Westfälische Affären - Katharina Gerwens - E-Book

Westfälische Affären E-Book

Katharina Gerwens

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Beschreibung

In der Gründerzeitvilla des Kalveroder Bankdirektors herrscht Totenstille. Denn dort, auf den Fliesen der Diele, liegt dessen Leiche. Kriminalhauptmeister Markus Wissing gibt den Fall an seine Kollegin Annalena ab. Schließlich will er die Zeugin, seine frisch von ihm getrennte Ehefrau, nicht selbst vernehmen. Bald stellt sich heraus, dass der Bankdirektor nicht nur in der Finanzwelt, sondern auch in der Verführung seiner Kundinnen ein Meister seines Fachs war. Die Zahl der möglichen Täterinnen ist groß ...

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deVollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe1. Auflage 2014In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt. ISBN 978-3-492-96689-4

© 2014 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung und -motiv: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich

Datenkonvertierung: Uhl + Massopust, AalenAlle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

1. Kapitel

Immer wenn ihr Mann im Freundeskreis behauptet hatte, sie habe ein Faible für Putzmittel, hatte Thekla Wissing aufs Heftigste widersprochen. Ganz so stimmte das nämlich nicht, auch wenn sie zugeben musste, dass es durchaus Sprays, Scheuerpulver und polierende Öle gab, die ihr die Arbeit erheblich erleichterten. Warum sollte sie die dann nicht auch benutzen? Ihr Mann verstand vom Saubermachen ja ohnehin nichts, jedenfalls hatte sie ihn noch nie putzen sehen.

Seufzend wienerte Thekla die Spiegel und die großen Fenster im Gästebad des Sparkassendirektors, wie sie es jeden Montag zu tun pflegte. Außerdem ging sie ihm samstags zur Hand, wenn er Besuch von einem Freund hatte, mit dem er Schach spielte. Thekla durfte dann Schnittchen vorbereiten und Rotweinflaschen entkorken, manchmal stellte sie auch salzige Nüsschen und ein Silbertablett mit knusprigen Chips auf den kleinen Beistelltisch. Einmal hatte sie sogar ein Blümchen in einer Glasschale mit Wasser auf den Treppenabsatz gestellt – zur Dekoration. Aber der Sparkassendirektor hatte sie gebeten, derartige Eigenmächtigkeiten in Zukunft zu unterlassen. Blumen, so sagte er, erinnerten ihn zu sehr an seine Frau. Dabei hatte er sie traurig angesehen. Thekla schluckte. Was für ein sensibler Mann! Davon müsste es mehr auf dieser Welt geben.

Leider musste Herr Kalupka immer so viel arbeiten. Sparkassendirektor war in diesen Zeiten wahrlich kein einfacher Job. Ob das mit der Finanzkrise zu tun hatte, von der sie nichts verstand?

Resolut zog sie die malvenfarbenen Chintzvorhänge am Küchenfenster zur Seite. Dabei fielen ihr acht tote Marienkäferchen entgegen, die sie nachdenklich auf ihr Kehrblech fegte. Womöglich hing ihr plötzlicher Tod mit dem keimtötenden Mittel zusammen, das sie vor genau einer Woche hier versprüht hatte. Das hatte so streng gerochen, dass sogar sie die Nase kraus gezogen hatte, wo sie doch sonst überhaupt keine Gerüche wahrnahm. Angeblich lag das an ihren wuchernden Nasenpolypen, die ihr der Arzt mit einer Nebenhöhlensanierung wegoperieren wollte. Sanierung – was für ein Wort! Ihre Nase war doch kein altes Haus. Und wozu brauchte man einen Geruchssinn? Sie kam gut ohne aus. Vielleicht hätte sie ja die Dosierung des Putzmittels etwas genauer studieren müssen, aber sie hatte, wie so oft, ihre Lesebrille vergessen.

An diesem Montag waren auch ungewöhnlich viele Fliegen im Haus – ganz anders als sonst. Sie schob es auf den enorm heißen Sommer und zog im ersten Stock der Gründerzeitvilla konsequent ihren Putzplan durch.

Thekla Wissing putzte gern. Und besonders gern für diesen weltgewandten Mann, der vor etwa vier Monaten nach Kalverode gezogen war und seitdem ganz allein in diesem großen zweigeschossigen Haus lebte. Anderen gegenüber bezeichnete sie sich hochtrabend als Felix Kalupkas »Hausdame«. Die Leute in Kalverode sollten ruhig glauben, dass sie über edle Teppiche durch große Räume schritt, dabei mit leichter Hand die – leider nicht erwünschten – Blumen ordnete oder allabendlich das Küchenpersonal bei der Dekoration von kalten Platten beaufsichtigte und mit gepflegten Händen edle Tischtücher aus feinstem Leinen glatt strich.

So zumindest malte sich Thekla ihre Zukunft aus, aber noch kam sie nur ins Haus, um zu putzen. Sie war die Einzige, die einen Schlüssel zu dieser Villa hatte, in der der Sparkassenleiter vermutlich nur schlief – bis auf die Abende von Samstag auf Sonntag natürlich, wenn er mit seinem Freund beim Schachspiel eine Flasche Wein leerte. Nie mehr. Das wusste Thekla ganz genau, sie hatte es sich nämlich angewöhnt, auch seine Vorräte zu überprüfen.

Weil Herr Kalupka sich um die Weltfinanzkrise kümmern musste, hatte er noch keine Zeit gefunden, alle Umzugskisten auszupacken. Dabei waren alle Räume, Schränke und sogar –bis auf die Schlafzimmer – sämtliche Nischen hinter den Tapetentüren dank Theklas Einsatz gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit blitzblank geputzt worden und harrten der Dinge, die da kommen würden. Doch wenn er erst einmal richtig eingezogen war, würde der Sparkassendirektor sie sicher für immer engagieren – und sie zöge zu ihm in dieses herrliche Haus.

Theklas Mann, Kriminalhauptmeister Markus Wissing, war vor knapp zwei Monaten aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen, angeblich, um zu sich selbst zu finden. »Was willste denn da finden?«, hatte sie kopfschüttelnd gefragt und missbilligend auf seine gepackten Koffer gestarrt, woraufhin er ungewöhnlich leise gemurmelt hatte: »Mein Leben – meinen Sinn, vielleicht.«

»Dein Leben, das ist doch hier!«, hatte sie dagegengehalten.

»Nee«, hatte er gesagt. »Das glaub ich nicht mehr. Das wär doch irgendwie zu wenig.« Dann hatte er sich einfach so zum Schuhschrank gebückt und die von Thekla blank geputzten Frühjahrs-, Sommer-, Herbst- und Winterschuhe in seine Sporttasche gepackt. Ohne Baumwolltücher dazwischenzulegen, wie sie es ihm beigebracht hatte.

»Und was soll ich den Leuten sagen?«, hatte sie von ihm wissen wollen.

»Die Wahrheit«, schlug er vor. »Einfach die Wahrheit. So was kann eben passieren, dass die Liebe geht – oder was immer es auch war.«

Ihm vielleicht, dachte sie. Ihm war das passiert. Ihr wäre das nie passiert. Er hatte sie doch geheiratet. Er hätte bei ihr bleiben müssen. Nur der Tod konnte sie scheiden.

Tatsächlich hatte sie es sich angewöhnt, bei ihren Gängen durch den Ort den Weg zur Polizeiwache im alten Amtshaus auszusparen. Dort arbeitete ihr Mann, und sie war nicht scharf darauf, ihm zu begegnen oder gar jemandem, der wissen wollte, wie es ihr und Markus gehe. Wie mochte es ihm schon gehen? Bestimmt grottenschlecht. Und das geschah ihm recht.

Von einem Tag auf den anderen war er damals in dieses Mehrfamilienhaus am Stadtrand von Kalverode gezogen und hatte sich eine Mietwohnung genommen. Thekla schüttelte sich. Das war doch nur was für ganz arme oder ganz junge Leute. Um ihn herum lauter kindliche Paare mit frischem Nachwuchs. Nicht umsonst trug das Haus mit seinen zwölf Dreizimmerwohnungen den Namen »Schneller Brüter«. Da wohnte er nun. Und wenn er in »seine« Dusche stieg oder sich auf »sein« Klo setzte, war das alles ja nicht einmal seins, sondern gehörte in Wirklichkeit einem anderen, dem er dafür Miete zahlen musste.

Thekla wusste: An einem solchen Ort konnte man nicht glücklich sein. Was aber wäre, wenn er reumütig zu ihr zurückkäme? Würde sie ihn dann noch haben wollen? Würde sie für ihn diesen wunderbaren Status als Hausdame und eventuell sogar als weltgewandte Gesellschafterin eines Sparkassendirektors wieder aufgeben? Sie las sogar schon Leute-Magazine, um mitreden zu können, und sah sich im Fernsehen Klatsch- und Tratschgeschichten an. So war sie immer auf der Höhe der Zeit, falls es zu einem gesellschaftlichen Event bei Herrn Kalupka käme.

Thekla seufzte. In achtzehn Jahren Ehe war Markus ihr vertraut geworden. Der konnte doch gar nicht mehr alleine leben! Hatte er ja noch nie gemacht! Sie würde streng zu ihm sein, wenn er zu ihr zurückkommen wollte. Nein, einfach so würde sie ihn nicht wieder bei sich aufnehmen. Ein paar Wochen müsste er auf jeden Fall zappeln. Winseln sollte er und betteln und endlich das würdigen, was er an ihr hatte. Sie war viel zu gutmütig gewesen in all den Jahren. Das würde sich ändern!

Am liebsten putzte sie Fenster: je größer die Scheiben, desto besser. Dabei hatte sie das Gefühl, als könne sie zugleich ein bisschen Licht in ihre eigene Seele bringen, denn dort sah es, wenn sie ganz ehrlich war, nicht besonders hell aus, seit Markus sie verlassen hatte.

Sind Marienkäfer nicht Glückskäfer?, hatte sie gedacht, als sie die Tiere in den Mülleimer kippte und darin einen zerrissenen dunkelroten Damenslip entdeckte. Den hatte garantiert der schachspielende Freund von Herrn Kalupka dort deponiert, um sie zu verwirren. Diese Scherzkekse. Als sei sie keine Frau von Welt. Männer! Sie lächelte.

Später, sehr viel später, würde sie behaupten, dass tote Marienkäfer nichts als Unglück brächten und dass sie das angesichts der acht toten Insekten eigentlich schon geahnt habe. Aber wem hätte sie es sagen sollen? Sie war ja allein im Haus gewesen.

Thekla Wissing war an diesem Montag wie immer durch die Hintertür, den sogenannten Personaleingang, ins Haus gekommen und hatte im ersten Stock mit ihrer Arbeit begonnen. Dort befanden sich Schlaf- und Gästezimmer sowie zwei Bäder. Profis putzten nun mal von oben nach unten. Darüber war sie sich mit der Frau vom Drogeriemarkt einig, mit der sie über Qualität und Wirkung von Reinigungsessenzen zu diskutieren pflegte. Nur Amateure begannen wahllos irgendwo, womöglich ausgerechnet dort, wo es zufällig am schmutzigsten war. Nein, man brauchte einen Plan und die Disziplin, den dann auch einzuhalten. Nur so konnte man ein Haus vom Format dieser Gründerzeitvilla systematisch sauber halten.

Nach den Zimmern und Bädern im ersten Stock wischte sie das Fischgrätparkett der oberen Diele und fragte sich, während sie sich langsam über die große geschwungene Holztreppe zum ebenerdigen Eingangsbereich hinunterarbeitete, woher die ungewöhnlich großen metallisch blauen Fliegen kommen mochten. Es war sehr still auf der Treppe. Thekla verzichtete bewusst auf Radio und CD-Player, denn ihre eleganten Feg- und Wischgeräusche sowie das selbstbewusste Zischen ihrer Sprühflaschen mit Spezialmitteln für Glas, Holz, Messing, Plastik, leichten Schmutz, Staubbeläge und hartnäckigen Dreck untermalten ihre Träume viel eindrucksvoller.

Wie gerne hätte sie in einem solchen Haus gewohnt! Aber ihr Markus war für so etwas nicht großzügig genug gewesen. Er hätte sich niemals getraut, in eine Villa zu ziehen, sondern hatte für sie und sich ein Einfamilienhäuschen gebaut, das den Rahmen seines Bausparvertrages bei Weitem nicht ausschöpfte. Alles funktional, keine Fußbodenheizung, kein gläserner Wintergarten, keine Freitreppe, die man herrschaftlich hätte hinabsteigen können. Und jetzt hockte Thekla allein in dem Nullachtfünfzehn-Haus mit Bad, separater Toilette, vier Zimmern und einem Blumengarten nebst Terrasse. Über seinen leeren Handtuchhaken im gemeinsamen Badezimmer hatte sie ihren Ehering gehängt. Den brauchte sie ja nun nicht mehr.

Die Treppe der Kalupka-Villa hatte genau sechzehn Stufen. Thekla Wissing blickte weder nach links noch nach rechts, sondern wischte hingebungsvoll nicht nur Stufe um Stufe, sondern auch die gedrechselten Sprossen und Pfosten des Treppengeländers. Dieser Vormittag kam ihr außergewöhnlich heiß und still vor, und genau das würde sie später dem Kriminaloberrat Ewald Schmeing zu Protokoll geben. »Totenstill war es an dem Tag, glauben Sie mir.«

Als sie die zweitletzte Stufe und damit das Ende der Biegung erreicht hatte, spürte sie an ihrem linken Fuß einen Widerstand. Langsam und besonders wachsam drehte sie sich um. Gab es neben den toten Marienkäfern und den hässlichen Schmeißfliegen womöglich noch andere tote Tiere? Hoffentlich keinen toten Hund, denn sie hatte Angst vor Hunden.

Ihr furchtsamer Blick wanderte an ihren stämmigen Beinen hinunter bis zu den kastanienfarbenen Baumwollsocken. Und dann erblickte sie neben ihrem eigenen Fuß eine geöffnete Hand, die Manschette eines schwarzen Seidenhemdes, das verrutschte und zerknitterte Hemd und eine neonfarbene Krawatte. Darüber den eigenartig verdrehten Kopf des Sparkassendirektors, ihres Arbeitgebers. Die Augen waren weit aufgerissen, auf seinem Gesicht krabbelten fette Fliegen. Der Tote hatte beide Hände geöffnet, als erwarte er einen Geldsegen oder als plane er, gottgleich einen fragwürdigen Kredit abzusegnen.

Es war nicht der erste Tote, den sie in ihrem Leben sah, aber er war anders tot als ihre Eltern und Großeltern, die immer weniger geworden und dann sanft und erschöpft entschlafen waren und über deren Gesichter sich ein Lächeln gelegt hatte.

Dieser Mann war mitten aus dem Leben gerissen worden, und die unfassbare Erschütterung darüber spiegelte sich noch im Tod in den Gesichtszügen. Wie versteinert starrte sie ihn an.

Später warf sie sich vor, dass sie schneller hätte reagieren müssen oder gar schneller putzen, um ihn früher zu finden – aber dadurch wäre Felix Kalupka auch nicht wieder lebendig geworden.

Als sie wieder zu sich kam, sah sie auf die Uhr. Es war genau elf Uhr und siebenundzwanzig, höchstens zwei Minuten waren vergangen. Ihr fiel nur einer ein, der sie aus dieser Situation retten konnte: Kriminalhauptmeister Markus Wissing, ihr Mann.

Nur widerwillig unterschrieb Kriminaloberrat Ewald Schmeing, der Chef der Kalveroder Polizei, den Fortbildungsantrag seiner Mitarbeiterin Hedwig Hagenkötter. Es war bereits der vierte in diesem Jahr. Musste sie wirklich ausgerechnet jetzt ein Kompaktseminar zum Thema Öffentliche Sicherheit und Ordnung besuchen? Andererseits hatte er ihr noch nie eine Fortbildung abgeschlagen. Warum also gerade jetzt? Die Tinte aus seinem Füllfederhalter mit der goldenen Feder war noch nicht trocken, als das Telefon klingelte.

Er griff zum Hörer. »Ja?«

»Ist Markus da?«

»Ach, Thekla, du bist es. Lange nichts von dir gehört. Wie geht es dir? Soll ich ihn holen?«

Etwas an der Art, wie sie ihr »Ja, bitte« in den Hörer hauchte, ließ ihn aufhorchen. »Ist was passiert?«

»Ja.«

»Hattest du einen Unfall?«

»Ich nicht, aber …«

»Wer dann? Nun sag’s schon.«

Er hörte sie weinen. »Ich glaub, mein Chef ist tot.«

»Dein Chef?« Ewald Schmeing kniff ungläubig die Augen zusammen. »Du arbeitest doch gar nicht.«

»Doch. Ich halt dem Kalupka sein Haus sauber. Seit einigen Monaten schon.«

»Hat Markus mir aber nix von erzählt«, sagte Ewald Schmeing und stockte plötzlich. »Kalupka?«

So hieß doch der neue Direktor der Stadtsparkasse Kalverode. Mit dem hatte er heute früh einen Termin gehabt, und der Typ war nicht erschienen. Seine gouvernantenhaft wirkende Assistentin im grauen Businesskostüm hatte vergebens versucht, ihn per Handy zu erreichen, und ihm, Ewald Schmeing, währenddessen so vorwurfsvolle Blicke zugeworfen, als trage er die Schuld an der Unerreichbarkeit ihres Chefs.

»Es geht nur um einen Kreditantrag«, hatte Ewald Schmeing sie besänftigen wollen und vorgeschlagen: »Ich kann auch mit seinem Stellvertreter reden, jetzt, da ich schon mal hier bin.«

Aber die Dame mit dem hochgesteckten Haar und der Designerbrille war konsequent geblieben. »Sie stehen in seinem Terminkalender, und deswegen wird nur er mit Ihnen sprechen. Kredite sind Chefsache. Ich ruf Sie an, sobald er da ist.«

Bis jetzt hatte sie noch nicht angerufen.

Auf dem Weg zu seiner Dienststelle im alten Amtshaus hatte Kriminaloberrat Schmeing sich gefragt, ob der junge und überaus smarte Sparkassendirektor sich selbst diese Assistentin ausgesucht haben mochte oder ob ihm das Mutterhaus der Sparkasse diesen weiblichen Zerberus ins Vorzimmer gesetzt hatte. Er tippte auf Letzteres.

»Wo steckt denn mein Markus?«, holte Thekla Wissing ihn in die Gegenwart zurück.

»Du sagst, dem Kalupka ist was passiert?«

»Ja.« Ihre Stimme klang anklagend. »Und auch noch in seinem eigenen Haus.«

»Rühr nichts an. Wir kommen sofort.«

»Ich geh da nicht mit«, stellte Markus Wissing klar. »Ich kann doch nicht meine eigene Frau als Zeugin vernehmen. Nicht unter diesen Umständen. Da bin ich befangen. Echt. Das müsst ihr verstehen. Lasst mich im Hintergrund ermitteln. Ich melde mich für den Schreibtischdienst und den ganzen administrativen Kram. Vielleicht ist ja alles nur ein Fehlalarm.«

Ihm wurde bewusst, dass er seiner Thekla genau das zutraute. Ein derart dramatischer Auftritt passte zu ihr. Vor zwei Monaten war er ausgezogen, seit genau acht Wochen bat sie ihn um ein Gespräch, und in diesen acht Wochen hatte er immer wieder neue Ausreden erfunden. Jetzt hatte sie sich also einen Todesfall ausgedacht, nur um ihn zu einer Aussprache zu zwingen. Nein, den Gefallen würde er ihr nicht tun. So nicht! Nicht mit ihm! Ewald sollte ruhig mit vollem Ermittlungsgeschütz auffahren, in der schönen Villa einer hysterischen Thekla und einem Kaffee trinkenden Sparkassendirektor begegnen und beiden eine gesalzene Standpauke halten.

Mit seinen vierundvierzig Jahren, davon bittere achtzehn als Theklas Ehemann, war Markus Wissing jedoch klug genug, all diese Überlegungen für sich zu behalten. Sollten die doch losfahren, dieser Einsatz könnte dann immer noch als Notfallübung verbucht werden. Er würde die Tür hinter ihnen schließen und in aller Ruhe die Kalveroder Nachrichten lesen und dann am Computer eine Patience lösen.

Ewald Schmeing wandte sich an die erst seit Mai in Kalverode tätige Kriminalhauptkommissarin Annalena Brandt, die zugleich die Tochter seines ältesten Freundes war. »Annalena?«

Die junge Frau nickte gefasst. »Ich hab schon mal die Spurensicherung und den Notarzt informiert. Für den Fall, dass der nur ohnmächtig ist – was wir alle hoffen.«

»Vielen Dank. Und jetzt fahren wir da mal hin, zu Kalupkas Gründerzeitvilla an der Hauptstraße. Der Wilfried soll auch mitkommen. Lieber einer zu viel als zu wenig.«

»Kann ich nicht auch mit?«, bat Hedwig Hagenkötter von ihrem Schreibtisch aus. »Alle sagen, dass das ein so schönes Haus ist. Ich würde es zu gern mal sehen!«

»Du bleibst hier, und über deine Fortbildung müssen wir dann auch noch mal reden. Schick den Antrag bloß nicht weg, verstanden? Die Dinge haben sich geändert.« Ewalds Stimme klang resolut.

Seit er sich mit der Witwe Zentner zusammengetan hatte, war er energischer und strenger geworden, aber auch besser gelaunt.

Hedwig Hagenkötter nickte ergeben und dachte insgeheim, dass sie den Antrag spätestens heute Abend in den Briefkasten werfen würde. Ewald war ein guter Chef und hatte ihr noch nie etwas abgeschlagen. Sie würde ihn schon noch rumkriegen. Hedwig Hagenkötter liebte Fortbildungen, und ihr Büro war mit Zertifikaten gepflastert, die sie in jeder Disziplin als Expertin auswiesen.

»Weiß Wilfried schon Bescheid?«, erkundigte sich Ewald Schmeing.

»Der holt bereits den Wagen!«, verkündete Hedwig Hagenkötter.

»So ein Blödsinn, da sind wir doch schneller zu Fuß!« Ewald Schmeing schüttelte den Kopf.

Die Eingangstür des zweistöckigen Hauses stand sperrangelweit offen. Thekla Wissing saß breitbeinig auf den rosafarbenen Marmorstufen, die von der gepflasterten Auffahrt ins Haus führten. Sie trug schwarze Leggins und ein leuchtend gelbes T-Shirt. Ihr Gesicht war fast so weiß wie die Rolle Küchentücher, in die sie hineinweinte. Sie zitterte. »Wo ist denn mein Markus?«

Der Kriminaloberrat überhörte die Frage, zog sich blaue Plastikschoner über die offenen Sandalen und stellte in strengem Ton klar: »Du hast doch wohl hoffentlich nichts angefasst?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich pack da nix mehr an!«

»Dann ist ja gut.« Wie einem braven Kind tätschelte er ihr die Schulter und ging ins Haus.

Annalena setzte sich neben die blasse Frau auf die Marmorstufen und griff nach ihrer zitternden, noch in rosafarbene Gummihandschuhe verpackten Hand. »Alles wird gut.«

»Nichts wird gut«, fauchte Thekla. »Und überhaupt, mit Ihnen red ich nicht.«

»Wir brauchen aber Ihre Aussage …«

»Sie kriegen die nicht von mir, Sie nicht«, zischte Thekla, zog schluchzend die Hand zurück und den Handschuh aus. Dann stand sie schwerfällig auf.

Annalena hob die Schultern. Sie streifte sich Latexhandschuhe über, schlüpfte auch in blaue Plastiküberzieher und betrat die Diele.

Dort beugten sich bereits Ewald Schmeing und Wilfried Lütke-Tillmann über einen eigenartig verrenkt liegenden Mann.

»Da hätt ich ja heute Morgen lange warten können«, murmelte Annalenas Vorgesetzter. »Der unterschreibt keinen Darlehensvertrag mehr. Nie mehr.«

»Tot?«, fragte Annalena.

Ewald Schmeing nickte. »Rührt besser nichts an, bis Horst mit den Jungs von der Spurensicherung da ist. Meine Güte, ist das hier sauber. Und so leer. Was sagt eigentlich Thekla dazu? Ist ihr was Ungewöhnliches aufgefallen, fehlt vielleicht was?«

Annalena hob die Schultern. »Die spricht nicht mit mir.«

Der Kriminaloberrat seufzte demonstrativ. »Frauen! Markus wird schon gewusst haben, warum er von zu Hause ausgezogen ist. Ich rede mal mit ihr.« Er richtete sich langsam auf und befahl seiner Hauptkommissarin und dem Oberwachtmeister, sich schon mal im Hause umzusehen.

»Guck lieber nicht so genau hin«, warnte Wilfried Lütke-Tillmann seine Kollegin und legte die Lupe beiseite. »Der ist nicht mehr ganz frisch. Die erste Madengeneration ist schon zugange. Gibt’s hier ’ne große Kühltruhe?«

Sie sah ihn verständnislos an.

»Wenn wir ihn einfrieren, können wir den Wachstumsprozess stoppen. Der liegt garantiert schon sechsunddreißig Stunden hier rum. Und das bei der Hitze!«

Annalena nickte und hielt sich ein Taschentuch vor die Nase. »Ich rieche es. Ist das wirklich der Sparkassendirektor?«

»Wie, du kennst den nicht?«

»Nein.«

»Du Glückliche. Darf ich vorstellen, das da war Felix Kalupka, der Herr des Geldes. Ist erst vor drei oder vier Monaten nach Kalverode gezogen. Mit dem muss jeder reden, der sein Konto überziehen oder gar einen Kredit haben will. Also praktisch alle, die Stress mit der Knete haben.«

Annalena umrundete die Leiche. »Und wenn er einen Antrag ablehnt, hat er sich automatisch einen Feind gemacht?«

»Gut möglich.«

»Ruf Hedwig an. Sie soll sich mit der Bank in Verbindung setzen und herausfinden, wer in Sachen Darlehen vorgesprochen hat und abschlägig beschieden wurde.«

»Und das Bankgeheimnis?«

»Wird vom Staatsanwalt kurzerhand außer Kraft gesetzt, oder? Damit kann sie zumindest schon mal drohen.«

Während Wilfried telefonierte, sah Annalena sich den Toten an. Felix Kalupka lag auf dem Rücken. Die verdrehte Lage des Kopfes ließ einen Genickbruch vermuten. Der winzige Schnitt unterhalb des rechten Auges könnte von einem ausgerutschten Rasiermesser stammen. Vielleicht war er einfach nur die Treppe hinuntergestürzt, vielleicht war alles nur ein Unfall. Sie würden das Bad genau untersuchen.

Trotz der hochsommerlichen Hitze überzog sich ihr Körper mit Gänsehaut. Sie fror. Nein, das war kein Unfall. Sie ging einen Schritt zurück. Irgendwas stimmte hier nicht. Das hatte sie im Gefühl.

Die großen Buntglasfenster tauchten die Eingangshalle der Gründerzeitvilla in ein dezentes Licht, und Annalena dachte an ihre letzten Ermittlungen. Damals hatte sie zum ersten Mal begriffen, dass Verbrechen viel über die Beziehung zwischen Täter und Opfer verrieten. Wenn Felix Kalupka die Treppe hinuntergestoßen worden war, so musste die Beziehung zum Täter sehr intensiv gewesen sein. Sie holte ihr Notizbuch hervor und schrieb, ohne groß nachzudenken, das Wort »Leidenschaft« hinein. Bereits beim Schreiben wusste sie, dass sie darüber schon sehr bald den Kopf schütteln würde. Doch aus irgendeinem Grunde erschien es ihr notwendig, diesen ersten Eindruck festzuhalten, und sei es nur deshalb, um das Wort Leidenschaft aus ihrem momentanen Denken zu entfernen.

Ewald Schmeing hatte Thekla Wissing zur Seite genommen und sie zu dem schmiedeeisernen Gartenbänkchen am Rande der Einfahrt geführt. Dort saßen sie nun nebeneinander unter einer ausladenden Trauerrotbuche, deren glänzende Blätter im Wind raschelten und an diesem späten Sommervormittag für eine leichte Brise sorgten.

Wie schön es hier ist, dachte Ewald und betrachtete die Frau an seiner Seite. Die hatte ihre Lippen so fest aufeinandergepresst, als wolle sie nie wieder sprechen. Er sah auf seine Armbanduhr und gestand ihr und sich eine dreiminütige Schweigepause zu. Thekla Wissing wurde unruhig. Nach exakt einhundertachtzig Sekunden drehte er sich zu ihr und fragte: »Warum redest du nicht mit Annalena?«

In aggressivem Flüsterton antwortete Thekla: »Seit die da ist, läuft alles schief. Mein Mann hat mich verlassen.«

»Ich weiß, aber das hat nichts mit unserer Hauptkommissarin zu tun. Das weißt du auch!«

»Pfff«, schnaufte sie. »Du sagst doch immer: Es gibt keinen Zufall. Zufall ist das, was uns vom Schicksal zufällt. Und was fällt mir zu, kaum dass die da ist? Ein Unglück nach dem anderen. Schick sie weg.« Sie begann wieder zu schluchzen.

»Das geht nicht. Sie ist meine beste Mitarbeiterin, und außerdem ist ihr Vater auf sie angewiesen. Du weißt doch, dass der krank ist.«

»Jahrelang war Markus dein bester Mitarbeiter. Und jetzt ersetzt du ihn einfach so durch dieses junge Huhn. Das hat ihn so gekränkt, dass er mich verlassen hat. Und jetzt finde ich einmal im Leben einen Toten, und du kommst mit diesem Mädchen hierher, statt meinen Mann mitzubringen, der doch Experte ist für die Beweissicherung. Du selbst hast ihn zu all diesen Fortbildungen geschickt, für die er dann auf die Wochenenden mit mir verzichten musste. Ich will mit ihm reden, nur mit ihm.«

Ewald horchte auf. »Hast du denn was zu sagen? Hast du was gesehen, ist dir was Ungewöhnliches aufgefallen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich hab schon die ganze Zeit darüber nachgedacht. Und wenn, dann hätte ich mich doch früher bei euch gemeldet.« Ihre Stimme zitterte. »Weißt du, ich putz da ahnungslos vor mich hin, und da liegt der schon wer weiß wie lange tot auf den Fliesen rum. Wie kann denn so was passieren? Das darf doch gar nicht sein!«

»Wir reden später darüber. Jetzt beruhige dich erst einmal.«

»Ich will mich aber nicht beruhigen!« Thekla Wissing stampfte mit dem Fuß auf.

Aus den Augenwinkeln heraus sah Ewald, wie der Notarzt zu seinem Wagen ging und dabei sein Handy bediente.

»Sekunde mal.« Er ließ Thekla Wissing auf der Bank zurück und hechtete zum Sanitätswagen. »Können Sie der Zeugin dort auf der Bank bitte eine Beruhigungsspritze geben und sie ins Krankenhaus bringen? Ich nehm das auf meine Kappe. Sie soll dort ein Einzelzimmer bekommen und am besten für die nächsten drei bis vier Tage aus dem Verkehr gezogen werden. Wir verhängen eine Nachrichtensperre über den Fall, und bei der da müssen wir eben ein bisschen nachhelfen, dass nichts nach außen dringt.«

»Wie eine Quasseltante sieht die aber gar nicht aus.«

»Der Schein trügt. Wer sie kennt, der fürchtet sie«, log Ewald. Er wusste, dass bereits ein einziger Satz genügte, um die Stadt mit den wildesten Gerüchten zu überfluten. Und das war das Letzte, was er und sein Team noch brauchten.

»Gut. Dann nehm ich sie mit.« Der Notarzt versuchte ein Lächeln. »Schreckliche Sache da drinnen. Hoffentlich kriegt ihr bald raus, wer das war.«

»Das hoffe ich auch.«

Nachdenklich ging Hauptkommissarin Annalena Brandt durch die Diele des spärlich eingerichteten Gründerzeithauses. Damals haben sich die Leute noch Platz gegönnt, dachte sie, während sie über das große schwarz-weiße Kachelmuster schritt. Wenn sie eine solche Diele hätte, würde sie darin Schach spielen. Hinter einer angelehnten Tür unter der Freitreppe entdeckte sie tatsächlich zweiunddreißig große und glänzende Schachfiguren aus poliertem Holz.

»Da hatte ja einer die gleiche Idee«, murmelte sie. »Wie schön.« Durch Bleiglasfenster gefilterte Sonnenstrahlen überzogen den Raum mit regenbogenfarbenen Lichtreflexen. Gegenüber von der Eingangstür hatte der jetzige Mieter des Hauses ein Halbprofilporträt von sich aufgehängt. Es passte auf eine eigenartige Weise zu der gigantischen Diele und erweckte den Eindruck, als diene der Raum nur dazu, diesem Bildnis Platz zu bieten.

Annalena fragte sich, wie eitel Felix Kalupka gewesen sein mochte. An Selbstbewusstsein hatte es dem jungen und dynamischen Sparkassendirektor offensichtlich nicht gemangelt. Das großformatige Bild war mit Ölfarbe auf Leinwand gemalt und zeigte ein interessantes schmales Gesicht mit einem sinnlichen Mund. Kinn und Mundpartie waren von dunklem Bartschatten gezeichnet, eine hohe Stirn mit Geheimratsecken und unter buschigen Augenbrauen hellgraue Augen mit Einsprengseln wie von dunklem Schiefer. Eine gerade Nase und perfekt geformte Ohren.

Hinter sich hörte sie Horst Toplischek und seine Mannschaft, nahm die typischen Geräusche der Tatortarbeit und das Knistern der keimfreien Schutzkleidung wahr, in die die Spurensicherer gestiegen waren. Vermutlich schwitzten sie darin wie in einer Sauna.

Der Gerichtsmediziner hatte die Leiche schon in eine Bergungswanne legen und direkt zum Bereitschaftsdienst des Instituts für Rechtsmedizin nach Münster bringen lassen. »Gut, dass es hier keine Truhe gibt«, kommentierte er Wilfrieds übereilten Vorschlag. »Einfrieren! So ein Schwachsinn! Das Larvenwachstum wird durch Abtöten in hochprozentigem Ethanol gestoppt. Da wird auch gleich alles konserviert. Meine Mitarbeiter bestimmen dann mit dem Auflichtmikroskop das Alter der Maden und den genauen Todeszeitraum. Was für ein Glück, dass Sie den nicht gleich eingefroren haben! Morgen mehr!«

Als sie den Toten anhoben, fiel aus seiner Tasche ein dunkelgraues handgenähtes Leinensäckchen mit acht Euromünzen.

Annalena beschloss, die Spurensicherer nicht zu unterbrechen oder gar mit Fragen von ihrer Arbeit abzuhalten. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass es wesentlich mehr Klarheit brachte, die Erkenntnisse der kriminaltechnischen Untersuchung in einem Protokoll nachzulesen, das von Hedwig gegliedert, geordnet und getippt worden war. Immerhin hatte die Schreibkraft der Polizeidienststelle Kalverode für diese Art von Qualifikation mindestens drei oder vier Fortbildungen besucht und stellte immer wieder gerne ihr Können unter Beweis.

Was für ein Mensch war der Tote wohl gewesen? Ob er eine Freundin gehabt hatte, die abends mit ihm in dieser Diele Schach spielte? Wenn es draußen regnete, hatten sie womöglich Kerzen angezündet, Rotwein getrunken und abwechselnd ihre hölzernen Figuren verschoben. Und von der Galerie aus hatten sie dann womöglich einen Blick auf das Spielfeld geworfen, um überrascht oder erschreckt auszurufen: »Wie konnte ich diesen Zug nur übersehen!«

Wenn sie hingegen heimkam und ihren Schlüssel ins Türschloss steckte, war da nur ihr Vater. Abend für Abend. Gestützt auf seinen Rollator, erwartete er sie in der um einiges kleineren Diele seines Hauses. Als hoffe er darauf, dass sie ihm allabendlich die bunte Welt in sein tristes Dasein hineintrage. Dabei war er derjenige, der wesentlich mehr wusste als sie, da er von seinen Zuträgerinnen und Verehrerinnen über alles informiert wurde. Die Kriminalhauptkommissarin fragte sich, wie lange es trotz Nachrichtensperre dauern mochte, bis ihr Vater auch über Felix Kalupkas Ableben Bescheid wusste.

Horst Toplischek trat neben sie und holte sie aus ihren Tagträumen. »Wir haben hier alles gesichert. Soll das Haus als Ganzes versiegelt werden?«

Sie nickte. »Ja, unbedingt.«

»Und wenn es nun ein Unfall war?«

»Glaubst du das?«

Er schüttelte den Kopf.

2. Kapitel

Erst gegen vierzehn Uhr trafen Ewald Schmeing, Annalena Brandt und Wilfried Lütke-Tillmann wieder im Alten Amtshaus ein. Horst Toplischek wollte noch eine Stunde lang das Haus durchkämmen, wie er es nannte. Ewald und Wilfried waren nass geschwitzt und erschöpft und verschwanden als Erstes im Keller der Dienststelle, wo sich noch aus Zeiten der einst hier residierenden Volkshochschule ein weiß gekachelter Dusch- und Umkleideraum befand.

Unter den Nägeln des Toten waren fremde Hautpartikel entdeckt worden. In der Nähe der Leiche hatte man vier Haare, davon zwei mit Wurzeln, sowie die Hälfte eines abgerissenen Druckknopfes gefunden. Diese Fundstücke waren von Horst Toplischek in einer Plastiktüte verwahrt, säuberlich beschriftet und mit einer ins Diktafon gesprochenen Anmerkung katalogisiert worden.

Annalena Brandt drehte mit geübtem Griff ihr aschblondes Haar zusammen und befestigte es mithilfe eines Bleistiftes, fuhr dann ihren Rechner hoch und nahm es kaum wahr, als Markus Wissing zu ihr ins Zimmer trat.

Er stellte sich neben sie. »Und?«

»Gleich, warte einen Moment.« Sie wirkte gestresst.

Mit schnellen Tippbewegungen gab sie ihr Passwort ein und überflog ihre E-Mail-Nachrichten. Wissings Blick glitt über die Linie ihres langen Halses. Was für ein schöner Nacken, dachte er und riss sich zusammen, um die Kollegin nicht zu berühren. Beschämt erinnerte er sich daran, mit welchem Widerstand er und Kollege Ottenhöver Annalena in den ersten Wochen begegnet waren. Sie hatte es wirklich nicht leicht mit ihnen gehabt. Vor allem Jörg Ottenhöver hatte sich in eine derart unverständliche Wut auf die Polizeihochschulabsolventin hineingesteigert, dass er es nicht mehr in Annalenas Gegenwart ausgehalten hatte. Erst war er krank geworden, und dann hatte er sich nach Gütersloh versetzen lassen. Das war gerade mal vier Wochen her. »Ich halt diese Neunmalkluge einfach nicht mehr aus«, hatte er den männlichen Mitgliedern der Polizeistation an einem bierseligen Feierabend anvertraut. »Ihr müsst ja auch nicht mit der in einem Zimmer sitzen. Die geht mir so was von auf’n Sack! Dat könnt ihr euch gar nicht vorstellen!«

Markus erinnerte sich daran, wie fair Annalena Brandt zu Ottenhöver und ihm gewesen war, als ihnen beim letzten Fall alles aus dem Ruder zu laufen drohte. Sie hatte keinen von ihnen hängen lassen oder gar vorgeführt, obwohl er und Jörg verdammt viele Fehler gemacht hatten. Plötzlich merkte er, dass er rot wurde, und strich sich über seine schwarze Elvis-Presley-Tolle.

Die Hauptkommissarin blickte von ihrem Computer auf und nickte knapp in seine Richtung. »Kannst du mal frische Tapetenrollen holen? Ich werde unser Mindmap neu bespannen.«

Markus war erleichtert. Wenn die Kollegin für so was Zeit hatte, musste der Anruf seiner Frau vorhin ein Fehlalarm gewesen sein. Mit federnden Schritten ging er über den Flur und öffnete die Tür zu dem fensterlosen Raum, der ihnen als Archiv und Materiallager diente.

An die Notizen auf der Rückseite von wild gemusterten Tapetenrollen hatten sie sich inzwischen alle gewöhnt. Mit den großen Papieren bespannte Annalena Brandt den riesigen Wandspiegel im ehemaligen Yoga- und Ballettübungsraum der einstigen Volkshochschule. Als die Polizeidienststelle vor einigen Jahren ins Alte Amtshaus ausgelagert worden war, hatte man die Spiegelwand hängen lassen. Markus erinnerte sich, dass Jörg Ottenhöver sich gerne darin betrachtet hatte, während Annalena den Spiegel gehasst, ihn bei erster Gelegenheit mit weißem Papier bespannt und ihn »unser Mindmap« genannt hatte. Wenn gerade kein aktueller Fall anstand, wurden hier die Ideen und Verbesserungsvorschläge aller Mitarbeiter schriftlich festgehalten.

Jeder durfte an die Wand schreiben, was ihm gefiel oder missfiel, und während Markus auf dem leer geräumten Schreibtisch seines Kollegen neue Tapetenstücke zurechtschnitt und behutsam die alten von dem Spiegel löste, las er, was seine Kollegen und auch er in den vergangenen Wochen mal wieder an Wünschen und Erwartungen hingekritzelt hatten: »Der Kaffee könnte stärker sein«, »Eine Gehaltserhöhung wäre nicht schlecht«, einer oder eine hatte anonym und in Druckbuchstaben den Wunsch nach weicherem Klopapier geäußert und hinzugefügt, dass auch die Fenster mal wieder geputzt gehörten. »Ich hätte gern eine Ruheliege in meinem Zimmer, dürfen sich dann gern auch mal andere drauflegen«, hatte Horst Toplischek von der Spurensicherung geschrieben. Markus grinste. Toplischek hatte doch sicher inzwischen sein Kurznickerchen im Schreibtischstuhl perfektioniert. Aber vermutlich war ihm mittlerweile auch das zu unbequem. Sie wurden ja alle nicht jünger.

Na ja, dann würden sie sich eben später bei Kaffee und Kuchen über die Kritzeleien auf dem alten Mindmap austauschen. Er hatte also recht gehabt. Nichts war passiert. Wissing war heilfroh, dass er nicht auch noch mit ausgerückt war, um seiner hysterischen Thekla zu begegnen. Das war wirklich das Letzte, was er momentan brauchte.

In den vergangenen zwei Stunden hatte er erst eine Patience an seinem Computer gelöst und anschließend die Todesanzeigen in den Kalveroder Nachrichten studiert. Seit dem Tod seiner großen Liebe erschienen ihm alle Trauernachrichten wie tröstende Botschaften, wie zuversichtliche Abschiedsbriefe von Männern und Frauen, die sich aufgemacht hatten in jenes Land, in dem auch Stefanie nun weilte. Je öfter er an seine einstige Geliebte dachte, desto sicherer war er sich: Mit Stefanie wäre er glücklich geworden. Er hätte nicht zögern dürfen. Dann wäre alles anders gekommen. Bei Thekla hatte es in den letzten Jahren nur Vorwürfe und unerfüllbare Forderungen gegeben. Gut, dass er aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen war. Allmählich gewöhnte er sich an seine Junggesellenexistenz und schätzte das freie Leben in seiner Dreizimmermietwohnung.

»Theklas Anruf vorhin war Fehlalarm, oder?«, stellte er gut gelaunt klar und heftete die erste weiße Bahn über den Spiegel. »Ich kenn doch meine Thekla: Wenn die sich eine Horrorstory ausdenkt, ist das allererste Sahne. Weißt du, Annalena, die guckt einfach zu viele Thriller im Fernsehen. Hab ich immer schon gesagt. Sie will immer nur dieses Gruselzeug sehen, Liebesgeschichten machen sie traurig, behauptet sie.«

Annalena sah nicht auf. »Von wegen Fehlalarm! Da lag wirklich ein toter Mann in der Villa.«

Erst jetzt fiel ihm auf, wie blass sie war.

»Es ist der Sparkassendirektor«, fuhr sie fort. »Und jetzt schon mal für dich als Vorabinfo: Wir haben eine absolute Nachrichtensperre über den Fall verhängt. Hat Hedwig dir gar nichts erzählt?«

Ungläubig schüttelte Markus den Kopf. »Nein. Ich hab nur gesehen, wie sie ans Telefon gegangen und dann aus dem Haus geschossen ist.«

»Sag mal, wo warst du die ganze Zeit? Wir haben versucht, dich zu erreichen, denn wir hätten lieber dich als Hedwig losgeschickt.«

»Ich hab im Keller geduscht«, gestand er. »Hier war ja nichts los, nur der Anruf für Hedwig – und dann war sie weg und hat mir nichts gesagt.«

Annalena nickte. »Sie ist zur Sparkasse marschiert, um was zu recherchieren. Wir müssen auf jeden Fall gleich mit dem Mindmap anfangen. Wenn Hedwig zurückkommt, können wir ihre Informationen gleich miteinbeziehen.« Die Hauptkommissarin holte einen dicken Filzstift aus ihrer Schreibtischlade und schrieb mit Druckbuchstaben den Namen »Felix Kalupka« in die Mitte der Tafel.

Erneut wandte sie sich an Markus: »Nur zur Info: Deine Frau haben wir ins Krankenhaus bringen lassen. Nichts Schlimmes, nur ein leichter Schock. Aber Ewald will, dass sie ein paar Tage dort bleibt. Er hat eine Nachrichtensperre verhängt, und es wäre dumm, wenn jetzt schon das Gerede beginnt.«

»Ich fass es nicht«, murmelte Markus Wissing und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Plötzlich tat Thekla ihm leid. So stolz hatte sie ihm von ihrem neuen Job als Hausdame erzählt. Und er war heilfroh gewesen, dass sie endlich etwas zu tun hatte. Und jetzt das! Garantiert stand sie unter Schock, sie ließ ja alles so nah an sich ran. Als er sie damals kennenlernte, hatte er sie deswegen besonders geliebt – später hatte es ihn nur noch genervt.

»Sag mal, auf welcher Station ist sie?«, fragte er und heuchelte Interesse.

»Psychiatrie, denk ich. Sie hat eine Beruhigungsspritze gekriegt, und der Notarzt hat sie gleich mitgenommen. Soweit ich weiß, kriegt sie ein Einzelzimmer – und darin sollte sie auch ein paar Tage bleiben …« Annalena bemühte sich um einen sachlichen Ton. »Würdest du deine Frau als verschwiegen bezeichnen?«

Markus Wissing schüttelte den Kopf. »Nee, wirklich nicht. Eher das Gegenteil. Thekla ist ’ne echte Quasselstrippe. Vor allen Dingen, wennse grad nichts weitersagen soll.«

In diesem Augenblick trat Schmeing in Annalenas Büro. »Dat magste wohl sagen«, bestätigte er Wissings Aussage. »Nee, die soll erst mal ihre Schnüss halten. Klatschtantenquarantäne, falls es so was gibt.«

Lütke-Tillmann und Toplischek kamen herein und bauten sich geschäftig neben der frisch bespannten Wand auf. »Gibt’s schon was zum Aufschreiben?«

»Wir müssen eine Sonderkommission bilden«, erklärte Schmeing. »Und damit nicht wieder jeder seinen eigenen Stiefel ermittelt, soll Annalena die Koordination übernehmen. Sie hat das ja schon einmal sehr gut gemacht. Ich bin dafür, dass sie die Aufgaben verteilt und dass bei ihr auch alles zusammenläuft. Die hat ja schließlich dadrauf studiert«, witzelte er, um die Situation zu entspannen. »Gut, dass wir nun ’ne Expertin haben.«

»Ich weiß genau, was Jörg jetzt sagen würde.« Markus setzte sich auf den mit vollgekritzelten Tapetenrollen belegten Schreibtisch seines Exkollegen.

»Wir brauchen keine dummen Bemerkungen. Die Sache ist ernst genug«, mahnte Ewald Schmeing ungewöhnlich streng.

Markus schluckte.

»Was ist eigentlich mit Ottenhövers Nachfolgerin? Wann kommt die Neue?«, fragte Wilfried Lütke-Tillmann. »Jetzt können wir die doch wirklich gut gebrauchen.«

»Morgen«, antwortete Ewald Schmeing und betrachtete die große weiße Fläche. »Hedwig wird Blumen besorgen. Hoffentlich vergisst sie es nicht.«

»Ach, der geht doch nie was durch die Lappen«, stellte Lütke-Tillmann klar.

Um genau sechzehn Uhr fünf wachte Thekla Wissing in einem weißen Krankenhausbett auf und starrte an die Decke. Was war los mit ihr? Wie war sie hier gelandet und warum? Ihre Arme waren fixiert, als hätte sie um sich geschlagen oder als wolle man verhindern, dass sie auf und davon flöge. In der Armbeuge klebte ein Pflaster. Sie war allein. Die Fenster zu ihrer rechten Seite standen weit offen. Weiße Gardinen mit hellblauen Streifen bewegten sich im kaum spürbaren Wind und fächelten ungewöhnlich schwüle Luft ins Zimmer. Thekla schwitzte. Dieses Schwitzen hatte eindeutig nichts mit den bevorstehenden Wechseljahren zu tun, sondern speiste sich aus einer jähen und abgrundtiefen Entrüstung. Sie probte einen Schrei. Er hörte sich heiser an. Dann holte sie tief Luft und schrie erneut um Hilfe.

Die weiße Tür öffnete sich ungewöhnlich schnell, und eine kleine, drahtige Schwester kam ins Zimmer geschossen. »Geht es uns besser?«

»Wieso uns?« Thekla sah sich um.

Die Schwester lächelte sanft und löste die Fixierungen an den Händen der Patientin.

»Was soll das?« Thekla setzte sich auf und strich sich das Haar zurück. »Ich will nach Hause.«

»Das geht nicht. Wir müssen Sie noch ein wenig beobachten.«

»Mich? Beobachten? Wieso das denn?«

»Sie stehen unter Schock.«

»Quatsch. Mir geht es gut. Wo ist mein Mann?«

Der Blick der weiß gekleideten Krankenschwester wurde um einiges besorgter. Sie begriff: Diese Frau war nicht umsonst vom Notarzt mit einem schweren Beruhigungsmittel sediert worden, bevor man sie eingeliefert hatte. Jetzt phantasierte sie also von einem Mann, dabei trug sie gar keinen Ehering. Mit sanfter Stimme erkundigte sie sich: »Wen sollen wir denn benachrichtigen? Bisher hat niemand nach Ihnen gefragt.«

»Gehen Sie zur Polizei«, befahl Thekla. »Die kennen mich. Und dann soll der Markus kommen. Und zwar sofort.«

»Markus?«

»Ja.« Thekla wurde ungeduldig. »Nun machen Sie schon.«

Die Schwester zog die Stirn kraus. »Ich kümmere mich darum«, versicherte sie und verließ das Zimmer.

Auf dem Flur lehnte sie sich an die weiß gekachelte Wand und starrte auf den Linoleumboden. Sie hatte in der vergangenen Woche während ihrer Nachtdienste einen Thriller über eine Stalkerin gelesen, der sie aufs Tiefste verstört hatte. Sie hätte nie gedacht, dass es so etwas auch in Kalverode gab. Nach außen hin wirkten solche Menschen völlig normal und waren doch von einer gefährlichen Obsession getrieben. Sie erinnerte sich an einen Vortrag zu diesem Thema und an die verschiedenen Stalkertypen. Diese Patientin gehörte vermutlich zum Typus der erotomanischen Verfolgerin – sonst wäre sie nicht eingeliefert worden.

Der arme Kerl, der von ihr behelligt wurde. Heilfroh würde der über ein paar Tage Ruhe sein.

Die Krankenschwester holte Luft, kam ins Zimmer zurück und log: »Ich hab Bescheid gesagt.«

»Das wurde auch Zeit.« Thekla stakste mit ihrem hinten weit auseinanderklaffenden Krankenhausnachthemd durch das Zimmer und suchte offensichtlich nach ihrer Kleidung. Die war auf Geheiß des Notarztes weggeschlossen worden.

»Was ist eigentlich passiert? Und wo ist meine Uhr?«

»Ich weiß es nicht genau.« Man hatte der Schwester gesagt, dass alles, was mit dieser Patientin zu tun hatte, der absoluten Geheimhaltung unterlag, und sie wollte keinen Fehler machen.

»Können Sie mir bitte den Schrank aufschließen? Vielleicht sind da ja meine Sachen drin«, fragte Thekla mit kleinlauter Stimme und setzte sich wieder aufs Bett.

»Ich schau mal«, antwortete die Schwester und murmelte besänftigend: »Alles wird gut.«

Thekla Wissing schüttelte den Kopf und widersprach: »Gar nichts wird gut. Und das wissen Sie genauso gut wie ich. Machen wir uns also nichts vor.«

»Man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Niemals«, entgegnete die Schwester.

Thekla Wissing hatte das Gefühl, dass ihr dieser Satz gerade noch gefehlt hatte. »Die Hoffnung?«, rief sie aus. »Die Hoffnung ist eine Hure, die sich mit Verzweiflung bezahlen lässt, so ist das nämlich, nur dass Sie es wissen.« Puh. Das tat gut. Sie hatte diesen Satz irgendwann mal gehört oder gelesen und ihn sorgfältig weggeschlossen. Für den richtigen Augenblick. Und der war jetzt gekommen.

Die Schwester zuckte zusammen und schlug ein Kreuzzeichen. Dann verließ sie den Raum.

Noch immer verwirrt, legte Thekla sich in ihr Bett zurück und starrte an die Decke. Was war los? Warum war sie nicht zu Hause oder in der schönen Villa, wo sie doch ihrer Tätigkeit als Hausdame nachgehen musste? Was würde der Chef denken, wenn nicht alles blitzte?

Da war doch was gewesen? Kurz bevor sie hier an diesem eigenartigen Ort wieder aufgewacht war, hatte sie etwas gesehen. Sie legte sich flach auf den Rücken, faltete die Hände und versuchte sich zu erinnern. Bilder von einer neonfarbenen Krawatte, einem schwarzen Seidenhemd und einer verrutschten dunklen Hose zogen vorbei, ein roter Damenslip im Mülleimer. Aber wem nur hatte diese quietschbunte Krawatte gehört?

Thekla Wissing sah sich hektisch über die schwarz-weiß geflieste Diele der Gründerzeitvilla laufen. Über diesen schönen Fußboden. Meine Güte, den hatte sie heute gar nicht gewischt … Sie wusste, dass mit solchen Kleinigkeiten die wirklichen Katastrophen begannen, und ahnte Schreckliches. Einmal nicht aufgepasst – und die Welt geriet aus den Fugen. Man konnte nicht wachsam genug sein. Dann schlief sie ein.

Alle Informationen, derer sie habhaft werden konnten, hatten sie während der vergangenen Stunden zusammengetragen. Viele waren es nicht. Hedwig hatte von der Stadtsparkasse die Namen und Adressen jener sechs Männer mitgebracht, deren Kreditgesuche von Felix Kalupka abgelehnt worden waren. Das Original hatte sie Ewald gegeben und eine Kopie der Kommissarin in die Hand gedrückt. Annalena verschloss die Liste in ihrer Schublade.

Im Hintergrund spekulierte Hedwig mit Ewald und Markus darüber, ob die Kalveroder Frauen besser mit Geld umgehen konnten als ihre Ehemänner oder ob Geldangelegenheiten in dieser Stadt grundsätzlich von den Herren der Schöpfung, möglicherweise sogar ohne Wissen der dazugehörigen Ehefrauen, geregelt wurden. Warum sonst waren nur Männer beim Sparkassendirektor vorstellig geworden?

Der Kriminaloberrat schwieg dazu. Auch er wollte ohne das Wissen seiner Lebensgefährtin bei Felix Kalupka vorstellig werden, um wegen eines Darlehens anzufragen. Sein Haus musste dringend renoviert werden, und Birgit würde sich bestimmt über einen gläsernen Wintergarten freuen. Als Sicherheit hätte er eine Hypothek auf das Gebäude angeboten. Er war ja nicht mehr der Jüngste. Besorgt dachte er an jene Kandidaten, die sich von Kalupka eine Abfuhr hatten einhandeln müssen. Nun war er doch insgeheim froh, dass es nicht zu der Begegnung mit dem Filialleiter gekommen war. Aber deswegen hätte der ja nicht gleich sterben müssen.

»Hast du den Leuten in der Sparkasse eigentlich gesagt, dass über den Fall eine absolute Nachrichtensperre verhängt ist?«, wollte er von Hedwig Hagenkötter wissen.

Die schüttelte den Kopf. »Nee, wusste ich ja nicht. Aber eigentlich haste recht, Chef. Da hätt ich auch selbst drauf kommen können. Soll ich noch mal hin? Die sind sicher noch da, weil sie sich ja besprechen müssen. Oder soll der Wilfried schnell rüberlaufen? Der rennt am schnellsten, ist ja schließlich auch im Fußballklub.«

»Lass nur, das mach ich lieber selbst«, erklärte Ewald Schmeing. »Und ihr tragt währenddessen weiter zusammen, was ihr wisst – alles, jede Kleinigkeit.« Wenn er Glück hatte, waren in der Sparkassenfiliale noch alle da. Montags war die Kasse bis sechzehn Uhr geöffnet. Jetzt war es vierzehn Uhr fünfzig.

Kalverode war eine Stadt der kurzen Wege und hatte – wie fast alle kleineren Städte in dieser Region – eine kopfsteingepflasterte Fußgängerzone, die sich in exakter Linie über knapp achthundert Meter von Nord nach Süd erstreckte. Ewald wechselte die Straßenseite. So hatte er die Eingangstür der Stadtsparkasse im Blick und konnte schon von Weitem sehen, ob jemand – und wenn ja, wer – hinein- oder gar hinausging. Doch es sah so aus, als fände heute kein großer Publikumsverkehr statt. Vermutlich hatte sich die rigide Geldpolitik des Sparkassendirektors bereits herumgesprochen – oder etwa schon der Mord?

Dass er erst jetzt auf diesen Gedanken kam! Ewald begann zu laufen. Seit seinem sechzigsten Geburtstag schwänzte er den Polizeisport, denn ihm ging nichts über seinen Feierabend, wobei sich die Freude darauf vor knapp zwei Monaten verdoppelt hatte: Seitdem wohnte Birgit Zentner bei ihm und vervollständigte allein durch ihre Gegenwart sein Glück. Das Allerletzte, was er so kurz vor seiner Pensionierung noch brauchte, war ein komplizierter Fall, der nicht nur Kraft, sondern auch Nerven kostete und ihn auch noch völlig außer Atem brachte.

Entschlossen trabte er auf den Eingangsbereich der Bank zu. Die Tür war verriegelt. Von innen klebte ein handgeschriebenes Schild: »Vorübergehend geschlossen«. Ewald Schmeing klingelte Sturm. Es dauerte mehr als eine Minute, bis ihm von einem schlaksigen Bürschlein mit ungewöhnlich abstehenden Ohren geöffnet wurde, und der Kriminaloberrat konnte sich ein »Das wurde aber auch Zeit« nicht verkneifen.

Obwohl der junge Mann den Kriminaloberrat genau kannte, hielt dieser ihm demonstrativ seinen Dienstausweis unter die Nase und forderte: »Ich muss mit Ihnen allen sprechen. Und zwar sofort.«

»Ich weiß. Kommen Sie mit.«

Die Angestellten der Sparkasse hockten mit blassen Gesichtern an einem Konferenztisch im hinteren Teil des Gebäudes. Auch der großohrige Lehrling hatte wieder Platz genommen.

Ewald Schmeing setzte sich auf den noch leeren Sessel. Er hatte das ungute Gefühl, dass dies bis vor Kurzem der Platz des Sparkassendirektors gewesen war, und wäre am liebsten gleich wieder aufgestanden. Die führerlosen Angestellten fixierten ihn mit erwartungsvollen Blicken. Vielleicht warteten sie auf einen Satz, der alles als Irrtum darstellte, oder auf ein magisches Wort, das die Zeit zurückdrehte.

Der Kriminaloberrat rutschte auf dem noch neu riechenden Lederpolster hin und her und wandte sich zunächst an die drei Frauen. Eine davon war die Assistentin, eine ausgebildete Bankkauffrau, wie er nun erfuhr, die ihn heute früh so hochnäsig hatte abblitzen lassen. Als er ihr und den beiden Lehrlingen sein Beileid aussprach, bemühten sie sich um Fassung. Die jüngere Praktikantin putzte sich die Nase und wischte sich Tränen aus den Augen, die etwas stämmigere der beiden Auszubildenden weinte hemmungslos. Nur die Assistentin sah mit starrem Blick über ihn hinweg, während die beiden halbwüchsigen Herren in Jeans und gebügelten Streifenhemden auf ihre Hände starrten. Vermutlich handelte es sich auch bei den beiden jungen Männern um Managementanwärter oder Auszubildende – so nannte man ja die Lehrlinge heutzutage. Dabei war Lehrling ein so schönes und klares Wort, dachte Ewald Schmeing. Aber so war das mit der Sprache: Alle schönen und alten Wörter verschwanden.

Apropos Wörter: Über die Angelegenheit durfte kein Wort nach außen dringen. Der Kriminaloberrat fixierte die Anwesenden mit strengen Blicken und stellte unmissverständlich fest: »Nichts geht raus, gar nichts! Ist das klar? Weder ein Wort über Felix Kalupka noch über unsere Ermittlungen. Falls Sie gerade dabei sind, E-Mails oder SMS-Nachrichten mit dieser Information in die Welt zu schicken oder zu twittern – ich warne Sie. Oder ist etwa schon was draußen?«

Wie einstudiert schüttelten alle den Kopf.

»Aber Sie wollten gerade, oder?«

Verhaltenes Nicken.

»Bitte, dann also noch mal zum Mitschreiben. Es gibt eine Nachrichtensperre, und die ist so lange gültig, bis ich sie persönlich wieder aufhebe, ist das klar? Was machen Sie eigentlich hier? Warum sitzen Sie an diesem Tisch? Was wird hier beraten?«

Nun ergriff die verbittert wirkende Assistentin des Sparkassendirektors das Wort und rückte ihre Designerbrille gerade. »Angesichts der Ereignisse des heutigen Vormittags haben wir eine Krisensitzung einberufen, schließlich gibt es einiges zu regeln. Unter anderem geht es darum, einen kommissarischen Nachfolger zu wählen und den parat zu haben, falls wir von oben nach unseren Vorschlägen gefragt werden. Zudem feilen wir an ein paar Sätzen, mit denen wir der Zentrale unsere Betroffenheit, aber auch unsere Bereitschaft vermitteln wollen, trotz des Unglücks unseren Dienst zu verrichten. Das alles muss wohlüberlegt sein.« Sie sprach druckreif.

Langsam und mit Nachdruck fragte Schmeing nach: »Der Sitz des Sparkassenverbandes Westfalen-Lippe ist in Münster-Kinderhaus?«

Alle fünf nickten.

»Dann informieren Sie bitte Ihre Vorgesetzten auch darüber, dass erst dann bundesweite Traueranzeigen geschaltet werden dürfen, wenn ich das Okay gebe. Je weniger Leute von dem Vorfall wissen, desto besser können wir ermitteln. Und Sie wollen ja auch, dass der Fall so schnell wie möglich geklärt wird. Außerdem steht ja noch die Obduktion an.«

Verblüffend gefasst überprüfte die Assistentin mit beiden Händen ihre Hochsteckfrisur. Ewald schätzte sie als Frau ohne Alter und ohne Mitgefühl ein. Er mochte sie nicht.

Die anderen Mitarbeiter der Bank hingegen wirkten verstört und hilflos und hatten ungewöhnlich blasse Nasen. Hatte Hedwig nicht schon unzählige Seminare zur Krisenintervention und Notfallseelsorge besucht? Gut, dass er ihr alle Fortbildungen genehmigt hatte. Sollte sie mal ihr Wissen einsetzen.

Plötzlich begann die Assistentin und rechte Hand des Sparkassendirektors, in ihrer Handtasche zu wühlen, und heftete sich geschäftsmäßig ein Namensschild an das weinrote Jackett. »Isabella Höhler« las Ewald Schmeing. Sie erhob sich und wollte wissen, ob sie ihm einen neuen Termin beim noch nicht erkorenen Nachfolger des Verstorbenen reservieren solle oder nicht.

Der Kriminaloberrat schüttelte den Kopf. »Danke, das hat Zeit. Frau Höhler, was ich von Ihnen noch wissen müsste: Können Sie mir etwas über den persönlichen Hintergrund von Felix Kalupka sagen? Familienstand? Kinder? Lebenslauf? Hat jemand bei ihm in der Villa gewohnt? Ich meine, die ist ja groß genug. Andererseits macht das Haus auf mich den Eindruck, als wäre er noch gar nicht eingezogen.«

»Der war eben dauernd unterwegs«, stellte Isabella Höhler mit scharfem Unterton klar und befahl dem Kriminaloberrat: »Kommen Sie mal mit.«

Ende der Leseprobe