Wie das Gehirn "Wirklichkeit" konstruiert - Rainer Bösel - E-Book

Wie das Gehirn "Wirklichkeit" konstruiert E-Book

Rainer Bösel

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Beschreibung

Wie entscheidet das Gehirn zwischen Realität und Fiktion? Anhand von experimentellen Befunden zeigt dieser Band, wie einzelne Regionen des Stirnhirns bei der Fantasieproduktion, bei der Beurteilung des Realitätsgehalts und bei spekulativen Weiterführungen des unmittelbar Wahrgenommenen aktiv werden. So wird erkennbar, dass das Stirnhirn nicht nur an intellektuellen und sozio-emotionalen Funktionen beteiligt ist, sondern auch eine deutende Funktion besitzt. Diese erlaubt es, Erwartungen aufzubauen, in den Kategorien "Als-ob" und "Was-wäre-wenn" zu denken, sowie metaphysische Extrapolationen vorzunehmen. Auswahl und Zusammenstellung der Befunde können einmal mehr deutlich machen, wo sich neuropsychologische und philosophische Fragen berühren.

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Rainer Bösel

Wie das Gehirn »Wirklichkeit« konstruiert

Zur Neuropsychologie des realistischen, fiktionalen und metaphysischen Denkens

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-030265-5

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030266-2

epub:    ISBN 978-3-17-030267-9

mobi:    ISBN 978-3-17-030268-6

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

 

 

Einleitung

1 Hinter der Stirn

Anschein und Wirklichkeit

Das Gehirn als deutende Instanz

Sozialrelevante Leistungen

Intelligenzleistungen

Fiktionales Denken

2 Orientierung

Die Funktionen des granulären Areals

Eigenes Handeln an möglichen Entwicklungen orientieren

Mit Probehandeln mögliche Wirkungen prüfen

Der Einfluss des ACC und der Basalkerne auf das Stirnhirn

Evolution als Voraussetzung und Produkt von Erkenntnis

Nachhaltige Strategien

Operante Konditionierung

3 Die Berücksichtigung von Wahrscheinlichkeiten

Ursachenwissen und glücklicher Zufall

Transnaturales Denken

Qualitätsmanagement im Gehirn?

Illusionärer Aberglaube

Handlungspläne und das Gedankenexperiment

Intuition

4 Die Ich-Beteiligung im Denken

Der Stirnhirnpol

Konfabulationen

Eigenschaften von Ursachen

Vertauschung von Ursache und Wirkung

Zeit und Kausalität

Die Kraft hinter den Kräften

Das Ich und die anderen

5 Vergleichen und Analogien bilden

Die sogenannte Einsicht

Die rechte Hemisphäre

Verwendung von Referenzgrößen

Relationen und Ähnlichkeiten

Spielen

Fiktionen als Stellvertreter

6 Erfahrungen anzweifeln

Der Kartentrick

Zweifel am Kausaldenken

Bedingende Faktoren statt Ursachen

Logisch denken heißt sparsam denken

Konformität

Einige bewährte Regeln im Umgang mit dem Als-Ob

Als-Ob in der modernen Wissenschaft

7 Kommunikation

Sprachliche Beschreibungen und explizite Modelle

Interagieren und Duettieren

»The Imitation Game«

Spiegeln

Indirektes Handeln und Ironie

8 Passung und Bewertung

Die Basis des Stirnhirns

Träumen und unbewusste Einordnungsversuche

Klassische Konditionierung

Mandelkerne reagieren auf virtuelle Realität

Rationale vs. emotionale Bewertungen

Die Angemessenheit eigener Verhaltenstendenzen

Fazit

Literatur

Personenverzeichnis

Stichwortverzeichnis

 

Einleitung

 

 

Vor ein paar Jahren wollten wir untersuchen, wie das Gehirn beim Betrachten von abstrakten, bewegten Mustern reagiert, wie sie manchmal in Filmen mit virtuellen Umgebungen vorkommen (Bösel 2007). Wir wählten die Simulation einer Rutschfahrt, wie sie so ähnlich in einer Wasserrutsche in einem Schwimmbad erlebt werden könnte. Ein Kollege stellte freundlicherweise einen Computer-animierten Film zur Verfügung, in dem sich abstrakte schwarz-weiße Muster so bewegten, als ob der Betrachter in einem gewundenen Tunnel schräg nach unten rutscht. Nun sind die Hirnareale bekannt, mit deren Hilfe bewegte Bilder analysiert werden. Eine Mitarbeiterin aus unserer Arbeitsgruppe, Mareike Heß, wollte einen solchen Befund zunächst wiederholen – das Material bestand ja erst einmal nur aus sich bewegenden Punkten. In anderen Experimenten sollten dann weitere Effekte, möglichst zu täuschend echt wirkender, virtueller Realität untersucht werden.

Zu unserer Überraschung reagierten die meisten Personen, die sich die Bewegung ansahen, anders als erwartet. Zwar war das bekannte, bewegungsempfindliche Areal des Gehirns aktiv, allerdings in geringerem Ausmaß als erwartet. Dagegen erschien auf den Hirnbildern, die der Hirnscanner erzeugte, ein nachgeordnetes Areal in weit größerem Maße gefärbt. Da gab es also noch eine weitere, rätselhafte Aktivität im Gehirn. Und bei einer großen Anzahl von Betrachtern war zusätzlich noch ein drittes Areal aktiv. Dieses lag weit ab von den Seharealen im Stirnhirn. Wir waren völlig verblüfft, weil es sich bei dem Stirnhirnareal um ein Areal handelte, das Bewegungen steuert. Das schien deshalb widersinnig zu sein, weil die betreffenden Personen während des Experiments bewegungslos im Hirnscanner lagen und nichts anderes taten, als die vorgeführte Computeranimation zu betrachten. Warum reagiert das Gehirn auf diese Weise? Denkt es entgegen der Wahrnehmung an wirres Zeug?

Eine zuverlässige Antwort auf die Frage, warum das Betrachten von Punktmustern zu geringfügigen Bewegungsimpulsen im Gehirn beigetragen hat, ließ sich aufgrund anderer Untersuchungen von Frau Heß ermitteln. Offenbar wirkte der durch das Punktmuster erzeugte Bewegungseindruck äußerst suggestiv. Manche Personen erleben eine simulierte Rutschfahrt so, als wäre sie real. Sie machen dabei sogar kleine, unwillkürliche Ausgleichsbewegungen, die tatsächlich als unwillkürliche Muskelanspannung gemessen werden konnten (Heß 1998).

Im Grunde kennt man den beschriebenen Effekt, der beim Betrachten suggestiver Filmszenen auftreten kann. Dennoch ist es faszinierend zu sehen, wie das Gehirn dabei vorgeht. Indem man moderne Verfahren der Bilderzeugung für Hirnprozesse einsetzt, ist unter den genannten Bedingungen im Hirnbild erkennbar, dass ein weit hinten im Gehirn verarbeiteter Seheindruck automatisch zu den im Gehirn vorne liegenden, motorischen Zentren durchgeschaltet wird. Wir wissen aus vielen anderen Untersuchungen, dass Dinge, die wir sehen, im Grunde ihre Bedeutung durch die jeweilige Brauchbarkeit erhalten. Wir nehmen nur das wahr, womit wir etwas anfangen können und was unter Umständen für unser Handlungsrepertoire bedeutsam ist. Man kann den Effekt in der geschilderten Untersuchung nicht einfach als harmlose, optische Täuschung abtun. Vielmehr muss man zur Kenntnis nehmen, dass das Gehirn unter Umständen sehr gezielt auf Eindrücke reagiert, die erkennbar fiktiv sind. Warum hat die Natur das zugelassen? In unserem Beispiel hält das Gehirn sogar einen völlig unrealistischen Bewegungseindruck für wichtig und veranlasst unwillkürlich eine entsprechende Bewegung. Das Gehirn kann die Welt offenbar nicht immer zutreffend abbilden. Es handelt aber so, als ob die von ihm konstruierte Welt die Wirklichkeit wäre.

Es ist mehr als hundert Jahre her, dass der geniale Denker und Kantverehrer Hans Vaihinger (1852–1933) sein Werk über die Philosophie des Als Ob veröffentlichte (Vaihinger 1911). Darin erklärte er, dass Menschen den Wahrheitsgehalt von Sachverhalten gar nicht mit letzter Sicherheit überprüfen können und mitunter auch nicht festzustellen brauchen. Trotz logischer Wiedersprüche und aufgrund weitgehend fantasievoller Annahmen käme man zu Fiktionen, von denen sich viele in der Lebenspraxis bewähren und insofern brauchbar und nützlich sind. Die Lebenspraxis würde also letztlich über richtig und falsch entscheiden, denn der eigentliche Zweck des Denkens ist das Handeln (S. 93). Allerdings bleibt im Hintergrund der Argumentation, ob es sich bei der angeführten Lebenspraxis jeweils um einen generellen Lebenszweck oder bloß um die sich gerade stellenden Aufgaben handelt. Zahlreiche Auflagen und Übersetzungen belegen jedenfalls das bis heute ungebrochene Interesse an Vaihingers Schrift.

Vaihinger gilt als erster exponierter Vertreter einer konstruktivistischen Sichtweise, weil er keinen Anspruch auf die Existenz einer allgemein gültigen Wahrheit erhebt. Ob etwas stimmig ist, würde stets der Erfolg entscheiden. Unter diesen Voraussetzungen hätte sich zum Beispiel die Fiktion eines höheren Wesens oder des freien Willens immer wieder durchgesetzt. Vaihinger erklärte darüber hinaus, dass Denken auf einer sehr großen Zahl von Operationen beruht, die für sich unverständlich sind. Er zählt zu den Fiktionen unter anderem alle Arten von Klassifizierungen, sowie induktive Schlussfolgerungen und physikalische Grundbegriffe wie Zeit und Raum. Diese Fiktionen »sind nur Vehikel zur Einleitung und Führung des Prozesses der Vorstellungsbewegung« (S. 327). Es handle sich also um Hilfsbegriffe, »welche aber, ohne wahren Erkenntniswert zu besitzen, nur praktische Bedeutung haben« (S. 324). Wenn jedoch »die praktischen Zwecke erreicht sind, bleiben jene Formen als Residuen und Hüllen zurück« und würden, obwohl im Grunde unlogisch und falsch, immer wieder verwendet (S. 324). »Trotzdem haben wir dieses Verfahren der Psyche als ein äußerst praktisches Hilfsmittel zu betrachten« (S. 323) und mit dem letztlichen Erfolg »entsteht das Lustgefühl des Begreifens« (S. 322).

Mittlerweile haben verschiedene konstruktivistische Schulen Mechanismen aufgedeckt, wie fiktionale Konstruktionen entstehen. Wenig Literatur gibt es bisher allerdings zur Würdigung all der Mechanismen, die bei der neurokognitiven Konstruktion beteiligt sind. Ein sogenannter Realitätsverlust kann unter sehr verschiedenen Bedingungen auftreten, zum Beispiel unter Flüssigkeitsmangel, Schock oder Drogenwirkung, nach einem Trauma oder im Verlauf von Psychosen. Bisher konzentrierte sich das allgemeine psychologische Interesse in diesem Punkt hauptsächlich auf die Entstehung von Täuschungen, und zwar im Sinnesbereich, im Gedächtnis und bei Halluzinationen, sowie auf die Diskussionen um die Willensfreiheit. Doch wie kann ein Fantasie-produzierendes Gehirn überhaupt überlebensfähig sein? Mittlerweile kennen wir sowohl im Bereich des Problemlösens wie auch bei Fehldeutungen in der Wahrnehmung innere Kontrollprozesse, die den Realitätsgehalt und die Brauchbarkeit der mentalen Konstruktionen noch vor einer Handlung prüfen. Diesen Mechanismen wollen wir hier unter Bezugnahme auf das fiktionale Denken unsere Aufmerksamkeit schenken. Dabei werden wir uns insofern auf Vaihingers Fragestellung beziehen, weil wir heute davon ausgehen müssen, dass die Hirnmechanismen, ebenso wie die Sinnesorgane oder die Motorik, gegenüber exakten Rechenoperationen grundsätzlich unscharf und unpräzise arbeiten. Dies hat die Natur möglicherweise deshalb in Kauf genommen, weil diese Mechanismen eine hohe Anpassungsfähigkeit an sehr verschiedenartige Probleme besitzen.

Die vorliegende Schrift über die Konstruktion der Wirklichkeit ist der dritte Titel nach den beiden von mir bereits erschienen Essay-Bänden über die Funktionen des Stirnhirns (Bösel 2012 und 2014). Bisher wurden die sozialen und problemösenden Funktionen des Stirnhirns besprochen – soweit sie nach dem gegenwärtigen Stand der Neurowissenschaften überhaupt schon verstanden werden können. Zu diesen Funktionen kommt nun eine weitere, die man als deutende Funktion des Stirnhirns bezeichnen kann, vielleicht sogar als seine philosophische Funktion. Wir interessieren uns also dafür, wie es das Gehirn schafft, sich Dinge vorzustellen, über die es kaum etwas weiß.

1

Hinter der Stirn

Anschein und Wirklichkeit

In vielen Kunstprodukten, vor allem in der Literatur, auf der Bühne, auf Bildern oder im Film, werden Teile einer besonderen Welt wiedergegeben, die zumindest eine gewisse Ähnlichkeit mit der realen Welt besitzen oder sogar versuchen, bestimmte Aspekte der realen Welt zu verwenden. Dennoch haben Kunstprodukte große Anteile von Erfundenem. Sie sind zwar selbst real, und ihr Thema mag einen realen Hintergrund besitzen, wie das zum Beispiel bei historischen Berichten der Fall ist. Dennoch stellt jede Übertragung von Realität in ein Kunstprodukt eine Entfernung von der dargestellten Realität dar und ist insofern Fiktion. Dies gilt selbstverständlich auch dann, wenn ein Filmset sorgfältig nachgebaut oder mit dem Computer nachkonstruiert wurde und durch handelnde Personen lebensecht gestaltet wurde.

Fiktionen lassen sich von realitätsbeschreibenden Berichten nicht immer unterscheiden. Manchmal ist die mangelnde Übereinstimmung mit den Erfahrungen, die man von Realität besitzt, sehr augenfällig, etwa wenn im Bericht Tiere zu sprechen beginnen. Oft wird bei fiktionalen Kunstprodukten der Anspruch auf genaue Realitätsbeschreibung gar nicht erst erhoben. Fiktionen können jedoch sehr anschaulich sein und unter Umständen sogar pädagogische Zwecke erfüllen. Dieser doch recht erstaunliche Effekt muss eng mit den Mechanismen zusammenhängen, mit denen unser Gehirn arbeitet. Dabei muss man sehen, dass es offenbar eine subjektive »Wirklichkeit« gibt, in der die Wirkungen einzelner Handlungskomponenten vorstellbar sind, auch wenn die die Erreichung eines Ziels ungewiss ist. Diese ist von einer intersubjektiven Wirklichkeit zu unterscheiden, der viele Menschen vertrauen.

Unser Gehirn muss die Eindrücke von der Wirklichkeit in jedem Augenblick neu ordnen. Also muss in der Art, wie das Gehirn die Welt konstruiert, auch der Schlüssel dazu zu finden sein, wodurch sich Fiktion von Realität unterscheidet und unter welchen Umständen Urteile als wirklichkeitsbeschreibend gelten dürfen. Um zu verstehen, wie sich das Gehirn die Welt konstruiert, wollen wir zunächst davon ausgehen, dass das Gehirn im Grunde nicht allzu viel von der Welt verstehen kann. Es besteht aus Nervennetzwerken, die nur wenig über die Wirklichkeit wissen und hauptsächlich Informationen hin- und herschieben. Dabei kann es durchaus zu Fehldeutungen kommen, wie es die bekannten optischen Illusionen demonstrieren.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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