscheinungsbild deutet darauf hin, dass er auf der Straße lebt und hier im Bahnhof Pfandflaschen sammelt. Sein Anblick geht mir zu Herzen; deshalb gehe ich zu ihm und frage ihn, ob er Lust hat, mit mir zu essen. Zunächst ist er misstrauisch, doch nach ein paar Erklärungen sagt er schließlich zu. In den kommenden zwei Stunden erfahre ich durch Georg sehr viel darüber, wie schnell die eigenen Lebensträume zerplatzen können.

Georg ist 71 Jahre alt und lebt seit sieben Jahren auf der Straße. Aufgrund seines schlurfenden Gangs hatte ich zunächst gedacht, er sei alkoholisiert, doch das ist nicht der Fall. Georg leidet unter »MG« (Myasthenia gravis), einer seltenen neurologischen Erkrankung, die zu Lähmungen führt und von den Augen auf den ganzen Körper übergehen kann. Wenn dies der Fall ist, sind die Chancen auf eine Heilung gering, vor allem dann, wenn die Krankheit erst relativ spät diagnostiziert wurde. Und genau dies ist bei Georg der Fall. Aufgrund seiner Lähmungserscheinungen musste er seinen Beruf als Technischer Zeichner aufgeben, doch lange Zeit konnte keine Ursache gefunden werden. In seiner Verzweiflung betäubte er sich mehr und mehr mit Alkohol, was schließlich zur Trennung von seiner Frau führte.

Georg ist der typische Fall eines Menschen, bei dem es kein Schwarz oder Weiß, kein Gut oder Böse gibt. Er ist eindeutig »unter die Räuber« gekommen, hat aber infolgedessen auch eigene Fehler gemacht. Er hat sein Leben vor die Wand gefahren. Hier, im Bahnhof, darf er in einem gekennzeichneten Wartebereich von Mitternacht bis morgens um 5 Uhr übernachten, danach schlurft er durch die Gegend auf der Suche nach einem Platz, an dem er ungestört die vorbeihetzenden Geschäftsleute beobachten kann. »Alles ist schneller, hektischer und unpersönlicher geworden«, meint Georg. Dennoch steckt ihm von Zeit zu Zeit jemand ein paar Euro zu und Georg ist sich sicher, dass dies an seiner freundlichen Ausstrahlung liegt.

Während wir uns unterhalten, kommt Mareike zu uns, um von Georg eine Zigarette zu schnorren. Mareike ist voll bis unter die Haarspitzen und kann sich nur noch schwer artikulieren. Wenn es stimmt, was sie mir erzählt, dann hat sie vor zwei Jahren ihren Mann durch einen tragischen Autounfall verloren – da waren sie gerade mal zehn Wochen verheiratet. Das hat sie völlig aus der Bahn geworfen. Inzwischen ist sie im Methadon-Programm und muss sich jeden Tag die fünf Euro Rezeptgebühr erbetteln.

Während sie das erzählt, knufft Georg mich in die Seite und gibt mir ohne ein Wort zu verstehen: »Komm schon, Kumpel, die fünf Euro kannst du doch locker verkraften.« Also kaufe ich für alle eine Brezel sowie einen Kaffee und stecke Mareike auch noch die fünf Euro zu, worauf sie sich überschwänglich bedankt und mehrfach betont, ich hätte ihr den Tag gerettet. Etwas skeptisch frage ich mich, worin diese Rettung wohl konkret bestehen wird – aber dennoch habe ich das Gefühl, das Richtige getan zu haben.