Wie die einarmige Schwester das Haus fegt - Cherie Jones - E-Book

Wie die einarmige Schwester das Haus fegt E-Book

Cherie Jones

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Beschreibung

Auf der Shortlist für den Internationalen Literaturpreis 2023 Ausgezeichnet mit dem Deutschen Krimipreis 2022 Auf Platz 1 der Litprom-Bestenliste »Ein kraftvoller und schonungsloser Roman über die dunklen Seiten eines Inselparadieses.« Bookseller Baxter’s Beach, Barbados: das perfekte Paradies, solange niemand an der Oberfläche kratzt. Cherie Jones erzählt in eindringlicher, lyrischer Sprache, wie Liebe und Verbrechen das Leben ihrer Figuren über alle Klassenschranken und Hautfarben hinweg auf dramatische Weise verändern. Die Legende von der einarmigen Schwester sollte Lala eigentlich davor warnen, was mit Mädchen geschieht, die ihren Müttern nicht gehorchen. Doch für Lala ist es die verheißungsvolle Geschichte einer Abenteurerin, und als sie erwachsen ist und auf schreckliche Weise ein Baby verliert, schöpft sie ausgerechnet daraus Hoffnung auf ein besseres Leben. Adan ist ein charismatischer, aber gewissenloser Kleinkrimineller, dessen Einbruch in eine der Strandvillen eine Kette von furchtbaren Ereignissen auslöst: ein Schuss, den niemand hören sollte. Ein Mord, der alles verändert und der auch Lala an einen Wendepunkt führt, denn Adan ist ihr Ehemann: Wird sie es endlich schaffen, dem Kreislauf aus Armut und Gewalt zu entkommen? »Cherie Jones erzählt von den Katastrophen, die eintreten, wenn Not und Reichtum aufeinandertreffen.« Elle »Cherie Jones’ Roman wirft einen genauen Blick auf das Leben der einheimischen Barbadier und der wohlhabenden Touristen, die ihre Lebenswelten besetzen.« Publishers Weekly

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 433

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Impressum

Deutschsprachige eBook-Ausgabe: © CulturBooks Verlag 2022

Gärtnerstr. 122, 20253 Hamburg

Tel. +4940 31108081, [email protected]

www.culturbooks.de

»How the One-Armed Sister Sweeps Her House«

Copyright: © Cherie Jones 2021

All rights reseved

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde

im Rahmen des Programms »Neustart Kultur« aus Mitteln

der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien vom

Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Covergestaltung: Cordula Schmidt Design, Hamburg

nach einem Entwurf von Tinder Press (Headline Publishing Group)

Umschlagabbildungen: © Shutterstock

Erscheinungstermin: September, 2022

ISBN: 9-783-95988-224-8

Über das Buch

Baxter’s Beach, Barbados: das perfekte Paradies, solange niemand an der Oberfläche kratzt. Cherie Jones erzählt in eindringlicher, lyrischer Sprache, wie Liebe und Verbrechen das Leben ihrer Figuren über alle Klassenschranken und Hautfarben hinweg auf dramatische Weise verändern.

Auf der Shortlist für den Women's Prize for Fiction

»Ein kraftvoller und schonungsloser Roman über die dunklen Seiten eines Inselparadieses.« Bookseller

Über die Autorin

Cherie Jones lebt als Autorin und Anwältin in Barbados. 1999 gewann sie den Commonwealth Short Story Prize, anschließend studierte sie Kreatives Schreiben in Sheffield Hallam, wo ihr sowohl der Archie Markham Award als auch der A.M. Heath Prize verliehen wurde. »Wie die einarmige Schwester das Haus fegt« ist ihr Romandebüt.

Über die Übersetzerin

Cherie Jones

Wie die einarmige Schwester das Haus fegt

Roman

Prolog

2. September 1979

Lala kommt nach Hause, und Wilma wartet schon; sie ist früher von ihrem Besuch bei Carson im Krankenhaus zurückgekommen. Wilma trägt immer noch ihre Ausgehsachen, eine der Kombinationen, in denen sie am liebsten von Fremden gesehen wird – eine helle, aquamarinfarbene Seidenbluse, die in einem violetten Plisseerock steckt, der ihr bis knapp unters Knie reicht, dazu einen breiten lila Gürtel und einen dunkelblauen Glockenhut, der einmal ihrer Mutter gehört hat. Als Lala zur Tür hereinkommt, steht Wilma auf dem Steinboden der Küche, die Arme in die Hüften gestemmt, die Augen vor Erleichterung weit aufgerissen.

»Wo warst du, Stella? Ist schon fast halb neun!«

Die Besuchszeit endet um sechs; das ist eine der unzähligen Erniedrigungen, wenn man im Baxter’s General liegt – Besucher verabschieden und mit den Hühnern schlafen gehen müssen. Aber heute ist Carson schon lange vor der Schlafenszeit in eine Art Koma gefallen, einen tiefen Schlaf, aus dem die Ärzte ihn nicht wecken können. Wilma sitzt die erste Besuchsstunde aufrecht neben seinem Bett, und erst als sie einnickt und vom Stuhl fällt und mit noch immer rechtwinklig gebeugten Knien auf dem Boden landet, lässt sie sich überzeugen, nach Hause zu gehen und sich auszuruhen. Man kann sowieso nicht viel tun, sagen die Krankenschwestern, während Carson der Sabber aus dem Mundwinkel läuft und sich bis in die Laken schleimt; die Ärzte machen Untersuchungen.

Dieses Koma, diese Untersuchungen sind der Grund, wa-rum Wilma den langen Fußweg vom Baxter’s General zurück zur Bushaltestelle Bridge Street schlendern kann, statt rennen zu müssen, und es trotzdem noch schafft, sich einen Platz vorn in der langen Schlange der Pendler zu sichern. Deshalb ist ihr Plisseerock den verräterischen Knitterfalten durch das Schieben und Schubsen und Quetschen in der Schlange entkommen, wenn alle gemeinsam versuchen, den 12er nach Baxter’s Beach zu kriegen, aus dem sie normalerweise gegen halb neun aussteigt. An diesem Abend hat Wilma den Bus um sieben erwischt, statt den um acht, und blieb deshalb von den üblichen Besuchermengen aus dem Baxter’s General verschont. An diesem Abend ist Wilma fast eine Stunde früher nach Hause gekommen und hat festgestellt, dass Lala nicht in ihrem Zimmer ist und Dolly liest.

»Wo warst du, Stella? Antworte mir!«

»Mein Name ist Lala.«

Lala lässt sich zunächst nicht davon beirren, dass sie schon Ärger hat und wahrscheinlich Prügel kriegt, und ihre Bockigkeit bringt Wilmas rechtes Auge zum Zucken.

»Dein Name ist, was ich zu dir sage!«, brüllt Wilma.

»Ich war draußen, Wilma«, stammelt Lala. »Es war dunkel im Haus, und ich hab Angst gekriegt und bin spazieren gegangen.«

Wilma weiß nicht, ob sie ihr glauben soll. Lalas Frisur ist unbeschädigt, ihr Kleid ist nicht verknitterter als sonst, sie kann ihr direkt in die Augen sehen – es kann sein, dass sie die Wahrheit sagt.

»Ich hab mir gedacht, ich geh raus und warte am Bus, aber ich hab die Zeit vergessen …«

Wilma nimmt ihren Glockenhut ab, den sie aufbehalten hat, bis Lala zur Tür hereinkam, nur falls ihr Kopf noch mal dem kalten Wind trotzen muss, wenn sie sie suchen geht. Sie streift ihre chinesischen Pantoffeln ab und setzt sich. Plötzlich ist sie zu müde, um Prügel auszuteilen. Sie ist zu müde, um zu Bett zu gehen. Sie denkt an die Aussicht, dass Carson letztlich stirbt und sie allein lässt, allein bis auf Lala. Sie sieht ihre Enkelin an – das einzige Kind ihrer einzigen, toten Tochter. Diese Enkelin hat ihr bis jetzt eigentlich keinen Ärger gemacht. Sie macht die Schulaufgaben so gut, dass die Lehrer sagen, sie kann alles werden, was sie möchte. Sie sagt »Ja, Ma’am« und »Nein, Ma’am« zu den Gelegenheiten, die Wilma ihr beigebracht hat. Sie lässt sich bei ihrem Großvater Carson nicht blicken und nicht hören. Was sonst, fragt sich Wilma, kann sie noch verlangen? Das Kind ist keine Schönheit, aber vielleicht, denkt Wilma, wird das zu ihrem Vorteil sein. Sie denkt daran, dass dies die Person ist, die ihr im Alter helfen muss, und deshalb spricht sie jetzt mit weicher Stimme, die fast flehend klingt.

»Hab ich dir nicht gesagt, dass junge Mädchen wie du drinnenbleiben müssen?«, tadelt sie milde. »Hab ich dir nicht erzählt, was in den Tunneln von Baxter wohnt? Willst du rumlaufen und es selbst rausfinden?« Als Lala nicht antwortet, sagt sie: »Ich erzähle dir jetzt von einem kleinen Mädchen, wie du eins bist, das nicht auf seine Mutter hören wollte.«

Wilma erzählt die Geschichte von der einarmigen Schwester.

Der Dorfvikar und seine Frau hatten zwei kleine Mädchen. Solche schönen Kinder hast du noch nie gesehen – die Haut gelb und hübsch, wie Erdnussmilch, die Haare lockig und seidig wie peau de soie, die Augen groß und hellbraun mit ganz, ganz langen Wimpern. Sie waren beide schön, aber nur eine hatte gesunden Menschenverstand – die andere war eigenwillig und fand’s gut, ihrer Mutter zu widersprechen. Und dann war da noch zufällig ein Eingang zu den Baxter-Tunneln am Ende vom Garten hinterm Pfarrhaus. Keiner wusste so genau, was der da zu suchen hatte, da war er aber trotzdem. Die Frau vom Vikar hätte fast den Gärtnerburschen geholt, damit er ihn mit Steinen und Zement zumacht, aber nur fast, sie hat den Burschen dann doch nie in die Stadt geschickt, den Sack Zement und die Zementblöcke kaufen und die Sache erledigen. Die Frau vom Vikar erzählt ihren kleinen Mädchen von dem Tunnel, dass sie da nicht reindürfen, dass da unten drin Monster wohnen, dass alle kleinen Mädchen, die da reingehen, nie wieder rauskommen. Die Tunnel sind der Ort, wo böse Männer hingehen, wenn sie sterben, sagt die Mutter. Tag und Nacht laufen in diesen Tunneln Männer herum, die zu böse sind, um friedlich in ihren Gräbern zu ruhen, bereit für weitere böse Taten, und sammeln Seelen für den Teufel.

So erzählt es ihnen die Mutter, und das kleine Mädchen mit dem Verstand hört zu, aber das andere, das keinen hat, wird nur noch neugieriger. Diese Schwester hinterfragt ihre Mutter, fragt sich, was in dem Tunnel ist, das so großartig ist, dass ihre Mutter sie davor warnt, denn dieses nichtsnutzige Mädchen kriegt schon langsam Geschmack für Sachen, von denen ihre Mutter sagt, dass es sie nicht haben darf. Diese schon von Geburt an leichtsinnige, frühreife Schwester glaubt schon, dass manche bösen Dinge richtig großartig sind, und wenn was so großartig ist, dann kann es doch gar nicht böse sein. Diese Schwester denkt sich, so dunkel ist das gar nicht und auch nicht so gruslig, was soll so ein Tunnel, wenn man nicht sehen darf, wo er hinführt? Genau so ein Tunnel, beschließt diese Schwester, muss ausgekundschaftet werden, sagt Wilma, und eines Abends geht sie los, als ihre Mutter mit der Frau vom Doktor Tee trinkt. Sie haben da wichtige Themen besprochen, sagt Wilma, die Frau vom Vikar ist nämlich eine gute Mutter, eine, die ihre Kinder nicht allein lässt, nicht mal für ein paar Sekunden. Denn mehr als ein paar Sekunden braucht der Teufel nicht.

Ziemlich schnell hört die Frau vom Vikar Geschrei, das so jämmerlich und schrill ist, dass auf dem Tisch die Teekanne wackelt. Die Frau vom Vikar und die Frau vom Doktor laufen raus und sehen die gute Schwester, die sich an der anderen festklammert, und etwas, das sie nicht richtig erkennen können, zieht die dumme an ihrem anderen Arm in den Tunnel zurück. Also, die Frau vom Vikar und die Frau vom Doktor und der Gartenbursche, alle packen sie die gute Schwester und ziehen an ihr, und die gute zieht die böse Schwester weg von dem Ding in dem Tunnel. Und, sagt Wilma, vielleicht ist es nur, weil ihr Mann der Vikar ist und ein Mann des Gebets, dass sie die dumme Schwester rauskriegen, aber das Monster in dem Tunnel reißt ihr den Arm ab. Als sie die Schwester retten, ist da, so sicher wie das Amen in der Kirche, nur noch ein blutiger Stumpf, und jetzt endet ihr linker Arm in einem Wulst direkt darüber, wo vorher ihr Ellbogen war. Sie überlebt natürlich, sagt Wilma, das ist bei schlechten Menschen oft so, aber sie hat einen Stumpf, der sie dran erinnert, wo man mit Dummheit landet. Natürlich lässt die Mutter den Gartenburschen den Tunnel danach schnell, schnell zumachen, aber der Arm ist schon drin. Neugierige Katzen verbrennen sich die Tatzen, sagt Wilma, sei nicht so dumm wie die einarmige Schwester.

Etwas an dieser Geschichte ärgert Lala, vielleicht Wilmas Erwartung, dass sie mit ihren dreizehn Jahren daran glauben soll.

»Und keiner von denen ist noch mal reingegangen und hat den Arm gesucht?«, wundert sie sich. »Nicht mal der Gartenbursche?«

»Der Gartenbursche kennt seine Grenzen«, sagt Wilma. »Der Gartenbursche kommt nicht gegen ein Monster an.«

Als Lala schweigt, versteht Wilma das als einen Beweis, dass sie Angst gekriegt hat, gerade so viel, dass sie sich aus der Art von Problemen raushält, die man bei langen Spaziergängen durch die Nacht bekommen kann, deshalb nimmt sie ihren Hut und ihre Tasche und ihren Gürtel, um in ihr Nähzimmer zu gehen, wo noch mehr Arbeit wartet.

»Ich wette, wenn es andersrum wäre, wenn die gute Schwester die im Tunnel wäre, dann hätte die andere den Arm gesucht und ihn für sie gefunden«, sagt Lala. »Ich wette, das hätte sie gemacht.«

»Die gute Schwester war schon mal gar nicht so dumm, da überhaupt erst reinzugehen«, sagt Wilma, und ihre Augen blitzen, und sie denkt, vielleicht hätte sie doch die Energie aufbringen und Lala lieber eine ordentliche Tracht Prügel verpassen sollen.

»Ach, ich wette, so schlimm ist das gar nicht, wenn man nur einen Arm hat«, sagt Lala. »Sie kann immer noch Sachen machen wie alle anderen, sie kann immer noch einen Mann haben und Kinder und ein Haus.«

»Dummes Mädchen«, sagt Wilma. »Wie soll sie es denn fegen?«

Kapitel Eins

Lala 20. Juli 1984

Ungefähr eine Stunde, nachdem Adan sie zu Haus allein gelassen hat, steht Lala barfuß im dunklen Eingang seines Hauses, in einem kratzigen weißen Nachthemd, das sie Wilma geklaut hat, und beteuert sich selbst, dass alles gut wird, obwohl es offensichtlich nicht so ist. Die salzige Luft war ruhig, als sie die Tür geöffnet hat, und trotzdem stehen ihr Schweißperlen im Gesicht, als sie die Füße in Adans alte Turnschuhe steckt und sich mit den Zehen an den Innensohlen festkrallt, während sie sich Sorgen über ihren Abstieg zu dem grausamtigen verschwommenen Streifen Strand viel zu weit da unten macht. Man hat sie gewarnt, die Stufen nicht allein rauf- oder runterzugehen, in ihrem Zustand, und Adan hatte den Auftrag, ein Geländer zu bauen, an dem sie sich festhalten kann, aber sie beide haben die vernünftigen Ratschläge der Fischer ignoriert, die ihr manchmal mit ihren Einkäufen hinaufhelfen. Die fünfundzwanzig Betonstufen bis zum Boden sind immer noch genauso trügerisch wie an dem Tag vor anderthalb Jahren, als sie sie zum ersten Mal hinaufgestiegen ist, mit einem Einkaufsnetz, das sich in die Form von allem gedehnt hat, was sie besaß. Mit einem Bauch von der Größe eines Wasserballs, der sie aus dem Gleichgewicht bringt, sind sie jetzt vielleicht noch trügerischer, denkt sie, also stützt sie sich zu ihrer Linken an das verwitterte Holz des Hauses und hält sich von der steilen Kante zu ihrer Rechten fern.

Sie fasst in die Löcher in der Holzwand des Hauses, krallt sich darin fest und lässt sich vorsichtig die ersten paar Stufen hinunter, bis das gesplitterte Holz zu ihrer Linken ins Nichts abfällt und zu ihrer Rechten immer noch Leere ist, aber trotzdem noch mehrere Stufen bis zum Sand bewältigt werden wollen. Sie bleibt stehen, streckt die Arme links und rechts von sich, um das Gleichgewicht zu halten, wagt nicht, sich das Gesicht abzuwischen, obwohl sie von der Anstrengung, dem Schmerz und der Hitze schwitzt. Als sich ihr der Magen umdreht, jammert sie nach Wilma, die sie auch jetzt noch nicht »Granny« nennen kann. Sie bezwingt den Impuls, die Arme um den Bauch zu legen, sie lässt sie ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten, und beißt sich stattdessen auf die Unterlippe. Sie beißt drauf, bis es blutet.

Lala weiß nicht, wo sie Adan finden wird. Sie weiß nur, dass er irgendwo am Strand ist und einen Job erledigt. Adan erzählt ihr nicht viel, bevor er zu dieser Art von Arbeit aufbricht, am wenigsten, wo er arbeiten wird. Als seine Turnschuhe sie von der letzten Stufe auf den Sand getragen haben, stürzt sie trotzdem los, denn sie weiß, sie muss ihn finden, sie weiß, dass etwas nicht stimmt, dass sie mehr als einen Monat, bevor das Baby kommen soll, nicht verschwommene, blutige Weihnachtssternblüten hinterlassen sollte, wo immer sie sich hinsetzt.

Zehn Minuten später erreicht sie endlich den Fußweg hinter den großen Häusern am Baxter’s Beach und humpelt gerade noch so weiter, obwohl sie so stark blutet, dass sie eigentlich rennen sollte. Die meisten großen Häuser stehen mit der Rückseite zur Straße, mit undurchdringlichen Holztoren, unüberwindbaren Mauern und Hecken, die höher sind, als sie die Arme strecken kann. Wenn sie tagsüber am Strand arbeitet und die seidigen Haare der Touristinnen zu Zöpfen mit Perlen flicht, schaut Lala auf die Fassaden dieser Häuser, deren Terrassengeländer so weit unten sind, dass sie vom Wasser geküsst werden. Heute Nacht, denkt sie, drehen die Häuser ihr entschieden den Rücken zu, und sie wagt es nicht, an einem Tor zu rütteln und um Hilfe zu bitten. Da könnten Hunde drin sein, überlegt sie, oder Sicherheitsleute mit Pistolen, und sie weiß nicht, ob der klebrige Schlick zwischen ihren Beinen Grund genug ist, eine Begegnung mit ihnen zu riskieren.

Als der Schmerz stechender wird und sie keine Luft mehr bekommt und die Turnschuhe rot gefleckt sind und die Blüten einen Teppich auf der Rückseite von Wilmas weißem Nachthemd bilden, wird Lala mutig und beschließt, die Klingel neben der verschnörkelten Pforte in der Schutzmauer des nächststehenden Hauses zu drücken. Und als sie sie einmal gedrückt hat, merkt sie, dass sie nicht damit aufhören kann, und sie drückt so verzweifelt, dass der Takt schneller ist als jeder keuchende Atemzug, den sie macht. Inzwischen ist sie sich nicht mehr sicher, ob die Hunde und Pistolen schlimmer wären als die Qualen, die sie leidet. Inzwischen sucht sie nicht mehr nur Adan, sie sucht Hilfe.

Während sie die Klingel drückt, hört Lala eine Pistole losgehen, und als sie noch überlegt, ob es wirklich eine Pistole war oder nur das Geräusch einer defekten Klingel – ein Plopp, Plopp statt einem schrillen Ton –, wird das Tor neben ihr aufgerissen, und vor ihr steht Adan, ruhig wie der helle Tag, bis auf seine pochende Narbe und seinen bedrohlichen Gesichtsausdruck.

Lala glaubt nicht an Zufälle und Adan anscheinend auch nicht. Sie zittert nicht vor Erleichterung, als sie sieht, wie ihr Mann die Dienstbotenpforte des großen Hauses hinter sich schließt. Er fragt nicht, was zum Teufel sie hier zu suchen hat. Er dreht sie nur um und schiebt sie vor sich her, und dann sieht er das Rot hinten auf ihrem Nachthemd, und Lala hört sein Hmmm und glaubt, er versteht, dass der Gott, zu dem sie betet, sie genau jetzt zu genau diesem Haus geführt hat, damit sie ihren Mann finden kann, gerade wenn sie ihn am meisten braucht.

Adan zerrt sein Fahrrad mit seinen großen Händen hinter einem Busch hervor, und Lala sieht eines ihrer Strumpfhosenbeine wie eine schlappe Zunge aus seiner Tasche hängen, mit Blut befleckt, das nicht ihres ist. Die Erkenntnis dämmert auf ihrem Gesicht in den Atemzügen zwischen den Wehen, und dann folgt Angst. In diesem Moment schafft Lala es nicht mehr, irgendetwas anderes zu tun, als dazustehen und ihn anzustarren. Es ist Adan, denkt sie, der sie auf die Stange des Fahrrads setzt und sie daran erinnert, ihre Beine anzuheben und nach vorn zu strecken, damit er die Pedale treten kann, ohne über ihre Füße zu stolpern. Es ist Adan, der ihr sagt, sie soll sich die Ohren zuhalten, als jemand in genau dem Haus anfängt zu schreien. Es ist Adan, der blafft, sie soll bloß die Fresse halten, als sie anfängt zu erklären, warum sie hergekommen ist, trotz allem, was er ihr gesagt hat. Egal, was sie tut, sagt Adan und tritt so fest in die Pedale, dass seine Schenkel womp, womp an ihren Rücken schlagen, als sie von der Dienstbotenpforte wegfahren, bloß nicht zurückschauen, bloß nicht zurückschauen. Wir müssen hier weg, sagt er. Schnell.

Als sie zwanzig Minuten später schlingernd auf den Parkplatz des Baxter’s General einbiegen, zieht Adan die Strumpfhose aus seiner Tasche, die Pistole aus seinem Gürtel und das schwarze T-Shirt, das er trägt, über den Kopf, sodass sein weißes Unterhemd und seine dunkle Brust der Frühmorgenluft ausgesetzt sind. Lala erinnert ihn nicht, dass er damit schlimmere Krankheiten riskiert, als sie sich leisten können. Lala hält den Mund. Adan wirft die Strumpfhose, die Pistole und das T-Shirt in einen gelben Container mit abblätternder Farbe am Ostende des Parkplatzes, während sie blutend auf dem Gehweg wartet. Er tut es ruhig und beherrscht, damit er keinen Verdacht erregt, aber es ist kaum jemand unterwegs. Er räumt weggeworfenes Holz in dem Container um, damit es die Pistole und die Strumpfhose verdeckt, als wäre es für ihn das Normalste auf der Welt, was man um zwei Uhr früh an einem Freitagmorgen tun kann. Lala hat langsam das Gefühl, ohnmächtig zu werden. Sie ist sich nicht sicher, ob das, was sie spürt, ein Schwächeanfall ist. Aber sie ist sicher, dass der Schrei, den sie gehört hat und der in dem Moment begonnen hat, als Adans nackte Füße den Asphalt vor der Pforte mit der Klingel verlassen haben, der Schrei einer Person war, die um einen geliebten Menschen trauert, der gerade gestorben ist oder im Sterben liegt. Dieser Schrei füllt ihren Kopf vollkommen aus, sodass sie sich nichts mehr zu sagen traut, weil sie glaubt, wenn sie den Mund wieder aufmacht, wird er das Einzige sein, was herauskommt.

Drei Wahrheiten lassen sich über das Baxter’s General Hospital sagen.

Erstens gibt es in den Toiletten in der Notaufnahme nie Klopapier. Stattdessen hängt da ein kleines Schild neben dem breiten, vom Rost pockennarbigen Spiegel, auf dem steht, dass Papier von der diensthabenden Schwester ausgeteilt wird. Du kannst das Schild leicht übersehen, wenn du nicht schaust. Wenn du verzweifelt bist. Wenn der Besuch auf der Toilette ein Nebenprodukt des Notfalls ist. Wenn du es eilig hast, merkst du erst, wenn du in der Kabine sitzt und ausstößt, wovon du dich befreien musst, dass es keine Möglichkeit gibt, dich sauber zu machen, ohne jemanden rufen zu müssen, der dir hilft. Weshalb die Kabinen voller Zeugnisse menschlicher Unfälle sind – Handabdrücke aus Exkrementen auf dem Spülkasten, Blutspritzer unter Erinnerungen wie Fizzy wuz here und Rockie and Raina 4 eva an den Wänden.

Zum Zweiten sagen dir die Schwestern im Baxter’s General wirklich sehr deutlich, dass du die Klappe halten sollst, so laut hast du doch auch nicht geschrien, als dein Mann dich geschwängert hat, warum führst du dich also jetzt so auf, wo das, was er in dir hinterlassen hat, sich seinen Weg nach draußen bahnt?

Die Dritte ist, dass die Schwestern dir nicht in die Augen schauen, weil sie wissen, sie können dir nicht helfen, während du ein Frühchen herauspresst, von dem sie ahnen, dass es bald tot geboren werden wird. Wenn du mit zwei Schwestern allein bist und schreist, dass sie einen Arzt rufen sollen, gehen sie davon aus, dass du nicht weißt, dass Ärzte im Baxter’s General selten sind und dass man keine Ärzte an ein Baby verschwenden kann, das schon halb im Reich der Geister ist.

Lala erfährt das Erste um vier Uhr morgens, nachdem sie und Adan schon zwei Stunden in der Notaufnahme gesessen haben und sie mal muss. Sie sitzen nebeneinander auf zwei blauen Plastikstühlen, seine rechte Hand umklammert ihre linke, seine linke Hand reibt über die Narbe an seiner Stirn, beide nach vorn gebeugt, als würden sie vor der großen grauen Doppeltür niederknien, hinter der jemand ist, der das Baby retten kann.

Jedes Mal, wenn sich die Eingangstüren des Krankenhauses öffnen, holt Adan scharf Luft und sondiert mit dem langsamen Seitenblick einer Schlange die Lage. Er atmet erst aus, wenn er sicher weiß, dass es wieder ein Kranker mit Schmerzen ist und nicht die Polizei, die nach ihm sucht. Er hat der Schwester, die hinter einer kugelsicheren Glasscheibe auf einen Computerbildschirm starrt, bereits Lalas Namen buchstabiert. Er ist schon einmal zu der Scheibe zurückgekehrt und hat sich zu den blütenförmig angeordneten Löchern vorgebeugt, bis seine Zunge fast flach dagegenstieß, und die Schwester daran erinnert, dass seine Frau blutet. Er hat die Grenzen seiner Geduld so sehr strapaziert, dass seine Wut sich nicht länger im Zaum halten lässt, durch seine Schuhe bebt und auf die grünen Linoleumfliesen auf dem Boden pocht. Als Lala zu zittern anfängt und immer wieder in eine Art ohnmächtigen Schlaf sinkt, strahlt die Wut nach außen, und Adan springt auf, sodass der Stuhl nach hinten rutscht, und fängt an, in die Stille des Raums Flüche zu donnern.

»Können Sie vielleicht mal kapieren, dass meine Scheißfrau hier blutet, bis sie ohnmächtig wird?«

Die Schwester hinter der Glasscheibe befestigt eine kleine Uhr in Form einer Brosche an ihrem gestärkten weißen Kittel. Sie lässt sich Zeit dabei, trotz des unheilvollen Grollens in Adans Verzweiflung. Die Schwester macht diese Art von Ausbruch nicht zum ersten Mal durch und ist inzwischen dagegen immun.

Adan rennt in einen Nebenraum, entreißt einer anderen Schwester eine Decke, kommt zurück und legt sie seiner Frau um die Schultern. Er schaut immer noch zur Tür, denkt immer noch an die Pistole im Container und daran, was in dem Haus passiert ist, und schließlich, als sie Sirenengeheul näher kommen hören, sagt er, dass er sie hierlassen muss, irgendwo hingehen, wo er untertauchen kann, nur für den Fall. Und Lala erinnert ihn nicht daran, dass es sein könnte, dass sie gerade sein Baby verliert.

Lala überlegt, ob sie ihn bitten soll, ihr vorher noch auf die Toilette zu helfen, aber sie ist sich sicher, er lässt sie an der Tür allein. Sie sucht jede einzelne Kabine ab, aber alle Klopapierspender sind leer, und sie hat das Schild nicht gesehen, und sie kommt wieder raus, und Adan ist weg, und ihr Kopf dreht sich, und sie stolpert in die Herrentoilette und sucht auch dort, denn da ist schon Blut überall an der Rückseite von Wilmas Nachthemd, und sie will verdammt sein, wenn es jetzt auch noch voller Scheiße sein soll. Und gerade, als sie wieder rauskommt, um eine Schwester zu fragen oder einen Wachmann oder einen der anderen wartenden Kranken, ob sie eine Packung Taschentücher oder Feuchttücher für Babys oder eine Serviette von einem vergessenen Sandwich übrig haben, ruft eine Stimme ihren Namen über die Lautsprecheranlage aus, und die grauen Türen gehen auf, und eine Schwester erscheint, eine untersetzte Frau mit schlecht sitzender Perücke und einer Uniform, die so weiß ist, dass es nicht auf einen guten Umgang mit den Kranken hindeutet, und die Schwester sagt, beeilen Sie sich, wir haben nicht die ganze Nacht Zeit, aber Lala rührt sich nicht, sie hat sich jetzt eingenässt, und es ist ihr peinlich und tut noch mehr weh als vorher, und die Schwester saugt an ihren Zähnen, weil das jetzt sauber gemacht werden muss, und hat sie denn nicht vorher gewusst, dass sie mal musste, und dann bemerkt sie, dass Lalas Bauch rund ist, aber nicht fett, und sie sieht die blutigen Fußabdrücke von Adans Turnschuhen auf dem graugrünen Boden, und sie fängt an zu rufen.

Eine Trage kommt, und Lala wird liegend durch die Türen in einen Flur getragen, wo vornübergebeugte Menschen stöhnen. Sie sieht Arme in komischen Winkeln abstehen und Schnitte und Wunden und Hemden und Handtücher, die auf Stirnen und Münder und blutende Stellen gedrückt werden, und sie schaut nach oben, um sich zu verschonen, und da ist ein Gittermuster aus Dachziegeln und viereckigen fluoreszierenden Lichtern, das in die Zukunft führt, und sie fragt sich, ob sie, nach allem, was sie schon durchgemacht hat, jetzt hier sterben wird. Und der Gedanke bekümmert sie nicht. Die Trage hält an, und eine andere Schwester erscheint, und als sie das nächste Mal zu sich kommt, sagen sie ihr, sie soll pressen, aber Lala will nicht pressen, sie hat Angst, was sie dann zu sehen bekommt.

Jetzt erfährt Lala die zweite Wahrheit, denn als sie den Mund öffnet, um nach Wasser zu fragen, kommt stattdessen der Schrei heraus, den sie versteckt gehalten hat. Sie will ihnen sagen, das ist nicht mein Schrei, das ist ein Schrei, den ich aus einem Haus am Baxter’s Beach habe, und sie hofft, die Schwestern werden verstehen, dass dieser Schrei ebenfalls behandelt werden muss, aber sie tun es nicht. Die Schwester mit der schlechten Boney-M.-Perücke sagt, halt den Mund, und fragt, ob sie auch so geschrien hat, als sie den Mann genommen hat, der Schuld an diesem Schlamassel ist. Ihre Augen sagen Lala, dass sie weder zulassen kann noch will, dass Lalas Geschrei in ihren eigenen Kopf eindringt, denn es sieht nicht gut aus, und diese Teenagermädchen ohne auch nur ein Hemd überm Hintern kommen hier jeden Tag rein und werden von Mal zu Mal jünger.

Also macht Lala den Mund zu und schluckt den Schrei, den sie sich am Baxter’s Beach eingefangen hat, wie sich manche Leute eine Erkältung einfangen, runter, und in ihrem Kopf fleht sie das Baby an, bitte, bitte nicht zu sterben, während sie presst und spürt, wie die Adern im Weiß ihrer Augen platzen und ihr Blickfeld geflutet wird.

Und dann erfährt Lala die dritte Wahrheit, denn als sie das Brennen und das Reißen und das Dehnen und das Glitschen hinter sich hat und plötzlich, atemlos, von dem Gewicht befreit ist, das sie in den letzten acht Monaten in sich getragen hat, da begreift sie, dass sie den Schrei nicht hört, der in allen Darstellungen im Fernsehen, die sie je gesehen hat, die Geburt des Babys anzeigt. Also sagt sie: »Schwester, Schwester?«, sie will die Versicherung, dass alles in Ordnung ist, dass es dem Baby gut geht, aber die Schwester schaut sie nicht an, die Schwester windet ihr Handgelenk aus Lalas Griff und sagt der anderen Schwester, sie soll den Doktor rufen, und ihre Hände halten etwas, das sich nicht bewegt. Sie bringt das Baby schnell in den Lichtfleck unter einer brennenden Lampe auf einem Tisch, steckt ihm einen knolligen Schlauch in die Nasenlöcher, reibt und drückt und horcht an der Brust des Babys. Und Lala versteht, dass das nicht gut ist, und will nicht hinsehen, aber sie tut es doch und fleht stumm das Baby an, es soll leben, weil sie sehen kann, dass die Schwestern schon aufgegeben haben, und weil sie plötzlich wütend ist, dass Adan nicht hier ist, und nach heute Abend ist sie sicher, dass sie Adan nicht mehr lieben kann, und vielleicht ist das Baby alles Gute in ihm, und sie will, dass es lebt, damit sie statt seiner das Baby lieben kann.

Eine andere Schwester platzt in den Raum, und eine sehr junge Medizinstudentin folgt ihr, und jetzt stehen die beiden über ihrem Baby an dem kleinen Beistelltisch und klapsen es und stupsen es und stechen es mit Röhren und Nadeln, bis Lala einen schwachen kleinen Schrei hört. Und erst als Lala vor Erleichterung zu wimmern anfängt, sagt die Studentin: »Ist sie zusammengenäht?«, und die Schwester, die damit beschäftigt war, Baby zu retten, sagt: »Nein«, und kommt zu ihr zurück und tätschelt ihren Arm und sagt, es ist okay, sie tun alles, was sie können.

Als sie fertig sind, ist Baby immer noch blau, aber sie atmet, und sie wird von dem kleinen weißen Tisch hochgenommen und kurz ihrer Mutter gezeigt und dann schnell weggebracht. Im Raum ist es still, während Lala zusammengenäht wird und immer mehr Nadeln auf sie einstechen und sie eine Transfusion mit dem Blut von jemand anderem bekommt. Ihr ist kalt, und sie zittert, und die Schwester mit der Perücke knüllt Wilmas blutgetränktes Nachthemd zusammen und steckt es in eine Tüte und bereitet den Raum für die nächste Geburt vor, und Lala fragt, ob sie Wilma anrufen können und ihr sagen, dass Stella das Baby bekommen hat, und sie bitten herzukommen, obwohl sie weiß, dass Wilma nicht herkommen wird. Und die Schwester, unbeeindruckt davon, dass Lala ihre Großmutter beim Vornamen nennt, aber milder wegen Lalas offenkundiger Fähigkeit, es entgegen aller Wahrscheinlichkeiten doch zu schaffen, sagt okay, aber das Baby wird wahrscheinlich eine Weile keine Besucher haben können. Und ihr Tonfall sagt, vielleicht wird das Baby niemals Besucher haben.

Sie lässt Lala in dem kalten, stillen Raum auf dem Rücken liegend zurück, die Beine immer noch gespreizt und völlig ohne Gefühl an der Schnittstelle ihrer Schenkel, und es ist überhaupt nicht wie die Glückseligkeit auf den Postern in der Klinik oder in der Fernsehwerbung oder auf den Gesichtern der reichen Touristenfrauen, die mit ihren Neugeborenen am Baxter’s Beach spazieren gehen. Stattdessen wird ihr klar, dass sie jetzt einen neuen Menschen in die Dunkelheit geholt hat, dass die Geburt eine Verletzung ist und dass das Baby zu bekommen Narben bei ihr hinterlassen hat, und als die Schwester sie fragt, ob sie mitkommen und ihr Baby auf der Intensivstation sehen möchte, schüttelt sie den Kopf, nein, und die Schwester schnalzt ts ts, und Lala denkt an Adan, der nicht wiedergekommen ist, und sie fragt sich, ob er die Pistole wieder rausgeholt hat, aber sie lässt den Mund zu, denn ein Teil von dem Schrei ist noch dadrin.

Kapitel Zwei

Mrs. Whalen 26. Juli 1984

In den ersten fünf Tagen nach dem Mord ist Mira Whalen stumm. Sie kann nichts antworten, wenn das Hausmädchen Guten Morgen sagt, sie kann den überall herumlaufenden Polizisten nicht sagen, sie sollen mit ihren Stiefeln von dem weißen Teppich in ihrem Schlafzimmer runtergehen, sie kann überhaupt nichts sagen, als die Polizisten ihr unbedingt Fotos von allen Räubern zeigen wollen, die zum Zeitpunkt des Mordes an Peter Whalen aus dem Gefängnis raus waren. Sie kann nur Weigerungen stöhnen (komm nicht her, sorg noch nicht dafür, dass sein Leichnam nach England zurückgebracht wird, weine nicht), als ihre Mutter anruft, um ihr Hilfe anzubieten.

Aber ihre Stimme ist nicht das Einzige, was sie verlässt. In jeder der fünf Nächte seit dem Mord hat Mira Whalen außerdem Zähne verloren.

Es ist zwar schmerzlos, aber es erfüllt sie jedes Mal mit einem unerklärlichen Grauen, wenn sie davon träumt, ein Grauen, das beim Aufwachen nicht nachlässt. Oft ist es ein ganz normaler Traum, wie Träume eben so sind (mit dem Hund spazieren gehen, das Geschirr spülen), nur dass ihr, ehe sie sichs versieht, die beiden Vorderzähne aus dem Mund in ihre Hände fallen. Jede Nacht.

Im Traum wird sie jedes Mal durch ein geistiges Wegreißen ohne körperliches Empfinden gewarnt, das dennoch ihre Hände nach oben bis zu ihren Lippen zwingt. Sie teilt sie langsam und spürt, wie der Beweis in ihre Hände plumpst. Es sind immer Milchzähne – unblutig und winzig –, solche, wie man sie der Zahnfee hinterlässt. Ihr Morpheus’sches Ich starrt diese Miniaturen an, weißer und mit mehr Facetten als in ihrer Erinnerung, und während sie draufstarrt, beginnt das geistige Zerfleischen wieder von vorn, die mittleren Schneidezähne in ihren Händen erheben sich in die Luft, die Lippen teilen sich langsam, und dann brechen lautlos weitere Zähne heraus, die sie nicht mehr hatte, seit sie ein kleines Mädchen war.

Was Mira Whalen an diesen Träumen am meisten verstört, ist nicht der drohende Verlust ihrer Fähigkeit zu kauen, sondern die Tatsache, dass sie oft einfach weiter auf die Zähne in ihren Händen starrt, obwohl sie doch weiß, dass sie noch mehr verlieren wird. Für Mira ist nicht wichtig, dass sie träumt. Eigentlich, denkt sie beim Aufstehen kurz vor Morgengrauen, eigentlich müsste ihre schlafende Version doch klug genug sein vorherzusehen, was als Nächstes passiert. Etwas tun, um zu verhindern, dass sie noch mehr Zähne verliert. Während Mira Whalen über die Dummheit ihres Schlaf-Ichs nachgrübelt, wiederholt ihre praktisch veranlagte Seite jeden Morgen beim Aufwachen dieselben Handlungen. Sie geht die zwanzig Schritte von dem behelfsmäßigen Bett auf dem Teppichboden hinter der geschlossenen Schlafzimmertür zu dem Spiegel über dem Badezimmerwaschbecken. Dort holt sie dreimal tief Luft, bevor sie sich zwingt, in den Spiegel zu schauen und zuzusehen, wie ihr Spiegelbild in ihren Handrücken beißt, fest genug, um Spuren zu hinterlassen, und dann in dem schmerzenden Abdruck jede Kurve untersucht.

Erst nachdem sie sich überzeugt hat, dass ihre echten Zähne alle erwachsen sind, zählt sie sie, jeden Morgen seit dem Mord. Sie zählt laut, denn das Zählen ihrer Zähne in Gedanken gibt ihr das Gefühl, immer noch zu schlafen, und davor, Schlafwandlerin zu sein, fürchtet sie sich am meisten, aber heute ist der erste Tag, an dem ihre Stimme auch wirklich ein Geräusch erzeugt. Ihre Stimme raspelt über ihre Zunge und Zähne und kommt als etwas Kratziges he-raus, das flüstert, obwohl sie es gar nicht möchte. An jedem der ersten fünf Morgen nach dem Mord hat Mira Whalen es als Segen betrachtet, dass sie nicht sprechen und die Kinder aufwecken konnte, obwohl sie es so gern gewollt hätte. An diesem, dem sechsten Morgen, tadelt sie sich, weil sie so dumm ist, immer noch an Segen zu glauben.

Am sechsten Morgen nach dem Mord an ihrem Ehemann schaut Mira Whalen die einsame rosafarbene elektrische Zahnbürste im Spiegelschrank an, während sie mit einem Schluck heißem Wasser, das sie unter dem Wasserhahn mit den Händen auffängt, drei Schmerztabletten und ein Antidepressivum schluckt. Sie merkt nicht, dass sie das heiße Wasser aufgedreht hat, aber sie verbrennt sich nicht die Finger, denn sie braucht nie mehr Wasser, als sie in den zehn Sekunden auffangen kann, bevor es zu dampfen beginnt. Sie schluckt alle vier Tabletten auf einmal und hebt den Kopf genau in dem Moment, als das Wasser eine Temperatur erreicht, die ihr die Haut verbrennen könnte, wenn sie nicht schnell genug ist, und dann ist sie wieder mit dem Spiegel konfrontiert. Zum ersten Mal seit dem Mord erlaubt sich Mira einen Blick, einen langen Blick, auf eine Hexe mit wirren Haaren, unstetem Blick und einer nassen, schorfigen Wunde auf der Wange, die sich jetzt lila und blau verfärbt. Dann wendet sie sich ab, teils, weil sie die Person im Spiegel, abgesehen von den Zähnen, nicht wiedererkennt, und teils, weil sie Besseres zu tun hat, als zu versuchen, das Gesicht dieser Frau in Ordnung zu bringen. Zum Beispiel das Polizeirevier von Baxter’s Beach anrufen, um sich zu erkundigen, ob sie den Kerl, der ihren Mann umgebracht hat, schon erwischt haben. Zum Beispiel die Leichenhalle des Baxter’s General anrufen, um herauszufinden, ob der Rechtsmediziner aus Schweden eingeflogen ist, damit er ihnen sagen kann, was sie schon wissen, und sie die Kinder nehmen und verdammt noch mal von hier verschwinden kann. Zum Beispiel versuchen, Peters Ex-Frau und Mutter seiner zwei Kinder zu erreichen, um ihr zu erzählen, was passiert ist, denn die erste Mrs. Whalen ist Künstlerin und hat sich in ein Retreat auf einem Berg irgendwo in Indien zurückgezogen, wo sie nicht mal Zugang zu einem beschissenen Telefon hat. Zum Beispiel Dinge, zu denen sie sich in den ersten fünf Tagen, seit sie ihren Mann verloren hat, nicht überwinden konnte.

Am sechsten Morgen nach dem Mord zählt Mira Whalen, nachdem sie ihre Zähne und Tabletten gezählt hat, die Kinder. Sie geht die zwanzig Schritte vom Spiegel zu dem weichen Deckenstapel zurück, auf dem Beth und Sam immer noch leise schnarchen. Sie setzt sich auf den Teppichboden und schaut ihnen erst einmal zu, zählt das Heben und Senken von Brust und Rücken. Nachdem sie zweimal je zehn Atemzüge gezählt hat, zählt sie zweimal je zehn Finger, zweimal je zehn Zehen. Und dann zählt sie noch zweimal je zehn Atemzüge. Erst nach diesem zweiten Satz von je zehn Atemzügen kann sie die Vorhänge nachdrücklicher vor das Tageslicht ziehen, wieder ins Bett gehen und in die Zukunft gleiten. In dieser Zukunft bricht sie zu Peters Ruhestandsfeier auf, macht sich für Beths Hochzeit fertig, sitzt bei Sams Abschlusszeugnisvergabe im Publikum, bis sie unerklärlicherweise beschließt, mit einem großen weißen Hund spazieren zu gehen, den sie im echten Leben nie besessen hat, und sich die Augenblicke verlangsamen, wie es Augenblicke tun, wenn gerade etwas fürchterlich schiefgeht.

An diesem sechsten Morgen hört Mira Whalen Klickgeräusche und spuckt Zähne und erwacht keuchend zum Schrei eines jungen Mädchens. Beths Schrecken ist eine vollere, tiefere Version ihres eigenen.

Am Tag vor Peters Tod hatten sie gestritten: eine dieser sinnlosen Schimpftiraden über nichts Wichtiges, die Mira jetzt nie wieder vergessen wird. Er hatte sie gebeten, auf dem Rückweg vom Strand Rosinen mitzubringen, weil er Brotpudding für sie machen wollte, ihr Lieblingsdessert auf der ganzen weiten Welt. Peter war kein guter Koch. Ihretwegen brauchte er das auch nicht zu sein, und er musste sicher nicht für sie kochen – er konnte es sich leisten, jeden Tag bis zum Ende seines Lebens überall essen zu gehen, wo er wollte, und sie damit auch. Sie hatte nicht verstanden, warum er bei diesem Besuch darauf bestand, ihr Brotpudding zu machen, warum er sich so aufregte, als sie ihm sagte, sie habe die Rosinen vergessen. Er hatte nicht verstanden, warum ihr nicht klar war, dass es bei dem Streit um mehr als Brotpudding und Rosinen ging.

Am Ende, als sich der Streit über Rosinen und Kochen hinaus hochschaukelte, hatte Peter beschlossen, wieder einmal im Gästezimmer zu schlafen, und diesmal machte er sich nicht einmal die Mühe zu warten, bis die Kinder schliefen, bevor er seine Sachen durch den langen, beleuchteten Flur in eines der anderen Schlafzimmer trug. Sie hatte Sams betroffenen Gesichtsausdruck gesehen und gesagt: »Daddy macht Platz, damit du bei mir schlafen kannst«, denn ein Siebenjähriger akzeptiert solche Erklärungen. Für Sam hatte das anscheinend genügt, aber seine Schwester hatte die Augen verdreht und war davongeschlichen, um ihre Stereoanlage viel lauter zu drehen, als sie hätte dürfen. Mira hatte ebenfalls die Augen verdreht. Falls sie und Peter das Baby nicht würden machen können, das sie sich so sehr wünschten, falls die Götter so unfreundlich sein wollten, dann würde sie, so hatte sie schon lange beschlossen, sich trotzdem glücklich schätzen, die Stiefmutter dieser beiden zu sein, auch wenn das Leben mit Beth langsam höllisch anstrengend wurde. Sam war nach wie vor so lieb wie immer.

Sie hatte Peter an diesem Abend bewundert, als er mit den Armen voller Bettzeug an ihr vorbeigegangen war. Sie hatte die schon etwas welke Haut an seinen Armen und der Brust angesehen, die Lachfalten, die sich in seine Wangen eingegraben hatten, die Zuckerwattebüschel salziger Haare unter seinen Achseln. Innerlich hatte sie zugegeben, dass er ein guter Mann war. »Aber er ist ein guter Mann«, war ihr in diesem Moment durch den Kopf gegangen, und manchmal vergaß sie jetzt, dass vor diesem Gedanken, falls er eine Einschränkung gewesen war, gekommen sein musste, dass er es aus irgendeinem Grund nicht war. An diesem Abend hatte sie ihn betrachtet, als er mit einem Kissen in einem blau gestreiften Bezug unter dem Arm vorbeigegangen war und sich die größte Mühe gegeben hatte, sie nicht anzusehen. Sie hatte ihn schön gefunden, es ihm aber nicht gesagt. Eine kleine, dumme Sache. Etwas, das du tust, wenn du sicher bist, dass du am nächsten Morgen aufwachst, und der Streit ist vorbei, dass du ihm auf dem Weg zum Frühstück über den Rücken streichen wirst, seinen Blick auffangen, wenn ihr beide über etwas lacht, das eines der Kinder sagt, während ihr Pfannkuchen esst. An diesem Abend war sie zu Bett gegangen und sich sicher gewesen, dass ihr noch eine Chance zustand. In diesem Moment, nach drei Wochen Sommerurlaub in ihrer luxuriösen Strandvilla, waren die Streite neu gewesen, und es ging nie um das, was sie wirklich meinten. Sie hatte gehofft, in diesem Urlaub endlich über den wahren Grund reden zu können. Es auszusprechen, damit sie beide es von der Seele hatten. Sie hatte das Gefühl gehabt, zumindest auf dieses Gespräch ein Recht zu haben.

Aber dieses Gespräch war ihr versagt geblieben.

An diesem Abend hatte sie sich dem Schlaf ergeben, trotz des Polterns und Kratzens von Peters Ruhelosigkeit, das sie durch die Wand hörte, und war unruhig weggedämmert. Später hatte sie der Lauf einer Waffe geweckt, der ihr ins Gesicht gestoßen wurde. Sie war benommen aufgestanden und hatte gedacht, es sei Peter, was sie immer noch schmerzte: dass ihre erste Schlussfolgerung gewesen war, es sei ihr Ehemann, der in ihr Schlafzimmer eingebrochen war, um ihr etwas anzutun. Vielleicht hätte Peter bei allem, was sie angestellt hatte, jedes Recht gehabt, sie umbringen zu wollen.

Aber er war es nicht gewesen.

Es war ein blauschwarzer Mann mit einer graublauen Pistole und flach ausgestreckter Hand gewesen, der neben ihrem Bett stand und Geld verlangte. Als er sie schreien hörte, war Peter angerannt gekommen. Er hatte die Arme ausgebreitet und dem Räuber seine Brieftasche angeboten, und als der Mann immer noch nicht zufrieden war, hatte er ihn angefleht, sie zu verschonen. Bitte, sagte er, lassen Sie meine Frau gehen. Und der Räuber sah ihn an, darauf konzentriert, dass er um ihr Leben bettelte und nicht um sein eigenes, und lachte. Ein tiefes Lachen, das einen Moment später verstummte, als er Peter mit dem Griff der Pistole auf die Nase schlug, bis sie blutete. Die Kinder hatten geschlafen, Sam hatte entschieden, dass er doch in Beths Zimmer übernachten würde, und Mira Whalen war Zeugin, welche Mühe sich Peter gab, seinen Schmerz zu unterdrücken, als seine Nase brach, damit die Kinder ihn nicht aufschreien hörten, nicht aufwachten und in den Raum mit dem Räuber und der Waffe gerannt kamen.

»Schau mich nich an, Paps! Schau. Mich. Nich. An. Verdammt!«

Und dann hatte es geklingelt, um zwei Uhr morgens. Um zwei Uhr am beschissenen Morgen. Sie hatte sich vor Schreck fast in die Hose gemacht und sich gefragt, was das wohl zu bedeuten hatte. In den sechs Jahren – sechs Jahren –, die sie hierher in den Urlaub fuhren, hatte es noch nie um diese Zeit geklingelt. Besucher, die nach einer Nacht in der verschnarchten Hoteldisco betrunken spazieren gingen, hatte sie gedacht, oder einheimische Teenager, die den Touristen Streiche spielten, oder (bitte, Gott!) die Polizei, die kam, weil jemand etwas gehört und sie gerufen hatte. Aber sie erfuhr nie, wer da geklingelt hatte.

Der Räuber zögerte. Es klingelte weiter. Sie glaubte, eine Chance zu sehen, und stürzte los, krallte mit einer Hand nach der Pistole und mit der anderen nach der gazeartigen zweiten Haut, die der Räuber übers Gesicht gezogen hatte. Eine kleine, eine dumme Sache. Der Räuber schlug sie hart ins Gesicht, und Peter rannte zu ihr, und sie hätte ihn am liebsten getreten, weil er so verdammt galant sein musste. Wie so oft. Er hätte nach draußen laufen sollen, die Polizei rufen, die Tür öffnen, den Kindern befehlen, aus dem Haus zu laufen. Irgendwas. Aber nicht direkt auf den Räuber zulaufen und versuchen, ihn davon abzuhalten, mit ihr zu ringen.

Stattdessen war Peter direkt auf die Waffe zugestürmt, hatte sie aus der Schusslinie geschubst, und sie hatte den Kindern zugerufen, sie sollten weglaufen, auch wenn sie wahrscheinlich noch nicht mal wach waren, und dann ging die Pistole los, und der Räuber brüllte etwas, das wahrscheinlich »Aufhören!« hieß, und riss ihr die Strumpfmaske aus der Hand und steckte sie in seine Tasche, und dann ging die Pistole noch mal los, und aus dem Augenwinkel sah sie Peter fallen, während der Räuber an ihm vorbeischaute, um auf sie zu schießen. Die Pistole hatte versagt, und dann war der Räuber davongerannt.

Alles, was nötig gewesen wäre, waren die kleinen Dinge: zum Beispiel nicht zu vergessen, eine Schachtel Rosinen zu kaufen, damit sie überhaupt erst einmal nicht gestritten hätten. Oder die paar Schritte ins Gästezimmer zu gehen, nachdem er das Licht ausgeschaltet hatte, mit einem Lächeln im Gesicht, und zu ihm ins Bett zu schlüpfen, dann wäre der Räuber ins Schlafzimmer gekommen und hätte niemanden vorgefunden. Oder es hätte genügt, in den Wochen, bevor sie auf der Insel gelandet waren, einen großen Hund zu kaufen oder eine Alarmanlage oder zu entscheiden, stattdessen nach Amerika zu fahren. Oder es hätte genügt, in den Monaten davor lieb gewesen zu sein, dann hätte Peter keinen Trip nach Paradise vorgeschlagen, um zu reparieren, was sie kaputtgemacht hatte. Irgendeines von diesen kleinen Dingen, und Peter wäre immer noch hier.

Aber stattdessen war er erschossen worden und war hingefallen, und das machte sie am meisten betroffen: dass sie ihn nicht einmal angesehen hatte, während er fiel, dass ihr Blick immer noch auf die blauschwarze Hand mit der Pistole gerichtet gewesen war. Wirklich betroffen machte sie, dass ihr Zugeständnis, ihre Entschuldigung, ihr Bedauern nicht das Letzte gewesen waren, was ihr Mann von ihr gesehen hatte, bevor er starb.

Dass sie jetzt nie die Chance bekommen würden, das eigentliche Gespräch zu führen.

Eine kleine, eine dumme Sache.

Kapitel Drei

Lala 30. Juli 1984

Selbst jetzt, als Baby mit offenem Mund zwischen euch beiden schläft, wenn dir die Realität bestätigt wird durch das Zwitschern der Vögel, das Rascheln der Kokospalmenblätter und das Anbranden und den Rückzug der Wellen da unten, selbst jetzt kannst du ins Gesicht des Mannes schauen, der auf der anderen Seite dieses kleinen Babys schnarcht, und dich fragen, wer er ist. Du kannst diese dünnen, gehässigen Lippen sehen, durch den Schlaf zur Freundlichkeit erschlafft, und vergessen, wie sie sich anfühlen, wenn er dich küsst. Du kannst in seine breiten, flachen Gesichtszüge schauen, auf seine geschlossenen Augen mit den schweren Lidern, und Mühe haben, dich an seinen Namen zu erinnern.

Baby regt und streckt sich in Zeitlupe und schläft wieder ein.

Du nimmst es ihm nicht übel, dass du vor drei Tagen ganz allein ein Taxi vom Baxter’s General nehmen musstest, das dich und Baby nach Hause brachte. Du verstehst, dass er unsichtbar bleiben musste, falls die Polizei ihn sucht, deshalb nimmst du es ihm nicht übel, dass er dich nur einmal besuchen gekommen ist in der ganzen Woche, die ihr beide im Baxter’s General eingesperrt wart und beobachtet habt, wie die anderen Mamis und Babys Geschenke bekamen und Blumen und Besuch von Ehemännern und Freunden und Gemeindemitgliedern. Du beschwerst dich nicht, dass auch sonst keiner gekommen ist, um Baby zu sehen, nicht mal Wilma. Du nimmst ihm nicht übel, dass er das eine Mal, das er gekommen ist, nur ein paar Minuten blieb, Baby anstarrte, ihre kleinen Wangen streichelte und gurrte, bevor eine Sirene aufheulte und er sagte, er müsse gehen, weil alles immer noch heiß ist.

Aber du nimmst es ihm übel, dass er dich vom Haareflechten abhalten will, obwohl er doch weiß, dass es das Einzige ist, was dich vor dem Durchdrehen bewahrt. Du bist geboren, um zu flechten, wie er geboren ist, um zu atmen.

Wenn du Frau genug bist, um dir vom Krankenhaus aus ein Taxi zu rufen und dem Fahrer zu sagen, wohin er fahren soll, sagst du dir jetzt, wenn du dich mit deinen immer noch stechenden zusammengeflickten Körperteilen aus diesem Taxi quälen kannst, wenn du den Taximann bezahlen und mit zwei Taschen und fünf Pfund Baby und in einem rosa Kleid, mit Geld gekauft, das du genau mit diesem Haareflechten verdient hast, über den sandigen Boden gehen kannst, wenn du genau die gleichen fünfundzwanzig Treppenstufen wieder raufsteigst, die du dich in dieser Nacht runtergequält hast, als du ihn suchen gegangen bist, mit zwei Taschen und einem neuen Baby, bist du dann nicht Frau genug zu entscheiden, wann du dir dieses Baby schnappst und wieder Haare machen gehst?

Wie viele von den Frauen von der Geburtsstation kommen heim, und da ist keiner?, hast du dich gefragt, als du Adans Haustür mit dem blauen aufgemalten Pepsi-Logo drauf öffnest. Er hat dich nicht vermisst, und das Haus hat dich noch weniger vermisst – das gespülte Geschirr noch genauso gestapelt, wie du es in der Nacht gelassen hast, als du ihn suchen gegangen bist, das Bett immer noch mit demselben von Wilmas mit Rosen bedruckten Spannbettlaken bezogen, auf dem du an dem Morgen, bevor Baby geboren wurde, aufgewacht bist, schwitzend wie ein Schwein. Das Blut ist auf den Laken geblieben und getrocknet, es war da, als du das Haus verlassen hast, und es ist immer noch da, als du aus dem Krankenhaus kommst. Aber von ihm war ganze drei Tage keine Spur zu sehen. Wie kommt er drauf, dass er jetzt aufkreuzen und dir sagen kann, was du machen sollst?

An diesem Morgen, erst an diesem Morgen, hat er geklopft, und du hast aufgemacht, und er ist ins Bett gekrochen und mit offenem Mund eingeschlafen, genauso wie Baby jetzt schläft. Erst heute Morgen kannst du ihm sagen, dass du mit Baby spazieren gehen musst, die Krankenschwester hat gesagt, du sollst jeden Morgen mit Baby spazieren gehen. Aber du hast es ihm nicht gesagt. Er weiß nicht, dass du schon zweimal morgens mit Baby spazieren warst, weil er an diesen zwei Tagen nicht da war.

Du bist eine unabhängige Frau, sagst du dir, als er sich an diesem Morgen hinlegt, du kannst das Baby hochnehmen, ganz leise, und mit ihm die Treppe runtergehen, und du kannst den Kinderwagen unterm Haus rausholen und Baby reinlegen und unten deine Kämme verstauen, nur zur Sicherheit. Du kannst dir einen von Wilmas alten Hüten aufsetzen und den Strand runtergehen, auf dem Teil bleiben, wo der sandige Boden von den Wurzeln der Kokospalmen zusammengehalten wird, sodass die Räder des Kinderwagens nicht stecken bleiben. Du kannst den Frühmorgenschwimmern zusehen, wenn sie in die Lila- und Orangetöne des Sonnenaufgangs getaucht ihre zaghaften Schritte ins Wasser machen, und ihr Staunen sehen, weil sich das Wasser so warm anfühlt. Du kannst beobachten, wie sich vor allem die Frauen auf den Rücken legen und treiben lassen, sodass sich ihre seidigen Haarsträhnen um ihre Köpfe auffächern, und sie fast seufzen hören, wenn sich ihre Anspannungen in der Liebkosung des warmen, flachen Wassers auflösen.

Aber du kannst ihn nicht davon abhalten, über den Strand zu kommen und dich zu suchen, wenn er aufwacht, und Baby ist nicht da und du auch nicht.