Wer ist Michel Houellebecq? - Julia Encke - E-Book

Wer ist Michel Houellebecq? E-Book

Julia Encke

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Beschreibung

Niemand provoziert unsere Gesellschaft wie er. Das Porträt zum 60. Geburtstag von Michel Houellebecq Michel Houellebecq ist nicht nur einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Gegenwart, er ist vor allem und mit großer Lust eines: ein Provokateur, der regelmäßig Debatten auslöst, die weit über das Literarische hinausgehen. Mal nennt er den Islam die «bescheuertste Religion der Welt», dann preist er die Prostitution als eheerhaltende Maßnahme – und man kann sich nicht sicher sein, ob er das wirklich so meint. Julia Encke, Literaturchefin der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung», ist ihm immer wieder begegnet und macht sich nun daran, das Leben und Werk dieses großen Dichters zu entschlüsseln. «Wer ist Michel Houellebecq??» fragt nach der Spannung zwischen dem Menschen Houellebecq und dem öffentlichen Bild des Mannes, der mit seinen Romanen «Elementarteilchen» und «Unterwerfung» wütende Anfeindungen wie begeisterte Zustimmung erntete. Sie beschreibt die vielen Facetten – den Visionär, den Romantiker, den Künstler – und zeigt, dass kaum jemand die Stimmung unserer Zeit so gut erfasst wie Michel Houellebecq. Er zielt mit seinen Texten mitten ins Herz unserer Gesellschaft – weshalb auch kaum jemand eine so große Gemeinde von Fans und erbitterten Gegnern hat. Pünktlich zum 60. Geburtstag erscheint nun das Porträt, das dem Rätsel Houellebecq auf die Spur zu kommen versucht.

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Julia Encke

Wer ist Michel Houellebecq?

Porträt eine Provokateurs

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Über dieses Buch

Niemand provoziert unsere Gesellschaft wie er. Das Porträt zum 60. Geburtstag von Michel Houellebecq

 

Michel Houellebecq ist nicht nur einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Gegenwart, er ist vor allem und mit großer Lust eines: ein Provokateur, der regelmäßig Debatten auslöst, die weit über das Literarische hinausgehen. Mal nennt er den Islam die «bescheuertste Religion der Welt», dann preist er die Prostitution als eheerhaltende Maßnahme – und man kann sich nicht sicher sein, ob er das wirklich so meint. Julia Encke, Literaturchefin der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung», ist ihm immer wieder begegnet und macht sich nun daran, das Leben und Werk dieses großen Dichters zu entschlüsseln. «Wer ist Michel Houellebecq?» fragt nach der Spannung zwischen dem Menschen Houellebecq und dem öffentlichen Bild des Mannes, der mit seinen Romanen «Elementarteilchen» und «Unterwerfung» wütende Anfeindungen wie begeisterte Zustimmung erntete. Sie beschreibt die vielen Facetten – den Visionär, den Romantiker, den Künstler – und zeigt, dass kaum jemand die Stimmung unserer Zeit so gut erfasst wie Michel Houellebecq. Er zielt mit seinen Texten mitten ins Herz unserer Gesellschaft – weshalb auch kaum jemand eine so große Gemeinde von Fans und erbitterten Gegnern hat. Pünktlich zum 60. Geburtstag erscheint nun das Porträt, das dem Rätsel Houellebecq auf die Spur zu kommen versucht.

Über Julia Encke

Julia Encke, geboren 1971, studierte Literaturwissenschaft in Freiburg, Toulouse und München und promovierte mit einer vielbeachteten Arbeit über den Ersten Weltkrieg. Von 2001 bis 2005 arbeitete sie im Feuilleton der «Süddeutschen Zeitung» und gehört seit Sommer 2005 dem Feuilleton der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» in Berlin an. Seit 2015 verantwortet sie dort das Literaturressort. 2005 erschien «Augenblicke der Gefahr. Der Krieg und die Sinne 1914–1934», 2014 «Charisma und Politik. Warum unsere Demokratie mehr Leidenschaft braucht».

Vorwort

Im Frühjahr 2007 las ich in einer französischen Tageszeitung, ich weiß nicht mehr, ob es «Le Monde» oder «Libération» war, dass der französische Schriftsteller Michel Houellebecq im südspanischen Ferienort Benidorm seinen Roman «Die Möglichkeit einer Insel» verfilmte. Ich hatte irgendwann einmal Fotos von der Küste dort gesehen, von den Betonklötzen, die eng nebeneinanderstanden, von den hässlichen Urlaubersilos, alle direkt am Meer. Dass Michel Houellebecq sich diesen Ort ausgesucht hatte, leuchtete mir sofort ein. Benidorm musste für ihn die schönste Touristenhölle sein; ein Ort, den er sich für seinen Roman nicht besser hätte ausdenken können. Mir fiel der Fernsehkomiker in «Die Möglichkeit einer Insel» ein, der sein Unterhaltungstalent in einem All-inclusive-Ferienclub bei einem Zwischenfall am Buffet entdeckt und sich ausdenkt, wie die Würstchenknappheit beim Frühstück eine blutige Ferienclubrevolte auslöst. Die Dreharbeiten dazu stellte ich mir vielversprechend vor. Ich suchte im Internet die Produktionsfirma des Films heraus und schrieb an den Produzenten Éric Altmayer, ob ich nicht kommen dürfe, um zuzusehen – einen Tag, viel lieber noch eine ganze Woche. Überraschenderweise antwortete Altmayer gleich am nächsten Morgen. Kein Problem, ich solle einfach losfahren. Adresse: Gran Hotel Bali, Calle Luis Prendes 4, 03502 Benidorm, Spanien.

Michel Houellebecq war schon damals der bekannteste und umstrittenste Schriftsteller Frankreichs. Und so wunderte ich mich, dass es möglich sein sollte, ihn ohne lange Voranmeldung bei seinen Dreharbeiten zu beobachten. Auch vermutete ich vor Ort noch eine Reihe anderer Journalisten, aber als ich in Benidorm im Hotel eintraf, war überraschenderweise sonst keiner da. Ich sehe noch vor mir, wie Houellebecq mit seinem Filmteam gerade dabei war, eine Szene am Hotelpool zu drehen. Er stand in einem gelben kurzärmligen Hemd und einer khakifarbenen Weste hinter der Kamera und murmelte seine «Action»-Anweisung in sich hinein, sodass der Assistent sie laut wiederholen musste. Intuitiv hielt ich Abstand und wartete erst einmal ab. Das hatte einerseits damit zu tun, dass ich nicht stören wollte. Aber es war nicht nur das. Ich hatte den Eindruck, dass, wenn ich mir ein Bild von Michel Houellebecq machen und ihn und sein Werk besser verstehen wollte, ich gar nicht die direkte Nähe zu ihm suchen oder für die Zeit, die ich dort verbringen würde, Teil seines Teams werden sollte. Ich war mir sicher, dass er aus der Distanz besser zu erkennen sein würde als im unmittelbaren Kontakt. Im Verlauf der Woche kam es vor, dass wir zusammen an der Bar saßen und rauchten. Aber die meiste Zeit, die ich mit ihm und dem Filmteam in Benidorm verbrachte, blieb ich für mich und sah einfach nur zu.

Dieses Widerspiel von Anziehung und dem gleichzeitigen Bedürfnis, Distanz zu wahren, hat mein Verhältnis zu Michel Houellebecq und seinem Werk von dem Moment an geprägt, als ich 1999 «Ausweitung der Kampfzone» las und in den Jahren darauf jeden seiner neu erschienenen Romane. Tatsächlich gibt es für mich keinen Schriftsteller der Gegenwart, der einen mit seinen Zukunftsvisionen, die von der Gegenwart erzählen, so sehr herausfordert. Keinen, der die sozioökonomischen Machtkämpfe der zeitgenössischen Gesellschaft so unerbittlich und präzise beschreibt. Keinen, der die Literatur als Feld der Uneindeutigkeit so sehr ausreizt und uns auf brüchigem Boden zurücklässt. Und das alles mit dieser bewusst herausgearbeiteten Abwesenheit von Stil, diesem Nicht-Stil der Sprache, der natürlich selbst ein Stilphänomen ist.

«Ich habe weder etwas gegen diese oder jene Avantgarde, noch bin ich gegen diese oder jene andere», hat Michel Houellebecq einmal in einem Interview gesagt. «Mir ist nur klar, dass ich mich durch die einfache Tatsache hervorhebe, dass ich mich weniger für die Sprache als für die Welt interessiere. Ich bin fasziniert von den bis dato unbekannten Erscheinungen der Welt, in der wir leben, und ich verstehe nicht, wie es den anderen Dichtern gelingt, sich dem zu entziehen: Leben sie denn alle auf dem Land? Jeder geht in den Supermarkt, liest Zeitschriften, jeder hat einen Fernseher, einen Anrufbeantworter … Es gelingt mir einfach nicht, diesen Aspekt der Dinge hinter mir zu lassen, dieser Realität zu entrinnen. Ich bin schrecklich zugänglich für die Welt, die mich umgibt.»[1]

Michel Houellebecq hat, seit seinen ersten Erfolgen mit «Ausweitung der Kampfzone» und «Elementarteilchen», die Rolle des Provokateurs gesucht, wo immer sich eine Öffentlichkeit oder Halböffentlichkeit anbot. Das war zunächst die Rolle des «Dragueurs», die Selbststilisierung des von Groupies umringten Schriftstellers. Es waren, nicht viel später, politische Provokationen wie die, der Islam sei «die bescheuertste Religion von allen». Dann folgte die Behauptung, die Prostitution abzuschaffen heiße, die Ehe unmöglich zu machen. Ohne die Prostitution, die der Ehe als Korrektiv diene, werde die Ehe untergehen und mit ihr die Familie und die gesamte Gesellschaft. Und eine Provokation lag auch in den Inszenierungen seines Körpers, wenn Houellebecq eine Weile lang als scheinbar zahnloser Clochard auftrat und jedem Schönheitsideal der Mediengesellschaft Hohn zu sprechen schien.

Auf jede dieser Äußerungen folgte ein Aufschrei, ob in Frankreich oder hier in Deutschland. Die Zeitung «Le Monde» begann eine wahre Fehde gegen den Schriftsteller. Islamische Vereinigungen strengten Prozesse an. Reaktionär, misogyn, islamophob, pornographisch – Houellebecqs Gegner stilisierten ihn zum Schreckgespenst. Jedes Mal glaubte man dabei allerdings, den Autor, dessen Humor gerne unterschätzt wird, kichern zu hören. Denn im Grunde genommen bedient sich Michel Houellebecq der Tricks eines Taschenspielers. Durch seine öffentlichen Äußerungen, das will ich zeigen, verwischt er planmäßig die Grenze von Figuren- und Autorenrede und gibt vor, die daraus resultierende allgemeine Aufregung nicht zu verstehen. Was er in Abrede stellt, ist eine Übereinkunft: nämlich die, dass Literatur und öffentliche Rede zwei unterschiedliche Orte des Sprechens sind, mit denen sich auch unterschiedliche Regeln des Sprechens verbinden. Houellebecq spricht in der Öffentlichkeit nach den Maßgaben der Literatur. Genau deshalb kann man seine Romane nicht lesen, ohne an den Autor zu denken, genau deshalb schleichen sich seine öffentlichen Äußerungen in die Lektüre seiner Bücher ein.

Auf welche politischen Aussagen lässt sich aber jemand festlegen, der einräumt, dass es in seinen Büchern Stellen gebe, aus denen man «radikal entgegengesetzte Schlüsse» ableiten könne? Wo steht Houellebecq politisch wirklich, und welche Rolle spielt das für seine Bücher? Ist es zulässig, ihn als «Propheten» zu bezeichnen, wie das nicht wenige machen, wenn man bedenkt, dass sein Roman «Unterwerfung» in Frankreich am Tag der Anschläge auf «Charlie Hebdo» erschien? Wenn man weiß, dass er der «New York Times» ein Interview über «Plattform» gab, ein Interview, in dem der Journalist kritisierte, dass Houellebecq die islamistische Gefahr überschätze – und das ausgerechnet am 11. September 2001 abgedruckt wurde? Inwiefern geht es, wenn Houellebecq den Islam thematisiert, überhaupt um diesen? Und wie kann es sein, dass ein Autor, der über so viele Jahre von allen möglichen Seiten angefeindet worden ist, für seinen Roman «Karte und Gebiet» dann plötzlich doch den in Frankreich wichtigsten Literaturpreis, den «Prix Goncourt», gewinnt und mit einem Mal – zumindest vorübergehend – von allen geliebt wird?

«Wer ist Michel Houellebecq?» Diese Frage möchte ich anhand meiner Begegnungen mit ihm, vor allem aber entlang seiner Werke, zu beantworten versuchen.

Was wir nicht wissen

Seit den Anfängen seines Erfolgs als Schriftsteller hat Michel Houellebecq ziemlich viele Dinge gesagt, die man ihm nicht auf Anhieb glauben wollte. Das ironische Spiel – etwas von sich zu erkennen zu geben und es bei nächster Gelegenheit zu widerrufen – hat er perfektioniert. Das entspricht seinem Humor. Es gibt aber einen Satz, den man ihm sofort abnahm und der einen keine Sekunde lang auf die Idee brachte, er könne Ausdruck seiner Koketterie sein: Wer sich einen Reim auf ihn machen wolle, so Michel Houellebecq, der solle seine Bücher lesen, am besten in der Reihenfolge ihres Erscheinens. Sein Leben hingegen: eine denkbar schlechte Quelle.

Michel Houellebecqs Romane sind keine Geständnisliteratur. Der Antrieb seines Schreibens ist kein autobiographischer. Das heißt nicht, dass es in seinem Werk keine autobiographischen Bezüge gäbe. Es gibt sogar sehr viele – allen voran die Tatsache, dass die Hauptfiguren seiner Romane beinahe ausnahmslos Michel heißen und eine deutliche Ähnlichkeit mit ihrem Erfinder haben. Dieser Autor achtet aber zugleich darauf, dass die Ähnlichkeiten nicht zu groß werden und immer genügend Spielraum für jene Ambiguität bleibt, die ihn an der Literatur interessiert. Literatur ist für ihn dazu da, Gewissheiten ins Wanken zu bringen, den Zweifel zu nähren. Wie sehr ihm das gelingt, zeigt die Aufregung, die jedes seiner Bücher auslöst.

Eine Ausnahme hat er allerdings gemacht. Oder er hat sich dazu hinreißen lassen, es auszuprobieren und etwas über sein Leben festzuhalten, und zwar in Form eines Tagebuchs. Es sind nur ein paar Tage, einer im Februar – genauer gesagt der 26. Februar 2005, der 47. Geburtstag von Michel Houellebecq – und ein paar aufeinanderfolgende Augusttage im selben Jahr. Houellebecq hat gerade das Manuskript seines Romans «Die Möglichkeit einer Insel» abgeschlossen und an seinen Verleger geschickt. Hinter ihm liegt eine Zeit intensiver Arbeit, er weiß, dass ihm sein Leben jetzt leer vorkommen wird. Er ist überzeugt davon, gerade ein «Meisterwerk» abgeliefert zu haben, und ebenso sicher, dass das, was er in diesem Moment zu schreiben beginnt, keinerlei Bedeutung hat: «Ich halte nicht viel von Autobiographien und von Tagebüchern kaum mehr; ich betrachte sie als primitive Formen des Schaffens, mit denen man weder an die Wahrheit des Romans herankommt noch an den Grad reiner Emotion wie in der Dichtung.» Wenn er sich dem nun trotzdem widme, dann nur, weil er gerade außerstande sei, irgendetwas anderes zu tun. Im Übrigen wisse er auch jetzt schon, dass daraus kein Buch entstehen werde.[1]

Und dann fängt er – am 20. August 2005 um drei Uhr morgens – tatsächlich ganz von vorne an: «Ich bin im Jahr 1956 oder 1958 geboren», schreibt er, «ich weiß es nicht. Wahrscheinlicher ist 1958. Meine Mutter hat mir immer erzählt, mein Geburtsjahr falsch angegeben zu haben, damit ich, anstatt mit sechs, schon mit vier Jahren zur Schule gehen konnte. Sie war überzeugt davon, dass ich hochbegabt sei – weil ich mir mit drei Jahren anscheinend selbst das Lesen beigebracht habe. Als sie eines Abends nach Hause kam, war ich zu ihrer großen Überraschung dabei, in aller Ruhe Zeitung zu lesen.» Ob seine Mutter aber tatsächlich nur gute Absichten verfolgt habe, als sie das Datum fälschte, wisse er nicht. Sie sei immer eine Expertin darin gewesen, die Dinge rückblickend so zu erzählen, dass sie für sie schmeichelhaft waren. «Ich erinnere mich, wie ich es einmal – ziemlich schüchtern – gewagt habe, ihr vorzuwerfen, dass sie sich in den Jahren meiner Kindheit vielleicht nicht genügend um mich gekümmert hätte, und wie ich mir dann die Schilderung ihrer Jahre als Ärztin für Arme in La Réunion angehört habe, die sie in ein heroisches Licht setzte. Ging es nach ihr, war sie eine Art Mutter Teresa der Medizin, die niemals zögerte, sogar mitten in der Nacht aufzustehen, um einer schwarzen Frau in einer verlorenen Berghütte bei der Geburt zu helfen (es folgte die Beschreibung des vom Sturm zerfurchten Wegs, der mit dem Landrover gestreiften Abhänge). Tatsächlich, wie ich später erfahren musste, arbeitete sie vor allem als Vertretung und nahm sechs Monate Urlaub im Jahr.» Es sei also gut möglich, dass sie ihn zwei Jahre älter gemacht habe, um ihn einfach schneller loszuwerden.[2]

Die Sache mit der Hochbegabung hat Michel Houellebecq aber gefallen. Er erinnert sich daran, wie er in der Schule einen Intelligenztest machen musste und begeistert feststellte, einen IQ von mehr als 140 zu haben. Er suchte daraufhin noch nach anderen Tests, um 150 zu erreichen, was, so Houellebecq, rückblickend etwas armselig erscheine, ihm aber auch bewusst mache, dass er von seinem fünfzehnten Lebensjahr an versucht habe, sich als Persönlichkeit zu entwerfen: als ein Überlegener; jemand, der sich schwebend in den hohen Sphären der Welt der Gedanken bewegt. Zugleich, schreibt er, sei er in der Gesellschaft anderer und vor allem im Umgang mit Mädchen schrecklich verhaltensgestört gewesen und habe unter entsetzlichen körperlichen Komplexen gelitten, obwohl es dazu eigentlich gar keinen Grund gegeben habe. Erst kürzlich habe er ein altes Foto gefunden, auf dem er in der Mitte einer Gruppe von Jungen und Mädchen zu sehen sei. Es war beinahe ein Schock für ihn, festzustellen, dass er auf diesem Bild der anziehendste Junge von allen war: «Offen gestanden finde ich mich selbst umwerfend.» Wirklich komisch (oder eben tragisch) sei eben nur, dass er es jetzt, im Jahr 2005, geschafft habe, zu der Person zu werden, für die er sich damals hielt: Auf neuen Fotos sehe er in den allermeisten Fällen tatsächlich grauenhaft aus; seine intellektuellen Fähigkeiten dagegen hätten Früchte getragen und aus ihm – «unnötig, da irgendeine falsche Bescheidenheit vorzuspielen – einen der wichtigsten Schriftsteller meiner Generation» gemacht.[3]

Schon früh hat Michel Houellebecq versucht, sich als Persönlichkeit zu entwerfen.

Nur eine Sache hätte er damals schon richtig wahrgenommen, etwas, das bis heute geblieben sei: «meine unglaubliche, anormale Empfindlichkeit; meine unkontrollierbare Emotionalität; meine erschütternde Verletzlichkeit». Er müsse hier noch einmal auf seine Mutter zurückkommen, ein letztes Mal. Es klinge hart, aber als er ein Baby gewesen sei, habe seine Mutter ihn nicht genug liebkost und gestreichelt. Sie sei einfach nicht zärtlich gewesen, das sei alles und erkläre den Rest. Heute noch leide er furchtbar, wenn eine Frau sich weigere, ihn zu streicheln, und zwar so sehr, dass er lieber auf jeden Versuch der Verführung verzichte, als sich dem auszusetzen: «In diesen Momenten glaube ich zu sterben, wirklich ausgelöscht zu werden.» Und er wisse, so schreibt er (und das klingt dann tatsächlich sehr pathetisch), dass er bis zu seinem Tod «ein ganz kleines zurückgelassenes Kind» bleiben werde, «das, hungrig nach Zärtlichkeit, vor Angst und Kälte schreit».[4]

 

So beginnt der autobiographische Versuch von Michel Houellebecq im Jahr 2005 – und die heiklen Punkte werden schnell benannt: das Geburtsdatum, der Name und, vor allem, die Mutter. Michel Houellebecq, das scheint verbürgt, wurde als Michel Thomas am 26. Februar 1958 auf der Insel La Réunion geboren. Seine Mutter, Janine Ceccaldi, arbeitete dort als Ärztin, sein Vater, René Thomas, war Bergführer. Er ist kein halbes Jahr alt, da brechen die Eltern zu einer Afrikareise auf, während der das Baby bei der Großmutter väterlicherseits im Pariser Vorort Clamart untergebracht wird. Als sie von der Reise zurückkehren, trennen sich die Eltern, die Mutter geht zurück nach La Réunion (sie bekommt dort ein zweites Kind von einem anderen Mann); der Vater zieht nach Frankreich – und Michels Großeltern mütterlicherseits holen den Jungen zu sich nach Algerien. So wächst Michel Thomas in Algier auf, bis das Land 1962 unabhängig wird und die Mutter des Vaters ihn in Frankreich wieder bei sich aufnimmt. Sie wird zum wichtigsten Menschen in Michels Kindheit: Henriette Houellebecq lautet ihr Mädchenname, den Michel 1978 anzunehmen beschließt. Es ist ein seltener und aufgrund des «elle»-Lautes weiblich klingender Name; ein Name, den der von Houellebecq verehrte französische Oulipo-Schriftsteller Georges Perec in einem Wortspiel sicher in «Où est le bec» transformiert hätte, wie Michels Freund Yan Céh einmal spekulierte.[5] Wobei «bec» ja vieles zugleich bedeuten kann: die Spitze einer Feder, das Mundstück eines Instruments, der Schnabel eines Vogels.

 

Er habe gestern Abend ein paar Seiten einer Biographie gelesen, die ein Journalist namens Demonpion über ihn geschrieben habe und die nun erscheine, so Michel Houellebecq weiter in seinem Tagebuch. Es gebe ein paar Dinge in seinem Leben, die für ihn selbst ein Rätsel seien und die aufzuklären er sich sehr wünsche. Zum Beispiel: «Warum wurde ich, als wir 1962 Algerien verließen, zu meiner Großmutter väterlicherseits (Houellebecq) geschickt, anstatt bei meiner Großmutter mütterlicherseits zu bleiben (Ceccaldi)? Wenige Menschen wissen das. Die Seiten der Biographie, die ich im Internet gelesen habe, zeigen aber ganz klar, dass Demonpion für seine Angaben über jene Jahre nur eine einzige Quelle gefunden hat: meine Mutter, die allen Grund hat, zu lügen, um ihre wahren Beweggründe zu kaschieren.»

Und da ist plötzlich klar, was ihn antreibt; warum er diesen autobiographischen Versuch tatsächlich unternimmt: Michel Houellebecq sieht sich, angesichts der in jenen Tagen erscheinenden Darstellung seines Lebens außerstande, etwas anderes zu tun, als auf diese zu reagieren. Er will dem Journalisten Demonpion nicht das Feld überlassen und nicht die Deutungshoheit über sein Leben. Wenn der Biograph bei der Beantwortung der Frage «Wer ist Michel Houellebecq?» als eine der wichtigsten Quellen Houellebecqs Mutter anführt, dann kommt dem Sohn das wie eine Aufforderung vor, sich zu wehren und ihren Aussagen «seine Version des Spiels» entgegenzusetzen. Ein Kampf wird ausgetragen. Und diesem Kampf verdanken wir den autobiographischen Text eines Autors, der eigentlich der Meinung ist, sein Leben helfe nicht weiter, wenn man herausfinden wolle, wer er sei.

 

Allerdings ist es nicht so, dass die Biographie von Denis Demonpion, die ein Jahr später unter dem Titel «Michel Houellebecq. Die unautorisierte Biografie» im Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf auch auf Deutsch erscheint, für den Schriftsteller überraschend kommt. Er wusste im Vorfeld davon, denn Demonpion, der bei der Wochenzeitschrift «Le Point» arbeitete, hatte ihn kontaktiert, was den Schriftsteller kurzzeitig auf die Idee brachte, einfach selbst eine Autobiographie zu schreiben, damit alle Fragen ein für alle Mal geklärt seien. Dann aber, so Houellebecq, hatte er einen Einfall, den er noch viel hinreißender fand: Er würde Demonpion die Biographie recherchieren und schreiben lassen, der könnte ihm dann das Manuskript schicken, sobald es fertig sei. Er würde es lesen und dem Ganzen seine Fußnoten hinzufügen. So würde er in keiner Weise in den Text eingreifen, und Demonpion könnte ihm im Gegenzug seinen ganzen Respekt erweisen, indem er ihm bei den Kommentaren in den Fußnoten freie Hand ließe. Houellebecqs Lektor beim Verlag Flammarion, Raphaël Sorin, schaltete sich ein. Er schrieb Demonpion eine E-Mail, in der er ihm den Vorschlag genauer erklärte. Der Biograph hatte gesagt, dass er Michel Houellebecq unbedingt treffen wolle; der wiederum antwortete, er würde nur einwilligen, wenn Demonpion den Vorschlag annähme. «Er überlegte und lehnte ab; ich finde, dass das schade ist.»[6] Anschließend habe er das Interesse an «Demorpions» Projekt verloren (Houellebecq schreibt den Namen des Biographen, den er zwischendurch gern auch mal nur «diesen Menschen» nennt, von nun an absichtlich falsch: «morpion» heißt auf Französisch Filzlaus). Er habe ihm keine Steine in den Weg gelegt. Wenn Leute ihn, Houellebecq, gefragt hätten, ob sie Demonpion Auskunft geben sollten, dann habe er sie gebeten, es nicht zu tun. Aber von sich aus habe er nichts gegen ihn unternommen.

Denis Demonpions Biographie ist ein aufdringliches und im Tonfall unangenehmes Enthüllungsbuch: «Mit seinem kränklich anmutenden Erscheinen, das vor Angriffen schützt, gefällt sich Michel Houellebecq in hochmütiger Geheimnistuerei. Das vorliegende Buch will dieses Geheimnis lüften.»[7] Demonpions sogenannte Enthüllung fängt mit dem Namen an: «Die auffälligste Manipulation besteht in der Änderung seines Familiennamens: Die Tatsache, dass er den Namen seiner Großmutter väterlicherseits annimmt, anstelle des eigenen, war für mich Anlass zur Verwunderung.» Es geht beim Geburtsjahr weiter, das Demonpion unverständlicherweise noch einmal verdreht: «Houellebecq ist nicht 1958 geboren, das Geburtsdatum, zu dessen Verbreitung er selbst beigetragen hat, sondern bereits zwei Jahre früher.»[8] Und es betrifft auch die Mutter, die keineswegs tot sei, wie der Schriftsteller einmal behauptete, weil sie nach der Auseinandersetzung bei ihrer letzten Begegnung für ihn tatsächlich gestorben war. Sie gab dem Biographen an ihrem Wohnort La Réunion sogar ein Interview.

Neuer Name, neues Geburtsdatum, neue Familiengeschichte – Demonpion empört sich: «Michel Houellebecq konstruiert sein Leben wie seine Romane – sorgfältig, fleißig und methodisch.» Er sei keineswegs der bemitleidenswerte Antiheld, als der er sich ausgebe, sondern ein versierter Medienprofi, der Informationen über seine Person bewusst lanciere. Warum auch nicht, möchte man entgegnen. Wenn Thomas Pynchon sich seit 1963 von der Öffentlichkeit abschottet, wirft ihm dies ja auch niemand vor. Demonpion aber schäumt vor Empörung. Er schildert eine Szene, in der Michel Houellebecq eines Abends zusammen mit einem Freund, dem Schriftsteller Frédéric Beigbeder, in dessen Wohnung sitzt und beide sich leicht angetrunken darüber unterhalten, wie sie sich als Teenager auf Partys Körbe einfingen. Als sie das Lied «Nights in White Satin» hören, beginnt Houellebecq auf einmal zu weinen: «Sie haben alle Slow getanzt und ich war ganz allein», erinnert er sich. «So heult er sich aus in den Alkoholdünsten und der unglücklichen Erinnerung an die Partys der Teenagerzeit», lästert Demonpion. Er teilt Einzelheiten über Houellebecqs Verdauung als Baby mit. Ist Houellebecq einmal verliebt, gesteht Demonpion ihm dies allenfalls in Anführungszeichen zu, als «Verliebtheit». Auch den Mord an einem Kanarienvogel wirft er ihm vor – als hätte nicht selbst Heinrich Heine einmal aus Eifersucht einen Papagei getötet. Stets unterstellt er Houellebecq die niedersten Beweggründe, doch letztlich mit wenig Wirkung: «Demonpion will beweisen, was für ein schlechter Mensch Michel Houellebecq ist, und diskreditiert dadurch nur sich selbst.»[9] Beim Lesen misstraut man bald jeder Zeile dieses Buches, das Michel Houellebecqs Leben in allen psychologischen Winkelzügen und Details rekonstruiert. Dabei sind durchaus auch interessante und Erkenntnis stiftende Gesprächsprotokolle von Weggefährten darunter, die sehr zuverlässig erscheinen. Doch setzt der Grundton sie oft in ein schlechtes Licht.

Vielleicht hätte den Schriftsteller das alles nicht weiter gestört. Vielleicht hätte er sogar Spaß an den Ungenauigkeiten und Fehlern gehabt, die in der Biographie zu finden sind und die das Verwirrspiel um seine Person nur weiter antrieben. Aber dass die Worte der Mutter unwidersprochen zur Geltung kamen, änderte alles. Es brachte ihn so sehr auf, dass er gleich auch allen anderen, die Demonpion Auskunft gegeben hatten (er ließ sich die Liste der rund 130 in der Danksagung genannten Namen von jemandem am Telefon vorlesen, der das Buch bereits hatte), die Freundschaft aufkündigen wollte: «Alle meine Freunde haben mich betrogen. Fast alle», schreibt er. Er wolle eine private Untersuchung starten, wen der Biograph zu Recht genannt habe und wen zu Unrecht. «Keine meiner Liebschaften hat mich verraten. Absolut keine», fügt er noch erleichtert hinzu. «Keine der Frauen, mit denen ich im Laufe meines Lebens eine Liebesbeziehung gehabt habe (nicht einmal dann, wenn die Beziehung schlecht ausgegangen ist, wenn es schreckliche Momente gegeben hat, haben sie eingewilligt und sich ihm mitgeteilt). (…) Sie haben es nicht getan. Es gehört uns.»[10]

Michel Houellebecq schloss 1978 sein Studium der Agrarwissenschaft ab, das er zusammen mit einem Freund, dem heutigen Künstler und Schriftsteller Pierre Lamalattie, begonnen hatte (schon damals im grünen Parka, der später zu seinem Markenzeichen werden sollte, wie der Freund sich erinnert; schon damals mit der Eigenart, seine Rede durch langes Schweigen zu unterbrechen und nur ab und zu ein «hum?» oder «oui?» einzuwerfen).[11] Michel sei in der Studienzeit weder politisch rechts noch links, weder gläubig noch sportlich gewesen, so Lamalattie. Er habe eine Literaturzeitschrift mitgegründet, «Karamazov», in der er unter verschiedenen Pseudonymen schrieb. Und er habe einen Film mit dem Titel «Cristal de souffrance» («Kristall des Leidens») gedreht, denn das Kino interessierte ihn als Kunstform zu diesem Zeitpunkt fast mehr als die Literatur.[12] Nach seinem Abschluss als Landwirtschaftsingenieur bewarb er sich mit Erfolg um einen Studienplatz in der Sektion für Film der «École nationale supérieure Louis-Lumière», die er jedoch 1981 verließ, weil er kein Geld mehr hatte[13]: «Ich mochte Murnau und Dreyer sehr; ich mochte auch all das, was man den deutschen Expressionismus genannt hat – auch wenn der wichtigste bildliche Bezugspunkt dieser Filme wahrscheinlich mehr die Romantik als der Expressionismus ist. Sie studieren die Faszination der Reglosigkeit, die ich versucht habe, in Bilder, später in Worte umzusetzen.»[14] 1980 heiratet er, ein Jahr später wird sein Sohn Étienne geboren. Die Ehe hält nicht lange, Michel Houellebecq leidet unter Depressionen und begibt sich in Behandlung. Als Informatiker nimmt er 1983 eine Stelle im Beratungsunternehmen Unilog an, wechselt aber bald ins französische Landwirtschaftsministerium. Seine zweite Frau, Marie-Pierre Gauthier, lernt er im Büro des Verlags La Différence kennen, wo sie arbeitet. Ab 1991 sind sie offiziell ein Paar und heiraten sieben Jahre später, zwei Monate vor Erscheinen des Romans «Elementarteilchen».

Michel Houellebecq im September 1995, ein Jahr nach Erscheinen von «Ausweitung der Kampfzone» in Frankreich.

Auslöser seiner Wut über Demonpions Biographie ist die von der Mutter kolportierte Version ihrer letzten Begegnung, die ebenfalls im Jahr 1991 stattfand. Die Mutter ist zu Besuch in Paris, gemeinsam mit Houellebecqs Sohn Étienne kommt es zu einem Treffen. Janine Ceccaldi erinnert sich – Demonpion zufolge – an diese Begegnung so: «Ich wollte sie zu einem guten Essen einladen, am liebsten thailändisch, das mögen wir gerne. Aber sie bestanden auf McDonald’s, wo ich also mit ihnen hingegangen bin. Ich habe nichts gegessen, aber das Essen bezahlt. (…) Wie immer hat Michel nur von sich erzählt. An dem Tag wollte er unbedingt wissen, wie es seiner Nénenne ging, seinem Kindermädchen, für das er sich bis dahin niemals interessiert hatte. Dann sprachen wir über seine kurz zurückliegende Erfahrung mit der Exhumierung der toten Großmutter. In Anbetracht meines Alters und seiner Verantwortung, sich darum zu kümmern, wenn ich einmal sterben sollte, teilte ich ihm meinen letzten Willen mit. Ich erzählte ihm von meinem Wunsch, bei meinem Vater in Algerien beigesetzt zu werden, dort ist ein Platz frei und die Toten werden nicht behelligt. Das gefiel ihm offenbar gar nicht. Wir kamen darüber auf den Golfkrieg zu sprechen, ein Ereignis, das mich zutiefst erschüttert hat. Und zu meiner großen Überraschung erhob sich mein Michel, der niemals Interesse für irgendetwas außer sich selbst gezeigt hat, vor allem nicht für irgendetwas Politisches, plötzlich zum unerbittlichen Inquisitor.» Er habe sich aufgeregt, auf die Araber geflucht, die Schwarzen, «diese Primitiven». «Mein Sohn war bis dahin ein friedlicher und gleichgültiger Mensch, der schrieb und dessen einzige Sorge es war, auf Kosten verschiedener Personen zu leben. Er war freundlich, höflich, liebenswürdig und sogar recht liebevoll. Urplötzlich treffe ich ihn als ultrarechten Fanatiker wieder, der sagt, dass man die Kanaken plattmachen müsse.» Das sei alles wegen ihrer «bescheuerten Religion», habe er gesagt, woraufhin ihr Enkel aufgestanden sei und zu ihm gesagt habe: «Papa, es ist nicht gut, schlecht über die Religion zu reden.» Janine Ceccaldi kommentiert: «Sympathisch, der Enkel.»[15]

Michel Houellebecq will und kann das so nicht stehenlassen. Sein autobiographisches Fragment liest sich wie eine Richtigstellung aus gegebenem Anlass, wie eine Korrektur: Ihr letztes Treffen habe tatsächlich zusammen mit seinem Sohn stattgefunden, und sie hätten auch über den ersten Golfkrieg gestritten, wobei «meine Mutter Saddam Hussein wie wild verteidigte», schreibt er. «Es war nur so, dass mein Sohn die Position der Amerikaner vertrat und nicht ich, und dass es in Wirklichkeit ihre Unterhaltung war, die, als sie schärfer wurde, zum Bruch führte.» Ihr «sympathisch, der Enkel» habe ihm beinahe ein Lächeln abgetrotzt, oder besser: ein krampfhaftes Lachen. Wie unbeugsam proamerikanisch sein Sohn war, habe auch er erst in diesem Gespräch begriffen. «Er hatte nachgedacht und für sich allein eine sehr umfassende Argumentation entwickelt. Er war ja erst zehn Jahre alt und hielt der Alten, ohne schwach zu werden, stand. Es kann sein, dass ich am Ende etwas Öl ins Feuer gegossen habe, mit ein paar anti-islamischen Beleidigungen, aber das war überflüssig, es war schon heftig genug, ohne dass ich mich einmischte. Im Grunde erinnere ich mich nicht gut daran, was ich gesagt haben kann. Woran ich mich aber sehr gut erinnere, ist, immer deutlicher gespürt zu haben, wie von Minute zu Minute meine Hoffnung wuchs, dass dieser unvorhergesehene Streit zu einem unverhofften Ergebnis führen könnte: dass er nämlich die Voraussetzungen für den endgültigen Bruch zwischen mir und meiner Mutter schaffen und damit auch ihren Besuchen in großen Abständen (einmal im Jahr, wenn überhaupt) ein Ende machen würde, deren Notwendigkeit ich immer weniger verstand, weil auf der Hand lag, dass sie meine Frau hasste, sich in keiner Weise für ihren Enkel interessierte und die Beziehung zwischen ihr und mir aus einer Mischung von Unausgesprochenem und Wut bestand, die keine Chance hatten, zerstreut zu werden.» Als er mit seinem Sohn aufstand, um zu gehen, habe er gewusst, dass er seine Mutter nie wiedersehen würde – «ich zitterte vor Freude».[16]

 

So waren zwei Versionen einer Geschichte in der Welt und eine Menge weiterer Gerüchte, die sich um diese Versionen rankten. Wie immer, wenn es Gerede gibt, blieb davon etwas hängen und wurde in der Presse weitergetragen. Als der Schriftsteller Salman Rushdie zehn Jahre später für Michel Houellebecq Partei ergriff, der nach Erscheinen seines Romans «Plattform» im Sommer 2001 in einem Interview mit der Zeitschrift «Lire» den Islam «die bescheuertste Religion von allen» genannt hatte, wurde er zum Opfer dieser Gerüchteküche. Michel Houellebecq, so Rushdie, heiße in Wirklichkeit Michel Thomas. «Er nahm den Mädchennamen seiner Mutter an, nachdem diese einen Muslim heiratete und zum Islam übertrat. In unserem Zeitalter des Personenkults, wo als unerschütterliche Wahrheit gilt, dass das Leben eines Schriftstellers den Schlüssel zu seinen Romanen enthält, wo die Fiktionalität der Fiktion regelmäßig ignoriert wird und wo Romane als Wirklichkeit in Verkleidung gelten, wird dieses Detail aus Houellebecqs Leben bei vielen ein lautes ‹Aha!› hervorrufen oder schon hervorgerufen haben.»[17] So ging Rushdie, ohne es zu wollen, in die Falle.