Das Gehirn - Rainer Bösel - E-Book

Das Gehirn E-Book

Rainer Bösel

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Beschreibung

Bau und Funktion des menschlichen Gehirns gehören zu den aufregendsten Themen in Forschung und Lehre. Dieses kleine Organ ermöglicht Bewusstsein und mit seiner Hilfe entstehen Zivilisationen. Seine Leistungsfähigkeit beruht auf einer einmaligen Vernetzung von Zellen, die gleichzeitig aktiv sind und sich in einer komplizierten räumlichen Anordnung wechselseitig kontrollieren. Dieses Buch beruht auf einer sorgfältigen Auswahl der zugrunde liegenden Literatur, es ergänzt die anatomische Beschreibung um funktionelle Hinweise und besitzt übersichtliche Abbildungen. Damit liegt eine verständliche Einführung in die Arbeitsweise und die Architektur des Gehirns für Studierende und interessierte Laien vor.

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Seitenzahl: 378

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Bau und Funktion des menschlichen Gehirns gehören zu den aufregendsten Themen in Forschung und Lehre. Dieses kleine Organ ermöglicht Bewusstsein und mit seiner Hilfe entstehen Zivilisationen. Seine Leistungsfähigkeit beruht auf einer einmaligen Vernetzung von Zellen, die gleichzeitig aktiv sind und sich in einer komplizierten räumlichen Anordnung wechselseitig kontrollieren. Dieses Buch beruht auf einer sorgfältigen Auswahl der zugrunde liegenden Literatur, es ergänzt die anatomische Beschreibung um funktionelle Hinweise und besitzt übersichtliche Abbildungen. Damit liegt eine verständliche Einführung in die Arbeitsweise und die Architektur des Gehirns für Studierende und interessierte Laien vor.

Prof. Dr. Rainer M. Bösel ist Leiter der Arbeitsgruppe Kognitive Neuropsychologie an der Freien Universität Berlin.

Rainer M. Bösel

Das Gehirn

Ein Lehrbuch der funktionellen Anatomie für die Psychologie

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2006

Alle Rechte vorbehalten © 2006 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart

ISBN-10: 3-17-019183-7 ISBN-13: 978-3-17-019183-9

E-Book-Formate

pdf:

978-3-17-022829-0

epub:

978-3-17-028038-0

mobi:

978-3-17-028039-7

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil 1 Allgemeine Grundlagen

1 Kurze Geschichte der Neuropsychologie

2 Biologische Voraussetzungen der Netzwerkverarbeitung

2.1 Nervenzellen und Synapsen

2.2 Biologische Grundlagen der Verarbeitung

2.3 Mechanismen der Anpassung in der neuronalen Verarbeitung

3 Entwicklung des Gehirns und Geschlechtsunterschiede

3.1 Evolution

3.2 Entwicklung

3.2.1 Reifung

3.2.2 Frühe Entwicklung

3.2.3 Demenz

3.3 Anlage und Umwelt

3.4 Geschlechtsunterschiede

4 Nervennetzwerke

4.1 Nervennetzwerke als Informationsfilter

4.2 Neurologische Determinanten der Netzwerkverarbeitung

4.3 Künstliche neuronale Netzwerke

4.4 Klassifizierung, Kategorisierung und Umlernen

4.5 Die Implementierung von psychologisch relevanter Informationsverarbeitung

5 Bauplan des Gehirns

6 Informationsverarbeitung, Gedächtnis und Aufmerksamkeit

6.1 Das Grundmodell der corticalen Informationsverarbeitung

6.2 Aufmerksamkeit und Gedächtnis

6.3 Der posteriore Cortex und die automatische Aufmerksamkeit

6.4 Kurzzeitspeicherung und Chunking

6.5 Der anteriore Cortex und die kontrollierte Aufmerksamkeit

7 Lernen und Rehabilitation

7.1 Arten des Lernens

7.2 Kurzzeitspeicherung und Lernen

7.3 Rehabilitation

Teil 2 Subcortex

8 Hirnstamm und Cerebellum

8.1 Verlängertes Mark (Medulla oblongata)

8.1.1 Pyramidenbahn (Tractus corticospinalis)

8.1.2 Olive (Oliva)

8.1.3 Retikulärformation (Formatio reticularis)

8.1.4 Hirnnerven (Nervi craniales)

8.1.5 Die Hörbahn

8.2 Brücke (Pons)

8.2.1 Monoaminerge Kerngebiete

8.3 Kleinhirn (Cerebellum)

8.4 Mesencephalon (Mittelhirn)

8.4.1 Tectum

8.4.2 Tegmentum

9 Dopaminerge Systeme und Nucleus accumbens

9.1 Mesocorticolimbisches und nigrostriatales System

9.2 Nucleus accumbens

10 Hypothalamus

10.1 Präoptische Region (Regio preoptica, Area hypothalamica rostralis; Nucleus suprachiasmaticus und Nucleus preopticus)

10.2 Periventrikuläre Region (Nuclei periventriculares)

10.3 Paraventrikuläre Region (Nucleus paraventricularis) und mediale Region (Nuclei mediales)

10.4 Laterale Region (Nuclei laterales, Area hypothalamica lateralis)

10.5 Corpus mamillare (Mamillarkörper, markreicher Hypothalamus)

11 ACh-System und Thalamus

11.1 Das ACh-System1

11.2 Thalamus

11.3 Die Gating-Funktionen des Thalamus und der Nucleus reticularis thalami

11.4 Epithalamus und Epiphyse

12 Basalkerne und Nucleus basalis Meynert

12.1 Corpus striatum (Striatum, Streifenkörper)

12.2 Globus pallidus (Pallidum3)

12.3 Nucleus basalis Meynert

Teil 3 Cortex

13 Der Cortex als Ganzes

13.1 Makroskopische Anatomie

13.2 Hemisphären-Asymmetrien

13.3 Die Koordinatensysteme

13.4 Balken (Corpus callosum)

13.5 Die Blutversorgung

13.6 Mikroskopische Anatomie

14 Paläocortex (Riechhirn und Mandelkernkomplex)

14.1 Amygdala1 (Corpus amygdaloideum, Mandelkernkomplex)

14.2 Septum (Regio septalis, v.a. medialer Kern des Diagonalen Bandes) und Tuberculum olfactorium

15 Okzipitalcortex (Lobus occipitalis)

15.1 Area 171 (Area striata, striärer Cortex, primäres visuelles Areal, V12)

15.2 Area 18 (Area prestriata, V2)

15.3 Area 19 (Area peristriata, visueller Assozationscortex; V3, V5 und V4)

15.3.1 Area V3

15.3.2 Area V5 (MT)

15.3.3 Area V4

16 Parietalcortex (Lobus parietalis)

16.1 Primärer (Area 3a, 3b, 1 und 2) und sekundärer somatosensorischer Cortex (Area 5 und S II)

16.2 Die Areale 7a und b (LIP und MST)

16.3 Sulcus intraparietalis

16.4 Area 39 (PG, Gyrus angularis)

16.5 Area 40 (PF, Gyrus supramarginalis)

17 Temporalcortex (Lobus temporalis)

17.1 Die Hörrinde (Area 41, 42 und 22)

17.2 Temporalpol (Area 38)

17.3 Areale der Objektererkennung (IT; Area 37, 20, 21)

18 Frontalcortex (Lobus frontalis)

18.1 Motorischer und prämotorischer Cortex (Area 4 und 6)

19 Präfrontalcortex (PFC)

19.1 Die exekutiven Sprachareale (Broca-Region, Area 44 und 45)

19.2 Die dorsolateralen und polaren Kontrollareale (Area 8, 9, 10, 46, 47)

19.3 Die Orbitalrinde

20 Insel (Insula, insulärer Cortex)

21 Archicortex (Regio entorhinalis, Hippocampus, Indusium griseum, Gyrus cinguli)

21.1 Regio entorhinalis (Area entorhinalis/Area 28 und Gyrus ambiens/Area 34)

21.2 Hippocampus (Hippocampus retrocommissuralis)

21.3 Indusium griseum

21.4 Gyrus cinguli (v.a. Area 24 und 32; Area 23; Area 30)

Teil 4 Komplexe und integrative Funktionen

22 Anatomische und funktionelle Grundlagen des Bewusstseins

22.1 Die Seele in der Psychologie

22.2 Subjektive Bedeutsamkeit: Die Rolle der Cortexhemisphären, der Sprache und der episodischen Rekonstruktion

22.3 Neglect und Halluzinationen

22.4 Bewusstheit und die Rekonstruktion von Erlebtem

23 Die Verortung integrativer Funktionen

23.1 Methodologisches

23.2 Anpassung

23.3 Klassische Intelligenzleistungen

23.4 Urteile über komplexe Sachverhalte

23.5 Intentionales Lernen und Aha-Prozesse

23.6 Sozialverhalten

Anhang: Übersicht über die Brodmann-Areale

Literatur

Bildquellennachweis

Sachwortregister

Vorwort

„I want to sell neuroanatomy as a kind of psychology –as its most concrete and ultimative form.“

(Valentin Braitenberg, vergleichender Anatom und biologischer Kybernetiker, 1977, S. 1)

Die Anatomie ist zunächst die Kunst des Aufschneidens und Zergliederns. Der Zweck der Anatomie liegt jedoch darin, zu einem vertieften Verständnis über Bau und Funktion eines Organsystems zu gelangen. Insofern ist die Anatomie auch die Lehre von der Architektur und vom (evolutionstheoretisch rekonstruierten) Bauplan eines Organsystems.

Das Nervensystem des Menschen, vor allem das Gehirn, dient der Informationsverarbeitung. Die Psychologie geht davon aus, dass die Verhaltensäußerungen und das Erleben Resultate dieser Informationsverarbeitung sind. Insofern beruht auch die Architektur des Denkens auf der Architektur des Gehirns. Wenn wir das Denken verstehen und verbessern wollen, müssen wir mehr über die Architektur des Gehirns lernen. Angewandte Psychologie muss ebenso wie jede technische Entwicklung auf Verträglichkeit und Ergonomie achten. In diesem Buch wurden daher auch Kapitel eingefügt, die die Verbindung zu anderen Perspektiven der Beschreibung (z.B. von Netzwerkmechanismen) oder der möglichen Anwendung (z.B. im Hinblick auf Sozialverhalten) herstellen sollen. Diese Kapitel sind als Überblickskapitel so abgefasst, dass sie den Zugang zu den basalen Mechanismen der Informationsverarbeitung auch Studienanfängern und interessierten Laien ermöglichen.

Die Beschreibung der funktionellen Architektur des Gehirns wird allerdings rasch zum Problem, wenn die passenden Beschreibungskonzepte fehlen. Die Qualität der im Gehirn transportierten Informationen und deren Veränderung im Zuge der biologischen Netzwerkverarbeitung kann ja nicht direkt sinnlich erfasst werden. Manchmal stehen nur Metaphern zur Verfügung, um solche Prozesse nachvollziehbar zu machen. Möglicherweise gibt es aber auch ein grundsätzliches Problem, weil die Beschreibungsmethoden letztlich durch das Untersuchungsobjekt selbst zur Verfügung gestellt werden. Kann sich das Gehirn überhaupt selbst verstehen? Es gibt berechtigte Hoffnung dafür. Die Art des Verständnisses wird nämlich stets vom Verstehenszweck her bestimmt. Auch ungefähre Zusammenhänge zwischen Hirnfunktionen und Verhalten können für konsiliarische oder therapeutische Zwecke bereits hilfreich sein. Unabhängig vom unterschiedlichen, individuellen Erfahrungshintergrund folgen die Grundprinzipien des Verstehens, Handelns und Lernens stets den gleichen Gesetzen. Die Wirklichkeit, in der wir leben, ist die Wirklichkeit, die unser Gehirn aufgrund von Evolution und biologisch verankerter Lernfähigkeit konstruiert. Eine solche Konstruktionsleistung liegt auch dann vor, wenn wir versuchen, ein Verständnis von Hirnfunktionen jenseits von missverständlichen Metaphern aufzubauen.

Allerdings gibt es bei der wissenschaftlichen Beschreibung von Hirnfunktionen sehr hohe Vorerwartungen an die Ergebnisse, teils aufgrund bestimmter erkenntnistheoretischer Herangehensweisen, teils aufgrund spezieller Moralvorstellungen. Viele Menschen sind zum Beispiel überzeugt, dass das menschliche Gehirn mit seinem Wissen und Können versucht, sich ein möglichst zutreffendes Bild von der Welt zu konstruieren. Dies ist offenbar weder möglich, noch im Sinne der Biologie. Aus neuropsychologischer Sicht leistet das Gehirn lediglich die Rekonstruktion und Nutzung einer Wirklichkeit, in der eine Person so weit handlungsfähig ist, als es die Selbstorganisationskräfte der Lebensfunktionen vorantreibt, die letztlich dem Schutz, dem Informationsaustausch und der Ausbreitung dienen. Wir würden z.B. auf Probleme stoßen, wenn wir etwa spezielle Hirnfunktionen beim Autofahren beschreiben wollten, da diese Funktionen bisher bei der Evolution keine Rolle gespielt haben. Sie werden – wegen ständiger Änderungen in der Mobilitätstechnologie – auch in Zukunft keine evolutionswirksame Rolle spielen. Ähnliches trifft für andere Funktionen zu, die nur aufgrund individueller Lern- oder Anpassungsprozesse bei hoher Variabilität im Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Hirnfunktionen ermöglicht werden.

Dennoch wäre gerade bei der Beschreibung von Hirnfunktionen eine gemeinsame Sprache von Natur- und Kulturwissenschaften wünschenswert. Dies geht freilich nur über einen interdisziplinären Diskurs, in dem nicht nur über die verschiedenen Ebenen und Perspektiven des wissenschaftlichen Herangehens, sondern auch über deren wechselseitige Beziehungen verhandelt wird. Als Ort dieses Diskurses bietet sich vor allem die Disziplin an, die von ihren Kernfragestellungen her subjektive und objektive Urteile ins Verhältnis setzt, nämlich die psychologische Grundlagenforschung. Sie wurde als experimentelle Psychologie entwickelt und findet gegenwärtig mit ihren Ausprägungen in den Cognitive and Brain Sciences, in der kognitiven Neuropsychologie oder in der Neurokognition zunehmend starke Bedeutung. Nicht zuletzt indem sie Verhalten und Erleben in gleichem Maße berücksichtigt, eignet sie sich besonders als humanwissenschaftliche Leitdisziplin an der Schnittstelle zwischen Natur- und Kulturwissenschaften.

Die psychologische Grundlagenforschung besitzt – und das macht sie so interessant – den Vorzug, über zahlreiche, sehr unterschiedliche Herangehensweisen und Methoden zu verfügen. Auch für die funktionelle Hirnanatomie ist es erforderlich, sich mit anatomischen und vergleichend-anatomischen Befunden zu beschäftigen, mit Kernspin- und topographischen EEG-Daten, mit experimenteller Stimulation und den Folgen von Hirnverletzungen, mit biochemischen Befunden und mit Befunden zu Erlebens- bzw. systematischen Selbstberichtsdaten. In der psychologischen Grundlagenforschung gibt es mittlerweile eine brauchbare Erfahrungsgrundlage dazu, welche Kovariationen zwischen unterschiedlichen Perspektiven und Messebenen üblicherweise unter bestimmten Bedingungen zu erwarten sind. Dies ermöglicht es in hohem Maße, die Gültigkeit einer psychologischen Aussage zu überprüfen.

Beim Gegenstand des vorliegenden Buches, der funktionellen Hirnanatomie, sind die Beziehungen zwischen biologischem Organ und den zu beobachtenden Wirkungen keineswegs immer evident. Die einschlägigen Befunde bestehen aus Kovariationen zwischen Daten, deren Zusammenhang oft noch unzureichend geklärt ist oder nur mit komplizierten und noch nicht allgemein akzeptierten Modellvorstellungen deutlich gemacht werden kann. Insofern ist das Buch im Grunde kein Lehrbuch im herkömmlichen Sinn, sondern eher ein Arbeitsbuch, das die gegenwärtige Befundlage für das Studium handhabbar machen möchte. Vielleicht regt es auch dazu an, das Verständnis für den Zusammenhang zwischen den uns mitgegebenen Gehirnfunktionen und dem Empfinden, Urteilen und Zielsetzen von einzelnen Personen und Gemeinschaften weiter zu vertiefen. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass es zu einer zweckmäßigen und nachhaltigen Nutzung dieser einmaligen Ressourcen beiträgt.

Die in diesem Buch verwendete anatomische Terminologie orientiert sich weitgehend an den Empfehlungen des Federative Committee on Anatomical Terminology (FCAT, 1998). Bei den deutschen und englischen Bezeichnungen wurde auf den üblichen Gebrauch in Lehrbüchern bzw. in den zitierten Einzelveröffentlichungen Rücksicht genommen. Allerdings ist im Hinblick auf die Terminologie zu berücksichtigen, worauf der vergleichende Anatom und evolutionäre Erkenntnistheoretiker Rupert Riedl hingewiesen hat: „Beständige Namen sammeln zu wollen, ist die trügerische Hoffnung des Laien, die Ordnung selbst zu erfahren, das lohnende Streben des Könners“ (leicht verändert nach Riedl, 1963, Vorwort). Die funktionellen Angaben orientieren sich am gegenwärtigen Stand, das gesamte Gebiet befindet sich jedoch in einer stürmischen Entwicklung. Es war das Ziel dieses Buches, eine repräsentative und übersichtliche Auswahl zu treffen. Um jederzeit den Anschluss an die aktuelle Literatur zu ermöglichen, gibt es Angaben zu Talairach-Koordinaten in den Fußnoten. Damit sollte das Buch die Voraussetzungen erfüllen, um als Orientierungshilfe in der Lehre zu den Modulen über Gehirn und Verhalten und in der psychologischen Grundlagenforschung verwendet werden zu können.

Das Buch entstand durch die Mithilfe zahlreicher Personen. An erster Stelle möchte ich mich bei allen Studierenden bedanken, die in den einschlägigen Lehrveranstaltungen durch Fragen und Diskussionen dazu beigetragen haben, dass der Stoff den Bedürfnissen des Studiums entsprechend angepasst und aufbereitet wurde. Danken möchte ich ferner allen Personen, die mich bei der Sammlung von Materialien unterstützt haben. Frau Professor Renate Graf und Evelyn Heuckendorf (Institut für Anatomie der Charité Berlin) ermöglichten mir mehrmals die Anfertigung von anatomischen Fotos. Ai-Leen Saw und Sascha Tamm haben mir dabei geholfen. Bei der Literaturrecherche und bei der Lektorierung der Texte hat sich Claudia Männel tatkräftig beteiligt. Bei Lore Naumann bedanke ich mich für die Anfertigung von neun Zeichnungen (Abb. 4.2 a und b, 5.3 b, 5.5 b, 6.5, 7.1 a und b, 10.2, 13.4). Meinem Freund Professor Fritz Wysotzki (Arbeitsgruppe Künstliche Intelligenz am Institut für Theoretische Informatik, Technische Universität Berlin) verdanke ich manche Anregungen, nicht zuletzt für das Kapitel Nervennetzwerke. Bei meiner Frau und vielen Personen meiner persönlichen Umgebung bedanke ich mich dafür, dass sie mich auch dann ertragen haben, wenn ich mit der Arbeit an diesem Buch beschäftigt war.

Berlin, im Frühjahr 2006

Rainer M. Bösel

Teil 1Allgemeine Grundlagen

1 Kurze Geschichte der Neuropsychologie

Die Psychologie als Lehre vom Verhalten und Erleben des Menschen ist eine junge Wissenschaft. Die Frage jedoch, ob und welche Teile des Körpers Verhaltensäußerungen veranlassen und für menschliches Erleben und Empfinden unabdingbar sind, hat immer wieder zu neuen Antworten geführt.

Bei historischen Betrachtungen stellt sich oft die Frage, wie weit und wie allgemein man in die Vergangenheit zurückgehen kann und soll. Der Versuch der Rückdatierung des Erstauftretens von Ereignissen scheint sogar ein Grundprinzip menschlicher Informationsverarbeitung zu sein. Das Phänomen entsteht dadurch, dass zu jedem Zeitpunkt zahlreiche Inputs in das verarbeitende Netzwerk gelangen. Vor dem Hintergrund des Gedächtnisses und der ständig ankommenden neuen Informationen haben jedoch nur ausgewählte, nämlich geringfügig abweichende Informationen Bestand. Wir werden dieses Phänomen in späteren Kapiteln näher erklären.

In der gegenwärtigen Neuropsychologie interessiert uns vor allem der Zusammenhang zwischen dem subjektiven Aspekt von Denken und Urteilen (der Innensicht) und den körperlich-naturwissenschaftlich beobachtbaren Prozessen (der Außensicht). Die Problematik der Verhaltenssteuerung durch das Gehirn tritt demgegenüber oft in den Hintergrund. Unter einer solchen Perspektive hat sich bereits Alkmaion von Kroton (um 500 v. Chr.) mit folgender Feststellung eingelassen: „Daher behaupte ich, daß das Gehirn es ist, das den Verstand sprechen läßt“ (Hippokrates 17, übers. Capelle, 1968).

Im Grunde vergingen ca. 2400 Jahre (nämlich bis zum Ersten Weltkrieg und der Untersuchung von Schusswunden im Gehirn), bis es zu einer systematischen Erforschung der Beziehungen zwischen Gehirn und Denken kam. Die Gründe für diese Verzögerung mögen vielfältig sein. Einer davon ist sicherlich die Komplexität des zu untersuchenden Bedingungsgefüges. Ein Zugang eröffnet sich hier erst, wenn man psychologisch bedeutsame Phänomene und elementare naturwissenschaftliche Prozesse in einen systematischen Zusammenhang bringen kann.

Jedoch bereits vor Beginn der systematischen, psychologischen Hirnforschung gab es eine ganze Reihe von Meilensteinen in der Geschichte der Neuropsychologie. Dazu gehört auch der von den Veranstaltern der Amphitheater-Vorführungen hoch bezahlte römische Gladiatoren-Arzt Galenus, der im 1. Jh. Verhaltensveränderungen im Zusammenhang mit Gehirnverletzungen beobachtete.

Während im frühen Mittelalter (11. bis 14. Jh.) eher Erkenntnisfragen diskutiert wurden (z.B. Wann existiert etwas Subjektives wirklich in der Welt?), sammelte man im späten Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit zahlreiche anatomische Kenntnisse1. Franz Joseph Gall (1758–1828) entwickelte später an der Universität Wien eine Methode, um von der Schädelform eines Menschen auf seine Fähigkeiten schließen zu können. Diese Methode nannte Gall „Cranioscopie“ und die daraus folgende Lehre wurde bald unter der Bezeichnung Phrenologie populär. Gall unterschied anfangs 27 Fähigkeiten, darunter auch die Sprache. Nicht zuletzt wegen eines ihm bekannt gewordenen Falles von Sprachstörung, lokalisierte Gall die Sprache bereits im Frontalcortex. Der Schwachstellen seiner Annahmen war er sich durchaus bewusst. Als er 1807 unter der Regierung Napoleons das Interesse der Academie Francaise weckte, stellte er zunächst nur seine neurologischen Studien vor. Dennoch lebte die Idee der Phrenologie weiter.

Auch der Intelligenzforscher Francis Galton (1822–1911) wurde von Galls Gedankengut beeinflusst. Er verfolgte unter anderem die Hypothese, dass die Intelligenz eines Menschen mit dessen Kopfumfang korreliert ist. Dazu sammelte er Daten, wohl wissend, dass er selbst und sein Förderer Napoleon einen sehr geringen Kopfumfang besaßen.

Der Franzose Marc Dax (1770–1837) vertrat 1836 auf der Grundlage von 40 Fällen von Sprachstörungen die Ansicht, dass die Sprache eine linkshemisphärische Lokalisation besitzt. Die entsprechenden Befunde wurden allerdings erst später (1865) von seinem Sohn publiziert.

Als Geburtsstunde der systematischen Neuropsychologie werden die Befunde von Paul Broca (1824–1880) angesehen. Anlässlich eines Treffens der Anthropologischen Gesellschaft zu Paris 1861 wurde von Ernest Aubertin der Verdacht geäußert, dass Sprechfähigkeit an einen intakten Frontalcortex gebunden ist. Broca, der auch an dem Treffen teilnahm, lernte fünf Tage später den sprechgestörten Patienten Leborgne kennen. Leborgne wies, wohl infolge von Syphilis, eine Lähmung der rechten Körperhälfte auf und wiederholte nach Aufforderung zum Sprechen stets nur die Silbe „tan-tan“. Der Patient starb am 17. Mai 1861 und wurde sofort von Broca und Aubertin autopsiert. Leborgnes Gehirn ist heute noch im Dupuytren Museum in Paris zu sehen; es weist eine Deformation im linken unteren Frontallappen auf. Bereits am nächsten Tag wurde dies der Anthropologischen Gesellschaft berichtet. Bis 1863 beschrieb Broca acht weitere Fälle, bei denen Sprechstörungen mit linksfrontalen Läsionen einhergingen.

Abb. 1.1: Phineas Gage (1823–1860) regte den Arzt John Martyn Harlow zur ersten Dokumentation einer Persönlichkeitsveränderung infolge einer akuten Kopfverletzung an. Die Verletzungsspuren kann man unter dem linken Auge und an der Stirn erkennen (Quelle: www.deakin.edu.au/hbs/gagepage). Die cerebralen Läsionen betrafen vor allem den linken, basalen Frontallappen. Gage wird danach als respektlos, streitsüchtig, launisch und unstet beschrieben.

Bereits zuvor, 1848, hatte der Eisenbahnarbeiter Phineas Gage schwere Gehirnverletzungen erlitten, als bei einer Sprengung eine Eisenstange seinen Kopf durchdrang. Die darauf folgenden Veränderungen in seiner Persönlichkeit wurden vom britischen Landarzt John Harlow in einem Tagebuch notiert. Die genaue Art der Verletzung wurde später von Hanna Damasio (1994) rekonstruiert.

Der hohe Entwicklungsstand der Neurologie an der Wende zum 20. Jahrhundert stellte eine wichtige Voraussetzung für die damalige Entwicklung der Neuropsychologie dar. Hugo Liepmann beschrieb 1904 einen Fall von Amnesie nach einer Hippocampus-Läsion. 1905 betonte Liepmann mit Untersuchungen zu Apraxien die Bedeutung der Unversehrtheit neuraler Leitungswege. 1908 erschien die Lokalisationslehre von Korbinian Brodmann (1868–1918) mit einer sorgfältigen histologischen Beschreibung der Areale der Großhirnrinde. Die Einteilung der Großhirnrinde nach Brodmann-Arealen wird auch in diesem Buch verwendet.

Ein wichtiger Schritt in der Neuropsychologie erfolgte 1920, als Hans Berger (1873–1941) mit seinen elektrophysiologischen Untersuchungen am menschlichen Gehirn begann. Zuvor hatte er unter anderem den cerebralen Blutfluss untersucht. 1924 gelang ihm die Ableitung eines menschlichen Elektroenzephalogramms (EEG). Diese erste Gehirnstrommessung konnte er am Sohn seines Gärtners vornehmen, dem nach einem Unfall ein Teil der Schädeldecke fehlte. Seine Befunde wurden 1929 publiziert. Die Entwicklung dieser Methode eröffnete neue Dimensionen in der Erforschung des Zusammenhangs zwischen Erleben und Hirnaktivität.

Eine weitere Wende, v.a. im Bereich der kognitiven Neuropsychologie, brachte die Untersuchung zahlreicher Hirnverletzungen im Ersten Weltkrieg. 1927 konnte Egon Weigl (gest. 1979) vom Institut für Erforschung der Folgeerscheinungen von Hirnverletzungen in Frankfurt am Main zeigen, dass Abstrahierungsleistungen die Unverletztheit des Stirnhirns voraussetzen. Seine Studien lieferten die Grundlage für den später von Brenda Milner entwickelten Card Sorting Test (1963).

1937 wurde Karl Lashley (1890–1958) erstmalig Professor an einem Lehrstuhl für „Neuropsychology“ in Chicago. 1960 schrieb Lashley ein einflussreiches Buch mit gleichlautendem Titel. Er betont darin die Bedeutung des Zusammenspiels von Gehirnteilen für das Zustandekommen höherer kognitiver Fähigkeiten und die Multipotentialität der nervösen Struktur als Grundlage für Kompensationsleistungen. 1949 erschien das wohl meistzitierte kognitiv-neuropsychologische Grundlagenwerk unter dem Titel „Organization of Behavior“ von Donald O. Hebb (1904–1985), einem Schüler Lashleys. Die darin formulierten Thesen, u.a. über die Grundlagen des Lernens und des Gedächtnisses, bezeichnete Hebb als „neuropsychologische Theorie“.

Abb. 1.2: Brodmann-Areale – Originalabbildungen zur cytoarchitektonischen Rindenfelderung des menschlichen Großhirns nach Brodmann (1909; eine systematische Lagebeschreibung der Brodmann-Areale findet sich im Anhang)

Brenda Milner (geb. 1918), eine Schülerin Hebbs, begleitete und untersuchte später den berühmten Patienten H.M. Dieser hatte 1953 aufgrund einer bilateralen Temporallappen-Operation starke Beeinträchtigungen seines Gedächtnisses erlitten. Die Studien an H.M. bilden die Grundlage der modernen Gedächtnisforschung. Etwa zeitgleich entdeckte der Neurologe Wilder Penfield (1891–1976), dass bei seinen Patienten nach Stimulation des inferioren Temporallappens reproduzierbar detailreiche Erinnerungsbilder wachgerufen wurden.

Der Berliner Hans-Lukas Teuber (1916–1977, Sohn eines der Gründungsväter der ehemaligen Anthropoidenstation auf Teneriffa) wurde ab 1947 als Neurologe in New York tätig und untersuchte die funktionelle Asymmetrie der Hemisphären. In seiner Tradition steht Roger Sperry (1913–1994), der 1981 den Nobelpreis für seine Untersuchungen an Split-brain-Patienten erhielt. Zahlreiche Untersuchungen an derart operierten und anderen neurologischen Patienten führte in der Folge auch Michael S. Gazzaniga durch. Ihm gelang es gegen Ende des 20. Jh. zahlreiche bedeutende kognitive Neuropsychologen für Beiträge zu einem Sammelwerk zu gewinnen, das mittlerweise mehrfach in Aktualisierungen unter dem Titel „The Cognitive Neurosciences“ (1995, 2000, 2004) erschienen ist.

Parallel zur traditionellen Neuropsychologie, deren wichtigste Erkenntnisquelle meist Störungsbilder sind, die aus Verletzungen resultieren, entwickelte sich in den 1980er- und 1990er-Jahren eine Kultur der Nutzung biomedizinischer Methoden zur Erforschung kognitiver Prozesse. Emanuel Donchin (geb. 1935) erklärte die Bedeutung der P300-Auslenkung im ereigniskorrelierten EEG-Potential für die menschliche Informationsverarbeitung (1979). Benjamin Libet (geb. 1916) berichtete viel diskutierte Ergebnisse aus einem Experiment, in dem zugleich motorische EEG-Potentiale und der Zeitpunkt eines willentlichen Handlungsbeginns registriert wurden (1983). In unserer Arbeitsgruppe wurde der Theta-Rhythmus in der EEG-Grundaktivität als Index für kontrollierte und durch den Kontext unterstützte Gedächtnissuche beschrieben (1993). Messwerte dieser Art dienen als Indikatoren für mentale Vorgänge, wie sie im Verlauf von Informationsverarbeitungsprozessen auftreten.

Parallel zu den erwähnten Entwicklungen waren und sind psychologisch interessierte Hirnforscher aus vielen Disziplinen tätig. Otto Creutzfeld (1927–1992), der an den Max-Planck-Instituten für Psychiatrie in München und für Biophysikalische Chemie in Göttingen tätig war, hat 1983 sein Werk über den Cortex Cerebri vorgelegt. Zur Entwicklung der Neuropsychologie hat schließlich das aus Portugal stammende Neurologen-Ehepaar Hanna und Antonio Damasio erheblich beigetragen. Sie haben in Iowa die damals neue Magnetresonanz-Tomographie als Methode der kognitiven Neuropsychologie einer breiten Anwendung zugeführt. Jede Methode eröffnet auch neue Facetten des Verständnisses von den Entstehungsbedingungen mentaler Prozesse und von Phänomenen gedanklichkörperlicher Interaktionen. Damasios Überlegungen zur kognitiv-emotionalen Wechselwirkung (1994) sind noch immer Gegenstand gegenwärtiger Diskussion. Wolf Singer (geb. 1943) vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung hat die Grundlagen für das Verständnis der Bindung von im Gedächtnis verteilten Merkmalen zu Wahrnehmungsobjekten untersucht.

Das grundlegende Problem in der Geschichte der Neuropsychologie war es stets, geeignete Metaphern zur Beschreibung des Verhältnisses von Verhalten und Geist bzw. Gehirntätigkeit und Erleben zu finden. Eine klassische Metapher stammt von William Shakespeare: „His brain ... the soul’s frail dwelling house“ (King John, 1596; V,7). Gegenüber der Beschreibung, dass das Gehirn das zerbrechliche Haus der Seele wäre, ging David Hartley (1749) einen Schritt weiter. Hartley, der mit dem Statistiker Thomas Bayes befreundet war, unterscheidet willkürliche und automatisierte Prozesse und beschreibt zunehmende Komplexität im Verhalten mit Hilfe von Assoziationen, denen er Schwingungen zugrunde legt: „Ideas, and miniature vibrations, must first be generated ... before they can be associated. But then ... this power of forming ideas, and their corresponding miniature vibrations, does equally presuppose the power of association“ (Bd. 1, proposition 11). Denken und Hirntätigkeit wurden damit ins Verhältnis gesetzt, ohne dass jedoch deutlich wird, welche Vorteile man sich davon verspricht.

Möglicherweise ist Bewusstsein ein Phänomen, das bei der Reduktion auf naturwissenschaftlich beschreibbare Sachverhalte letztlich doch auf der Strecke bleibt. Man spricht von Emergenz, wenn eine Qualität auftaucht, die sich auf bisher bekannte nicht direkt zurückführen lässt. Solche Phänomene kennt man auch in der Biologie. Die schillernden Farben eines Schmetterlingsflügels entstehen erst aus einem komplizierten Zusammenwirken von mechanischen und chemischen Eigenschaften der Flügelschuppen. Allerdings sind auch hier die Wechselwirkungen durchschaubar, die zum Entstehen der Farben beitragen, und sie beruhen auf den Gesetzen der Physik. Im Bereich der Psychologie tragen einfache Mechanismen des Verhaltens regelhaft zu gravierenden interpersonellen Effekten bei. Insofern ist hier das Emergenzproblem ein triviales. Wir sehen heute das Bewusstsein durchaus als eine, wenn auch komplexe Funktion des cerebralen Geschehens an. Allerdings ist die Zuschreibung von Ursache-Wirkungs-Beziehungen für viele Psychologen im Einzelfall problematisch.

Hubert Rohracher (1903–1972) entwarf 1967 explizit die These, dass das bewusste Erleben nicht neue Erregungen erzeugen könne, weil es selbst von Erregung abhängt. Dem widersprachen Popper & Eccles (1977), indem sie eine „downward causation“ postulierten, etwa im Sinne einer Einflussmöglichkeit von Erlebensprozessen auf die Nervenzelltätigkeit. Das ist aus heutiger Sicht verständlich, aber überspitzt. Im Grunde spricht vieles für die Argumentation Rohrachers. Psychologen müssen jedoch immer davon ausgehen, dass es eine Rückwirkung von Geisteshaltung und Umweltinteraktion auf das Verhalten gibt. Diese Rückwirkung kann, wie es Krankengeschichten von Psychopathologien zeigen, durchaus bis in den Stoffwechsel von Nervenzellen hineinreichen. Im Einzelfall ist die Determiniertheit menschlicher Urteile allerdings nicht bekannt und auch wegen der zu erwartenden Komplexität im Detail prinzipiell nicht darstellbar. Als Psychologen werden wir uns daher stets an den augenscheinlichen Freiheitsgraden im Verhalten konkreter Personen orientieren. Die Freiheitsgrade im Urteil und Verhalten von Menschen sind Voraussetzungen für menschliches Interagieren. Sie bilden auch die Voraussetzungen für die wissenschaftliche Erforschung von Gesetzmäßigkeiten, die Urteile und Verhaltensweisen zumindest teilweise determinieren. Dies kann für das augenblickliche Verständnis sogar hinreichend sein.

Wenn man die Frage nach der Kausalität in der Beziehung von Neurologie und Bewusstsein als zweitrangig hintanstellt, so bleibt doch die Tatsache, dass es zu Nervenzelltätigkeit und Erleben unterschiedliche methodische Zugänge gibt. Die jeweiligen Ergebnisse sind daher im Grunde nicht vergleichbar. Genau hier fängt jedoch die psychologische Grundlagenforschung an, die über ein Inventar verfügt, das es ihr erlaubt, neurologische Daten, Leistungsdaten und Selbstberichte in der gleichen Anordnung zu erheben und damit in einen durchschaubaren Zusammenhang zu stellen.

Wichtige psychologische und neuropsychologische Fachbegriffe

Card Sorting Test

Verfahren, um die flexible Zuordnung von Beispielen zu Kategorien zu prüfen.

Elektroenzephalogramm

Hirnstrommessung; Ableitung von Potentialschwankungen am Schädel bzw. am lebenden Gehirn.

Neuropsychologie

Die Lehre von psychischen Funktionen, soweit sie mit psychologischen Methoden aus neurologischen, physiologischen und neuropathologischen Daten zu erschließen sind.

Phrenologie

Der Versuch, aus der Schädelform auf die Ausprägung des Gehirns und damit auf Charaktereigenschaften zu schließen.

Split-brain-Patienten

Patienten, bei denen nach schwersten epileptischen Störungen neurochirurgisch die Verbindungsfasern zwischen den Hemisphären durchtrennt wurden.

2 Biologische Voraussetzungen der Netzwerkverarbeitung

Die für die Informationsverarbeitung wichtigsten Bestandteile des Nervensystems sind die Nervenzellen. Rezeptoren bzw. Sensoren reagieren mit reizkorrelierten Erregungsprozessen auf physikalisch/chemische Umweltveränderungen und treten in den Kontakt mit Nervenzellen. Deren Fortsätze transportieren die Erregung in Form von impulsartigen Ladungsverschiebungen über große Entfernungen im Organismus. Benachbarte Nervenzellen tauschen Informationen an sogenannten Synapsen durch chemische Botenstoffe (Neurotransmitter) aus. Die Nervenerregung wird an die Muskelzellen weitergegeben und veranlasst deren Kontraktion. Es gibt nach wiederholter Reizung verschiedene Formen funktioneller und struktureller Anpassung im Nervensystem.

2.1 Nervenzellen und Synapsen

Nervenzellen sind Körperzellen, die erregbar sind. Sie besitzen wie alle Körperzellen im Zellinneren Teilchen, deren elektrische Ladung in ihrer Summe zur Zellumgebung (Extrazellularraum) im Ungleichgewicht steht. Dieses Ungleichgewicht äußert sich in einer Spannungsdifferenz von ca. –60 bis –100 mV und wird als Ruhepotential bezeichnet. Bei Nerven-, Muskel- und Drüsenzellen kann sich dieses Ruhepotential, zumindest für einzelne Abschnitte der lokalen Zellmembran-Umgebung, kurzzeitig (2 bis 5 ms) ausgleichen (0 mV) oder sogar umkehren (Aktionspotential, bis + 40 mV). Aktionspotentiale (AP, engl. Plural APs) werden von den Nervenzellen spontan (ca. 5/s) oder aufgrund von Stimulation (bis max. ca. 500/s) produziert. Wenn APs beobachtet werden, spricht man von Erregung. Der zeitliche Abstand der APs bzw. ihre Rate (d.h. die auf die Zeiteinheit umgerechnete Anzahl im Beobachtungszeitraum), werden in der Regel als Erregungsstärke bezeichnet. Da dem Auftreten der APs stets eine Refraktärzeit folgt, gibt es für die AP-Rate eine Obergrenze, außerdem kann sich die Erregung nicht auf Membranstellen ausbreiten, die kurz zuvor erregt wurden. Die Erregungsausbreitung auf der Nervenzellmembran verläuft daher stets gerichtet (orthodrom). Die Nervenleitgeschwindigkeit wird mit 20 bis100 m/s geschätzt (vgl. auch Buchthal & Rosenfalck, 1966). Eine Modulation der AP-Rate kann innerhalb von ½ ms erfolgen (Sabatini & Regehr, 1999). Die zeitliche Summation von mehren Synapsen kann 15 bis 45 ms dauern.

Abb. 2.1: Nervenzellen. Man kann mehrere Nervenzellkörper mit ihren Zellkernen erkennen. Ein in der Regel dünner Fortsatz ist das Axon, die anderen Fortsätze sind Dendriten. Zwischen den Zellkörpern befindet sich ein dichtes Fasergeflecht.

Nervenzellen haben mindestens einen Fortsatz, den man Axon nennt. An der Wurzel dieses Fortsatzes (Axonhügel) entstehen unter Erregung APs, die auf der Axonmembran zum Axonende laufen. Wenn Axone wachsen, so suchen sie in der Regel die Nähe einer anderen Nervenzellmembran auf, meist bis auf eine Abstandsdistanz von nur ca. 40 nm. Die in das Axonende einlaufenden APs veranlassen an diesen Kontaktstellen (Synapsen) die Freisetzung eines Neurotransmitters, der ständig in der Nervenzelle in Vesikeln bereitgestellt wird. Mit Hilfe von Neurotransmittern wird die Erregung einer Nervenzelle einer anderen mitgeteilt.

Tab. 2.1: Wichtigste Substanzfamilien der Neurotransmitter

1.

Acetylcholin (ACh)

ARAS

2.

Monoamine (MA)

2.1

Indolamine:

Serotonin (5-HT)

Raphekerne

2.2

Katecholamine

Dopamin (DA)

Area tegmentalis anterior (sive ventralis ATV)

Noradrenalin (NA, NE)

Locus coeruleus

Adrenalin (AD, Eph)

Medulla oblongata

2.3

Histamin

3.

Aminosäure-Neurotransmitter

Gamma-Amino-Buttersäure (GABA)

Cortex, Striatum

Glutamat

Aspartat, Glycin

4.

Peptid-Neurotransmitter (koexistierende Neuromodulatoren)

Tachykinine (Substanz P)

Vorderhorn

vasoaktives intestinales Peptid (VIP)

mit GABA im Cortex

Neurotensin

mit NA im Locus coeruleus, Amygdala

Somatostasin (SOM)

mit GABA im Cortex, Amygdala

Cholezystokinin (CCK)

mit Dopamin in der ATV

ACTH & Opioide (Enkephaline, b-Endorphin) Releasing Faktoren (Liberine bzw. Statine,

z.B. Thalamus, Hypothalamus, Striatum

CRH, Angiotensin II, LHRH, TRH)

z.B. Mes-, Rhombencephalon

2.2 Biologische Grundlagen der Verarbeitung

Bereits bei sehr einfachen, vielzelligen Organismen wie den Coelenteraten (z.B. Süßwasserpolypen und Korallentiere) gibt es Nervennetzwerke, die zwischen Reizaufnahme und motorischer Koordination eine Informationsverarbeitung leisten. Solche Organismen verfügen über spezialisierte Nervenzellen mit Fortsätzen (Axonen), die in der Außenschicht des Organismus ein Netzwerk bilden. Die Nervenzellkörper sind gegenüber Umwelteinflüssen sensibel und können über das Netzwerk Erregung auf dehnbare Fasern weitergeben, so dass sich der Polyp gegebenenfalls zusammenzieht. Insofern sprechen wir von einer nervalen Informationsverarbeitung zwischen Sensorik und Motorik.

Selbstverständlich verändert jede motorische Aktivität des Organismus in der Folge die Umweltbeziehung und damit den sensorischen Input, so dass man von einem geschlossenen Regelkreis zwischen Wahrnehmen und Tätigsein ausgehen muss (vgl. Uexküll, 1909). Letztlich bestimmt der Erfolg des Verhaltens in biologischer Hinsicht, inwieweit Mechanismen der Sensorik nützlich sind. Üblicherweise beschreibt man den erwähnten Regelkreis ausgehend von der Sensorik und ergänzt ihn durch Mechanismen der Erwartungsanpassung (Veränderung der Aufmerksamkeit) und des Lernens.

Auch das Nervensystem des Menschen entwickelt sich in der Außenschicht des Keimlings (Ektoderm). Die Funktion der Nervenzellen beruht auf den gleichen Mechanismen wie bei Tieren. Allerdings ist beim Menschen das Netzwerk nicht mehr gleichmäßig geknüpft. Es lassen sich vielmehr verschiedene Ebenen oder Schichten der Verarbeitung unterscheiden, die teils eher dem sensorischen Input, teils dem motorischen Output zuzurechnen sind.

2.3 Mechanismen der Anpassung in der neuronalen Verarbeitung

Als nichtassoziatives Lernen bezeichnet man Verhaltensveränderungen, die auf Anpassungsprozesse des Nervensystems aufgrund von Verhaltenswiederholung zurückzuführen sind (Wiederholungslernen). Die biologische Struktur entwickelt an beanspruchten Stellen stets besondere Ausformungen, die eine sensible Antwort auf Reizung darstellen, und andererseits zu einer Abdämpfung der äußeren Einwirkung führen. Je nachdem, welcher Effekt im Zentrum der Beobachtung steht, spricht man von Sensitivierung (Sensibilisierung) und Habituation (Gewöhnung). Sensitivierung und Habituation bilden auch die Grundlage des Lernens. Durch das Lernen erfolgt eine überdauernde funktionelle Anpassung der Netzwerkverarbeitung; dies ist Gegenstand eines späteren Kapitels.

Die zytologischen Grundlagen neuronaler Anpassung sind sehr vielfältig. An dieser Stelle ist ein Mechanismus zu erwähnen, der die strukturelle Anpassung unterstützt. Das cerebrale Bindegewebe, die Glia, spielt eine wichtige Funktion bei der Unterstützung von Anpassungsvorgängen bei der neuronalen Erregungsweiterleitung. Der hohe Ionenbedarf von aktiven Nervenzellen wird zum Teil durch Kalziumionen aus der Glia gedeckt, die zwischen bestimmten Gliazellen (Astrozyten) weitergereicht werden können. Wird von Astrozyten eine hohe neuronale Aktivität registriert, so geben sie eine die Synapsenbildung unterstützende Substanz (Thrombospondin) ab (Fields, 2002).

Wichtige psychologische und neuropsychologische Fachbegriffe

Nichtassoziatives Lernen

Bezeichnung für neuronale Anpassungsprozesse, die zu einem Empfindlicherwerden (Sensitivierung) oder zu einer Abstumpfung (Habituation) von neuronalem Reagieren führen.

Stevens-Gesetz

Stanley Smith Stevens (1906–1973) zeigte experimentell, dass die Empfindungsstärke in mittleren Bereichen und in doppelt-logarithmischen Diagrammen proportional zur Reizstärke ist. Dies bestätigte frühere Annahmen. Bereits Ernst Heinrich Weber (1795–1878) fand, dass ein Reiz stets um einen konstanten Prozentsatz erhöht werden muss, damit die Erhöhung spürbar wird. Gustav Theodor Fechner (1801–1887) folgerte daraus, dass die Empfindungsstärke proportional zum Logarithmus der Reizstärke ist (Psychophysisches Grundgesetz).

1 he anatome, griech. für Aufschneiden

3 Entwicklung des Gehirns und Geschlechtsunterschiede

Das Gewicht des menschlichen Gehirns ist im Verhältnis zum Körpergewicht schwerer als bei Tieren. Es entwickelt sich im Embryo in der dritten Entwicklungswoche als Neuralrohr und damit früher als andere Organe. Die Hirnreifung besteht im Wesentlichen aus Zellteilungen (bis zum Abschluss der Pubertät), dem Auswachsen und der Myelinisierung von Nervenfasern. Neue Synapsen können während der gesamten Lebensspanne gebildet werden. Die Anatomie der Hirnrinde weist infolge von Umweltfaktoren eine Variabilität auf, deren Ausprägung jedoch an einzelnen Stellen genetisch eingeschränkt wird. Zwischen den Geschlechtern findet man Unterschiede in der Hirnanatomie.

3.1 Evolution

Der Mensch besitzt unter den Säugetieren keineswegs das größte Gehirn. Aus über 100 Milliarden Nervenzellen besteht das Gehirn eines Elefanten, das damit auch größer ist als das Gehirn des größten rezenten Säugetiers – das eines Blauwals. Im Vergleich zu seinem Körpergewicht hat der Mensch jedoch ein höheres Hirngewicht als jedes andere Säugetier. Wenn man den Quotienten aus Körper- und Gehirngewicht für ein typisches Säugetier (z.B. Katze) gleich 1 setzt, so ist der entsprechende, sog. Enzephalisationsquotient beim Menschen 7 bis 7,5 (Niewenhuys u.a., 1998). Das Verhältnis von Cortex- zu Gehirngewicht (ca. 80 %) und die Zahl der Synapsen pro Neuron (ca. 6.000 bis 10.000) sind jedoch zwischen menschlichem Gehirn und dem anderer Säugetiere vergleichbar. Allerdings aktivieren die Pyramidenzellen des Menschen etwa viermal so viele Synapsen wie die der Ratte, so dass bei ihm der neuronale Energieverbrauch allein schon für die Freisetzung von Neurotransmitter sehr hoch ist.

In der Geschichte der Menschheit verlief die Größenzunahme des Gehirns, seine langsame Reifung (bei Menschenaffen dreifach schneller) und die Zunahme der Bipedie vermutlich zeitlich parallel. Mit der Vergrößerung des Gehirns dürften sich die anatomischen Voraussetzungen für weitreichende intermodale Konzeptbildungen entwickelt haben. Intermodale Abstraktionen sind ihrerseits eine Voraussetzung für das Herstellen von Bildern und die Produktion von Sprache. In bildlichen Darstellungen werden bestimmte Merkmale von Form und räumlicher Anordnung abstrahiert. In der Sprache werden Abstraktionen der Tätigkeit (Modus) und der zeitlichen Anordnung (Tempus) verwendet.

Die Entwicklung weiterer bedeutsamer Funktionen bedurfte nach Ansicht vieler Autoren eines zusätzlichen Selektionsdrucks. Dieser existierte sicherlich während der Eiszeiten und prägte möglicherweise die Schlafperiodik und einige geschlechtsgebundene Verhaltensbevorzugungen (vgl. z.B. McFarland, 1999). Mit dem Wechsel der Lebensbedingungen gegen Ende der letzten Eiszeit vor ca. 40.000 Jahren soll die Fähigkeit entstanden sein, sich in die Sichtweise anderer Personen hineinzudenken bzw. nützliche Hypothesen über nicht beobachtete Verhaltensweisen aufzustellen (theory of mind; Carruther, 2000).

3.2 Entwicklung

3.2.1 Reifung

Das zentrale Nervensystem ist das Organsystem, dessen Bildung in der Individualentwicklung am frühesten beginnt und am spätesten beendet wird (Faustregel: 20. Tag bis 20. Jahr). Etwa ab dem 18. Tag der Entwicklung startet beim menschlichen Keimling die sogenannte Neurulation, also die Bildung des zentralen Nervensystems. Eine rinnenförmige Struktur aus ektodermalen Zellen schließt sich allmählich zu einem Rohr (Neuralrohr), das in der 5. Entwicklungswoche (ca. 10 mm Scheitel-Steiß-Länge) an seinem Vorderende fünf bläschenartige Auftreibungen erkennen lässt: Telencephalon1, Dienencephalon2, Mesencephalon3, Metencephalon4 (Cerebellum und Pons) und Myelencephalon5 (s. Abb. 3.1). Zur Anatomie dieser Hirnteile und den im Folgenden verwendeten Lagebezeichnungen vgl. später das Kapitel „Bauplan des Gehirns“. Das zunächst ungeteilte Telencephalon wächst nach beiden Seiten aus und bildet in der Folge die Hemisphären. Im Querschnitt des Neuralrohrs kann man in diesem Stadium (ca. 20 mm Scheitel-Steiß-Länge) bereits eine dorsale Zellzone unterscheiden, die später sensorische6 Funktionen übernimmt. Des Weiteren ist eine ventrale Zellzone erkenn bar, die für die spätere Motorik entscheidend ist. In einer seitlichen Zwischenzone gibt es Zellgruppen, die sich später afferenten bzw. efferenten vegetativen Funktionen zuordnen lassen. Dieser funktionelle Bauplan bleibt auch im adulten Gehirn erkennbar.

Abb. 3.1: Frühe Hirnentwicklung. Oben: Aufsicht auf das sich nach den drei ersten Schwangerschaftswochen schließende Neuralrohr. In der Folge bilden sich am Vorderende des Neuralrohrs zunächst drei, dann fünf bläschenartige Auftreibungen, aus denen sich schließlich die einzelnen Teile des Gehirns entwickeln. Unten: Längsschnitt durch das Gehirn eines Keimlings von 10,4 mm Scheitel-Steiß-Länge (modifiziert nach Hochstetter, 1929).

In den ersten 13 Schwangerschaftswochen erreicht das Vorderhirn (d.h. die vor dem Mesencephalon rostral gelegenen Teile) einen Umfang von 3 × 109 Zellen. Bis zur 20. Woche steigt die Zellzahl auf 13 ×109 an, bis zur Geburt auf 38 × 109 (Samuelsen u.a., 2003). Diese Zahlen beinhalten alle Zelltypen, von denen ca. 35 % den adulten Nervenzellen zuzuordnen sind (das entspricht etwa 13 Milliarden Nervenzellen im Neugeborenen-Cortex). Innerhalb der ersten zwei bis drei Lebensjahre verdoppelt sich das Hirnvolumen. Nervenzellteilungen werden über die ersten beiden Lebensjahrzehnte hinweg beobachtet. Danach gibt es offenbar keine Proliferation mehr, ausgenommen im Hippocampus. Die Zahl der absterbenden Neurone übersteigt die Zahl der neugebildeten ab etwa dem 15. Lebensjahr. Allerdings bleibt danach (im Alter zwischen 20 und 90 Jahren) der Einfluss des Alters auf Neuronen- und Faserzahl mit einem Verlust von ca. 10 % vergleichsweise gering (Pakkenberg & Gundersen, 1997).

Die nachgeburtliche Reifung ist im Wesentlichen durch weitere Nervenzellneubildungen, das Auswachsen von Dendriten, Markscheidenbildung (Myelinisierung) und die Ausbildung von Synapsen (Synaptogenese) gekennzeichnet. Die durch Reifungsprozesse entstehenden Gestaltveränderungen (morphogenetische Prozesse) bringen mit sich, dass während der Reifung Zellen und Fasern absterben. Von einer reifungsbegleitenden Degeneration sind mutmaßlich inaktive Zellen betroffen. Allerdings handelt es sich um immerhin ca. 50 % der entstehenden Neurone. Nervenfortsätze degenerieren im Laufe der Entwicklung, wenn sie nicht durch sogenannte neurotrophe Substanzen stimuliert werden. Die Synapsenbildung erfolgt bevorzugt an dendritischen Dornen (Spines). In der Regel wird diese durch eine Aktivität an benachbarten prä- bzw. postsynaptischen Membranabschnitten stimuliert (Kalil, 1989). Vor allem in den ersten beiden Lebensjahren wachsen die Gehirne autistischer Kinder überdurchschnittlich (Courchesne u.a., 2004). Dadurch dominiert die Leistungsfähigkeit lokaler Netzwerke gegenüber einer weiträumigen Vernetzung (Baron-Cochen u.a., 2005).

Die Myelinisierung beginnt im primären motorischen Cortex (Area 4) im Zeitraum vom ersten bis 15. Monat. Parietale und temporale Regionen sind in der Regel bis zum Ende des zweiten Lebensjahres myelinisiert. Die frontalen Areale 9, 10, 45 und 46 myelinisieren erst bis zum 8. Lebensjahr (Gibson, 1991). Im Zusammenhang mit dem Prozess der fortschreitenden Myelinisierung der frontalen Areale ist die allmähliche Verlängerung der Aufmerksamkeitsspanne, das Erfassen zeitlich ausgedehnter Sachverhalte und die Entwicklung sprachlicher Fähigkeiten zu sehen. Occipito-frontale und temporo-frontale Verbindungen entwickeln sich in der linken Hemisphäre bis zum fünften Lebensjahr, in der rechten etwa bis zum 9. Lebensjahr. Die Sprachentwicklung scheint also der Fähigkeit vorauszugehen, globale Konzepte zu bilden (White, 1976).

3.2.2 Frühe Entwicklung

Zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr wurde eine gegenüber kontralateral verstärkte Durchblutung der rechten posterioren Hemisphäre in Ruhe beobachtet (Chiron u.a., 1997). Diese Hemisphäre gilt als bedeutsam für die Konstruktion von Kontext- und Zusammenhangswissen. Nach dem dritten Lebensjahr verschiebt sich die Gesamtdurchblutung der Hemisphären nach links (sprachlich erworbenes und direkt abrufbares Wissen).

Zwischen dem fünften und 10. Lebensjahr dürfte vorübergehend ein besonders hoher Vernetzungsgrad erreicht werden. Dies wird oft als Grundlage für das Herstellen von Relationen und das Erkennen komplexer Muster angesehen. Tatsächlich gibt es in diesem Alter einen Zuwachs in der Fähigkeit, unvertraute Gesichter wieder zu erkennen (Carey & Diamond, 1980). Die Fähigkeit zum Denken in Relationen wurde zum Beispiel mit Hilfe von Gewichten an Waagebalken mit unterschiedlicher Länge geprüft. An den jeweils längeren Balken waren geringere Gewichte zu hängen als an den kürzeren, um die Waage im Gleichgewicht zu halten. Die Fähigkeit, diese Aufgabe richtig zu lösen, entwickelt sich vom 11. bis zum 13. Lebensjahr bei beiden Geschlechtern signifikant, wobei Jungen durchschnittlich höhere Werte erzielen als Mädchen. Auch die Produktivität für mentale Vorstellungen nimmt in dieser Alterspanne zu; hierbei zeigen Mädchen höhere Werte als Jungen (Graber & Peterson, 1991). In der Regel ist die Myelinisierung mit der Pubertät abgeschlossen, kann aber vereinzelt bis zum Senium nachgewiesen werden.

Zwischen dem 10. und 15. Lebensjahr findet eine Umstrukturierung des Gehirns statt, die an einer hohen Rate von Zellneubildungen und Zelleinschmelzungen sichtbar wird. In dieser Zeitspanne ist die Synapsendichte vergleichsweise gering und der Sauerstoffverbrauch unterdurchschnittlich (Huttenlocher, 1979; Chugani u.a., 1988). Entgegen anderslautenden Vermutungen lassen sich jedoch kaum zuverlässige Daten für einen Einbruch der kognitiven Fähigkeiten in der Pubertät finden, die mit der Zunahme des Größenwachstums oder mit dem Beginn der sexuellen Reife einhergehen. Sofern solche Effekte berichtet wurden, können diese z.B. auch auf eine Beeinflussung des Lehrerurteils durch die Beobachtung körperlicher Veränderungen zurückgeführt werden (Graber & Peterson, 1991). Räumliche Fähigkeiten scheinen sich in enger Relation zu entsprechenden Anforderungen (z.B. beim Spiel) zu entwickeln. Allerdings besteht hier eine deutliche Interaktion mit dem Geschlecht zugunsten von Jungen mit hoher sportlicher Leistungsfähigkeit (Petersen, 1979).

3.2.3 Demenz

In der zweiten Lebenshälfte steigt aus verschiedenen Gründen die Wahrscheinlichkeit für dementielle Symptome. Dazu gehören Störungen des freien Gedächtnisabrufes und des Wiedererkennens vertrauter Objekte. Des Weiteren bestehen Beeinträchtigungen der verbalen Flüssigkeit und beim Ausführen einfacher Handlungen sowie Defizite in der Orientiertheit. Das Risiko für dementielle Symptome liegt in der zweiten Hälfte des siebten Lebensjahrzehnts bei 5 %, im 9. Lebensjahrzehnt bei 30 % und danach bei 50 %. Zur Diagnose kognitiver Beeinträchtigungen eignen sich je nach Schweregrad verschiedene neuropsychologische Testverfahren, unter anderem der Wechsler-Gedächtnistest (Härting u.a., 2000) oder der Demenz-Test (Kessler u.a., 1999). Der neurologische Abbau ist durch das Absterben von Nervenzellen gekennzeichnet (etwa eine Zelle pro Sekunde Lebenszeit; vgl. z.B. die Furchenbreiten in den Abb. 13.6 und 15.6). Außerdem gehen myelinisierte Nervenfasern verloren, die im Gehirn eine Länge von insgesamt etwa 150.000–180.000 km besitzen (Pakkenberg u.a., 2003).

Die Demenz vom Alzheimer-Typ geht mit Amyloid-Ablagerungen einher. Amyloide sind Protein-Kohlenhydrat-Komplexe. Wenn sich diese als Plaques oder Tangles (Fibrillen) ablagern, beeinträchtigen sie die Nervenzellfunktionen und insbesondere den Neurotransmitterstoffwechsel. Die ersten pathologischen Ablagerungen erfolgen meist in der stoffwechselaktiven Hippocampus-Formation und stören den intentionalen Gedächtnisabruf. Die Betroffenen ziehen sich zunächst zurück, im weiteren Verlauf werden sie reizbar und agitiert. Parallel dazu nimmt die Anzahl der Plaques im cerebralen Cortex, im Thalamus und in der Amygdala zu, und vor allem im Acetylcholin-System nimmt die Cholinesterase(ChE)-Aktivität ab und wird durch Butyrylcholinesterase (BuChE) ersetzt (Perry u.a., 1978 a und b). Aggression bei Dementen wird mit verminderter Cholinacetyltransferase(ChAT)-Aktivität in den Arealen 46 und 9 in Verbindung gebracht (Minger u.a., 2000). Agitierte Alzheimer-Patienten weisen mehr Tangels im anterior-cingulären und orbito-frontalen Cortex auf (Tekin u.a., 2001).

3.3 Anlage und Umwelt

Abb. 3.2: Variabilität und genetische Determiniertheit der Großhirnrinden-Morphologie. Oben: Beispiele unterschiedlicher Windungs- und Furchenmuster. Unten: Varianz des Rindenvolumens in verschiedenen Cortex-Regionen. Gegenübergestellt ist die Signifikanz des Volumenunterschiedes bei zweieiigen (ZZ, links) und eineiigen Zwillingen (EZ, rechts). ZZ sind in manchen Regionen ähnlicher als zufällig ausgewählte Paare, vor allem in den posterioren Assoziationsarealen (dunkle Regionen links). EZ sind außerdem in sensomotorischen Regionen, dem Wernicke-Areal und einigen Frontalarealen hoch signifikant ähnlicher (dunkle Regionen rechts) als zufällig ausgewählte Paare (nach Thompson u.a., 2001).

Abb. 3.3: Der linke inferiore Parietalcortex reagiert plastisch bei frühem Zweitspracherwerb. Links: Die Testleistung für die Zweitsprache korreliert bei zweisprachigen Personen mit dem Rindenvolumen. Rechts: Das Rindenvolumen ist bei frühem Zweitspracherwerb größer als bei spätem (nach Mechelli u.a., 2004).

Aus Tierversuchen ist bekannt, dass das Cortexwachstum unter spezifischen Trainingsbedingungen angeregt werden kann (Bennett u.a., 1964). Volumenvergrößerungen sind dabei hauptsächlich auf eine verstärkte Dendritenbildung und eine Vermehrung von Gliazellen (Stützzellen) zurückzuführen (Greenough & Volkmar, 1973). Draganski u.a. (2004) konnten nachweisen, dass die Area V5 nach dreimonatigem Training im Jonglieren eine signifikante Größenzunahme aufwies.

Eine Region im linken inferioren Parietalcortex weist bei bilingualen Personen mehr graue Substanz auf als bei Monolingualen. Darüber hinaus gibt es zwischen dem Rindenvolumen in dieser Region und dem Grad der Beherrschung der zweiten Sprache eine positive Korrelation. Die Plastizität wird offensichtlich in jungen Jahren genutzt, da eine negative Korrelation zwischen Rindenvolumen und dem Alter des Zweispracherwerbs zu finden ist (s. Abb. 3.3).

3.4 Geschlechtsunterschiede

Tab. 3.1: Quantitative Geschlechtsunterschiede in der Hirnanatomie (nach Pakkenberg & Gundersen, 1997)

Alle

Männer

Frauen

Gehirngewicht (g)

1.350

1.430

1.260

Neocortexfläche (cm2)

1.820

1.900

1.680

Neuronenzahl im Cortex (109)

21,5

22,8

19,3

Neuronendichte (106 pro cm3)

44,0

44,1

43,8