37,99 €
Dieser Band I der Werkausgabe enthält neben allen Gedichten, die der Autor zu Lebzeiten in Büchern, Zeitschriften, Zeitungen und an entlegeneren Orten veröffentlichte, auch sämtliche 120 im persönlichen Archiv Heiner Müllers hinterlegten unveröffentlichten Gedichte. Erstmals wird hiermit das gesamte lyrische Schaffen des Autors im Zusammenhang vorgestellt. Heiner Müller hat an der Vorbereitung dieses Bandes noch selbst teilgenommen, Material gesichtet und geordnet. Es entspricht seinem Wunsch, daß diese Ausgabe dem Prinzip »brutaler Chronologie« folgt.
Bitte beachten Sie: Der Band enthält zwei Gedichte, die nicht von Heiner Müller, sondern von Günter Kunert stammen. Es handelt sich um die Texte »Impressionen am Meer« und »Die Uhr läuft ab«. Der Fehler wird in der nächsten Auflage des Bandes korrigiert.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 174
Veröffentlichungsjahr: 2023
Heiner Müller
Werke 1
Herausgegeben von Frank Hörnigk
Heiner Müller
Die Gedichte
Suhrkamp Verlag
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023
Der vorliegende Text folgt der Originalausgabe 1998
© 1998, Suhrkamp Verlag AG, Berlin
Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
eISBN 978-3-518-76611-8
www.suhrkamp.de
Inhalt
1949...
Auf Wiesen grün
LACH NIT ES SEI DANN EIN STADT UNTERGANGEN
UND ZWISCHEN ABC UND EINMALEINS
WOHIN?
BERICHT VOM ANFANG
BILDER
PHILOKTET 1950
GESCHICHTEN VON HOMER
GESPRÄCH MIT HORAZ
HORAZ
ÜBER CHAMISSOS GEDICHT »DIE ALTE WASCHFRAU«
Ein Mann ging sterben, nachts, im Kriege, der
ANNA FLINT
MISSOURI 1951
HUNDERT SCHRITT
FRAGE UND ANTWORT
UMSCHAU VON FREMDEN HÜGELN
Auf dem Weg in das Land mit
Der Kaiser braucht Soldaten, Vater
Ich war ein Held, mein Ruhm gewaltig
HEROISCHE LANDSCHAFT VARIATION AUF EIN THEMA VON MAO TSE TUNG
EPIGRAMME ÜBER LYRIK
ROMANZE
BALLADE
ZWEI BRIEFE
MAJAKOWSKI
BRECHT
LEKTION
OPER
L. E. ODER DAS LOCH IM STRUMPF
DER VATER
ALTES GEDICHT
SELBSTBILDNIS ZWEI UHR NACHTS AM 20. AUGUST 1959
ULYSS
MOTIV BEI A. S.
GEDANKEN ÜBER DIE SCHÖNHEIT DER LANDSCHAFT BEI EINER FAHRT ZUR GROSSBAUSTELLE »SCHWARZE PUMPE«
DIE ROTEN
DAN DEE
ORPHEUS GEPFLÜGT
DAS GLÜCK DER PRODUKTIVITÄT: SOLDATENBRAUT
ER WAR DER ERSTE BESTE
NAPOLEON ZUM BEISPIEL
DER GLÜCKLOSE ENGEL
1949... aus dem Nachlaß
KULTURFAHRT NACH CHEMNITZ
KINDERLIED
DEUTSCHES WIEGENLIED
RÄTSEL [1]
RÄTSEL [2]
FRAGE
DAS MÄDCHEN AM BRUNNEN
AUFBAULIEDER FÜR KINDER
BREMER KINDERLIED 1952
OBDACHLOSEN-LIEDER
KINDERLIED VOM TOTEN MANN IM DICKEN NEBEL
TRAKTORISTENLIED
DER ROTE PAPAGEI
DIE BAUERN WERDEN ZUM GERICHT ABTRANSPORTIERT
DIE BAUMBESCHNEIDUNG
FERKELSCHLACHTUNG
HERR DSCHU VERTEIDIGT SEIN EIGENTUM
HERR DSCHU UND SEINE AFFEN
HERR DSCHIN UND DIE GÖTTER
LIED VOM HOANG-HO
DREI VOLKSLIEDER
Heute früh zur Jagd ritt Shu
BUNTSCHUK I
BUNTSCHUK II
MAUSER
DER UND JENER
BRUCHSTEDT
DIE BEFREITEN
DIE FAHNE
Einsam
VON DEN WÄLDERN
BERLINER ELEGIEN
REUTLINGER ELEGIEN
Zwischen zwei zerschossene Wänd
DAS PFERD HAT KEIN GEWEHR
Vor dem Schlachthof stehend hörte ich die Rinder
Daß den gewählten Schlächtern nichts mißläng
Ein Lump, wer die Geliebte sitzenläßt
ÜBER DAS TABU DER VIRGINITÄT
EINUNDDREISSIG
ERSTER VERBESSERUNGSVORSCHLAG
ZWEITER VERBESSERUNGSVORSCHLAG
FRÜHLINGSLIED IM WINTER
Im Schatten
der uns einander zeigte
Die Vögel singen, wie im Frühjahr üblich
Meine Liebe ist stark
Sonne schien, als wir uns küßten, aber
In der ersten Nacht ging ein Regen nieder
Ein Schamhügel schwarz in der Dämmerung
GESPRÄCH ÜBER EINIGE SCHÖNHEITEN
ÜBER EINIGE TROMMLER
GRABSCHRIFT FALSTAFF
LEAR
FISCHKADAVER MIT SILBERBAUCH
LESSINGS »EMILIA GALOTTI«
SOLDATENBROT
Lieber Sohn, tritt ein in die Bundeswehr
Der Mann im Bombenflugzeug
Mutter Germanien zwischen Rhein und Elbe
AUF EINE MUTTER
BALLADE VOM STREIKBRECHER
OSTERFAHRUNG
DER DICHTER
PORTRÄT GENERAL RIDGWAY
PORTRÄT F. B.
KRITIK
ZWEI STERNE
LEGENDE VOM TOTEN MILCHMANN
DIE GESCHICHTE VOM DREHER JAKOB SCHMITT
1949... Übersetzungen
GRUSS AN KOREA
LIED ÜBER STALIN
DAS LIED VON STALIN
DER MARSCH DES 1. KORPS/1943
STIEFELEISEN, SPRÜHT NUN FEUER
HEJ, IHR KRAKAUER BURSCHEN
SEEMANNSLIEDCHEN
IM ARBEITERVIERTEL VON LAHORE
REDE DER SOWJETISCHEN SCHRIFTSTELLER AUF DEN GENOSSEN STALIN
EIN WORT AN DEN GENOSSEN STALIN
LIED SOWJETISCHER SCHULKINDER
MARSCH DER FREUNDSCHAFT
UNSER WAPPEN
EIN SOWJETMENSCH; GRADE UND SCHLICHT
1959...
ÖDIPUSKOMMENTAR
BABELSBERGER ELEGIE 1960
FILM
AN DIE BERGSTEIGER
SCHALL CORIOLAN
WINTERSCHLACHT 1963
FRAGEN FÜR LEHRER
NEUJAHRSBRIEF 1963
DT 64
KINDHEIT
E.L.
DU BIST GEGANGEN DIE UHREN
GESTERN HABE ICH ANGEFANGEN
STELLASONETT
MEDEASPIEL
FAHRT NACH PLOVDIV
In Vietnam werden die Zeitungen
1959... aus dem Nachlaß
Schlaf, Wölfchen schlaf
Ich kann dir die Welt nicht zu Füßen legen
Du Brunnen, der mich tränkt und durstig macht
FÜR W. BIERMANN
DIE AGITATION (1963)
EPITAPH GUEVARA
AUS ANLASS DER ERMORDUNG MARTIN LUTHER KINGS
ABSCHIED VON HEMINGWAY; SOFIA 1969
1969...
LENIN-LIED
ELEKTRATEXT
PROJEKTION 1975
GESTERN AN EINEM SONNIGEN NACHMITTAG
ALLEIN MIT DIESEN LEIBERN
BEIM WIEDERLESEN VON ALEXANDER FADEJEWS DIE NEUNZEHN
Der Reisende Shakespeare
1969... aus dem Nachlaß
GROSSES WURDE VOLLBRACHT
1979...
BRUCHSTÜCK FÜR LUIGI NONO
Ich bin der Engel der Verzweiflung
NACHTZUG BERLINFRIEDRICHSTRASSE FRANKFURTMAIN
Bei der Vorbeifahrt am Schloßpark Charlottenburg plötzlich die Trauer
MANCHMAL WENN ICH MEINE PRIVILEGIEN GENIESSE
ZAHNFÄULE IN PARIS
FRAGMENTARISCHER BRIEF AN EINE VERLORENE LIEBE
DAYS WITH OLGA AND THINGS LIKE THAT
BRIEF AN A. S.
KULTURPOLITIK NACH BORIS DJACENKO
WIEDERSEHN MIT DER BÖSEN COUSINE
1979... aus dem Nachlaß
ABSCHIEDE
Delphi: zwischen mir und den Göttern
TORSO
Du wirst immer
1989...
Leichter Regen auf leichtem Staub
FERNSEHEN
HERZ DER FINSTERNIS NACH JOSEPH CONRAD
SELBSTKRITIK 2 ZERBROCHENER SCHLÜSSEL
GLÜCKLOSER ENGEL 2
HERAKLES 13
TRAVEL-NOTES
Frau mit Hund
AHNENBRÜHE
NATURE MORTE
SEIFE IN BAYREUTH
KLAGE DES GESCHICHTSSCHREIBERS
GELD FÜR SPANIEN
HERZKRANZGEFÄSS
SENECAS TOD
STERBENDER MANN MIT SPIEGEL
MÜLLER IM HESSISCHEN HOF
BESUCH BEIM ÄLTEREN STAATSMANN
MOMMSENS BLOCK
ICH HAB ZUR NACHT GEGESSEN MIT GESPENSTERN
STADTVERKEHR
NACHDENKEN ÜBER MICHELANGELO
TRISTAN 1993
MARKE ZUM TOTEN TRISTAN
LERNPROZESS
DAS GLÜCK DER ANGST
BIRTH OF A SOLDIER
BLAUPAUSE
Marx ist tot er wollte die Welt ändern
RECHTSFINDUNG
SCHWARZFILM
Galilei betrachtet die Sterne Sie kümmern sich nicht
GESPRÄCH MIT YANG TSCHU »DEM PESSIMISTEN«
SEHSTÖRUNG
RUDOLF AUGSTEIN, 70
im spiegel mein zerschnittener koerper
auftauchen in der isolierstation
dialog
SHOWDOWN
IBSEN ODER DER TOD ALS EMBRYO FAHRT DURCH EINE FREMDE STADT
LEAR ein Assoziationsraum (kein Kommentar)
THEATERTOD
FREMDER BLICK: ABSCHIED VON BERLIN
LEERE ZEIT
FELDHERRNGEFÜHLE
RÖMERBRIEF
AJAX ZUM BEISPIEL
TRAUMWALD
ajax
AUF DER SUCHE NACH ODRADEK
Beim Vorübergehen am Bücherregal
DAY AFTER DAY
DRUCKFEHLER MISPRINT
Ein Jahr und länger habe ich meinen Freund nicht gesehn
Im ächten Manne
Vergiß das Theater und sieh auf das NO
Das leere Treppenhaus erzählt den Schrecken
Mit der Wiederkehr der Farbe droht die
... Und gehe weiter in die Landschaft
Wie ein Schatten hat Gott den
Über ein Blatt mit Gedichten
ZWISCHEN DEN SCHLACHTEN GEGEN MICH
VILLA AURORA
WELCOME TO SANTA MONICA
Die Wissenschaftler leben im Schrecken
MONTAIGNE MEETS TASSO 1
VAMPIR
POESIE UND PROSA
NOTIZ 409
ENDE DER HANDSCHRIFT
DRAMA
im schädel königreiche Universen
ICH KAUE DIE KRANKENKOST DER TOD
Vor meiner Schreibmaschine dein Gesicht
ein kind weint in der Cafeteria
Geh Ariel bring den Sturm
Anhang...
Editorische Notiz
Nachbemerkung
Bibliographische Notizen
1949 . . .
Auf Wiesen grün
Viel Blumen blühn
Die blauen den Kleinen
Die gelben den Schweinen
Der Liebsten die roten
Die weißen den Toten
LACH NIT ES SEI DANN EIN STADT UNTERGANGEN
(Grobianus)
ICH WILL EIN DEUTSCHER SEIN
(Eintragung im Schulheft eines elfjährigen jüdischen Jungen im Warschauer Ghetto)
DER TERROR VON DEM ICH SCHREIBE KOMMT NICHT AUS DEUTSCHLAND ES IST EIN TERROR DER SEELE
(Edgar Allan Poe)
DER TERROR VON DEM ICH SCHREIBE KOMMT AUS DEUTSCHLAND
UND ZWISCHEN ABC UND EINMALEINS
Wir pißten pfeifend an die Schulhauswand
Die Lehrer hinter vorgehaltner Hand
HABT IHR KEIN SCHAMGEFÜHL Wir hatten keins.
Als Abend wurd wir stiegen auf den Baum
Von dem sie früh den Toten schnitten. Leer
Stand nun sein Baum. Wir sagten: DAS WAR DER.
WO SIND DIE ANDERN? ZWISCHEN AST UND ERD IST RAUM.
WOHIN?
Dein Vater sollt marschieren.
Dein Vater ist marschiert.
Dein Vater — er ließ sich führen.
Sie haben ihn geführt.
Und heut sollst du marschieren.
Dein Vater — der ist marschiert.
Weißt du, wohin sie dich führen?!
Ihn haben sie sterben geführt.
BERICHT VOM ANFANG
1
Vom Pfennig lebend haben sie gekämpft
wie um ihr Leben um den Pfennig. So
hat sies gelehrt die Welt, in der für sie nur
Platz war ganz unten.
Als die Spitze abbrach
viel noch erschlagend ringsum, Trümmer streuend auf die
nicht Mitgefallnen, kam was unten war
nach oben stolpernd übern Trümmerberg langsam.
2
Zwar war der Pfennig nun gemeinsam, aber
was für ein karger Pfennig! Zwar das Brot
gehörte allen, aber sättigte keinen.
3
Das hieß: Kampf für den Pfennig anstatt um ihn.
Ein Heutewenig für ein Morgenviel.
4
Zwar war das Ziel erreicht. Doch zugeschüttet
vom Trümmerberg. Und Stein bleibt Stein, schwer zu bewegen.
5
Da waren die Geduldigen ungeduldig.
Da waren nach durchwachter Nacht früh müde
die Unermüdlichen . . .
Die lange kämpften sahn den Sieg nicht
vor Schweiß der brannte wie die Träne vorher.
Die Überlebenden aus großen Kriegen
um den Platz am Tisch, Frieden und Schuhwerk
den Sieg in Händen, aber noch nicht in der Tasche
fanden, was da zu tun war, schwierig.
6
Zwar sprach da eine Stimme von vorn her
zu ihnen: ihr Geduldigen, habt Geduld!
Ihr Unermüdlichen, seid unermüdlich!
Kämpft weiter, ihr Siegreichen . . .
Zwar sie gingen
den Weg, bezeichnet von der Stimme, denn
da war kein besserer, aber sie wußten
Nicht, daß da ihre eigne Stimme sprach . . .
7
Doch waren ihre Hände klüger als
ihr Kopf war, und sie taten was zu tun blieb.
Den Baustein schmähend bauten sie die Häuser
den Schritt verfluchend gingen sie den Weg
sehend die Wolke, nicht den Himmel drüber
und nicht die Straße, nur der Straße Staub.
8
Noch als das Haus schon stand, gebaut für sie
von ihnen, wußten sie nicht, was da
gebaut war. In die Türe tretend noch
blickten sie hinter sich, fragend: warum
verjagt uns keiner? Es gehört wohl keinem?
9
Die in der Kunst des Nehmens nicht
Geübten nahmen da das ihre in
Besitz nur zögernd. Die solang Bestohlnen
verdächtigten sich da des Diebstahls selber.
10
Immer vor ihnen aber war die Stimme
die sprach zu ihnen: Es genügt nicht! Bleibt
nicht stehn! Wer stehn bleibt fällt! Geht weiter! So
im Immerweitergehn folgend der Stimme
wurde das Schwierige einfach
wurde das Unerreichbare erreicht.
Und überm Immerweitergehn erkannten
sie: die da sprach war ihre eigene Stimme.
BILDER
Bilder bedeuten alles im Anfang. Sind haltbar. Geräumig.
Aber die Träume gerinnen, werden Gestalt und Enttäuschung.
Schon den Himmel hält kein Bild mehr. Die Wolke, vom Flugzeug
Aus: ein Dampf der die Sicht nimmt. Der Kranich nur noch ein Vogel.
Der Kommunismus sogar, das Endbild, das immer erfrischte
Weil mit Blut gewaschen wieder und wieder, der Alltag
Zahlt ihn aus mit kleiner Münze, unglänzend, von Schweiß blind
Trümmer die großen Gedichte, wie Leiber, lange geliebt und
Nicht mehr gebraucht jetzt, am Weg der vielbrauchenden endlichen Gattung
Zwischen den Zeilen Gejammer
auf Knochen der Steinträger glücklich
Denn das Schöne bedeutet das mögliche Ende der Schrecken.
PHILOKTET 1950
Philoktet, in Händen das Schießzeug des Herakles, krank mit
Aussatz ausgesetzt auf Lemnos, das ohne ihn leer war
Von den Fürsten mit wenig Mundvorrat, zeigte da keinen
Stolz, sondern schrie, bis das Schiff schwand, von seinem Schrei nicht gehalten.
Und gewöhnte sich ein, Beherrscher des Eilands, sein Knecht auch
An es gekettet mit Ketten umgebender Meerflut, von Grünzeug
Lebend und Getier, jagbarem, auskömmlich zehn Jahr lang.
Aber im zehnten vergeblichen Kriegsjahr entsannen die Fürsten
Des Verlassenen sich. Wie den Bogen er führte, den weithin
Tödlichen. Schiffe schickten sie, heimzuholen den Helden
Daß er mit Ruhm sie bedecke. Doch zeigte sich der da von seiner
Stolzesten Seite. Gewaltsam mußten sie schleppen an Bord ihn
Seinem Stolz zu genügen. So holte er nach das Versäumte.
GESCHICHTEN VON HOMER
1
Häufig redeten und ausgiebig mit dem Homer die
Schüler, deutend sein Werk, ihn fragend um richtige Deutung.
Denn es liebte der Alte immer sich neu zu entdecken
Und gepriesen geizte nicht mit Wein und Gebratnem.
Kam die Rede, beim Gastmahl, Fleisch und Wein, auf Thersites
Den Geschmähten, den Schwätzer, der aufstand in der Versammlung
Nutzte klug der Großen Streit um das größere Beutstück
Sprach: Sehet an den Völkerhirten, der seine Schafe
Schert und hinmacht wie immer ein Hirt, und zeigte die blutigen
Leeren Händ der Söldner als leer und blutig den Söldnern.
Da nun fragten die Schüler: Wie ist das mit diesem Thersites
Meister? Du gibst ihm die richtigen Worte, dann gibst du mit eignen
Worten ihm unrecht. Schwierig scheint das uns zu begreifen.
Warum tatst dus? Sagte Homer: Zu Gefallen den Fürsten.
Fragten die Schüler: Wozu das? Der Alte: Aus Hunger. Nach Lorbeer?
Auch. Doch schätz er den gleich hoch wie auf dem Scheitel im Fleischtopf.
2
Unter den Schülern, heißt es, sei aber einer gewesen
Klug, ein großer Frager. Jede Antwort befragt er
Noch, zu finden die nicht mehr fragliche. Dieser nun fragte
Sitzend am Fluß mit dem Alten, noch einmal die Frage der andern.
Prüfend ansah den Jungen der Alte und sagte, ihn ansehnd
Heiter: Ein Pfeil ist die Wahrheit, giftig dem eiligen Schützen!
Schon den Bogen spannen ist viel. Der Pfeil bleibt ein Pfeil ja
Birgt wer im Schilf ihn. Die Wahrheit, gekleidet in Lüge, bleibt Wahrheit.
Und der Bogen stirbt nicht mit dem Schützen. Sprachs und erhob sich.
GESPRÄCH MIT HORAZ
Silbenzähler beiläufig dein Vers unterm Schritt der Kohorten
Die Kohorten wo sind sie Mein Vers geht ins zweite Jahrtausend
HORAZ
1
Der Arrivierte mit dem Haß auf sein Startloch.
Unter Brutus ist er Demokrat
Tod dem Tyrannen und mir auch ein Landgut
Pazifist bei Philippi, er skandiert den Boden.
Dann lernt er seine Lektion (er auch), wechselt
Die Laufbahn. Schwamm drüber Augustus. Das Landgut
Schenkt Mäcen ihm für einen Platz in den Oden
Acht Spiegel im Schlafzimmer und kein Wort mehr von Brutus.
Er macht seinen Weg in die Chrestomathien
Aere perennius Liebling der Philologen.
2
Rom die Hure mit den sieben Brüsten.
Lob der Mäßigkeit, Mutter der Weltreiche
Aufgefressen von den wachsenden Kindern
Mit vollkommenen Versen, sonst wozu, braucht
Luxus. Satt singt Horaz. Den Lorbeer
Würzt das Fleisch. Kappadozisches Wildbret!
(Und die Baumblüte in den Albanerbergen!)
Dreiundzwanzig Dolchstöße, der zweite tödlich
In ein fallsüchtiges Fleisch, was sind sie
Gegen den Furz des Priap in der achten Satire.
ÜBER CHAMISSOS GEDICHT
»DIE ALTE WASCHFRAU«
Der Dichter staunt, wie die noch rüstig ist
Mit sechsundsiebzig. — Mensch, der Frau pressiert es!
Wenn die nicht Hemden wäscht, wer weiß, passiert es
Daß man sie zu bezahlen glatt vergißt.
Er sieht, sie schwitzt. Er lobt sie drum. Es treibt
Ihr Schweiß ja seine Mühle, und indessen
Sie Schwarzbrot kaut, kann er Pasteten fressen.
Sie lobend sorgt er, daß sie unten bleibt.
Er rät statt Wurst ein Sterbhemd früh zu kaufen
Den Waschfraun. Waschfraun werden, wie bekannt
Im Himmel prompt zu Cherubim ernannt.
Er sieht sie gern Gott nach ins Bethaus laufen.
Er ist der letzte, der den Trost ihr nimmt.
Wann wird sie zweifeln, daß die Botschaft stimmt?
Ein Mann ging sterben, nachts, im Kriege, der
zum Ende ging, im See bei seiner Stadt
aus Furcht vorm Frieden. Auf der Lagerstatt
sein Weib ward wach und sah, es fehlte: er.
Sie las: leb wohl. Es zitterte das Blatt.
Sie rannte, noch vor seinem Sterben her,
ans Wasser — diese Nacht wie sternenleer.
Er war noch sichtbar. Und das Wasser hatt’
ihn noch nicht ganz. Da ließ sie sich hinab.
Im Schwimmen rang sie, daß sie ihn behalte
mit dem, der so viel Nächte bei ihr schlief.
Da zog er sie zu teilen auch sein Grab.
Da stieß sie den schon Schwachen: er sank tief.
Sie stieg ans Land: es war nicht mehr das alte.
ANNA FLINT
Ich, Anna Flint, Frau eines kleinen Mannes
Auch viermal Mutter, habe, als die Zeit kam
Ihn in den Fluß geschickt, kalt ausgestrichen
Für unsere fünf Leben so sein eines.
Wer saubere Händ hat, hat auch leere, das
War seine Rechnung, besser schlecht
Als schlechtbezahlt! So, bis das Schießen aus war.
Da war die Rechnung falsch: leer zwei Hände
Zwei Hände blutig, und galt kein Abwaschen.
Als da der Mann den Weg zum Fluß nicht fand
War ich die, die dem Mann den zeigte, auch noch
Den Mantel ihm abnahm: wer kalt ist friert nicht . . .
Ich, Anna Flint, Frau eines kleinen Mannes
Jetzt Witwe, viermal Mutter, einmal Mörderin.
MISSOURI 1951
Es wurde von den Staaten
Dem Staudamm Geld verwehrt.
Weil sie nichts gegen ihn taten
Hat sich der Fluß beschwert.
Er ist aufgestanden
Ihm schien der Damm zu alt.
Die Stadtbewohner fanden
Das Wasser kalt.
Die abgehauenen Wälder wachsen
Unter der Erde fort.
Dresden ein Brandfleck in Sachsen
Die Toten haben das letzte Wort.
HUNDERT SCHRITT
(nach Defoe)
Im Jahrhundert der Pest
Wohnte ein Mann zu Bow, nördlich London
Bootsführer, mittellos, ohne Ansehen, aber
Treu den Seinen. Umsichtig auch
In der Treue.
Aus den Städten unten
Wo die Pest war
Schleppte er das Essen aufwärts
Zu den Wohlhabenden Ängstlichen
Auf ihren Schiffen
In der Mitte des Stroms.
So nährte ihn die Seuche.
Aber in der Hütte
Bei der Frau mit dem Vierjährigen
War die Pest auch.
Und jeden Abend brachte er seinen Sack Lebensmittel
Frucht eines Tages, vom Fluß herauf an einen Stein, hundert
Schritt von der Hütte.
Dann, sich entfernend, rief er die Frau. Beobachtend
Wie sie den Sack aufhob, jede ihrer
Bewegungen aufmerksam verfolgend
Stand er noch eine Zeit
In der sicheren Entfernung
Und erwiderte ihren Gruß.
FRAGE UND ANTWORT
1 (japanisch)
Kamerad siehst du die Wolke überm Festland
Kommt Wind Kommt Schnee
Kamerad wo werden unsre Leiber liegen
Wo wir fallen Kamerad werden unsre Leiber liegen
2 (chinesisch)
Den Becher Reiswein vor dir und
Das Paradies Alter was willst du mehr
Ich wollt mein Becher füllte sich von selber
Ich hätte gern daß Freunde mich besuchten
Statt des Beamten der die Steuer eintreibt
Auch sähe ich gern meine Kinder wohlhabend
Dann wollte ich noch hundert Jahre leben
Und verzichten auf das Paradies
UMSCHAU VON FREMDEN HÜGELN
(nach Pu Sung Ling)
Besser hier sterben, fremd, als
Leben, wo immer die Steuer uns
Unten hält.
Der da nämlich den
Reis baut, ißt ihn nicht.
Wenn das Essen gekocht ist
Ist es nicht mehr dein.
Wann, Grosser Himmel, gibst du uns ein gutes Jahr, eine Bessere Obrigkeit?
Kein Regen ein Jahr über! Zwei Fuss tief
War der Acker wie Staub wasserlos. Dann
Fiel über die Saat, als die reif war, Ungeziefer.
Den Rest nahm die Steuer weg.
Umschauend
Von den unheimischen Hügeln
Gegen den Himmel stehen wir
Hoffende. Aber
Von dem kommt uns wohl nichts.
Auf dem Weg in das Land mit
Reis das er nicht erreichen wird
Verkauft der Hungrige den Sohn
Um Wegzehrung
(nach Pu Sung Ling)
Der Kaiser braucht Soldaten, Vater.
Verstopf deine Ohren, Sohn
Damit du die Trommel nicht hören kannst
Und deck dich mit Mist bis über die Augen zu
Damit du nicht geblendet wirst vom Glanz der Waffen.
(nach Pu Sung Ling)
Ich war ein Held, mein Ruhm gewaltig
In meinen Bannern rauschten die vier Winde
Wenn meine Trommeln lärmten schwieg das Volk
Ich habe mein Leben vertan
(nach Po Chü I)
HEROISCHE LANDSCHAFT
VARIATION AUF EIN THEMA
VON MAO TSE TUNG
Der siebenfarbige Hügel
Gepflügt mit Kugeln mit Leichen bedeckt
Ist schön wie vor der Schlacht
In den Kriegen die kommen werden
Erbleichen wird der siebenfarbige Hügel
EPIGRAMME ÜBER LYRIK
Pegasus diente, der brave, redlich den Dichtern der Alten
Trug sie geflügelt hinweg über den irdischen Staub.
Heute, beschäftigt, die Erd uns angenehmer zu machen
Brauchen den Dichter wir irdisch und motorisiert.
Unsre Dichter aber, was tun sie, zerren den alten
Redlichen Gaul aus dem Stall, wo er Gnadenbrot fraß.
Vor den Gebrechlichen spannen sie den schnellfahrenden Traktor
Ihn, den lahmenden Gaul, hinter das schnelle Gefährt.
Und es kümmert sie nicht, ob er stolpert und bricht sich die Knochen
Geben des Alten Gestöhn aus für neuen Gesang.
Für J. K.
Hunden gilt der Pfahl der Laterne so viel wie die Birke.
Nicht so dem Dichter. Er hält sich an Birken allein.
Dürfen, das darf man, man muß es nur können, schrieb einer, der’s konnte.
Können sie etwa nicht, weil sie nicht können, die Herrn?
ROMANZE
Früh unter dem Schlehdorn
Zwei Tropfen fielen auf dein Haar.
Und die waren von dem Regen übrig,
Der die Nacht gefallen war.
BALLADE
Die saubre Hand bleibt leer.
Das war seine Antwort.
Er war mein Mann. Meine Kinder, sagte er,
Müssen essen. Als er ging und sich verkaufte,
Sagte ich nicht ›bleib‹, sah ich nicht hin.
So, bis das Schießen aus war.
Da war die Rechnung falsch. Leer zwei Hände,
Zwei Hände blutig, und galt kein Abwaschen.
Er war mein Mann. Aber es schrien, als er
In den Fluß ging, um Brot meine Kinder.
Ich sagte ›bleib‹, aber ich sah nicht hin.
ZWEI BRIEFE
1
Ich seh dich an der Schreibmaschine schwitzend
Mißbrauchbare Verse herstellen
Über den Erstickungstod im Netzwerk
Notwendiger Gesetze. Die Maurer, schreibst du
Wurden als Mörtel gebraucht schon
Beim Bau der Großen Mauer, und immer noch
Werden Große Mauern gebaut. Nichts Neues
Unter der Sonne, schreibst du. Du schreibst nichts Neues.
Du hast gelernt, Antworten zu befragen.
Der Beifall, der dich taub macht, ist er keine?
Die schnellen Wirkungen sind nicht die neuen.
Eine Begegnung am Abend nach unserm Gespräch:
Zwei Republikaner auf dem Weg in die Betten
Diskutieren über Demokratie
GutdasistdieFormaberivoistderInhalt
Sie zählen die Jahre nach Gehaltsaufbesserungen
Die Monate nach dem Erscheinen des Magazin
Jeder ein Weiser nach Keuners Entwurf
Kein Gedanke, der nicht durch den Magen geht
Und keine Angst vor Pfützen wie bei Büchner
Kleine Köpfe, aber sie haben recht
Wenn sie, deine Verse lesend, sagen:
Was sagt uns dieser Jemand eigentlich?
Hat er die Rolle der Bodenreform nicht begriffen?
2
Was richtet ein Reim aus gegen die Strohköpfe
Fragst du. Nichts, sagen einige, andere: Wenig.
Shakespeare hat Hamlet geschrieben, ein Trauerspiel
Geschichte eines Mannes, der sein Wissen wegwarf
Sich beugend unter einen dummen Brauch.