Wer soll das bezahlen? - Prof. Dr. Norbert Walter - E-Book

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Prof. Dr. Norbert Walter

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Beschreibung

Das Wort des ehemaligen Chefvolkswirts der Deutschen Bank findet weltweit Beachtung. Norbert Walter hat als einziger Ökonom den Absturz der deutschen Wirtschaft in der Finanzkrise 2008 präzise vorausgesagt. Zusammen mit seinem Kollegen Jörn Quitzau von der traditionsreichen Hamburger Berenberg Bank bilanziert er die Konsequenzen, die aus der Weltfinanzkrise zu ziehen sind. Sie fordern "Schluss mit dem Schuldenmachen!" und mahnen einen radikalen Kurswechsel in Wirtschaft und Politik an.

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Norbert Walter / Jörn Quitzau

Wer soll das bezahlen?

Antworten auf die globale Wirtschaftskrise

Knaur e-books

Über dieses Buch

Die Wege aus der Finanzmarkt- und Verschuldungskrise!

Schulden ohne Ende, immer neue Rettungsschirme, Griechenland ist überall: Wirtschaft im Ausnahmezustand. Die Menschen haben Angst um ihr Geld und ihre Zukunft. Zu Recht?

Norbert Walter, der ehemalige Chefökonom der Deutschen Bank, und Jörn Quitzau, Volkswirt bei Deutschlands ältester Privatbank, der Berenberg Bank in Hamburg, sagen:

»Schluss mit der Panikmache!«

Die Menschen sorgen sich angesichts gigantischer Staatsschulden für die aus dem Ruder gelaufenen Sozialbudgets und ständig neuer Rettungsaktionen für marode Banken und klamme Eurostaaten um ihre Zukunft.

Sie sind in Sorge um die Qualität des Geldes und um die Fähigkeit der Schuldner zur Bedienung der Kredite. Sie haben Angst, dass auch andere Versprechen nicht gehalten werden können: bei Altersvorsorge, Infrastruktur, Energieversorgung und Bildung. Und sie fürchten, dass die ohnehin hohen Steuern und Abgaben weiter steigen werden.

Ist diese weitverbreitete Endzeitstimmung begründet? Norbert Walter und Jörn Quitzau meinen: »Nicht unbedingt, es gibt Wege aus der Schuldenkrise!« Aber sie sagen auch: »So kann es nicht weitergehen! Es ist Zeit zu handeln!«

Die Autoren sagen deutlich, was Politik, Banken und Bürger jetzt anders und besser machen müssen. Sie sind Ökonomen der »alten Schule«, fest verwurzelt in der Tradition eines Adam Smith, eines Friedrich von Hayek, aber eben auch der Christlichen Soziallehre mit ihren wichtigen Beiträgen für eine funktionierende Wirtschafts- und Sozialordnung.

Inhaltsübersicht

VorwortKapitel 1 Im Ausnahmezustand!Wir retten uns zu TodeTabubrüche in EurolandDie Weltwirtschaft im RettungsmodusAd-hoc-ExperimenteDer Zwang zu retten und »Moral Hazard«Risiken und NebenwirkungenDer Verlust der GlaubwürdigkeitSuchtgefahrUSA: Drahtseilakt ohne FangnetzKapitel 2 Normalzustand: Soziale MarktwirtschaftMarktwirtschaft in der LegitimationskriseWarum Marktwirtschaft?ArbeitsteilungPrivateigentumWettbewerbLenkung durch PreiseZwischenfazitMoral und MarktwirtschaftVerantwortungsethikMoral und IndividualismusDifferenzierende AspekteGerechtigkeitsfragenMärkte stehen für LeistungsgerechtigkeitWas ist soziale Gerechtigkeit?Pragmatische SozialpolitikSoziales EngagementChina, oder: Schwellenländer als Vorbild?Kapitel 3 Analyse der Wirtschafts- und FinanzkriseFehlentwicklungen der MarktwirtschaftEffiziente Finanzmärkte?Selbsterfüllende ProphezeiungenSpekulationVernetzungKorrektur von ÜbertreibungenZwischenfazitVon der Finanz- zur SchuldenkriseGeldpolitikKreditgeschäft – The American WayKreditfinanzierter Konsum, globale UngleichgewichteKreditverbriefungDas kapitalistische System wanktWar das Eingreifen des Staates angemessen?Der lange Weg in die SchuldenkriseDeutschland: Mehrere VerschuldungsschübeErster Schub: Aufbau des Wohlfahrtsstaates und nachfrageorientierte WirtschaftspolitikZweiter Schub: Deutsche Einigung beendet KonsolidierungspolitikDritter Schub: Finanz- und WirtschaftskriseDas Fass läuft über: Der Euro in der KriseEuro(pa) – ein Leben nach der Krise?SchuldenpräventionWirtschaftspolitische Koordinierung – ein Patentrezept für Europa?Für den Ernstfall: Geordnete StaatsinsolvenzNachhaltige FinanzpolitikHistorische Erfahrungen mit Finanz- und SchuldenkrisenTypischer Verlauf von FinanzkrisenFolgenFazitKapitel 4 LösungsansätzeIrrwege: Inflation, Insolvenz, TransferunionWie verhindern wir Finanzkrisen künftig?»Zurück auf die Bäume« ist keine OptionStammtisch und Experten diskutieren – und nehmen sich gegenseitig kaum wahrGeldpolitik muss Preisniveaustabilität bei Verbraucherpreisen, aber auch bei Assetpreisen sichernSicherung ausreichender LiquiditätReform des EigenkapitalstandardsMaßnahmen gegen eine erneute Schieflage bei FinanzinstitutenRatingagenturen in die Hand der AnlegerBesoldung im Finanzsektor – falsche Anreize abstellenSchuldenabbauAbriss oder Sanierung?Sanierungserfahrungen aus dem AuslandKonsolidierung in Europa geht voranFazitVertrauen – der vernachlässigte WirtschaftsfaktorRenaissance des Vertrauens10 Thesen zur Wirtschafts- und SchuldenkriseNachwortLiteratur
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Vorwort

Die Bürger der Welt sorgen sich nach dem Lehman-Kollaps – symbolträchtiges Ereignis am Ende der Bankenkrise – und den sich türmenden Staatsschulden für die aus dem Ruder gelaufenen Sozialbudgets und die jetzt hinzugekommenen Rettungsaktionen für Banken und Konjunktur um ihre Zukunft. Sie sorgen sich um die Qualität des Geldes, um die Fähigkeit der Schuldner – auch der staatlichen – zur Bedienung der Kredite. Sie befürchten, dass auch andere Versprechen nicht gehalten werden können; so etwa die staatliche Altersvorsorge, so etwa die erreichten Standards bei staatlicher Infrastruktur, insbesondere bei der Bildung. Und andere sorgen sich, dass die ohnehin hohe staatliche Steuer- und Sozialbeitragslast weiter steigt.

Die Endzeitgefühle der Bürger sind angesichts der Ereignisse der letzten Jahre verständlich. Sie sind aber nicht allein den Fakten geschuldet, sondern auch einer Kommunikation, die um vieles besser hätte sein können. Das, was die Eliten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik derzeit abliefern, ist ein Armutszeugnis. Es ist richtig, nicht zu verschleiern, die Wahrheit nicht scheibchenweise zu servieren. Es ist aber auch richtig, die ernüchternden Botschaften über die Ereignisse der letzten Jahre in einen historischen Kontext zu stellen. Es gilt zu zeigen, dass die Welt auch in früheren Dekaden und Jahrhunderten solche Krisen meisterte und stärker aus Herausforderungen hervorging. Es gibt sie: die Wege aus der Finanzmarkt- und Verschuldungskrise. Und es zeigt sich, dass die Vertreter von einfachen Wahrheiten angesichts der komplexen Welt eben nicht die ganze Wahrheit sagen. Wir wollen ihnen deutlich machen, dass einerseits die Unterstützer einer Therapie permanenter Drogenabgabe – so etwa die USA – der Welt nicht geholfen haben. Freilich ist auch »mehr Sparen« nicht in jeder Situation die Antwort auf die Herausforderung. Situationsgerechtes Handeln ist unser Plädoyer.

Nach der Überwindung der Schockstarre nach dem Lehman-Kollaps ist jetzt aber die Rehabilitation des Patienten angesagt. 2008/2009 war keynesianische Finanzpolitik und Niedrigzinspolitik sachgerecht. Jetzt ist die Konsolidierung die erste staatsbürgerliche Pflicht. Zinsen auf Nullniveau passen nicht mehr.

Statt zyklischer Stütze braucht es jetzt strukturelle Korrektur, damit Finanzmarkt- und Wirtschaftsordnung ihren Dienst der richtigen Steuerung der privaten Akteure wieder leisten. Hierzu geben wir Planken an, insbesondere was Regulatoren und Risikomanagement in Finanzinstituten anders und besser machen müssen.

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Kapitel 1Im Ausnahmezustand!

Wir retten uns zu Tode

»Die Währungsreform« und »Inflationsclub« (Börsen-Zeitung vom 11. Mai 2010), »Die EZB beerdigt ihre Prinzipien« (DIE WELT vom 11. Mai 2011): Die Schlagzeilen der Wirtschaftspresse sind seit Mai 2010 an Dramatik und an Deutlichkeit nicht zu übertreffen. Leitartikler und Kommentatoren scheuen keinen negativen Superlativ. Die Wirtschaftswoche ließ sich sogar dazu hinreißen, ihr Titelblatt als Todesanzeige für den Euro zu gestalten. Was war geschehen?

Tabubrüche in Euroland

Am Wochenende des 8. und 9. Mai 2010 hatten die Euro-Staaten und die Europäische Zentralbank (EZB) zum entscheidenden Schlag ausgeholt. Die immer weiter um sich greifende Euro-Krise sollte beendet werden. Dabei kannten die Entscheider keine Tabus: Die EZB ebnete den Weg für den Ankauf von Staatsanleihen und begann umgehend damit, Anleihen der europäischen Krisenländer zu kaufen. Damit finanzierte die EZB indirekt die Schulden einzelner Euro-Staaten. Gleichzeitig beschloss die Europäische Union unter Beteiligung des Internationalen Währungsfonds (IWF) einen gewaltigen Schutzschirm. Insgesamt wurden 750 Milliarden Euro bereitgestellt, um klammen Euro-Ländern im Notfall unter die Arme greifen zu können. Die Summe wurde bewusst hoch gewählt, um den Investoren ein klares Signal zu geben: Die Euro-Staaten stehen in der Not zusammen. Spekulationen sollten an dem Schutzschirm abprallen. Dies gelang nur bedingt, deshalb wurde aus dem Schutz- später ein »Rettungsschirm«.

Die Schuldenkrise erreichte damit in Europa eine neue Qualität. Seit Gründung der Währungsunion war es ehernes Gesetz, dass die Mitgliedstaaten oder die EZB nicht für die Schulden einzelner Euro-Länder aufkommen. Gemeinsame Währung ja, aber Finanzpolitik in nationaler Regie – das war der Plan. Das Verbot der gegenseitigen Hilfe diente dazu, die Mitgliedsländer finanzpolitisch zu disziplinieren. Als die Not im Mai 2010 zu groß wurde und der Fortbestand der Gemeinschaftswährung auf dem Spiel stand, waren die eisernen Prinzipien über Nacht kräftig verbogen, wenn nicht faktisch abgeschafft worden. Die heftige Kritik der Medien, der Wissenschaft, der Bevölkerung und von Teilen der Politik war deshalb nachvollziehbar.

Die Weltwirtschaft im Rettungsmodus

Mit den Tabubrüchen in der Eurozone hatte sich die Krise erneut ein Stück weiter durch das globale Finanz- und Wirtschaftssystem gefressen. Seit Ausbruch der amerikanischen Immobilienkrise 2008 waren immer wieder unkonventionelle Maßnahmen, immer neue Rettungsaktionen nötig, um die Probleme einzudämmen. Zunächst fanden die Rettungsmaßnahmen noch innerhalb des Finanzsektors statt. Relativ starke Banken übernahmen angeschlagene Institute, andere fusionierten, um gemeinsam über die Runden zu kommen. Recht bald wurde aber klar, dass der amerikanische Finanzsektor die Krise nicht aus eigener Kraft würde meistern können. Schnell wurden die US-Notenbank FED sowie die amerikanische Regierung als Rettungskräfte ins Boot geholt. Dabei ging es erst einmal darum, wankende Finanzinstitute zu stützen. Die Devise lautete: »Rettet die Banken, rettet die Finanzdienstleister.«

Darüber hinaus beschleunigte die Immobilien- und Finanzkrise den Konjunkturabschwung. Die Panik im Finanzsektor führte zu einer Art Schockstarre bei Verbrauchern und Unternehmen. Aus einem zyklischen Abschwung wurde ein regelrechter Absturz. Damit gab es den nächsten Hilfsbedürftigen: die Weltkonjunktur. Insbesondere in den USA und in China wurden gigantische Konjunkturpakete auf den Weg gebracht, weltweit stimulierten die Regierungen die Wirtschaft. Der Zusammenhang war klar: Je stärker die Wirtschaft einbricht, umso mehr Kredite würden platzen. Dies wiederum war Gift für ohnehin taumelnde Banken. Die Bankenrettung konnte folglich nur gelingen, wenn die Konjunktur nicht ins Bodenlose fiele. Deshalb lautete dieses Mal die Devise: »Rettet die Weltkonjunktur.«

Viele Regierungen handelten sich damit ein neues Problem ein. Sie strapazierten ihre Staatsfinanzen derart stark, dass deren Tragfähigkeit in Frage gestellt wurde. Um die privaten Finanzdienstleistungsunternehmen von ihren erdrückenden Lasten zu befreien, nahmen die Staaten ehemals private Schulden in ihre Bücher. Obendrein verteilten sie geborgtes Geld, um Konsum und Investitionen anzukurbeln. In die Freude über die geglückte Banken- und Konjunktur-Rettung mischte sich deshalb die Sorge, einige Staaten könnten sich übernommen haben. Tatsächlich zogen die Zinsen für Staatsanleihen der Länder mit hohen Schuldenständen (besonders betroffen: Griechenland) markant an. Unter Finanzmarkt-Experten gilt dies als Zeichen dafür, dass das Risiko eines Staatsbankrotts gestiegen ist. Kapitalgeber fordern für höhere Risiken Extraprämien, also höhere Zinsen. Mit den drohenden Staatsbankrotten hatte die Krise ein neues Stadium erreicht. Folgerichtig hieß es nun: »Rettet die Staaten.«

Doch wer kann helfen, wenn ganze Staaten in Bedrängnis geraten? Da die benötigte Hilfe nicht vom Himmel fällt, gibt es drei Möglichkeiten. Erstens: Die angeschlagenen Länder versuchen, sich selbst zu helfen. Sie können den finanziellen Gürtel enger schnallen und unbequeme Reformen umsetzen, um gestärkt aus der Krise hervorzugehen. Zweitens: Starke Länder helfen den schwachen Ländern. Drittens: Wenn Hilfe von außen versagt wird und für Selbsthilfemaßnahmen die Zeit fehlt, bleiben als letzte Instanz noch die Zentralbanken.

Ein Blick auf die hoch verschuldeten Länder zeigt: Es werden alle drei Rezepte ausprobiert. So versucht Großbritannien aus eigener Kraft, die Krise zu bewältigen. Die Schulden sollen mit Hilfe von Sparprogrammen und Strukturreformen abgebaut werden. Unterstützt wird die britische Regierung von der Notenbank, die Staats- und Unternehmensanleihen kauft, um die Zinsen künstlich zu drücken. Im Gegensatz zu Großbritannien verlassen sich die USA bisher ausschließlich auf ihre Notenbank. Während die Wirtschaft ungehemmt mit immer neuen Schulden angekurbelt wird, stellt die Zentralbank die nötige Finanzierung mit dem Ankauf von Staatsanleihen sicher und hält gleichzeitig die Zinsen niedrig. In Europa schließlich helfen im Rahmen des »Rettungsschirms« (EFSF)[1] die (relativ) starken Länder den Schuldenstaaten in der Euro-Peripherie. Die stärkeren Länder übernehmen gewissermaßen die Funktion einer Rückversicherung. Und auch die EZB wurde in die Rettungsaktion einbezogen. Ihre Aufgabe war es, Anleihen der Krisenländer aufzukaufen, um die Zinsen zu senken. Denn hohe Zinsen sind Gift für hoch verschuldete Staaten.

Bis heute hat die Rettungspolitik ihr unmittelbares Ziel erreicht und den Kollaps des globalen Finanzsystems sowie den Zerfall der Eurozone verhindert. Doch bei vielen professionellen Beobachtern und bei den Bürgern hat das Vorgehen erhebliches Unbehagen verursacht und drängende Fragen aufgeworfen. Es scheint, als würden Probleme nicht gelöst, sondern lediglich verschoben. Aber wohin können die Probleme überhaupt noch verschoben werden, wenn bereits ganze Staaten am finanziellen Abgrund stehen? Besorgte Bürger fragen sich: Wer soll das bezahlen? Wer rettet im Ernstfall die Retter? Wer rettet UNS? Oder bekommt das Handelsblatt mit seiner düsteren Prognose recht, wenn es am 3. Februar 2011 »Wir retten uns zu Tode« titelt?

Ad-hoc-Experimente

Nicht nur der aufgetürmte Schuldenberg gibt Anlass zur Sorge. Die Art und Weise, wie die wirtschaftspolitischen Akteure versuchten und versuchen, der Krise Herr zu werden, stößt verbreitet auf Skepsis. Viele der ergriffenen Maßnahmen stehen in keinem Standard-Rezeptbuch für Wirtschaftspolitik. Mit zunehmender Dauer verfestigt sich der Eindruck, die Politik versucht sich mit Ad-hoc-Experimenten durch die Krise zu schlagen. Wirtschaftspolitische Tabus, für viele Ökonomen von nahezu grundgesetzlichem Charakter, wurden einfach beiseitegefegt. Mit anderen Worten:

Die Wirtschaftspolitik befindet sich im Ausnahmezustand!

Besorgte Bürger bangen um ihr Geld. Politiker müssen der Bevölkerung höchst unpopuläre Entscheidungen vermitteln. Gleichzeitig ist die wissenschaftliche Debatte so aufgeheizt wie zuletzt vor dem Abschied von der D-Mark. Ökonomen appellieren offen an die Regierung, was zu tun ist, um den Euro zu retten (so: Fuest et al. 2010). Angesichts der Tragweite mancher Entscheidungen schlossen sich auf dem Höhepunkt der Euro-Krise über 300 deutsche Volkswirtschaftsprofessoren im Internet zu einer elektronischen Vollversammlung, dem »Plenum der Ökonomen« zusammen.[2] Gemeinsames Ziel: die Politik in drängenden volkswirtschaftlichen Fragen sachkundig zu beraten. Offenkundig war das Unbehagen über die deutsche Wirtschaftspolitik unter Ökonomen so groß geworden, dass die bisherigen Beratungsgremien – Sachverständigenrat (»Fünf Wirtschaftsweise«) und wissenschaftliche Beiräte der Ministerien – für nicht mehr ausreichend befunden wurden.

Wenn in einem Land, das seit Walter Eucken und Ludwig Erhard ordnungspolitisch fest verwurzelt ist, ordnungspolitisches Porzellan – wie das Bailout-Verbot in der Eurozone, also das Verbot, einem wirtschaftlich strauchelnden EU-Staat unter die Arme zu greifen – zerschlagen wird, darf aufkommende Unruhe nicht überraschen. Ordnungspolitik bedeutet, dass der Staat einen wirtschaftlichen Ordnungsrahmen vorgibt, innerhalb dessen sich die wirtschaftlichen Akteure frei entfalten können. Mit anderen Worten: Der Staat bestimmt die Spielregeln und überwacht deren Einhaltung, er spielt aber selbst nicht mit. Dieses Modell hat sich bewährt: Bei einem stabilen, verlässlichen Ordnungsrahmen führt der Wettbewerb der wirtschaftlichen Akteure zu größtmöglichem Wohlstand (vgl. dazu ausführlich Kapitel 2).

Seit 2008 kam es allerdings immer häufiger zu Verstößen gegen den Grundsatz, dass der Staat lediglich einen verlässlichen Ordnungsrahmen setzt. Die Regierungen griffen aktiv in das Geschehen ein, weil das Spiel offensichtlich in die falsche Richtung lief. Zudem wurden während des laufenden Spiels die Spielregeln verändert. Manche dieser Regeländerungen sind von so großer Bedeutung, dass sie den Charakter des Spiels auf den Kopf stellen. Das Bailout-Verbot war für die Eurozone ungefähr so prägend wie beim Fußball das Verbot des Handspiels.

Der Zwang zu retten und »Moral Hazard«

Bei den Rettungsarbeiten sind Maßnahmen ergriffen worden, die an die Grundfesten unserer Wirtschaftsordnung gehen. Zur Rechtfertigung werden immer wieder zwei Schlagworte genannt: »systemrelevant« und »alternativlos«. Als systemrelevant gilt ein Unternehmen oder ein Land, wenn sein ökonomisches Scheitern so große Auswirkungen hat, dass das Wirtschaftssystem als Ganzes destabilisiert wird oder sogar zu kippen droht. Um es deutlich zu sagen: Systemrelevant sind nicht Ereignisse, die Einzelschicksale hervorbringen. Systemrelevant sind Ereignisse, die das Schicksal aller betreffen – auf nationaler, im Extremfall sogar auf globaler Ebene.

Banken nehmen im Wirtschaftssystem eine besondere Rolle ein. Bankenkrisen stören die reibungslose Versorgung der Wirtschaft mit Krediten und den reibungslosen Zahlungsverkehr. Sie werden damit zu einer ernsten Bedrohung für die Konjunktur und können – wie im Fall der Lehman-Insolvenz gesehen – das globale Finanzsystem an den Rand des Kollapses führen. Die Lehman-Insolvenz ist damit im Nachhinein ein Paradebeispiel für Systemrelevanz.

Dabei kann sich, wer oder was als systemrelevant gilt, im Zeitablauf ändern. Ein Land von der Größe Griechenlands würde die Weltfinanzmärkte unter »normalen« wirtschaftlichen Umständen kaum übermäßig beschäftigen. Ist das Finanzsystem aber angeschlagen und vom Vertrauensverlust bedroht wie in den Jahren seit 2009, ist selbst das wirtschaftlich kleine Griechenland systemrelevant.

Von »systemrelevant« zu »alternativlos« ist es nur ein kleiner Schritt. Droht ein systemrelevantes Ereignis, gibt es keine Wahl. Es muss gehandelt werden, um größeren Schaden abzuwenden. Dazu waren während der Krise wegen der Notwendigkeit, rasch und mit Wucht zu handeln, allzu oft nur Notenbanken und die finanziell relativ solide aufgestellten Staaten in der Lage. Sie hatten keine Alternative zu den Rettungen der Banken, der Weltkonjunktur und schließlich der angeschlagenen Staaten. Dass sie dabei gegen selbst gesetzte Regeln verstoßen hat, ist schmerzlich. Auch wir sehen vieles kritisch. Doch muss man den Entscheidungsträgern mindestens zugutehalten, dass sie unter höchstem Zeitdruck handelten und dass gewaltige Gefährdungslagen zu kontrollieren waren.

Als es brannte, war nicht die Zeit, um über die richtige Organisation der Feuerwehr zu diskutieren. Es musste gelöscht werden. Selbstverständlich ist es ordnungspolitisch nicht angemessen, Banken zu retten, die zuvor über die Maßen riskant gewirtschaftet hatten. In einem marktwirtschaftlichen System muss Misserfolg sanktioniert werden, genauso wie Erfolg zu belohnen ist. Doch Dogmatismus hätte an dieser Stelle nicht nur die Richtigen bestraft, sondern viele Unschuldige ins Verderben gerissen. Wir wären wohl mit fliegenden »ordnungspolitischen« Fahnen in den Abgrund gestürzt. Durch eine Politik des »laissez faire« wären also nicht nur diejenigen Akteure bestraft worden, die zuvor gesündigt hatten, sondern auch zahlreiche Unbeteiligte. Die Rettung der Sünder war hierbei bedauernd, aber billigend in Kauf zu nehmen.

Aber aus dieser schmerzlichen Erfahrung einer übermäßig teuren Rettungsaktion sind dringend Schlussfolgerungen abzuleiten, die eine Wiederholung solcher Ereignisse vermeiden helfen. So ist es zweifellos Aufgabe der Wirtschaftspolitik zu verhindern, dass Banken und andere Unternehmen so groß werden oder dass sie so vernetzt sind, dass im Falle des geschäftlichen Scheiterns ihre Insolvenz wegen gesamtwirtschaftlicher Effekte nicht zugelassen werden kann. Die Politik muss Vorkehrungen treffen, dass sie im Ernstfall nicht erpressbar ist. Solche Schritte muss man aber nach dem Löschen des Brandes gehen. Versäumnisse der Vergangenheit lassen sich nicht dadurch heilen, dass in der höchsten Not Öl ins Feuer gegossen wird. Sonst multipliziert man die Lehman-Effekte.

Deshalb war es gerechtfertigt, auf dem Höhepunkt der Krise pragmatisch zu handeln. Prinzipientreue und ordnungspolitisch saubere Lösungen machen wenig Sinn, wenn das Kind im Brunnen liegt. Aber es gilt auch: Dies war in einer Ausnahmesituation zulässig, darf aber nicht als wiederholbar eingeschätzt werden. Staatlicher Schutz für systemrelevante Unternehmen provoziert ein »Moral Hazard«-Verhalten (vgl. dazu ausführlicher den Abschnitt »Kreditverbriefung« in Kapitel 3, Seite 127): Wer darauf setzen kann, im Ernstfall vom Staat aufgefangen zu werden, ist geneigt, dies als Einladung zu verstehen, höhere Risiken einzugehen, als er aus eigener Kraft stemmen kann. Hohe Gewinnchancen und geringe Risiken, weil im Schadenfall die Gemeinschaft haftet – das ist eine Einladung zu Casino-Mentalität, nicht aber die Grundlage für eine nachhaltige Wirtschaftsordnung.

Die Lage, in die die wirtschaftspolitischen Instanzen nach Lehman geraten sind, offenbarte nicht allein, dass vorangegangene Weichenstellungen privatwirtschaftliches Fehlverhalten gefördert haben. Gleichzeitig haben die Zentralbanken und der Finanzminister die Chance verspielt, in Freiheit das auf Dauer Richtige zu tun. Freiheit bedeutet nämlich, Wahlmöglichkeiten zu haben. Für jeden Freund wirtschaftlicher und politischer Freiheit ist Politik, die keine Alternative zur Rettung hat, ein Graus. Viele Deutsche empfinden den Begriff »alternativlos« bereits als Zumutung. »Alternativlos« wurde deshalb von Sprachkritikern zu Recht zum »Unwort des Jahres 2010« gewählt. Besonders Bundeskanzlerin Merkel stand in der Kritik, weil sie politische Entscheidungen – wie zum Beispiel die Griechenland-Hilfe – mehrfach damit begründete, das Vorgehen sei alternativlos. Dem ist entgegenzuhalten:

Ein Land, das nur noch die Option zu retten hat, befindet sich in Geiselhaft!

Die Ereignisse an den Märkten für Staatspapiere (dort verfielen die Wertpapierkurse für Länder, deren Finanzpolitik als unsolide galten) und an den Devisenmärkten (der Euro galt als Wackelkandidat) hat auch die Europäische Zentralbank in einen akuten Zwang zu raschem und wuchtigem Handeln gebracht. Die Bedienung von Staatsschulden und der Fortbestand der Währungsunion standen zur Debatte. Dies galt umso mehr, als eine schnelle und alle überzeugende Absicherung durch die Regierungen der EU nicht gesichert war. Die EZB konnte rasch und gezielt handeln. Freilich sind solche Schritte nicht ohne Nebenwirkungen. Erwirbt die Zentralbank potenziell wertlose Papiere, tritt sie in ein Solvenzrisiko ein. Dies ist sicher nicht ihre Aufgabe. Die Zentralbank ist zu Recht »lender of last liquidity«, nicht aber »lender of last solvency«. Dies muss die Regierung und letztlich das Parlament unter der permanenten Kontrolle der Bürger als Wähler tun. Diese Vermischung von Rollen wird auch nicht dadurch akzeptabler, dass dies alle tun: Japan, England, die USA.

Mit dem Ankauf von Staatsanleihen riskiert die EZB ihre Unabhängigkeit. Sie wird als Folge öffentlich in Frage gestellt.[3] Wenige Tage vor dem Beschluss, Staatsanleihen anzukaufen, hatte die EZB bereits einen aufsehenerregenden Schritt gemacht: Sie akzeptierte erstmals griechische Anleihen mit Ramsch-Status als Sicherheiten für Ausleihungen an Banken. Man muss nicht so weit gehen, direkte politische Einflussnahme zu unterstellen. Tatsache ist aber, dass sich die EZB unter dem Druck der Märkte zum Handeln gezwungen sah. Da die Griechenland-Krise ohne die vorausgegangenen politischen Fehler – der griechischen Schuldenpolitik war von Seiten der EU tatenlos zugesehen worden – nicht ausgebrochen wäre, kam der Druck auf die EZB zumindest indirekt von der Politik. Für die EZB steht der gute Ruf auf dem Spiel. Sie muss deshalb unmissverständlich klarmachen, dass die Notoperation des Jahres 2010 einen extremen Ausnahmefall darstellt und sie sich umgehend von dieser Politik verabschiedet.

Die Rettungspolitik der letzten Zeit wirft auch Gerechtigkeitsfragen auf. Wie ist es zu vereinbaren, dass Privatanleger mit Lehman-Zertifikaten auf ihren Verlusten sitzenbleiben, während alles unternommen wird, Banken und institutionelle Investoren vor Verlusten aus Geschäften mit Staatsanleihen zu schützen? Müssten nicht Banken genauso für Verluste haften wie Privatanleger? Ja, das müssen sie. Banken sind grundsätzlich nicht anders zu behandeln als Einzelinvestoren. Die Ausnahme lautet: Systemrelevanz. Sobald ein Unternehmen oder ein Land nicht mehr systemrelevant ist, muss die Sonderbehandlung abgesetzt werden. Deshalb darf auch Griechenland nicht auf Dauer gestützt werden, sondern nur so lange, wie eine Ansteckung anderer Länder zu befürchten ist. Und in jedem Fall müssen alle Register gezogen werden, dass jene, deren Rettung gewährt wird, jene Politik, die in die Schwierigkeiten geführt hat, sofort korrigieren. Die Hilfe muss also konditionierte und zeitlich befristete Hilfe sein.

Risiken und Nebenwirkungen

Der Verlust der Glaubwürdigkeit

Die wirtschaftspolitische Medizin hat in weiten Teilen gewirkt wie erhofft. Im Dauereinsatz hat sie jedoch gefährliche Nebenwirkungen. Nicht weniger als die Glaubwürdigkeit der Regierungen und Notenbanken steht auf dem Spiel.

Bewährte Regeln müssen eingehalten, Versprechen müssen eingelöst werden.

Wer dies ohne Not nicht tut, verliert seine Glaubwürdigkeit. Wer nicht glaubwürdig ist, verliert das Vertrauen der Bürger und Marktteilnehmer. Griechenland hat schmerzlich erfahren, wie schnell eine Nation an den wirtschaftlichen Abgrund gerät, wenn das Vertrauen verloren und der Zugang zum Kapitalmarkt abgeschnitten ist. Bürger und Kapitalmarktakteure müssen sich also darauf verlassen können, dass ab sofort die Spielregeln wieder eingehalten werden.

Was die Marktteilnehmer indes von der Verlässlichkeit politischer Zusagen halten, zeigt nachfolgende Abbildung auf Seite 26. Sie gibt Auskunft über die Zinsdifferenz von griechischen zu deutschen Staatsanleihen (Laufzeit: zwei Jahre). Die Zinsdifferenz gibt an, wie viel höhere Zinsen die griechische Regierung aufbringen muss, wenn sie am Kapitalmarkt Kredite aufnehmen möchte. Sie gibt indirekt aber auch Auskunft über die Sichtweise der Kapitalmarktteilnehmer bezüglich der unterschiedlich hohen Ausfallrisiken. Bis Dezember 2009 wurde die Wahrscheinlichkeit eines Zahlungsausfalls für Griechenland offensichtlich kaum höher eingeschätzt als für Deutschland. Dies signalisiert eine recht naive (oder zynische) Sichtweise der Märkte, analysiert man die schon lange unterschiedliche Qualität der Finanzpolitik der europäischen Länder. Wer freilich (zynisch) schon immer die No-Bailout-Regel bezweifelte, handelte rational.

Diese Einschätzung änderte sich gründlich, als die damals neue Regierung weitaus höhere Defizitzahlen einräumte und Griechenland deshalb von den Ratingagenturen herabgestuft wurde.[4] Die Risikoprämien schnellten in die Höhe. Am Freitag, dem 7. Mai 2010, stieg der Zinsabstand zu deutschen Anleihen mit zweijähriger Laufzeit auf fast 18 Prozentpunkte. Nachdem am Wochenende des 8./9. Mai 2010 auf dem Sondergipfel des Europäischen Rats der EU-Rettungsschirm sowie der Kauf von Staatsanleihen durch die EZB beschlossen wurden, fiel die Zinsdifferenz am Montag, dem 10. Mai 2010, wie ein Stein auf unter sieben Prozentpunkte.

Quelle: Bloomberg

Ein Rettungspaket dieser Größenordnung hatte fast niemand erwartet. Die unmittelbare Marktreaktion – drastisch sinkende Risikoprämien – war nicht überraschend. Erstaunlich war, was danach passierte. Der EU-Rettungsschirm ist bis Mitte 2013 eingerichtet. Bis zu diesem Zeitpunkt soll er Zahlungsausfälle von EU-Teilnehmerstaaten verhindern. Die Anlage in kurzlaufenden griechischen Staatsanleihen war den Beschlüssen der EU zufolge fortan ein risikoloses Investment. Folglich hätten die Risikoprämien für Anleihen, die vor Mitte 2013 zurückgezahlt werden, noch weiter sinken und auf niedrigem Niveau bleiben müssen. Schließlich waren sie durch den Rettungsschirm potenziell gesichert.

Das Gegenteil ist eingetreten: Die Risikoprämien stiegen schon kurz danach wieder. Im Sommer 2011 stieg die Zinsdifferenz zwischen Griechenland und Deutschland für zweijährige – also vom Rettungsschirm potenziell gesicherte – Staatsanleihen zeitweilig auf über 70 Prozentpunkte. Investoren fürchteten also erneut, sich an griechischen Anleihen die Finger zu verbrennen – und das trotz des EU-Versprechens, bis Mitte 2013 die Hand schützend über Griechenland und andere hoch verschuldete Euro-Länder zu halten. Gemessen an der griechischen Zinsentwicklung war das Rettungspaket verpufft. Die Marktteilnehmer empfanden den Rettungsschirm also offensichtlich zunehmend als unglaubwürdig.

Was genau wurde angezweifelt? Das abgegebene Versprechen, Staatsbankrotte bis Mitte 2013 abzuwenden? In dem Fall hätte die Europäische Union ein gewaltiges Problem, denn politische Beschlüsse würden augenscheinlich nicht ernst genommen – mit entsprechend negativen Konsequenzen für das künftige Krisenmanagement. Oder wird gar bezweifelt, dass die EU und die Euro-Teilnehmerländer finanziell in der Lage sind, den Rettungsschirm im Notfall aufzuspannen? Das würde bedeuten, dass die Marktteilnehmer den Rettungsschirm nur für eine Chimäre halten.

Ob nun der Wille oder die Fähigkeit, Zusagen einzuhalten, angezweifelt wird, beides sind ernstzunehmende Alarmsignale. Wahrscheinlich zweifelten die Marktakteure den Willen der teilnehmenden Regierungen an. Die Vergangenheit hatte schon mehrfach gezeigt, dass Versprechen und Verträge gebrochen werden, wenn es die wirtschaftliche oder politische Wetterlage erfordert. Mit der »freiwilligen« Beteiligung privater Investoren an der Griechenland-Rettung im Sommer 2011 wurde deutlich, dass die Zweifel am Rettungsschirm berechtigt waren. Gegen den zweiten Fall – also die mangelnde Fähigkeit, zu seinen Zusagen zu stehen – spricht, dass die erste Anleihe-Emission des »Rettungsschirms« EFSF auf reges Interesse an den Anleihemärkten gestoßen ist. Anleger schätzen die Kreditwürdigkeit des EFSF also offensichtlich hoch ein.

In Sachen Glaubwürdigkeit gilt ein zentraler Punkt: Jeder, ob Politiker, Finanzmarktakteur oder Privatperson, sollte sich vor Augen halten, dass Verhandlungen selten nach einer Runde beendet sind. Immer sind die folgenden Runden zu bedenken. Das Verhalten in den ersten Spielrunden begründet die Reputation eines Spielers für die nächsten Runden. Wer falsch spielt, wird fortan unter Beobachtung gestellt. Die Mitspieler stellen sich auf das gezeigte Verhalten ein. Kinder verstehen früh: »Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht und wenn er doch die Wahrheit spricht.« Viel wäre gewonnen, wenn auch Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik diese einfache Weisheit beherzigten.

Der Vertrauensschaden ist nicht die einzige unerwünschte Nebenwirkung des EU-Rettungsversuchs nach Mai 2010. Angesichts der Vermeidung eines Staatsbankrotts besteht die Gefahr, dass die Gestaltungsfähigkeit der Politik überschätzt wird. Daraus ergibt sich für die Steuerung wirtschaftlicher Prozesse die Vermutung eines auf Dauer stärkeren Einflusses des Staates. Marktwirtschaftliche Lösungen geraten als Entdeckungsverfahren ins Hintertreffen. Erfahrungsgemäß liefert der Markt jedoch in den meisten Fällen die besseren Ergebnisse als der Staat – trotz aller Negativ-Erlebnisse während der Finanzkrise. Deutschland hat seit den siebziger Jahren unter einem zu hohen Staatsanteil in der Wirtschaft gelitten. Erst als die deutsche Wachstumsschwäche, die Arbeitslosigkeit und die Haushaltsdefizite nicht mehr zu übersehen waren, war Deutschland bereit für wachstumsfreundliche Reformen. Wir können es uns nicht leisten, diesen mühsam erzielten Erfolg – etwa der Hartz-Reformen und der Agenda 2010 – wieder herzugeben.

Suchtgefahr

Die Liste der Nebenwirkungen ist länger: Es droht Suchtgefahr. Geld- und finanzpolitischen Spritzen wirken wie Drogen: Sie machen »high«. Was so aufgekratzt macht, gibt man freiwillig nur ungern wieder her. Je länger die Drogen verabreicht werden, desto mehr laufen wir Gefahr, von ihnen abhängig zu werden.

Vielleicht sind wir es ja schon? Die Notenbanken zieren sich vielerorts jedenfalls, den Zins auf inflationsverträgliche Niveaus zu heben. Stattdessen sind sie immer wieder zu Feuerlöscharbeiten gezwungen. Und die Regierungen und Parlamente türmen auf bereits turmhohe Staatsschulden weitere Riesenbeträge, um Banken, Konjunktur und Klima zu retten.

In den Krisenländern der Euro-Peripherie aber gibt es zumindest erste erfreuliche Anzeichen. Die Haushaltsdefizite werden zurückgeführt, allerdings liegen sie auf weiter bedenklich hohem Niveau. Auch in Deutschland hat der Finanzminister Grund zur Freude, weil der Konjunkturaufschwung die Steuereinnahmen sprudeln lässt. Die Haushaltsdefizite werden also 2011 – wie schon 2010 – niedriger ausfallen, als zwischenzeitlich befürchtet worden war. Allerdings: Die Herausforderungen, die sich in den rasch und markant alternden Ländern aus den absehbaren demographischen Umwälzungen ergeben, werden noch immer ausgeblendet. Deshalb dürfen wir uns von Anfangserfolgen in der Haushaltspolitik und dem schönen Schein der Jahre 2010/2011 nicht blenden lassen. Niedrigstzinsen und konjunkturschonende Finanzpolitik helfen dem Patienten auf die Beine; auf Dauer vergiften sie ihn aber. Deshalb muss es nun heißen:

Droge Schulden – absetzen!

In Deutschland wurde viel über die globale Wirtschaftskrise geredet und geschrieben. Ist sie deshalb auch in den Köpfen angekommen? Als die Wirtschaft 2009 um knapp 5 Prozent schrumpfte, war die Alarmstimmung groß. Der Untergang schien nah. Dank Kurzarbeiterregelung hat die Krise den Arbeitsmarkt jedoch nie richtig erreicht. Schon 2010 erholte sich die Konjunktur unerwartet dynamisch. Entsprechend sanken die Arbeitslosenzahlen überraschend stark. Offensichtlich sind wir in Deutschland mit einem blauen Auge davongekommen. Dennoch war die Krise kein Phantom. Schon der Blick ins europäische Ausland offenbart die entstandenen Schäden. Griechenland, Irland und Portugal kämpfen gegen den Staatsbankrott. Die Bürger dieser Länder müssen schmerzhafte, wenngleich oftmals überfällige Einschnitte akzeptieren. Reformen werden im Eilverfahren umgesetzt. Noch lässt sich nicht beurteilen, ob die Maßnahmen ausreichen. Zumindest aber gehen sie in die richtige Richtung.

Aber die Betroffenheit in Bezug auf die Krise endet nicht bei dieser Gruppe von Ländern. Auch Länder außerhalb der Eurozone sind in ähnlichen Turbulenzen, so etwa Großbritannien oder Ungarn. Und auch Länder, die von den Kapitalmärkten noch nicht abgestraft werden, finden sich in beachtlicher Spannung und reagieren mit einer Politik der Konsolidierung – mit entsprechenden Dämpfungseffekten für das Wachstum – wie etwa Italien.

Die deutsche Einstellung ist offenbar, die Schuldenkrise betreffe uns nur so weit, wie wir mit unseren Steuergeldern für die Schulden der angeschlagenen Euro-Staaten einstehen müssen. Das müssen wir gegebenenfalls tatsächlich. Viel bedrohlicher ist jedoch, dass in der Krise viele Länder ihr Pulver für die Rettungskanonen weitgehend verschossen haben. Die öffentliche Verschuldung stößt an ihre Grenzen. Darunter leidet die Möglichkeit, in Zukunft auf wirtschaftliche Störungen zu reagieren. Konjunktureinbrüche, Naturkatastrophen – siehe jetzt etwa Japan – und Finanzkrisen werden uns auch künftig nicht erspart bleiben. Mit staatlicher Kreditaufnahme lassen sich solche Krisen schnell und wirkungsvoll eindämmen. Allerdings haben nur Länder mit relativ gesunden Staatsfinanzen uneingeschränkten Zugang zum Kapitalmarkt und können der Zukunft relativ gelassen entgegensehen. Viele Regierungen müssen deshalb nicht nur die gegenwärtige Krise überstehen, sie müssen sich auch ein finanzielles Sicherheitspolster zulegen.

USA: Drahtseilakt ohne Fangnetz

Deutschlands Schuldenstand ist zu hoch, aber zumindest im internationalen Vergleich derzeit noch nicht alarmierend. Noch droht uns keine hausgemachte Schuldenkrise. Aber wir verfügen nicht über die nötigen Reserven, um den hoch verschuldeten Staaten dieser Welt den nötigen Halt geben zu können. Für uns geht die eigentliche Gefahr nicht von Griechenland oder von Portugal aus.

Mittelfristig – möglicherweise sogar schon kurzfristig – lauert die eigentliche Gefahr in den USA!

Die Amerikaner betreiben einen Drahtseilakt ohne sichtbares Fangnetz. Sie verabreichen seit Jahren Finanz-Doping ohne jegliche Hemmung. Schon vor der Krise hatten die USA Leitzinssenkungen als Allheilmittel für jedes ökonomische Problem gesehen. Die Blase am Immobilienmarkt war eine Folge davon. Als die Blase platzte, wurden die Aufräumarbeiten in der amerikanischen Wirtschaft mit Schulden finanziert. Außerdem lockerte die US-Notenbank erneut die Geldpolitik – nun auch auf unkonventionelle Weise: Sie kaufte amerikanische Staatsanleihen und finanzierte damit den öffentlichen Haushalt. Inzwischen ist die Notenbank dadurch zum größten Gläubiger der amerikanischen Regierung geworden.

Mit dieser Politik wurde eine Illusion am Leben gehalten. Bis zur Finanzkrise lebten die Amerikaner mit einer Vermögensillusion, weil sie sich durch die Übertreibungen bei den Hauspreisen reicher fühlen durften, als sie tatsächlich waren. Statt die Realität zu akzeptieren, entschied sich der Staat dafür, seinen Bürgern mit laxer Finanzpolitik weiterhin einen Reichtum zu suggerieren, den es eigentlich nicht gibt. Während der Finanzkrise waren Staatsausgaben als konjunkturbelebende Maßnahme durchaus gerechtfertigt. Es ging darum, die Schockstarre nach dem Lehman-Kollaps zu überwinden. Die Amerikaner scheinen jedoch so viel Gefallen an der Medizin gefunden zu haben, dass sie nicht mehr auf sie verzichten möchten. Damit wird Medizin zur Droge. Aber auch für die USA gilt: Drogen machen high, aber nicht gesund.

Die amerikanischen Kennzahlen zur öffentlichen Verschuldung haben es in sich: Vor Ausbruch der Krise lag der Schuldenstand noch bei rund 65 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und damit gleichauf mit der deutschen Verschuldung. Seither ist der Wert hierzulande auf rund 80 Prozent gestiegen, in den USA dagegen auf knapp 100 Prozent. Während die jährliche Neuverschuldung in Deutschland und in den anderen europäischen Staaten bereits zurückgeführt wird, halten die USA ihre finanzpolitischen Schleusen weit offen. Der IWF erwartet für 2011 ein US-Haushaltsdefizit von 9,6 Prozent. Zum Vergleich: Selbst unser größtes Sorgenkind Griechenland steht mit 8 Prozent besser da. Und Spanien, das gelegentlich als weiterer Kandidat für die Inanspruchnahme des EU-Rettungsschirms gilt, fährt 2011 mit einem erwarteten Defizit von 6,1 Prozent einen deutlich seriöseren haushaltspolitischen Kurs als die USA. Dies hat Folgen für den Gesamtschuldenstand: Die USA werden 2012 die 100-Prozent-Marke überschreiten. Am Jahresende 2012 werden die Schulden des amerikanischen Staates somit der Wirtschaftsleistung eines kompletten Jahres entsprechen. Hinzu kommen in den USA die im internationalen Vergleich hohen Schulden des Privatsektors.

In Europa läuten angesichts der Schulden die Alarmglocken. Mit bangem Blick wurde, bzw. wird jede Anleiheemission in Portugal, Spanien oder Italien verfolgt. Immer wieder wurde die Frage gestellt, ob der gewaltige Rettungsschirm im Ernstfall für die klammen europäischen Länder ausreichen würde oder ob er aufgestockt werden muss. »Bricht der Euro auseinander?«, war eine der meistgestellten Fragen der Jahre 2010/2011.

Dagegen blieb es auf der anderen Seite des Atlantiks lange ruhig. Einen ersten Weckruf gab es Anfang 2011 vom amerikanischen Finanzminister Timothy Geithner. Er mahnte an, dass die gesetzlich festgeschriebene Schuldengrenze von maximal 14,3 Billionen US-Dollar erhöht werden müsste, weil den USA sonst schon im ersten Halbjahr 2011 die technische Zahlungsunfähigkeit drohen würde. Der amerikanische Notenbank-Präsident, Ben Bernanke, schlug kurze Zeit später in die gleiche Kerbe. Mediale Überschriften wie »Geithner warnt vor Staatsbankrott« klangen dramatisch. Die Reaktion an den Märkten war es zunächst nicht. Der Dollar-Wechselkurs zuckte nur kurz. Auch die Anleihemärkte waren nicht beeindruckt.

Wie ist die Gleichmütigkeit der Märkte gegenüber der US-Schuldenlage zu erklären? Immerhin verfügt der US-Dollar im Gegensatz zum Euroraum über keinen Rettungsschirm. Mit Blick auf die Äußerung von Finanzminister Geithner ist zu berücksichtigen, dass er lediglich vor einem technisch-juristisch verursachten Staatsbankrott gewarnt hat. In so einem Fall droht die Zahlungsunfähigkeit nicht, weil potenzielle Kapitalgeber die Kreditwürdigkeit bezweifeln und das Land dadurch keinen Zugang zum Kapitalmarkt mehr bekommt. Der Punkt ist, dass sich die USA per Gesetz Grenzen auferlegt hatten, die sie zu überschreiten drohten. Ein solcher Staatsbankrott kann leicht abgewendet werden, indem die Grenze per Kongress-Beschluss erhöht wird. Allerdings: Eine Schuldengrenze, die nie zur Anwendung kommt, sollte nicht erhöht, sondern abgeschafft werden, denn sie ist unglaubwürdig und wertlos. In sprichwörtlich letzter Sekunde einigten sich die zerstrittenen Parteien im August 2011 auf eine Anhebung der Schuldengrenze. Die extrem halsstarrige Haltung führte schließlich doch zu großer Nervosität an den Finanzmärkten.

Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob und wann den USA letztlich der ökonomische, also der echte Staatsbankrott drohen könnte. Sehr lange haben sich die Kapitalgeber von den Schulden scheinbar nicht schrecken lassen. Die Renditen amerikanischer Staatsanleihen notierten auf niedrigem Niveau, wozu allerdings die Notenbank mit dem Aufkauf von Anleihen ihren Beitrag geleistet hat. Risikoprämien sind deshalb nicht angemessen eingepreist. Auch der Wechselkurs des US-Dollars konnte sich gegenüber dem Euro trotz aller geldpolitischen Eskapaden der Notenbank FED lange Zeit erstaunlich stabil halten. Man kann argumentieren, dass die USA den modernsten und tiefsten Kapitalmarkt der Welt haben und mit dem Dollar über die Weltleitwährung verfügen. Damit genießt Amerika ein viel größeres Vertrauen als kleine Länder, die ähnlich hohe Schulden haben.

Dass der Gegenwind für die USA noch nicht stärker ist, hat aber wahrscheinlich noch einen besonderen Grund: Die USA