Wider die Masse - René Sydow - E-Book

Wider die Masse E-Book

René Sydow

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Beschreibung

Die erste Subkultur-Anthologie mit Geschichten und Gedichten über keimschleudernde Kleinkinder, die deutsche Fixierung auf den Allerwertesten, Anekdoten über Fastfood-Franchises und über (Alltags-)Apokalypsen. Wir schwelgen in Erinnerungen, entdecken die Unendlichkeit des Augenblicks oder springen jubelnd gemeinsam in den Abgrund. Mit Beiträgen von René Sydow, Falk Fatal, Marion Alexa Müller, Daniel Marschall, Sascha Dinse, Kristjan Knall, Henrik Lode, Sarah Strehle, Jane Steinbrecher, Joost Renders, Matthias Niklas, Clint Lukas, Florian Langbein, Laura Alt, Holly Loose, Jan Lindner, HC Roth, Carsten Klatte, Christian Todoroski, Thomas Manegold. Und einem Cover von AKU!

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Seitenzahl: 232

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www.edition.subkultur.de

Während der COVID 19-Pandemie im Jahr 2020 kam es zu einem sogenannten Shutdown, bei dem flächendeckend das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben in weiten Teilen Europas lahmgelegt wurde. Mit weitreichenden und unabsehbaren Folgen, vor allem für all jene, die auch vorher schon nicht ins gesellschaftliche Raster passten: Neben den „Systemrelevanten“, also den zumeist unterbezahlten Menschen, die Grundversorgung, Gesundheits- und Sozialwesen einer Gesellschaft am Laufen halten, und den Familien mit Kindern, hat es die sogenannten Freiberufler, Freelancer, Selbstausbeuter und Klein- und Kleinstbetriebe besonders hart getroffen.

Die meisten Kulturschaffenden sind so organisiert. So auch wir und unsere Autorinnen und Autoren. Viele konnten und können ihre Tätigkeit nur noch teilweise oder gar nicht mehr ausüben. Und viele sind damit alleingelassen worden.

Diese Anthologie soll ihre Vielfalt abbilden und daran erinnern, dass eine Gesellschaft ohne Bühnenkünstler, Autoren, Musiker, ohne die Wahnsinnigen und die Genies, ohne die Clowns und die Fingerindiewundenleger, ohne die Querdenker und Querfühler, ohne die Nonkonformen und Subersiven, ohne die Exzentriker und Verrückten eine dumme, leere und sehr traurige Gesellschaft ist.

Die Kunst ist und bleibt Lebensmittel.

Laura Alt, Thomas Manegold, Marion A. Müller (Hrsg.)

Wider die Masse

Subkultur Anthologie

Laura Alt, Thomas Manegold, Marion Alexa Müller (Hrsg.) WIDER DIE MASSE (Subkultur Anthologie)

1. Auflage, Mai 2020, Edition Subkultur Berlin

© 2020 Periplaneta – Verlag und Mediengruppe / Edition Subkultur

Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin

www.subkultur.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Handlungen und handelnde Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig. Darüber hinaus berufen wir uns bei Darstellungen vermeintlich wirklichkeitsähnlicher Ereignisse oder Personen auf die Satirefreiheit.

Lektorat & Projektleitung: Laura Alt Cover: AKU! (www.akupower.com) Satz & Layout: Thomas Manegold

Made in Berlin

print ISBN: 978-3-943412-96-3 epub ISBN: 978-3-943412-97-0

René Sydow

René Sydow ist Schriftsteller, Kabarettist, Schauspieler und Regisseur. Er wurde 2018 NRW-Landesmeister im Poetry Slam. Für seine Kabarett-Programme hat er zahlreiche Preise bekommen. 2020/21 startet sein neues Programm „Heimsuchung“.

U.a. sind vom ihm die Bücher „Warnung vor dem Munde“ und „Deutsche Wortarbeit“ bei Periplaneta in der Edition Mundwerk erschienen.

https://www.rene-sydow.de

Auf sie! Mit Gefühl!

AUF SIE MIT GEBRÜLL!

Zum Beispiel auf die Fernsehmacher, die jeden Sonntag zuverlässig einen Tatort versenden. Inhalt: Schauspielerndes Plankton von absolut zuverlässiger Austauschbarkeit spielt eine Handlung, die in etwa so spannend ist, wie einer Kaffeemaschine beim Entkalken zusehen, bis man nach 90 Minuten weiß: Der Böse war’s! Ohne Niveauzuwachs kann man umschalten ins Privatfernsehen, wo Chris Tall, der personifizierte Personalmangel der deutschen Humorindus­trie, mit einer Sendung über den Äther geht, in der Fragespielchen gemacht werden wie: „Ist diese Frau schwanger oder nur fett?“, und „Ist Chris Tall ein sexistischer deutschtümelnder Zotenspießer oder …“ – sorry, kein oder.

Kann nicht einfach eine Gerüstbaufirma das Fernsehen stürmen, ungefragt die Kulissen abbauen, die heiße Luft aus Chris rauslassen, die Batterien aus den Schauspielrobotern entfernen und alle zusammen in einer Sondermülltonne in einer Salzasse in Niedersachsen entsorgen?

AUF SIE MIT GEBRÜLL!

Aber was rege ich mich auf? Gerade sitzen die Deutschen ja nicht vor dem Fernseher. Im Moment sitzen sie auf dem Oktoberfest und den Cannstatter Wasen, den heiteren Varianten des Alkoholismus und der vor sich hin dünstenden völkischen Blaskappellen-Unterhaltung, bei der jeder gesunde Menschenverstand gewaltsam niedergeschunkelt wird.

Die Bahnhöfe sind voll mit maximal betankten Wurstzipfelgesichtern, die wie Bratkartoffeln durch die Gegend eiern und schon auf der Hinfahrt ihr Frühstück durch Mund und Nase der Erde zurückgeschenkt haben. Ich sehe Frauen mit ironisch missverstandenen Heidi-Zöpfchen und ins Haar gelöteten Pflanzenleichen. Gekleidet in Dirndl – der groteske Tiefpunkt des Schneidergewerbes. Sogenannte Kleidung, in der jede Frau aussieht wie ein aus Tütensuppenpackungen zusammengeklebter Spießergartenzaun auf zwei Gehstelzen. Daneben johlende Männer, ach, sagen wir lieber Schweinehälften in Lederhosen, die riechen und sogar aussehen wie ausgekotzter Wurstsalat und nicht müde werden in ihren lallenden Versuchen, die deutsche Sprache zu demütigen. Und was das Schlimmste ist: Diese Leute dürfen alle wählen.

Kein Wunder, wenn die AfD mittlerweile nicht nur als zweitstärkste Kraft aus Umfragen hervorgeht, sondern ihre Brut schon auf Poetry Slams auftaucht. Ich weiß, jetzt kommen die Abwiegeler, die Politiker, die meinen, man müsse die Sorgen der Bürger ernst nehmen. Nein, muss man nicht! Man muss nicht jede bescheuerte Meinung zulassen, bloß weil sie jemand äußert. Ich meine, gut, ich bin ja auch doof, ich versuche tatsächlich noch, mit AfD-Anhängern zu reden, ich bin ja Demokrat. Wäre ich Anarchist, würde ich die Kackbratzen einfach wegbomben.

Ich will diese Bilder nicht mehr in der Tagesschau sehen. Auf den Straßen Neonazi-Homunculi, die einen putzigen Kostümfaschismus aufführen und sich dabei als Herrenrasse fühlen. Dabei hätte Adolf die verfetteten Herrengedecke mit intellektuellem Starter-Kit maximal als Kanonenfutter an die Ostfront geschickt, weil sie mit dem Übermenschenideal so viel zu tun haben wie Klumpfuß Goebbels mit einem Hürdenläufer. Die sehen auch wirklich alle gleich aus. Ist Ihnen das mal aufgefallen? Wie Klone. Es gibt Gegenden in Sachsen, da wird schon seit hundert Jahren geklont. Also, sie nennen es nicht klonen, sie nennen es Cousins.

Liebe Neonazis, Pegidas und AfDler im Saal: Hört doch auf mit diesen lächerlichen Demos und Spaziergängen! Greift endlich zu Mitteln, die uns allen helfen: Hungerstreik und Selbstverbrennung!

AUF SIE MIT GEBRÜLL!

Und Sie wissen jetzt, dass ich so weitermachen könnte. Ich könnte weiter simpel draufhauen, schimpfen. Und es würde sogar Spaß machen. Und eigentlich habe ich nur Angst, denn all die Erwähnten sind sich unglaublich sicher. Das Fernsehen weiß, was ich sehen möchte, die Bierindustrie weiß, wie ich mich amüsieren möchte, die AfD weiß, was die Leute auf der Straße wollen. Alle sind sich so sicher. Auf uns regnen Scheinwahrheiten und Behauptungen, sodass man keinen Grund vor die Tür schickt. Und ich? Ich würde für einen begründeten Zweifel plädieren.

Diese Welt ist verrückt geworden und das können wir nur schwer ändern, aber wir können uns fragen, wer sie verrückt hat, uns in Gesellschaft begeben und diese dann ein wenig verändern, mit Tapferkeit, Zweifel, Humor und vielleicht auch Poesie. Warum denn nicht? Ich wäre bereit für das Gelungene. Poesie heißt: Sage es so schön, wie es nicht ist! Und wenn nur ein Text von irgendjemandem heute Abend Ihr Herz bewegt hat, dann war das doch schon einen Zentimeter weltbewegend.

Also dann, tapfer voran, Poeten! Mit Zweifel und mit Poesie! Dann werden wir mit unseren weißen Blättern Herzwege auslegen, ausgeflaggt mit Sätzen und mit Buchstaben im Spalier. Wir schreiben wieder Texte, in denen die Seiten stechen gegen die allzu Sicheren, gegen Hass und Deutschidyll, und unser Schlachtruf sei: Auf sie! Mit Gefühl!

(Text für die NRW-Poetry-Slam-Meisterschaft 2018)

Der Schatz

Eines Tages … Baby … werden wir reich sein. Oh Baby, werden wir reich sein. Vielleicht auch nur durch Poetry Slam. Und dann werden wir vergessen haben, worum es bei Literatur eigentlich geht. Um Sprache, natürlich! Es geht immer nur um Sprache.

Ein Mensch sagt durchschnittlich 16.000 Wörter am Tag. Warum reden dann eigentlich die meisten so viel Stuss? Nehmen wir zum Beispiel wahllos eine Sache aus dem vergangenen Monat aus der sächsischen Stadt Aue im Erzgebirge. Dort marschierten am 27. Dezember vergangen Jahres ca. 2.000 Damen und Herren, mutmaßlich intellektuell vollkommen unbelastet, durch die Stadt als sogenannte Bürgerwehr, begleitet von Abgeordneten einer Partei namens Der Dritte Weg, diese verteilten Postkarten und Plakate, um für ihre rassischen Ideen ein Zeichen zu setzen. Klarer Gegner der selbsternannten Bürgerwehr: Linke, Pazifisten, Emigranten und die deutsche Rechtschreibung. Auf einem Protestplakat fanden sich sage und schreibe elf Rechtschreib- und Grammatikfehler. Dies ist insbesondere bemerkenswert, da auf dem Plakat nur ein Satz, bestehend aus vier Wörtern, geschrieben stand. Aue im Erzgebirge! Es rächt sich, was man nach 1989 so alles anerkannt hat.

Ich frage mich, ob nur einer aus diesem Gelichter auf Aues Straßen wusste, wie man einen Spiegel durchschaut, wie man ein Lachen faltet, was zum Teufel das Wort Gelichter bedeutet oder wenigstens, wie man sich eine profunde eigene Meinung bildet. Ok, wer keine eigene Meinung hat, hat immer noch den Dritten Weg, Pegida, Pro Chemnitz oder die AfD. Auch in dieser Partei übrigens Spracharmut bis zum Mutismus: Herr Gauland, hat der Mensch etwas mit dem Klimawandel zu tun? Wissen Sie, was das Internet ist? Gibt es intelligentes Leben innerhalb der AfD, das, wenn es den Mund aufmacht, auch weiß, wovon es spricht? Und wenn nein, warum wird es dann Parteivorsitzender? Gauland. So ein Gesicht hängt man sich in Afrika an die Wände. Entschuldigung, jetzt habe ich fast etwas Rassistisches gesagt, aber Lenny Bruce war mal der Ansicht, man soll besonders schlimme Sachen so oft aussprechen wie möglich, damit sie ihre Bedeutung verlieren. Also gut: Andreas Scheuer.

Aber eines Tages, Baby, werden die auch weg sein und am Ende ist da nur noch Sprache, Baby! Sprache und Töne. Es gibt Vögel, die bis zu drei Töne gleichzeitig singen können, wie herrlich, wenn man auch so sprechen könnte.

Sprache muss funkeln, Baby, sie ist doch kein Gebrauchsgegenstand, kein Informationssalbader wie im Internet, wo alle durcheinanderquasseln. 100 Millionen Blogger, die alle nur über sich selbst reden. Der Unterschied zwischen einem Buch und einem Blog ist ungefähr der gleiche wie der zwischen einer Gitarre und einer Ukulele. Früher wollten Jungs E-Gitarre spielen, das war cool, das war lässig, Baby! Heute wollen Jugendliche Ukulele lernen. Ukulele! Das ist nicht mal eine Mandoline. Ukulele, das ist das Instrument der Unbumsbaren. So ein Instrument spielen Jungs, die im Radio bei Liedern wie „Feuerwerk“ mitsingen: „Lass uns leben wie ein Feuerwerk, oh, oh …“

Genau! Oh, oh! Haben Sie mal ein Feuerwerk gesehen? Zwei Sekunden bunt, dann knallt ein halbverkohlter Stab in ein Stück Katzenschiss. Pfui … Frr …

Tut mir leid, ich nehme es zurück, Ukulelen sind super. Das war nur ein Witz. Ein zynischer, das gebe ich zu. Obwohl, eigentlich war das gar nicht zynisch. Zynisch ist es, Tauchern den Atemschlauch anzuritzen, weil man es lustig findet, wenn auch mal ein Nichtraucher nach Luft schnappt.

Immerhin, Blogger schreiben ja noch, parallel gibt es längst eine reine Bilderwelt von Instagram-Influencern, bei denen die Krankheit schon in der Berufsbezeichnung steckt: Influenza! Das klingt nach Reizhusten und Rotz. Nach Trantüten und Nulpen, für die der Begriff Würde nur eine grammatikalische Konditionalform ist in Sätzen wie: „Ich würde mich geil finden, wenn ich so geil wäre wie ich, #geilomat“. Oh heilige Analphabeta! Ich rufe zu dir, dass alle, die mit der Zeit gehen, auch mit der Zeit gehen! Denn Sprache, Baby, ist nicht nur der Hashtag irgendeines Instagram-Schrapnells, Sprache ist nicht das Larifari von Verkaufsschlager-Musik und auch nicht das Parolenschreien der Wendehälse und Übelkrähen.

Sprache ist nicht das Kaufen eines Buches. Sprache ist, was das Buch aus mir macht, in welchen Menschen es mich verwandelt. Literatur ist, was man immer sagen wollte und was man sich nicht zu sagen traut. Es heißt Wort-Schatz, Baby! Behandeln wir ihn endlich so!

Und natürlich, Schreiben ist auch eine Art Existenzverweigerung und stellvertretend möchte ich mich mal beim Publikum bedanken, dass Sie es mir und anderen erlauben, sämtliche anständigen Berufe zu schwänzen.

Und eines Tages … Baby, werden wir reich sein. Vielleicht nur wort-reich. Aber mit scharf geschliffenen Sätzen können wir ganze Städte schnitzen aus Satzbauten und Häuserzeilen. Wir können Alphabeete anlegen, auf denen Buchstabennudeln und Druckerwatte wachsen. Und während Sie jetzt weiter Maulaffen feilhalten, werde ich mich von dieser Bühne subtrahieren, es mir in meinem Oberstübchen gemütlich machen, mein Nachtmahl essen aus Bandsalat und Pustekuchen – und hole die kleine Wortschatzkiste aus dem Regal, voller Firlefanz und Flausen, voll Kokolores und Klimbim. Und ich öffne sie und schaue mir selbst zu, wie ich mich lernend verwandele. Und was machen wir morgen? Bambule, Baby!

(Text für die NRW-Poetry-Slam-Meisterschaft 2018)