Klugheit - Rainer Bösel - E-Book

Klugheit E-Book

Rainer Bösel

4,9
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Buch aus der Reihe "Wissen & Leben", Hrsg. Wulf Bertram. Das Geheimnis der Klugheit Was nützt Ihnen Ihre ganze schöne Intelligenz, wenn Sie sie nicht optimal einsetzen? Über intellektuelle Fähigkeiten wissen wir mittlerweile eine ganze Menge: Wir können sie messen und mit immer präziseren Verfahren orten, wo im Gehirn die Ressourcen dafür zur Verfügung stehen. Aber: Wie verarbeiten wir Informationen, um neue Denkmodelle und Handlungsschemata zu entwickeln, die adäquater und besser sind als das, was wir bereits kennen? Was haben emotionale Bewertungen mit Klugheit zu tun? Und muss man bewusst denken können, um klug zu handeln? Der Berliner Psychologe und Hirnforscher Rainer Bösel gibt erhellende Einblicke in die komplexe Welt der menschlichen Klugheit. Sein Fokus liegt dabei auf den Fähigkeiten der klugen Planung und umsichtigen Umsetzung in zweckmäßiges Handeln. Anhand plastischer Beispiele aus allen Lebensbereichen zeigt er, wie Klugheit mit dem Zusammenwirken von Nervennetzwerken in unterschiedlichen Hirnarealen zusammenhängt. Neben den neuronalen Aspekten beleuchtet er den Einfluss vieler anderer Faktoren wie Umgebung, Gewohnheiten, Erwartungen oder Emotionen. Bösel zeigt, dass es die Klugheit ist, die uns befähigt, virtuos auf der Klaviatur unserer intellektuellen Fähigkeiten und Dispositionen zu spielen. Eine intelligente Spurensuche für alle, die professionell oder aus privatem Interesse die vielschichtigen Geheimnisse unserer rationalen, sozialen und emotionalen Leistungen ergründen wollen. KEYWORDS: Klugheit, Intelligenz, Lernen, Gehirn, Gehirnforschung, Denken, Neuropsychologie, Denkspiele, Logik, Kognition

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 287

Bewertungen
4,9 (18 Bewertungen)
17
1
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rainer Bösel

Klugheit

Die sieben Säulen der Intelligenz

Prof. Dr. phil. Rainer Bösel

International Psychoanalytic University

Allgemeine Psychologie

Stromstraße 3

10555 Berlin

E-Mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Besonderer Hinweis:

In diesem Buch sind eingetragene Warenzeichen (geschützte Warennamen) nicht besonders kenntlich gemacht. Es kann also aus dem Fehlen eines entsprechenden Hinweises nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

Das Werk mit allen seinen Teilen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert werden.

© 2014 by Schattauer GmbH, Hölderlinstraße 3, 70174 Stuttgart, Germany

E-Mail: [email protected]

Internet: www.schattauer.de

Projektleitung: Ruth Becker M.A.

Lektorat: Birgit Albrecht M.A., Berlin

Umschlagabbildung: © Andrey Kuzmin, www.fotolia.de

ISBN für ePub 978-3-7945-6855-0

Inhalt

Einleitung

1 Warum ich kann, was ich kann

Der springende Punkt

Das Gehirn arbeitet grundsätzlich mit sehr einfachen Mitteln

Das Stirnhirn

Eine elementare Stirnhirnfunktion: Augenbewegungen

2 Unauffällige Diener der Klugheit: sich orientieren

Über die Area 9 und den anterioren zingulären Kortex (ACC)

Noch mehr springende Punkte

Orte und Umwegleistungen

Abstrakte Orte und Ziele

Das Induktionsproblem

Anstrengung

Ziele und Regeln

3 Die Seele der Klugheit: Gelerntes verwenden

Sich an jeden Strohhalm klammern

Jung gewohnt, alt getan

Strategien und die Ökonomie des Verhaltens

Heuristiken

4 Vorhersagen: Wahrscheinlichkeiten berücksichtigen

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ereignis eintritt

Ereignisfolgen und informative Ereignisse

Die Ängste der Pfarrersfrau

5 Denkarbeit: Zusammenhänge erkennen

Über die Area 46 und den vorderen Teil der mittleren Stirnhirnwindung

Das Arbeitsgedächtnis

Die sogenannte flüssige Intelligenz

Der geordnete Modellwechsel

Wenn der Kopf voll ist

Tunnelblick und Gedankenlosigkeit

Kreativität

Zählen und Messen

6 Absichten und Einsichten: sich engagieren

Über die Area 10 und den inneren Teil der mittleren Stirnhirnwindung

In der Spitze der Zirkuskuppel

Ich denke, dass ich denke

Der Hippocampus

Ich weiß es

7 Gewissheiten: Erfahrungen anzweifeln

Expertise contra Statistik

Voraussetzung und Folgerung

Der Confirmation Bias

8 Verantwortung und Klugheit

Über die untere Stirnhirnwindung

Kommunikation und Syntax

Sprechen und Denken

Verantwortung

9 Das Herz der Klugheit: Bewertungen vornehmen

Über die basalen Areae 11, 12 und 25

Der Einfluss der Mandelkerne

Umsicht

Der Einfluss der hinteren Stirnhirnbasis

Literatur

Sachverzeichnis

Einleitung

Vor einigen Jahren kam auf einem wissenschaftlichen Kongress zwischen zwei Vorträgen ein Mann zielstrebig auf mich zu. Er stellte sich als Ingenieur einer technischen Hochschule vor. Da er mich als Neuropsychologen kennen würde, wollte er mich für ein gemeinsames Projekt begeistern, das er gern mit mir realisiert hätte. Welche zentralen Fähigkeiten, so seine Frage, wären denn als Voraussetzung erforderlich, um die großartigen Leistungen des Menschen im Bereich der Modellbildungsfertigkeit hervorzubringen?

Die technologischen Fortschritte der Menschheit bezeichnet man üblicherweise als Errungenschaften des menschlichen Geistes. Doch niemand könne sagen, welche Funktionen des Gehirns sich in der Geschichte der Menschheit entwickelt haben müssten, damit entsprechende geistige Funktionen möglich sind.

Vor vielleicht zwei Millionen Jahren gelang es Vormenschen, so perfekt zu werfen, dass sie Tiere töteten. Auf diese Weise konnten die sich hinreichend mit Fleisch versorgen (Roach et al. 2013). In der Folge verfeinerten Menschen diese Technik durch die Entwicklung von tödlichen Speeren. Irgendwann, vielleicht vor fünfzig- oder hunderttausend Jahren, gab es Pfeile und die raffinierte Technik des Bogenschießens wurde erfunden. Diese Entwicklungen haben das Überleben in hohem Maße unterstützt. Sie waren aber nur möglich, weil Menschen nicht müde wurden, in ihren Vorstellungen Modelle zu erdenken, deren Realisierung zu immer neuen Verbesserungen der vorhandenen Möglichkeiten geführt hat. Die Abänderung des Bogens zur Armbrust und schließlich die Erfindung von Feuerwaffen haben die Formen der Auseinandersetzung zwischen den Menschen verändert. Raketen jedoch, die nunmehr mithilfe physikalischer und mathematischer Modelle entwickelt werden, können uns schließlich sogar auf andere Himmelskörper bringen.

Welche Arten von Informationsverarbeitung sind erforderlich, damit in der Vorstellung von Menschen Modelle für Sachverhalte entstehen, die anders und besser sind als das, was man kennt? An dieser Stelle unterbrach ich mein Gegenüber. Menschliche Kulturleistungen müssen wir wohl als ein Produkt sehr verschiedener Funktionen des Gehirns ansehen. Dieses ist nun mal in vielen Bereichen größer und leistungsfähiger als das von Kolkraben oder Schimpansen. Letztlich gehören die erwähnten Fragen zum Forschungsbereich der gesamten Psychologie. Aufbau und Veränderung mentaler Modelle sind darin ein zentrales Thema, zu dem es eine Fülle von Literatur gibt.

Ich glaube, mein Gesprächspartner war damals etwas enttäuscht, bei mir nicht mehr Interesse für sein Problem wecken zu können. Tatsächlich hat er mich stark verunsichert. Denn im Grunde wissen wir sehr viel über kluges Verhalten. Wir können intellektuelle Fähigkeiten gut messen und wir wissen, wo im Gehirn dafür Ressourcen zur Verfügung stehen. Es ist aber nicht ganz einfach zu erklären, wie Klugheit mit dem Funktionieren und dem Zusammenwirken bestimmter Nervennetzwerke im Gehirn zusammenhängt. Doch versuchen wir es einfach einmal!

Es gibt einige grundlegende Erkenntnisse über Klugheit, die zum festen Bestandteil der Psychologie zählen. Klugheit hat bis zu einem gewissen Grad genetische Grundlagen. Außerdem ist Klugheit trainierbar. Belege für beide Tatsachen haben kürzlich die Lernforscherin Elsbeth Stern und der Persönlichkeitspsychologe Aljoscha Neubauer einmal mehr detailliert dargelegt (Stern u. Neubauer 2013). Darüber hinaus ist die Definition von Klugheit vom jeweiligen kulturellen Umfeld abhängig. Das wird in jeder Intelligenzmessung berücksichtigt, wo einzelne kluge Verhaltensweisen ins Verhältnis zu den Leistungen innerhalb einer Gruppe gesetzt werden. Streng genommen entsteht erst in dieser Sichtweise aus Klugheit intelligentes Verhalten. So lässt sich Intelligenz dann auch vergleichen und bewerten. All das sind Erkenntnisse, die in ähnlicher Weise für viele Facetten menschlichen Verhaltens gelten.

Diesen Erkenntnissen wollen wir eine weitere hinzufügen: Klugheit entsteht aus einer Reihe von Funktionen, die die informationsverarbeitenden Netzwerke unseres Gehirns zur Verfügung stellen. Dabei dominiert nicht unbedingt eine Funktion. Durch die Zusammenarbeit verschiedener Funktionen kann eine vielleicht geringere Leistungsfähigkeit auf einer Ebene durchaus durch Leistungen auf anderen Ebenen kompensiert werden. Auch das gilt selbstverständlich nicht nur für kluges Verhalten, sondern etwa ebenso für Fähigkeiten im Bereich der Wahrnehmung oder der Motorik. Wer schlecht sieht, muss genau hinhören. Wer schlecht geht, muss oft mit seinen Armen nachhelfen. Wenn man Mozarts Musik hört, vergisst man dessen soziales Ungeschick.

Klugheit, manchmal auch als Problemlösefähigkeit bezeichnet, greift auf viele Ressourcen der menschlichen Informationsverarbeitung zurück. Wir werden uns hier vor allem auf die Fähigkeiten der klugen Planung und umsichtigen Umsetzung von Handlungen konzentrieren, soweit sie der Erreichung von vorgegebenen oder selbstgesteckten Zielen dienen. Diese Fähigkeiten sind an Funktionen des menschlichen Stirnhirns gebunden. Funktionen des Stirnhirns haben wir bereits an anderer Stelle im Zusammenhang mit sozialen Intelligenzleistungen besprochen, nämlich als Voraussetzung für Perspektivenübernahme und Empathie (Bösel 2012). Das vorliegende Buch beschränkt sich auf kluges Verhalten bei zentralen Kulturleistungen, also im Bereich der klassischen Intelligenz. Dazu werden wir an mehreren Stellen auch auf Besonderheiten am Gehirn von Albert Einstein hinweisen. Die Gliederung der für Intelligenzleistungen erforderlichen Funktionen des Gehirns lässt sich anhand von funktionellen Arealen an der Hirnanatomie ablesen und diese sollen in topographischer Reihenfolge besprochen werden.

Wenn man einmal von den sprachlichen Fertigkeiten absieht, lassen sich sieben Fähigkeitsbereiche unterscheiden, die von den Netzwerken im Stirnhirn unterstützt werden:

sich orientieren,

Gelerntes verwenden,

Wahrscheinlichkeiten berücksichtigen,

Zusammenhänge erkennen,

sich engagieren,

Erfahrungen anzweifeln,

Bewertungen vornehmen.

Das sind gewissermaßen die sieben Säulen der Intelligenz. Diese Kategorisierung und die entsprechende Kapitelgliederung erfolgten zwar hauptsächlich nach didaktischen Ge- sichtspunkten. Sie zeigen aber, dass es viele Komponenten der menschlichen Informationsverarbeitung gibt, aus denen sich Intelligenzleistungen zusammensetzen. Wer „kluge“ informatische Systeme konstruieren oder gar ein Gehirnmodell bauen will, wird sich an diesen Komponenten und deren Leistungen orientieren müssen.

Bei unserer Wanderung durch die Fähigkeitsbereiche, die vom Stirnhirn maßgeblich unterstützt werden, werden wir selbstverständlich auch einigen sonderbaren und „unvernünftigen“ Nebeneffekten menschlicher Informationsverarbeitung begegnen. Dazu gehören insbesondere Denkfehler. In der Ratgeberliteratur wird üblicherweise vor solchen Denkfehlern gewarnt (vgl. Dobelli 2011). Ich möchte jedoch verdeutlichen, dass Denkfehler oft Ausdruck einer höchst nützlichen Art der Informationsverarbeitung sind, die nur unter ungewöhnlichen Bedingungen in die Irre führt. Insofern sind derartige Besonderheiten des Denkens für uns Beispiele, an denen man das Funktionieren unseres Denkapparates studieren kann. Analoges kennen wir von den „optischen Täuschungen“, die im Grunde erhellende Hinweise auf typische Formen der biologischen Informationsverarbeitung geben. Täuschungen sind also oft das Resultat durchaus nützlicher Mechanismen, die nur in Ausnahmefällen – welche offenbar von der Evolution geduldet wurden – Fehler erzeugen.

Kein Mensch wird in allen Lebensbereichen gleichermaßen geniale Voraussetzungen entwickeln. Die meisten Fähigkeiten lassen sich jedoch in schulischen und außerschulischen Lernbereichen lebenslang trainieren. Da jedoch so viele Facetten menschlicher Klugheit existieren, gibt es auch Kompensationsmöglichkeiten. Es wird deutlich werden, dass einige Facetten ein Defizit in einem anderen Bereich möglicherweise gut ausgleichen können. Jeder Mensch hat unglaublich viele Fähigkeiten, um erstaunliche intellektuelle Leistungen zustande zu bringen, mit denen er letztlich über sich selbst hinauswachsen kann.

Die Vielfalt der Lernmöglichkeiten, aber auch Formen der Kompensation, sind für jeden Einzelnen eine Herausforderung. Allerdings ergeben sich daraus auch pädagogische Zielsetzungen. Damit solche Ziele in Zukunft besser verfolgt werden können, müssen wir noch mehr über die Hirnmechanismen in Erfahrung zu bringen. Auf der Basis der neurokognitiven Erkenntnisse muss dann schließlich auch die Diagnostik intellektueller Fähigkeiten weiter verfeinert werden.

Doch wenden wir uns nun den Mechanismen zu, die wir bereits kennen. Verfolgen wir, wie die Netzwerke des Gehirns Informationen mit diesen Mechanismen so aufbereiten, dass letztlich kluge Entscheidungen möglich werden.

1 Warum ich kann, was ich kann

Der springende Punkt

Vor über 100 Jahren hat sich der Psychologe Max Wertheimer, der als Begründer der Gestaltpsychologie gilt, mit dem Phänomen der Scheinbewegung beschäftigt (Wertheimer 1912). Er stellte fest, dass zwei Lichtpunkte, die abwechselnd aufleuchten, unter bestimmten Bedingungen den Eindruck erzeugen können, dass es sich um einen Lichtpunkt handelt, der hin und her springt. Allerdings verwahrte sich Wertheimer gegen die Bezeichnung „Scheinbewegung“. Ihm ging es darum, dem Prinzip des „wirklichen“ Bewegungssehens auf die Spur zu kommen. Dies war allerdings erst viel später einigermaßen befriedigend möglich, als man Methoden zur Verfügung hatte, die Funktionen der Netzwerkverarbeitung im Gehirn genauer zu untersuchen.

In der Psychologie wird das Phänomen des „springenden Punktes“ seit Wertheimer als Phi-Phänomen bezeichnet. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass es zum Entstehen des Phänomens nicht nur auf den richtigen Abstand der beiden Lichtpunkte, sondern auch auf eine dazu passende Blinkfrequenz ankommt. Bereits vor Wertheimer wurde die Theorie entwickelt, dass dabei eine träge Ausbreitung von Nervenerregung in den Sinnesorganen eine Rolle spielen könnte. Dabei wären die Verhältnisse „des An- und Abklingens der Erregung in benachbarten Netzhautstellen“1 entscheidend. Im Grunde wurde diese Annahme später bestätigt (Korn u. von Seelen 1972): Die Wahrnehmung einer Scheinbewegung kann mit der Überlappung des Einzugsbereichs für die Erregungsaufnahme von Ganglienzellen der Retina erklärt werden. Allerdings kennen wir für echtes Bewegungssehen andere Mechanismen. Standbilder werden, wenn sie in rascher Folge hintereinander gesehen werden, bekanntlich zu einem Bewegungseindruck verschmolzen. Man spricht vom Beta-Phänomen, das die Bewegtbilder bei Film und Fernsehen ermöglicht. Hier wird der Bewegungseindruck umso zwingender, je rascher die Bilder aufeinanderfolgen.

Wir stellen die optische Täuschung des „springenden Punktes“ deshalb an den Anfang dieses Buchs, weil sie zeigt, wie auf der Basis einfachster Mechanismen, im Grunde wegen der beschränkten Wirksamkeit und Trägheit mancher Erregungsprozesse im Nervensystem, eine ganz bestimmte Vorstellung von Wirklichkeit entsteht. Diese Vorstellung ist eine Konstruktion unserer Verarbeitung, die wir – sofern genauere Daten fehlen – als mentale oder „geistige“ Konstruktion bezeichnen müssen. Sie ist ein Beispiel für ein nur bedingt brauchbares Modell für die oft schwer vorherzusehende Wirklichkeit.

Generell stellen optische Täuschungen nur Spezialfälle der Verarbeitung visueller Information in Nervennetzen dar. Die zugrundeliegenden Mechanismen arbeiten nun einmal so. Sie sind jedoch unter den meisten Bedingungen höchst nützlich bei der Abbildung der Umwelt im Gehirn. Sie sind, wie wir ganz allgemein auch sagen können, hilfreich bei der Herstellung von Modellen der Wirklichkeit. Außerdem wissen wir, dass diese Mechanismen auf sehr einfachen, aber höchst effizienten Funktionen der Netzwerkverarbeitung beruhen. Die Evolution hat dafür gesorgt, dass die Lebewesen in einer größtenteils unbekannten Umwelt überlebensfähig bleiben, ohne dass ein überbordender Aufwand bei der Berücksichtigung wechselnder Randbedingungen geleistet werden muss. Sie erfand einfache Strategien mit großen Wirkungen.

Es gibt zahlreiche Netzwerkfunktionen, die sehr unterschiedliche Eigenschaften der physikalischen und chemischen Umwelt entdecken können. Durch eine Kopplung von solchen Detektoren werden ganz bestimmte strukturelle Eigenschaften der Umwelt transparent – freilich immer wieder unter Außerachtlassung, ja sogar durch Unterdrückung von anderen, möglicherweise ebenfalls bemerkenswerten Eigenschaften. Zahlreiche Eigenschaften bleiben uns in der sinnlichen Wahrnehmung verborgen. Immerhin können vielfältige Objekte von ihrem Hintergrund unterschieden werden und es kann auf biologisch wichtige Merkmale reagiert werden. Das können Merkmale des Aussehens sein, zum Beispiel Größe oder Farbe, oder Merkmale eines Geräusches, zum Beispiel das Lauterwerden, oder Merkmale des Geschmacks, zum Beispiel, dass etwas bitter schmeckt und gefährlich sein kann.

Allein die Tatsache, dass im Gehirn Informationen aufgrund von Erregungsprozessen in Nervennetzwerken verarbeitet werden, hat also – unabhängig von einer besonderen Netzwerkstruktur – bereits schwerwiegende Konsequenzen: Durch die Trägheit der Verarbeitung gelten zeitlich nahe Informationen als zusammengehörig; durch enge Verbindungen zwischen verschiedenen Netzwerkteilen können Objekte in neue Zusammenhänge gebracht oder in ungewohnten Zusammenhängen wiedererkannt werden.

Bedeutsam ist ferner, dass Nervennetzwerke imstande sind, eine Merkmalskombination in der Netzwerkstruktur dauerhaft zu verankern und damit diese auch wiederzuerkennen. Sicherlich kennen Sie Klecksfiguren, in denen außer schwarzen und weißen Flecken zunächst nichts zu erkennen ist. Wenn man jedoch erklärt bekommt, dass in einem solchen Muster ein Zebra oder ein Dalmatiner-Hund zu erkennen ist, entdeckt man auch später noch diese Figur (Abb. 1-1). Über ähnliche Muster können unter Hervorhebung bestimmter Eigenschaftskombinationen Klassen gebildet werden. Was einen Stamm, Äste und Blätter besitzt, ist ein Baum. Damit sind diejenigen Pflanzen gemeint, aus denen Wälder bestehen. Freilich setzt das bereits die Fähigkeit zum Lernen voraus.

Abb.1-1Der Dalmatiner. Beispiel für ein schwer erkennbares Bild. In der Mitte des Bildes steht ein Hund, den man von schräg hinten sieht. Er hält den Kopf nach unten und trägt ein dunkles Halsband. Links oben kann man den unteren Teil eines Baumstamms erkennen, der in einer Pflanzscheibe steht. Wenn man die Figur einmal erkannt hat, entdeckt man sie in der Regel danach leichter.

Aber auch Tiere können lernen und sie können sogar bereits Dinge miteinander in Verbindung bringen, die, biologisch gesehen, gar nichts miteinander zu tun haben. Sie lernen Gesten oder sogar Worte von Menschen, auf die sie mit einer ganz bestimmten Verhaltensweise reagieren können. Die Erkennung von Hinweisreizen ermöglicht Mensch und Tier Wissen anzusammeln, das im Grunde sehr abstrakten Kategorien zugeordnet ist. Kinder lernen schnell, Blechkisten mit vier Rädern als Autos zu bezeichnen, obwohl das Wort „Auto“ mit den Eigenschaften des bezeichneten Gegenstandes nichts mehr zu tun hat. Wir verwenden die Ziffer 3, ohne daran zu denken, dass dieses Symbol einmal tatsächlich aus drei Strichen bestand, als Stellvertreter für irgendwelche anders aussehenden Objekte. Auch diese Leistung ist, wie entsprechende Modellrechnungen zeigen, durch Nervennetze leicht zu realisieren. Aufgrund der einheitlichen Sprache des Nervensystems, nämlich den Informationstransport über Nervenimpulse, können Informationen zusammengebunden werden, die physikalisch gar nichts miteinander zu tun haben.

Das Geheimnis menschlicher Informationsverarbeitungsleistungen beruht also auf ganz bestimmten Eigenschaften der biologischen Netzwerkverarbeitung. Ohne ein Verständnis dieser Eigenschaften kann es wohl kaum gelingen, sich ein Bild von den Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Geistes zu machen. Im Grunde ist das Prinzip der Netzwerkverarbeitung jedoch ganz einfach zu verstehen.

Das Gehirn arbeitet grundsätzlich mit sehr einfachen Mitteln

Im Gehirn gibt es ziemlich viele Nervenzellen, vielleicht an die 100 Milliarden. Bei Überlegungen zur „höheren“ Informationsverarbeitung konzentriert man sich üblicherweise nur auf die Verarbeitungsprozesse in der circa 2500 Quadratzentimeter großen und im Durchschnitt 2,5 Millimeter dicken Oberfläche des Gehirns, der Großhirnrinde. Dort hat man es mit Netzwerken zu tun, an denen etwa 20 Milliarden Nervenzellen beteiligt sind. Jede dieser Nervenzellen besitzt zahlreiche Fortsätze, die in ihrer Summe etwa sechsmal so viel Volumen besitzen wie die kleinen Körper der Nervenzellen (Braitenberg u. Schütz 1991). Die Fortsätze der Nervenzellen, die sogenannten Nervenfasern, verbinden die einzelnen Nervenzellen teilweise über große Distanzen. Eng benachbarte Nervenzellen sind in der Regel vielfach miteinander verbunden, sodass man gewissermaßen bei Detailbetrachtung der Großhirnrinde von lokalen Netzwerken sprechen kann, die dadurch gekennzeichnet sind, dass fast jede Nervenzelle mit jeder anderen in Kontakt steht. Auf diese Weise können sich benachbarte Nervenzellen wechselseitig erregen oder hemmen.

Die Eigenschaften eng verknüpfter Netzwerke sind gut untersucht und lassen sich mit Computern simulieren. Man kann dabei einige, ganz einfache Eigenschaften unterscheiden, auf denen letztlich die großartigen Rechenleistungen des Gehirns beruhen. Zur Veranschaulichung dieser Eigenschaften werden wir im Folgenden Beispiele aus der Fotografie wählen, weil die Verarbeitung von Lichtwellen in optischen Systemen zu vergleichbaren Effekte führt. Zuvor sei jedoch betont, dass die im Folgenden beschriebenen Gesetze der Informationsverarbeitung greifen, unabhängig davon, ob die zu verarbeitenden Informationen von konkreten oder abstrakten Repräsentationen stammen. Sie gelten bei der Wahrnehmung ebenso wie bei Prozessen der Urteilsbildung.

Die erstaunlichen Rechenleistungen des Gehirns beruhen größtenteils auf ganz einfachen Eigenschaften eng verknüpfter Nervennetzwerke.

Die erste wichtige Eigenschaft von Nervennetzen ist die der Kontrastbildung bei Vorliegen von wenig strukturierter Information. Gute Kontraste erzielt man bei der Fotografie durch helles Licht, das durch eine kleine Blendenöffnung tritt. Generell spricht man bei Kontrastüberhöhung oder Detailbetonung von einer Hochpassfilter-Eigenschaft. Kontraste sind wichtig, um Objekte von ihrem Hintergrund abzuheben und ihnen Struktur zu geben. Kontrastbildung ist die Grundlage der Objekterkennung.

Wir wissen, dass durch die Verarbeitung in Nervennetzwerken teilweise eine starke Kontrastüberhöhung zwischen benachbarten Informationen stattfindet. Unter Umständen kann das zu optischen Täuschungen führen. Bekannt ist die sogenannte Gittertäuschung: Sie tritt auf, wenn man ein Muster aus regelmäßig angeordneten schwarzen Quadraten betrachtet. Gelegentlich meint man, dass sich zwischen den Quadraten graue Flecken befinden. Dabei handelt es sich um eine Illusion, vorgespiegelt durch überhöhten Kontrast in der visuellen Verarbeitung. Solche Fehler dürften jedoch ein nur kleines Übel gegenüber dem großen Vorteil einer stets prägnanten Informationskontur sein. Fehler durch zu starken Kontrast können übrigens auch in der Fotografie unterlaufen. Fotografiert man detailreiche Objekte, so kann es durch sehr starken Kontrast geschehen, dass zwischen Gräsern oder Ästen gestaltähnliche Konturen auftauchen oder in einem Gesicht kleine Schatten zu einer Falte verschmelzen.

Eine zweite, häufig zu beobachtende Eigenschaft von Nervennetzwerken kann man als Neigung zur Informationsrekonstruktion bezeichnen, die auf einer Kontrastverschleifung beruht. Sie verursacht, je nach besonderer Ausbildung eines Netzwerks oder der Gestalt der eintreffenden Information, geradezu das Gegenteil einer Kontrastbildung. Generell spricht man bei Kontrastverschleifung oder Detailunterdrückung von einer Tiefpassfilter-Eigenschaft.

Auf einer Kontrastverschleifung beruht das Weichzeichnen. Aus einem harten Schwarzweiß-Übergang wird im Falle des Weichzeichnens ein allmählicher Übergang von Schwarz nach Weiß über verschiedene Graustufen. Will man beim Fotografieren eines Gesichtes vermeiden, dass versehentlich Falten oder harte Kanten sichtbar werden, so stellt man die Blendenöffnung weit. Das Gesicht erscheint weicher und damit schöner oder jünger. Eine Weichzeichnung geschieht oft unbeabsichtigt bei schlechtem Licht, weil die Blende sich automatisch öffnet und dadurch die Konturen leicht unscharf werden.

Durch die Kontrastverschleifung können zum Beispiel kleine Informationslücken ausgeglichen werden. Wenn zum Beispiel eine Linie an einer Stelle zufällig unterbrochen ist, wird sie mithilfe der Kontrastverschleifung nahezu vollständig rekonstruiert. Aus der Mathematik kennt man den Vorgang der Interpolation. Wenn für Orte zwischen zwei Punkten mangels einer Definition keine Informationen vorliegen, kann man sich eine stetige Verbindung zwischen diesen Punkten konstruieren, die eine Lokalisation von zwischengefügten Werten ermöglicht. Derartige Interpolationen, im Sinne von behutsam angepassten Einfügungen von im Grunde nichtvorhandenen Informationen, sind in den Verarbeitungsprozessen der Nervennetzwerke möglich. Sie treten regelmäßig und mit großem Nutzen auf.

Eine dritte Eigenschaft der Netzwerkverarbeitung im Gehirn ist, dass sie weitgehend nicht unterscheidet, woher die zu verarbeitende Information stammt. Netzwerke können in nahezu gleicher Weise Seh- oder Tastinformation verarbeiten oder abstrakte Planungsprozesse vorbereiten. Insbesondere können sie Informationen, die aus der Wahrnehmung stammen, direkt zur Steuerung von Motorik verwenden. Eine Codierung von Ortsinformation beim Auftreten eines Reizes kann unmittelbar verwendet werden, um ein Bewegungsziel zu codieren. Dies ist die Grundlage für die beim Menschen teilweise erworbene Fähigkeit einzelner Regionen des Nervensystems zum sogenannten Spiegeln.

Das Besondere beim Spiegeln ist, dass das Wahrgenommene nicht irgendwelche Handlungsmuster aktiviert, für die es Ziel oder Mittel sein kann. Vielmehr werden vorzugsweise diejenigen Bewegungen aktiv, die mit dem hochgerechneten Ziel einer wahrgenommen Bewegung assoziiert sind.

Vorgemachte Bewegungen können in der Regel völlig automatisch nachgemacht werden. Diese Fähigkeit beruht auf der Tatsache, dass es zwischen Wahrnehmen und Handeln eine gemeinsame Währung gibt, nämlich eine identische Kodierung für Orte und Bewegungsrichtungen durch Nervenzellaktivität.

Eine vierte Eigenschaft der Nervennetzwerke beruht auf der Tatsache, dass durch jede Verarbeitung eine Informationsreduktion stattfindet, also Teile der ursprünglichen Informationen verloren gehen. Durch die Informationsverarbeitung in Nervennetzen wird also Information gekappt, und zwar umso mehr, je weiter die Verarbeitung von einem Netzwerkteil zum anderen fortschreitet. Gehen wir einmal davon aus, dass die ins Nervensystem gelangenden Informationen auf Eigenschaften von realen Objekten beruhen. Dann werden diese Objekte zwar durch die Aktivität der Nervenzellen repräsentiert, haben aber bei dieser Repräsentation zahlreiche Eigenschaften eingebüßt. Sofern nun die entsprechenden Erregungsprozesse innerhalb des Gehirns durch die Nervenzellverbindungen an nachgeschaltete Nervennetzwerke weitergeleitet werden, wird die entsprechende Repräsentation immer eigenschaftsärmer. Wir sprechen davon, dass die Repräsentationen in nachgeschalteten Netzwerken immer abstrakter werden.

So geschieht es, dass für zahlreiche Gedächtnisinhalte wichtige Informationen abhandenkommen: Manchmal weiß man nicht mehr, woher das Wissen ursprünglich stammte. Man weiß von einem Gegenstand, kennt aber nicht seinen Platz, manchmal verlieren sich sogar im Laufe der Verarbeitung markante physikalische Eigenschaften wie Größe oder Farbe. Viele Sachverhalte, mit denen man sich gedanklich beschäftigt, verlieren allmählich den ursprünglichen Bezug zu den Dingen oder Personen, die sie betreffen. Dinge (zum Beispiel ein Baum) können bis auf ihre Existenz reduziert werden und mit ähnlichen Dingen zu Mengen (zum Beispiel einem Wald) zusammengefasst werden. Ein Strich kann zum Beispiel beim Zählen ein Ding bezeichnen, zwei Striche können als Symbol für zwei Dinge verwendet werden. Die Eigenschaften von Dingen müssen beim Abruf in der Regel wieder rekonstruiert werden. Hierbei lauern allerdings zahlreiche Fehlerquellen, die wir an dieser Stelle jedoch nicht weiter vertiefen müssen.

Wir haben bereits erwähnt, dass Menschen imstande sind, Kategorien zu bilden: Wir sprechen von einem Baum oder auch von Liebe, ohne dass wir dabei genaue Eigenschaften des benannten Sachverhalts im Blick haben. Kategorien sind extrem eigenschaftsarm. Sie ermöglichen zwar, die unterschiedlichsten Dinge in „Schubladen“ zu packen und mit einem Begriff zu versehen. Der Alltag zeigt aber, dass uns das recht oft in Schwierigkeiten bringt. Jeder kennt und verwendet das Wort „Ausländer“. Doch was genau meint man damit, vor allem wenn man berücksichtigt, dass jeder Mensch in fast allen Ländern der Erde Ausländer ist? Wie verhält es sich bei Personen mit einem zweiten Wohnsitz oder sogar einem zweiten Pass? Nicht für alle kategorialen Zusammenfassungen existieren eindeutige, allgemein akzeptierte und jedermann präsente Definitionen. Daher kommt es oft zu Unklarheiten bei der Deutung von kategorialen Zusammenfassungen. Dennoch scheinen Kategorien bis zu einem gewissen Grad für „höhere“ Funktionen vorteilhaft zu sein.

Das Sozialleben des Menschen begünstigt den Prozess, dass Gemeintes durch ein Zeichen, im Falle der Sprache häufig durch ein einziges Wort gekennzeichnet wird. Stellvertretend für einen Gegenstand oder einen Sachverhalt wird ein Signal verwendet, das mit dem Bezeichneten vielfach keine einzige Eigenschaft mehr gemeinsam hat. Bei einem solchen „Transport“ im Bereich der Kommunikation können bei eigenschaftsreichen Sachverhalten, die kommuniziert werden sollen, leicht Eigenschaften verloren gehen. Für Kinder ist ein Messer oder heißes Wasser gleichermaßen „gefährlich“, obwohl man sich mit dem einen Gegenstand beim Ausrutschen während einer gezielten Bewegung eine Schnittverletzung und beim anderen durch unachtsames Anstoßen eine Brandwunde zuziehen kann.

Begriffe, die ohnehin schon eigenschaftsarm sind, eignen sich also für die sprachliche Kommunikation besonders gut. Insofern trägt die sprachliche Verarbeitung zur Verarmung der Repräsentationen von Sachverhalten in den Nervennetzwerken bei. Umgekehrt ist beim Zuhören oder Lesen die Fantasie gefordert, um das ursprünglich Gemeinte zu rekonstruieren. Für diese Funktionen dürfte der Selektionsdruck in der Evolution so groß gewesen sein, dass sich die beiden Hemisphären der Großhirnrinde entsprechend spezialisiert haben. Während die linke Hemisphäre vorzugsweise kategoriale und damit sprachlich verwendbare Repräsentationen ermöglicht, arbeitet die rechte mit eher eigenschaftsreichen Repräsentationen, wie zum Beispiel für Orte, Handlungen oder Episoden.

Es gibt eine besondere Form von Informationsreduktion bei der Verarbeitung in Nervennetzen, die wir hier Referenzieren nennen wollen. Gemeint ist die Tatsache, dass ein Signal nie durch sich selbst zur Information wird, sondern stets nur im Verhältnis zu anderen Signalen in zeitlicher oder räumlicher Nachbarschaft. Der Begriff der Information an sich setzt bereits Unterscheidbarkeit voraus (vgl. dazu auch Bösel 1977, S. 62ff.). Ein lauter Ruf ist nur in ruhiger Umgebung bedeutsam, nicht aber in einem Raum, wo alle laut sprechen. Der Unterschied zwischen 1883 € und 1893 € erscheint weniger bedeutsam als zwischen 3 € und 13 €. In einem mit Rotlicht beleuchteten Raum wird eine rote Fläche kaum auffallen, höchstens, dass sie hell erscheint.

Es dürfte ein Grundprinzip der Verarbeitung in Nervennetzen sein, dass Eigenschaften rasch verloren gehen, die allen Ereignissen in zeitlicher und räumlicher Nähe in gleicher Weise zukommen. Dadurch dient die Umgebung eines Ereignisses als Referenz, auf deren Grundlage die Ereignisinformationen gewissermaßen standardisiert werden.

Das Gesicht einer Person, die im Sommer unter einem Baum steht, hat wegen des von den Blättern reflektierten Lichts einen deutlichen Grünstich. Eigentlich müsste die Person wie eine Leiche aussehen. Warum ist das aber in der Regel nicht der Fall? Edwin Herbert Land, der Erfinder der Sofortbildkamera, hat dazu eine Theorie entwickelt (Land 1977). Und der Londoner Psychologe Semir Zeki hat an Experimenten mit Affen gezeigt, wo und wie die entsprechende Verrechnung im Gehirn geleistet wird (Zeki 1983). Der Aufwand für diese Verrechnung erscheint im ersten Augenblick doch ziemlich groß zu sein. Für das Beispiel der Farberkennung ist es nämlich erforderlich, dass die Farbanteile, die wegen der speziellen Beleuchtungsverhältnisse überall im Sehfeld auftauchen, generell unterdrückt werden. Fotografen kennen das als Korrektur der Farbtemperatur oder einfach als Weißabgleich. Durch den Weißabgleich werden die Farbanteile, die alle Objekte in gleicher Weise besitzen, herausgefiltert. Dadurch treten die Farben der einzelnen Objekte in einer besser erkennbaren Weise hervor.

Im Beispiel des grünstichigen Gesichts tauchen die Grünanteile sowohl im Gesicht wie im Hintergrund auf. Die Netzwerkfunktionen, die diese Eigenschaften repräsentieren, hemmen sich jedoch wechselseitig, sodass diese Informationen ganz einfach unterdrückt werden. Nach dieser Form von Korrektur erscheint das Gesicht wieder mit seiner ursprünglichen Hautfarbe. Das Gehirn nimmt diese Korrektur durch eine Berechnung in einem der visuellen Areale der Großhirnrinde vor.

So kompliziert das beschriebene Verfahren erscheint, beruht es doch letztlich doch nur auf einem einfachen Prinzip der Netzwerkverarbeitung. Dieses Prinzip heißt Umfeldhemmung. Ist ein Netzwerkteil erregt, so hemmt diese Erregung eine auf gleichen Eigenschaften beruhende Erregung in ihrer Nachbarschaft. Je stärker man sich auf einen Punkt konzentriert, desto mehr verschwimmen die Einzelheiten in der Umgebung. Gleichförmige Reize in einer weiten Fläche oder über eine längere Zeit hinweg werden gar nicht mehr wahrgenommen.

Die enge Verflechtung der Nervenzellfortsätze im Netzwerk der Großhirnrinde erlaubt nun, dass im Grunde jede Region des Netzwerks, in dem eine bestimmte Eigenschaftskombination eines Objekts entdeckt wird, mit anderen Regionen verbunden ist, die beispielsweise Umgebungsobjekte repräsentieren. Sofern die verbundenen Netzwerkteile durch gleiche Eigenschaften, beispielsweise Grünanteile, erregt werden, hemmen sich die entsprechenden Erregungen wechselseitig, vorausgesetzt sie treten am Objekt und in der Umgebung in gleicher Weise auf.

Man kann davon ausgehen, dass Gegenstände, die wegen ihrer Entfernung klein auf das Auge treffen, oft deshalb gar nicht klein wirken, weil andere Gegenstände in der gleichen, weit entfernten Umgebung ebenfalls klein sind. Eigenschaften, die allen Objekten der Umgebung gleichermaßen zukommen, gehen in der wechselseitigen Referenzbildung verloren. Auf diese Weise sind wir imstande, ein Dreirad zu erkennen, auch wenn es umgestürzt ist und es nicht zu den täglichen Gebrauchsgegenständen gehört. Dieses Prinzip gilt in der Psychologie als Grundlage für das Konstanzphänomen. Darunter versteht man die Tatsache, dass bekannte Gegenstände auch unter ungünstigen Wahrnehmungsbedingungen oder unüblichen Perspektiven wiedererkannt werden können.

Selbstverständlich erklärt das alles noch nicht, warum wir Menschen wesentlich umfangreichere und detailreichere Modelle der Wirklichkeit entwickeln können als Tiere, etwa in physikalischer, technischer oder auch sozialer Hinsicht. Diese Frage werden wir auch mit dem nächsten Thema noch nicht beantworten, aber es wird die Richtung zeigen, wie man der Antwort einen Schritt näher kommen kann.

Das Stirnhirn

Wenden wir uns nun einer speziellen Speicherstruktur des Gehirns zu, nämlich dem Stirnhirn. In gewisser Hinsicht geht es wieder um die Vorteile einer gewissen Trägheit bei der Verarbeitung, wie sie in dicht verknüpften Netzwerken stattfindet.

Nehmen wir an, ein Tier oder ein Mensch will ein bestimmtes Ziel erreichen, zum Beispiel sich etwas zum Essen besorgen. Einen solchen Vorsatz auszuführen ist selbst dann nicht ganz einfach, wenn man weiß, wo die Nahrung zu finden ist. Immerhin wird es in der Regel erforderlich sein, sich auf irgendeine Weise der Nahrungsquelle anzunähern. Während dieser Zeit darf man aber das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Nicht immer erinnert einen ein wiederkehrendes Hungergefühl, oft genug muss man auch vorsorglich tätig werden. Für solche Fälle hat das Gehirn im Laufe der Evolution einen eigenen Speicher entwickelt, der Handlungsziele so lange speichert, bis das Ziel erreicht oder durch ein anderes Ziel ersetzt wurde. Große Teile des Stirnhirns, insbesondere der sogenannte Präfrontalkortex (Abb. 1-2), dienen diesem Zweck. Die entsprechenden Funktionen werden oft unter dem Begriff der sogenannten exekutiven Funktionen zusammengefasst.

Abb.1-2Der Präfrontalkortex

Der Präfrontalkortex ist also der Teil des Stirnhirns, der nicht direkt in die motorischen Funktionen eingebunden ist, diese aber auf der Basis von Plänen vorbereitet. Der größte Unterschied zwischen den Gehirnen von Menschen und Affen ist hier zu suchen. Die Ausdehnung des Präfrontalkortex ist bei Menschen etwa dreimal so groß wie bei Schimpansen. Und wie sieht der Präfrontalkortex von Genies aus? Kürzlich sind alte Fotografien von Einsteins Gehirn aufgefunden und ausführlich analysiert worden. In der ersten Dokumentation dazu wird über Einsteins Präfrontalkortex notiert: „The convolutions of Einstein’s prefrontal lobe suggest that, volumetrically, his prefrontal association areas may have been on the high end of the range of variations in humans.“ (Die Windungen von Einsteins Präfrontalkortex weisen darauf hin, dass dessen präfrontale Assoziationsareale im Hinblick auf ihr Volumen am obersten Ende der Variationsbreite beim Menschen rangierten) (Falk et al. 2013, S.1322).

Die Erkenntnis, dass die sogenannten „höheren“ Fähigkeiten des Menschen an die Planung und Ausführung von Motorik zur Erreichung eines Handlungsziels gebunden sind, war für lange Zeit nicht einmal in der Psychologie selbstverständlich. Eine gewisse Ahnung von der Bedeutung „höherer“ Fähigkeiten im Zusammenhang mit einer Handlungsvorbereitung hatten bereits die alten Lernpsychologen wie Iwan Pawlow oder Burrhus Skinner. Erst allmählich und über sehr unterschiedliche Zugänge hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass Denken in erster Linie der Vorbereitung des Handelns dient. Einen historisch recht merkwürdig anmutenden Weg zu dieser Erkenntnis hatte zum Beispiel der russische Psychologen Alexei Leontjew (1903–1979) eingeschlagen. Er orientierte sich einfach an der Einlassung von Friedrich Engels, dass die Arbeit den Menschen geschaffen hat, und dass „unter deren Einfluss das Gehirn des Affen in das … vollkommenere eines Menschen allmählich übergegangen ist“ (zit. n. Leontjew 1973, S.198). Überzeugendere Hinweise zur Rolle der exekutiven Funktionen für das menschliche Denken stammen hauptsächlich aus den späteren, umfangreichen Untersuchungen von Wolfgang Prinz, dem langjährigen Leiter des Max- Planck-Institutes für Psychologische Forschung, und den von ihm geleiteten Arbeitsgruppen (vgl. Prinz 1991).

Bedeutungshaltig heißt handlungsrelevant.

Wir werden im Laufe der folgenden Kapitel die einzelnen Mechanismen des Stirnhirns anhand seiner anatomischen Gliederung besprechen und dabei auf die Funktionen der einzelnen Teile des Präfrontalkortex näher eingehen. Wir werden bei der oberen Stirnhirnwindung beginnen und über die mittlere zur unteren Windung kommen. Dabei wird immer wieder zu erwähnen sein, dass wir zwei Gehirnhemisphären mit einer Funktionsspezialisierung besitzen. Die beiden Hemisphären stoßen in der Mitte des Gehirns aneinander, sodass auch das Stirnhirn je einen zur Mitte hin liegenden Teil besitzt, der eigene Funktionen aufweist. Der unterste Teil des Stirnhirns ist die Stirnhirnbasis, von der sich der vordere Teil direkt über den Augen befindet.

Eine elementare Stirnhirnfunktion: Augenbewegungen

In jedem Augenblick gibt es viel zu tun. Im Körper existieren ständig zahlreiche Impulse, die Anlass zu einer Tätigkeit geben könnten. Alle diese Tätigkeiten werden stimuliert durch eine Fülle von Signalen, die teils aus der Umwelt, teils auch aus dem Körperinneren kommen. Es gibt impulsive Menschen, die einen geradezu getriebenen Eindruck machen, da sie ständig aktiv sein wollen. Sie wollen vieles ausprobieren oder sind von hochfliegenden Plänen hin- und hergerissen. Auch wenn bei impulsiven Menschen der Tätigkeitsdrang vordergründig ist, so wird die Richtung der Tätigkeit dennoch von Umweltreizen, genauer von der Repräsentation verschiedener Reize in der subjektiven Wahrnehmung bestimmt. Insofern verbirgt sich hinter einem starken Antrieb selbstverständlich auch eine ganz besondere Reizbewertung. Tatsächlich konnte man zum Beispiel bei Abenteurern und Extremsportlern nachweisen, dass diese schon auf ziemlich uninteressante Reize überdurchschnittlich stark reagieren, wenn diese nur eine bestimmte Intensität überschreiten (Hegerl et al. 2001).

Sehen wir uns doch einmal den Mechanismus der Orientierung an subjektiv bedeutsamen Reizen genauer an. Unsere Augen führen ständig unwillkürliche, kleine Bewegungen aus, sogenannte Sakkaden. Dabei springen die Augen in weniger als einer Zehntelsekunde über wenige Dutzend Winkelminuten. Ein solcher Sprung entspricht in einer Entfernung von einem Meter einer Distanz von etwa einem Zentimeter. Allerdings können solche unwillkürlichen Sprünge auch wesentlich größer sein. Was veranlasst das Auge zu solchen Aktionen? Es gibt dafür nur eine Erklärung. Das Auge nimmt in der Umgebung des gerade fixierten Punktes eine Stelle wahr, die in irgendeiner Weise auffällig ist, weil zum Beispiel dort gerade ein starker Kontrast ins Auge springt oder eine Bewegung stattfindet.

Freilich gibt es auch Dinge, die das Auge beinahe magisch anziehen. Wenn eine Frau das Bild eines Mannes in Badehose sieht, so wandert ihr Blick in den ersten fünf Sekunden in der Regel zu dessen Gesicht und zu Stellen ausgeprägter Muskulatur im Arm-, Brust- oder Bauchbereich. Selbstverständlich wird also die Blickbewegung auch durch Bedürfnisse und Gewohnheiten beeinflusst. Stets suchen die Augen bedeutungshaltige Ziele auf. Bedeutungshaltig heißt handlungsrelevant.

Uns interessiert an dieser Stelle, dass die Augenbewegungen sehr stark durch Vorsatz und Absicht gelenkt werden. In einer der frühen Untersuchungen zur Bedeutung von Augenbewegungen wurde zum Beispiel ein Bild gezeigt, auf dem mehrere Personen in einem Raum zu sehen waren (Yarbus 1967). Das Bild wurde durch die Augen der Versuchspersonen völlig unterschiedlich abgetastet, je nachdem, ob die Instruktion lautete „Merke dir die Position der Menschen!“ oder „Wie alt sind die Menschen auf dem Bild?“. Bei Fragen nach dem Alter von abgebildeten Menschen werden die Augen in der Regel auf den Kopf gerichtet, bei Fragen nach der Kleidung hingegen auf diese.

Es gibt im Stirnhirn eine eigene Region, die kontrolliert, ob die richtigen Ziele ins Auge gefasst werden. Diese Region nennt man frontales Augenfeld und sie trägt die Kurzbezeichnung BA 8. Die Nummerierung geht auf den Anatomen Korbinian Brodmann (1868–1918) zurück, nach dem die Areale der Großhirnrinde als Brodmann-Areae (BA) bezeichnet werden. Betrachtet man das Gehirn von der Seite, so bildet der entsprechende Kortexbereich ein mittig gelegenes, etwa einen Zentimeter breites Band, das obere und mittlere Stirnhirnwindung bedeckt (Abb. 1-3). Personen, die in diesem Bereich des Stirnhirns eine Verletzung erlitten haben, tasten Bilder ziemlich zufällig ab. Sie können Fragen nach dem Alter oder der Position abgebildeter Menschen nicht zufriedenstellend beantworten.