Wie die Milch aus dem Schaf kommt - Johanna Lier - E-Book

Wie die Milch aus dem Schaf kommt E-Book

Johanna Lier

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Beschreibung

Selma Einzig macht in der Hinterlassenschaft ihrer Grossmutter Pauline einen schockierenden Fund. Aus ihrem Alltag herausgerissen macht sich die 35-jährige Protagonistin auf die Suche nach verdrängten Teilen ihrer Familiengeschichte. Sie führt sie in die Ukraine und nach Israel. Wer waren die papier- und mittellosen Vagabunden, die aus dem Gebiet der heutigen Ukraine in den Thurgau flüchteten und im kleinen Weiler Donzhausen die erste Nudelfabrik in der Ostschweiz gründeten? Die Reise führt aus dem Vergessen und Verdrängen zu Orten der Selbstentdeckung. Das Erfinden von Erinnerungen, das Fabulieren, aber auch das Erforschen der Gegenwart und Zufallsbekanntschaften erweisen sich als überraschende Mittel, um Lücken zu füllen. Eine Suche nach der eigenen Herkunft, die höchst ambivalent bleibt und mitunter auch von einem verstörenden Unbehagen begleitet wird. Mit der Erkenntnis, dass sich im Grunde nichts ändert, man lediglich ein Stück seines Wegs gegangen ist, lässt Selma Einzig ihr Vorhaben am Rand eines Kraters in der Wüste Negev in Rauch aufgehen. Der Bericht einer abenteuerlichen Reise in einer globalen Gegenwart. Und ein Stück überraschender Industrie- und Migrationsgeschichte aus der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Der Roman bekam 2020 die kulturelle Auszeichnung der Stadt Zürich.

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verlag die brotsuppe

Johanna Lier

Wie die Milch ausdem Schaf kommt

Roman

verlag die brotsuppe

Für Lenny, Brigit und Clara.

Obwohl die Geschichte sich der Besonderheiten und Örtlichkeiten von Erinnerungen und Biografien der beteiligten Personen bedient, ist «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» eine Erfindung. Und obwohl es tatsächlich Vagabunden gab – insbesondere einen Yuter aus Kupiškis –, die in Donzhausen eine Nudelmanufaktur gegründet haben, und obwohl die Erzählerin sich tatsächlich in der Ukraine und in Israel aufgehalten hat, sind die Abenteuer der Selma Einzig ein Fantasieprodukt.

Selma. Kind der Marielouise, Kind der Pauline, Kind der Berta, Kind der Nelly, Kind der Bithia, Kind der Hannah, Kind der Charna, Selma, Glied einer langen, unzerreissbaren Kette, die sich dem Planeten um den Hals legt, auf die weiten Landstriche, in die tiefen Täler und Sümpfe, die Seen und ruhig dahinfliessenden Flüsse, auf das weich gewellte Hügelland, um die hohen Gebirge, in die Steppen und dunklen Wälder, Selma, Glied einer Kette, die dicht bevölkerte Städte, von Bauern bewohnte Dörfer oder auch menschenleere Gehöfte aneinanderreiht, die Tiere umschlingt, Wölfe, Bären, zeternde Gänse, Füchse, Dachse, Wiesel, Eichhörnchen und all die unzähligen Vögel, im Frühling die Amseln, im Sommer die Lerchen, im Winter die hämmernden Spechte und Häher. Selma, Glied einer langen Kette, die Landschaften und Zeiten verbindet, die durch düstere Kanäle zieht und unvermutet an der Oberfläche auftaucht.

Die Winter sind eisig, wenn das Blau des Himmels knirscht. Und der Schnee sich in den Bäuchen der Säuglinge bläht.

Inhalt

1831. Zamość. Russland

2010. Zürich. Schweiz

20. Juli. Zürich – Wien

21. Juli. Wien

22. Juli. Wien

23. Juli. Wien

24. Juli. Wien – Košice

25. Juli. Košice

26. Juli. Košice – Lemberg

30. Juli 2010. Lemberg

5. August 2010. Lemberg

10. August 2010. Lemberg

12. August 2010. Lemberg

16. August 2010. Lemberg

19. August 2010. Lemberg

20. August 2010. Lemberg

2010. Staryi Sambir. Ukraine

1841. Sambir. Königreich Galizien und Lodomerien (Österreich-Ungarn)

2010. Tel Aviv. Israel

1842. Kradolf und Sulgen. Schweiz

liste der dokumente, schriften, kladden, bücher und gegenstände in paulines kiste:

1842. Donzhausen. Schweiz

1843 – 1847. Donzhausen. Kanton Thurgau. Schweiz

1854 – 1857. Donzhausen. Schweiz

1876. Donzhausen. Schweiz

1882. Donzhausen. Kanton Thurgau. Schweiz

1894. Donzhausen. Schweiz

2010. Tel Aviv. Israel

29. November. Tel Aviv

Danke!

Beschreibungen, Aussagen und Zitate:

Die Autorin

1831. Zamość. Russland

In der Stube fand Hannah den Selbstgebrannten. Sie zögerte. Als sie aber Petriks Stimme vernahm, der im Stall fluchte, stürzte sie sich auf die Flasche, zog den Korken und soff, lief aus dem Haus, torkelte durch den Schnee, diese flockige Masse, warf sie in die Luft, liess sich fallen, und als sie die heisse Wohligkeit in der Brust fühlte, lachte sie, riss sich die Lumpen vom Leib und wühlte den mageren, erhitzten Körper ins kalte Bett.

Und über dir, liebe Hannah, strahlte, so weit das Auge reichte, der Himmel und prustete dir ins Gesicht. Und du bohrtest deine Sinne, ja die ganze Kraft deiner Gefühle in dieses tiefblaue Gewölbe, in diese Liebe, eine grosse Liebe, die du andauernd anschauen, nicht mehr aus dem Blick lassen wolltest, auffressen, verdauen, behalten und nicht mal scheissen, nur bei dir behalten, für immer behalten, so ging es dir mit diesem Himmel, der Wölkchen pustete und Vögel in alle Richtungen verschickte, allein zu deinem Vergnügen. Dein Atem stockte, nicht vor Angst, nein, vor Freude, und die kleine Brust zersprang.

Doch der trockene Schnee hielt dich gerade noch rechtzeitig zusammen. Wie damals, als der riesige Körper mit der warmen Haut über den kräftigen Knochen und der pralle Hügel mit der schrumpeligen Spitze sich deinem Mund näherten. Du wusstest von dieser Süsse, bevor du deine Lippen darum legtest. Und du schlossest die Augen, drücktest mit der Zunge die Warze an den Gaumen, bis die warme Flüssigkeit herausfloss und dein Inneres mit Ekstase füllte und die Augen langsam in die Dunkelheit kippten. Wenn du Glück hattest. Denn es konnte geschehen, dass eine Hand dir die Warze aus dem Mund zog und kratziger Stoff sich zwischen dich und die ersehnte Wärme schob, und du, beiseitegelegt, abgelegt, aus dem Weg geräumt wie eine unnötige Last, ein lästiges Bündel. Und du spürtest das Gewicht deines Körpers, die Härte der Unterlage, die Anstrengung deiner Haut, die sich abrackerte, um die Wärme zu halten, damit die Kälte dir nicht das Leben aus deinem Leib fressen konnte, wie im Stall am Koben die Schafe das Heu. Und dein Herz klopfte empört.

So lagst du da, auf die Geräusche lauernd, deine Aufmerksamkeit auf das mächtige Wesen gerichtet, das sich in regelmässigen Abständen näherte und entfernte.

Doch so wie das Meer ohne Wind keine Wellen kennt – ohne Zurückweisung hättest du nie deine Arme verlangend ausgestreckt.

Und obwohl du den drängenden Wunsch verspürtest zu verschwinden. Ich will weg, ich bin verhasst, ich bin verdreckt, ich bin geschwärzt wie die russigen Töpfe in Blankas sauber gescheuerten Händen … Blanka, die mich liebt, Blanka, in deren Augen ich überlebe und bei der ich trotz der Schläge und Tritte von Petrik und der grabschenden Finger des blöden Knechts jeden Morgen erwache … Und obwohl Hannah den drängenden Wunsch verspürte zu flüchten, fürchtete sie, Blanka zu verlieren, und so lag sie im Schnee, still, und schlief ein.

Wortlos stiess Blanka das halbwüchsige Mädchen ins Haus, starrte einen Moment auf den schmutzigen Fussboden, hob die langen Arme und verprügelte Hannah, liess ihre Fäuste auf Kopf, Rücken und Po des Mädchens fallen, gezielte Schläge, und Blanka, gewohnt, das Notwendige zu tun, ohne dabei etwas zu fühlen, wunderte sich über die Heftigkeit ihrer Wut.

Sie liess von Hannah ab und verzog sich in den Stall, um das Pferd zu striegeln, die Kühe zu melken und ihre verhängnisvolle Entscheidung zu verfluchen. Warum hatte sie das Kind am Leben gelassen und zwölf Jahre bei sich behalten? Auch war sie angesichts ihres gewalttätigen Ausbruchs verwirrt, da sie die Erinnerung an ihre Eltern, die sanft und bescheiden gewesen und nie die Hand gegen sie erhoben hatten, über den gebotenen Respekt hinaus hochhielt. Und, was die kleine Hannah betraf, sie sich bemühte, das Mädchen vor der Gewalt der Männer, dem eigenen Sohn Petrik und dem blöden Knecht, in Sicherheit zu bringen.

Es waren aber die Dämonen der Geschichte, die ihr das Kind verdarben. Dieses Kind, das die Frau, die den Namen Charna trug, aus dem litauischen Kupiškis mitgebracht und bei ihr im russisch-polnischen Zamość abgeladen hatte.

Das Haar schimmerte und die Augen leuchteten. Schwarz. Charna, was die Schwarze bedeutete, so viel wusste sogar sie, die ungebildete Bäuerin mit dem Namen Blanka, die Helle, die nicht viel in der Welt herumgekommen war, sich aber sehr wohl zu helfen wusste, und der beigebracht worden war, die Gesetze, wenn das Überleben es forderte, zu übertreten. Und diese Charna, die in eleganten Stiefeln durch die Pfützen gestapft war, leichtfüssig mit hoch erhobenem Kopf, als würde sie unberührt durch den Schmutz hindurchgehen, und die mit zartgliedrigen Händen das Bündel umklammert und an ihre Brust gedrückt hatte, wirkte stark und eigenwillig. Ein Eindruck, der durch ihre Verstörung und Verzweiflung sich verstärkte. Es handelte sich um eine dieser Gebildeten, wie man sie unter denen, die Jiddendeutsch sprachen manchmal zu finden pflegte, ja es musste eine dieser Gebildeten sein. Sichtlich in grosser Not war sie den weiten Weg von Kupiškis nach Zamość gekommen, um sich von ihr, einer einfachen polnischen Bäuerin, das vermutlich geliebte Kind töten zu lassen. Eine litauische Engelmacherin hätte es auch getan, das Kind getötet. Warum war die Frau bis ins südöstliche Polen gefahren?

Irgendein Verwandter – Vater, Bruder, Onkel – oder ein zufällig vorbeiziehender Bauerntölpel hatte das Jiddenmädchen schwanger gemacht. Blanka kannte sich aus, das hatte sie das Leben ihrer Kundinnen, aber auch das eigene gelehrt, war doch auch eines ihrer Kinder, der Petrik, in ihrem Bauch gewachsen, nachdem die französischen Soldaten ihr den Mann erschlagen und das Vieh aus den Ställen gezerrt hatten.

Aber schön war sie, diese Charna. Und hochmütig. Denn noch nie hatte Blanka gesehen, dass eine Mutter ihr das Kind eigenhändig übergab. Sie hätte es nicht annehmen sollen, das Kind, es hatte den Tod und die Mutter den Schmerz nicht verdient. Doch da dachte sie an ihren Petrik und seine verbotene Schnapsbrennerei, sie dachte an seine Pferdediebstähle und die Beamten des russischen Zaren, die ihr den Jungen bald holen würden, um einen Soldaten aus ihm zu machen, und was wurde dann aus ihr?

Blanka nahm das Geld und versprach den Tod des Kindes innerhalb von sechs Tagen. Sie würde es töten wie alle anderen zuvor, in die Hütte bringen und vergessen, einfach vergessen, den Stall putzen, das Pferd striegeln und den Weizen schneiden, einfahren und dreschen, schöne Tage, keiner ist betrunken und keiner schlüge und alle – auch die Tiere und die Pflanzen – wären gesund, das Wetter trocken, genügend Nahrung und das wimmernde Kind weit weg.

Der Mann auf dem Bock, der die schwarze Charna gebracht hatte, schrie in einer unverständlichen Sprache. Die Frau musterte Blanka und den Hof mit flüchtigen Blicken, hellwach – sie war eine, der nichts entging. Der Mann liess die Peitsche knallen, das Pferd zuckte zusammen. Die Frau drückte das Bündel noch fester gegen ihre Brust und bohrte sich in Blankas Augen. Und da geschah, wovor Blanka sich am meisten gefürchtet hatte: In ihr erwachte ein Gefühl.

Erleichterung zeigte sich auf Charnas Gesicht, eine ungezügelte Hoffnung.

Blanka leckte sich eine Träne von den Lippen und nahm mit entschiedenem Griff, wie er Menschen eigen ist, die, einmal in Bewegung geraten, nicht mehr aufzuhalten sind, das Kind an sich. Charna zog das schwarze Tuch über der Schulter zusammen, wandte sich ab und lief zum Wagen, wieder mit hoch erhobenem Kopf, als trüge sie eine Pflicht und eine Sünde zugleich.

Doch da verlor sie die Fassung, blieb abrupt stehen, wütete mit den teuren Stiefeln im Schlamm, zerriss sich die Bluse über der Brust und ein Gebrüll, das dem eines durstigen Ochsen ähnelte, suchte sich den Weg aus ihrem Mund. Blanka erstarrte und es schien ihr, als suchte die Fremde nicht nur ihren unerträglichen Schmerz aus sich herauszuschaffen, sondern als wütete sie mit aller Kraft gegen die unsichtbaren Mauern eines für immer geschlossenen Kerkers.

Blanka legte die Hand auf ihre Brust und spürte diese Sehnsucht, die beim ersten Blick in die grasgrünen Augen des Säuglings aus Kupiškis in ihr erwacht war: Dieses Mal würde sie es nicht übers Herz bringen, das Kind zu töten.

Nach Hannahs Besäufnis und nachdem sie das Mädchen so unerwartet heftig verprügelt hatte, fasste Blanka Pawelka einen Entschluss. Sie wartete den Frühling ab und ergriff in Richtung des galizischen Sambir die Flucht. Was vermochte sie, die Bäuerin aus dem russisch-polnischen Zamość, gegen die Dämonen des einstmals todgeweihten Kindes, das so schwarz wie seine Mutter geworden war, auszurichten? Und so erinnerte sie sich ihrer Nichte Karolina Lukaszka, die in Sambir, in der Nähe des galizischen Lemberg, auf dem Gut des polnischen Grafen Tomasz Szujski den Haushalt führte und ihr anlässlich eines Besuches erzählt hatte, dass der Pächter, Menachem Yuter, ein Jude war, ein grossherziger Mann. Bei ihm wollte sie das Kind abladen, hatte sie doch keinen Zweifel an der Herkunft der armen Charna.

Am ersten Abend, als der Säugling bei ihr geblieben war, hatte Blanka in den nassen, stinkenden Windeln einen Fetzen aus dickem Papier mit fremdartiger Schrift gefunden. Ihre Neugier war geweckt und sie zog den erstbesten Hausierer, von denen zahlreiche im Frühjahr und Herbst ihren Hof besuchten, ins Haus und bat ihn, das Geschriebene zu entziffern. Der Händler, ein freundlicher, bärtiger Mann, nahm das Schriftstück, da er selbst nicht lesen konnte, an sich mit dem Versprechen zurückzukehren, was er auch tat, und legte wenige Tage später den Papierfetzen mit bedeutungsvoller Miene auf Blankas Tisch, trank aus dem Wasserkrug und berichtete, es handle sich um die Anschrift eines ehrenhaften Fishel Kaplan, der im fernen südamerikanischen Chile in einer Stadt namens Valparaiso ein Haus besitze und Handel mit Weizen betreibe. Der Mann wischte sich das Wasser vom Mund und schaute Blanka misstrauisch an, er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie eine einfache polnische Bäuerin zu dieser Nachricht gekommen war. Doch dann fuhr er fort, dieser Fishel Kaplan hätte geschrieben, dass dieses Chile ein gutes Land wäre, das sich nach dem Unabhängigkeitskrieg für die Juden geöffnet hätte, und wenn Charna gezwungen würde, in Kupiškis Chalitza zu machen, wäre das für ihn Grund genug, sie und ihr Kind im chilenischen Valparaiso zu erwarten, er wäre stolz und hocherfreut, sie bei sich aufnehmen zu dürfen. Blanka schwieg. Und versuchte zu verstehen, wie dieses ferne Chile und Valparaiso in ihre enge polnische Stube hatte einbrechen können. Der schwarzen Charna wäre es offensichtlich möglich gewesen, sich und ihr Kind in diesem chilenischen Valparaiso in Sicherheit zu bringen, das verstand Blanka, wenn sich ihr auch der Sinn des Wortes Chalitza verschloss und sie beim besten Willen nicht dahinterkam, warum die Frau dennoch das Kind seinem sicheren Tod überlassen hatte.

Und warum hatte sie das Papier in die Windel gesteckt?

Ohne auf die stummen Fragen des Hausierers einzugehen, drückte sie ihm ein paar Münzen in die Hand und schob ihn aus ihrem Haus und hörte nicht hin, als er sich umwandte und sie kichernd fragte, ob sie denn wisse, was Fishel bedeute?

Doch nicht nur, weil sie dieses Kind und das Papier mit der chilenischen Anschrift zwölf Jahre später dem Juden Menachem Yuter in Sambir übergeben und es solcherart der Mutter, der schwarzen Charna, zurückgeben wollte, zog Blanka das Pferd aus dem Stall, noch viel drängender war ihr, das schwarze Balg aus dem russisch-polnischen Reich über die Grenze ins österreichische Land zu bringen, weit weg, denn das unberechenbare Mädchen, das mit dem Trinken begonnen hatte, drohte am Ende die Aufmerksamkeit der Gendarmerie auf sich zu ziehen, und dann wäre es aus mit Blankas und ihrer Familie Leben. Die Polizisten des Zaren würden ihrer sündhaften Tätigkeit auf die Spur kommen, die Leichen der Säuglinge, die Blanka hinter der Hütte in der Erde verscharrt hatte, entdecken und sie und ihren Sohn Petrik am nächsten Baum aufknüpfen.

Nicht üblich war es zwar, Frauen auf dem Bock eines Wagens zu sehen. Es schien ihr jedoch undenkbar, Petrik oder den blöden Knecht zu bitten, da sie auch ihnen gegenüber verschwieg, woher das wenige zusätzliche Geld und damit auch Hannah gekommen waren, und dass sie die ihr anvertrauten Säuglinge in einer entfernten Hütte austrocknen liess. Sie war es, die für die Familie sorgte und ausschliesslich die Last des Überlebens trug. Ihre Familie bedeutete ihr Schicksal, Gefäss, Welt, Glück und Gott auf Erden, umso mehr, da ihr der Hunger die älteren Kinder und zwei ihrer Geschwister und ein Trupp marodierender, französischer Soldaten den Mann geraubt hatten. Weder Fleiss noch Mut oder Gottesfurcht hatten geholfen. Stolz musste man sein und sich zu wehren wissen. Und so spannte sie das alte, magere Pferd eines Nachts vor den Karren. Sie würde die Blicke und den Spott aushalten, eine Frau auf dem Bock, was für eine Schande, doch verfügte sie über einen festen Willen und die Fähigkeit, nur gerade so viel zu erfassen, wie notwendig war, nicht zurück- und nicht vorwärtsschauen, davon hing ihr Überleben ab, und das Kind musste weg.

Weg aus dem polnischen Backsteinhaus, das unter wuchernden Pflanzen erstickte, hin zu der galizischen, kohlrabenschwarzen Erde, die, von den Flüssen gebracht, diesen fetten Weizen hervorbrachte, und aus dem Sand gewachsen war – dunklem, zwischen den Gletschern zerriebenem Sand – ein Meer von Föhren, Birken und Eichen. Störche, die durstig ihre Schnäbel in das Steppengras eintauchten und in Farben ertranken, Pflaumenrot, Schleierweiss, Buttergelb, Lindengrün. Das Licht drang zwischen die Föhrenstämme und entzündete diesen trockenen, duftenden Mund: einbrechen, durchbrechen, durch die Wälder brechen.

Blankas bedächtige Härte wie auch Hannahs Angst wurden vom Wind davongetragen und befruchteten die Steppe. Manchmal legte Blanka schützend ihre Hand auf die Halswirbel ihrer Hannah und nahm sie fest zwischen die Finger. Und Hannah klammerte sich an Blankas Fussknöchel, um nicht vom geschüttelten Wagen in diese verschlingende Pflanzenwelt geschleudert zu werden, auf den Grenzmarksteinen aufzuprallen, in der Steppe kopflos schwebend verloren zu gehen oder von gierigen Heuschrecken aufgefressen zu werden.

So blieb Blanka nur die Hoffnung, dass Hannah sich festhielt, während die Peitsche auf den Rücken des mageren, alten Pferdes niedersauste – antreiben und Gott vertrauen auf endlosen Wegen, die sich durch die Landschaft frassen, Flüssen entlang, deren Hälse von Schilfkrägen gesäumt, und Gewässern, aus deren feuchter Wangenhaut Seerosenstoppeln wuchsen, und nicht mal Blanka wusste genau, wovor sie sich so fürchtete: War es der Rachegott, der Hüter ihrer Albträume? Oder waren es die berittenen Steppenbewohner, die ruthenischen Kosaken, die alles niedermetzelten, was sie für polnisch, für russisch, deutsch oder gar für jiddisch hielten? Waren es die Gesetzeshüter des russischen Zaren, die sie für ihre Dienste an gefallenen jüdischen Frauen hingerichtet hätten? Oder flüchtete sie vor der zellstofflichen, sabbernden, erstickenden, vor Chlorophyll platzenden Galaxie, die auf ihre stupide, kreatürliche Art allen Lebewesen die Luft zum Atmen raubte und nicht genug abwarf, um sie alle zu ernähren?

Strebte sie Hannahs Blicken zu entkommen, die sie belauerten?

Und in Hannah nagte die Frage, was denn an ihr so schlimm war, dass Blanka sie wegbrachte. Ununterbrochen dachte sie daran, doch ihr Kopf konnte die Geschwindigkeit der Ereignisse nicht bewältigen, was sie mit Zorn erfüllte und ihr Herz erstarren liess, das Rattern der Räder hämmerte die Gewissheit der baldigen Trennung erbarmungslos in ihr Bewusstsein und sie fasste fester zu und beschloss, ihren wütenden Klammergriff nie wieder zu lösen. Ich weiche nicht von ihrer Seite, ich lasse sie nicht für einen Wimpernschlag aus den Augen, ich träume nicht, ich schlafe nicht, ich tue alles, wie Blanka es will, so vergisst sie mich und ihr Vorhaben, mich auszusetzen … Und so verlor Hannah mit jedem Meter, den sie fuhren, ein Stück der Familie, die ihr so oft eine Gefahr und das Aushalten von Schmerz gewesen war, doch kannte sie nichts Besseres und sie hatte gelernt, durch die Liebe zu Blanka die Furcht vor Petrik und dem blöden Knecht zu bannen. Und sie erinnerte sich, wie sie den Hof durchquert hatte, gehalten von Blankas Griff, wie sie durch das Tor in die Wiese gelangt war und einer Eingebung folgend sich von der Hand löste, davonlief, den Kopf voran, und, die Arme erhoben, sich in die brusthohen Wellen des Gräsermeers warf. Sie sah vor sich den schwarzen Wald, dorthin wollte sie, schneller, nur schneller sein als Petrik, der ihren verhärteten Körper schlug, schneller sein als der Knecht, der ihre entzündeten Geschlechtsteile durchbohrte, ja schneller sein als der eigene Körper, sie verspürte den brennenden Wunsch nach Freiheit, befreit zu sein, und so rannte sie, den Kopf voran, aus sich selbst heraus, ihre Füsse stolperten, die Halme klatschten an den Hals und die Wangen, Insekten summten und sie fühlte die harte Erde und das wackelige Gleichgewicht, und doch lief sie und lief, da ihr die Geschwindigkeit half, nicht zu fallen, und ein aufschiessendes Glücksgefühl trug sie weg von Blankas Körper und ihrer festen Hand. Je weiter sie sich jedoch durch dieses Gräsermeer Richtung Wald entfernte, je heftiger dieses Glücksgefühl in ihr brannte, desto zäher flossen aus den verstecktesten Winkeln ihrer Zellen Schuld und Angst, sie drohte zu platzen, sie schnappte nach Luft: Blanka würde sie bestrafen, Blanka würde sie verlassen.

Hannah sass in Gedanken versunken auf dem Wagen, starrte auf den schweissnassen Rücken des Pferdes, der sich wie das Gräsermeer auf und ab bewegte, und versuchte ihr wild klopfendes Herz zu zähmen und sich mit herbeigeholten Fantasien zu trösten. Die Vorstellung, dass Petrik, der sie täglich geschlagen, seine bösartigen Gelüste nun am blöden Knecht, der Nacht für Nacht im Stroh zwischen ihren angespannten Beinen herumgewühlt hatte, austoben würde, gefiel ihr und brachte sie sogar zum Lachen. Wenn zwei sich zusammentun, um dich zu vernichten, und du machst dich davon, dann schlagen sie sich gegenseitig tot …

Am Abend band Blanka das Pferd an einen Baum, setzte sich mit dem Rücken an den Wagen gelehnt auf die Erde und öffnete ihren grossen Mund, um erschöpft den Mangel an Nahrung festzustellen, schloss ihn wieder und schwieg.

Manchmal gab es eine Kuh. Gestohlene Milch. Heidelbeeren und Pilze, die der Wald hergab. Wenn in den Gärten die Feuer brannten und der Himmel farb- und trostlos wie fauliger Abfall war, starrte Blanka in die Landschaft – Felder, Heidehäute, weidegrünes Haar, während des Tages pralle, gelbe, liebeshungrige Welt, um dann in der Dämmerung sich aufzulösen – und Hannah sog den Rauchgeruch tief ein und fühlte sich entschlossen und zuversichtlich, sie und Blanka, allein in dieser weiten Welt. Wir überleben, weil ich Sorge trage, weil ich Blanka nicht aus den Augen lasse … Noch sind wir beisammen, sie und ich, ich und sie … Und Blanka mahlte mit dem Mund und schmeckte die würzige Erde, die zwischen den Zähnen knirschend zerschmolz, das knackige Korn, das auf der Zunge Wurzeln schlug, spürte, wie die Wellen von Hannahs klammernder Wut über ihr zusammenbrachen.

Sie starrte in diese Weite, Sehnsuchtsweite, seelenzerreissende Weite, sinnlos, grausam, ihre Welt, bitteres Bier, und in ihrem Schluckauf drohte die flüchtige Blanka Pawelka aus Zamość zu diesem Gott hinauf, der mit grosser Geste seine Hände ausstreckte und mit bösen Worten ihr ins Gewissen geiferte. Regengüsse wie Umarmungen. Gewitterschübe wie Schläge auf den nackten Hintern. Wald und Wiese.

Sie dachte an ihre schwangere Mutter, an den dicken Bauch, der durch die Tischplatte vom Oberkörper und Kopf abgetrennt war, an die aufgesprungenen Hände, die sich um die Schale schlossen und sie gierig zum Mund führten, nur kurz, um sie gleich wieder hinzustellen und heftig wegzuschieben.

Blanka, gebunden an die Not, an den Schmerz, an die Kälte, den Hunger, Blanka, Schritt für Schritt, den Blick gerade auf den Moment gerichtet, das Notwendige.

Blanka, jeder Atemzug ein Faustschlag in Gottes bösartiges Gesicht.

Und sie weinte, wenn sie an die arme Charna dachte, die niemals ihrem Kind das Spiel des Sonnenlichts im Staub, den Duft der Milchsuppe an Festtagen, das Gegacker der Hühner zeigen, die nie sein lachendes Gesicht sehen, wenn sie versuchte, einen der Vögel einzufangen, und die nie davon erfahren würde: Sie hatte es nicht übers Herz gebracht, das Kind, in dessen verkackter Windel sie die Nachricht des chilenischen Fishel Kaplan gefunden hatte, zu töten.

2010. Zürich. Schweiz

Kurze Zeit nachdem Pauline Einzig beerdigt worden war, erhält Selma Einzig, die Enkelin von Pauline, einen Brief, in dem ihr angekündigt wird, sie habe innerhalb der nächsten vier Wochen die Wohnung zu verlassen.

Selma bekommt den Schluckauf. Sie geht mit kleinen, tapsigen Schritten durch die stillen Räume, bemüht, in jeder Bewegung ein Gefühl oder einen Gedanken zu finden, bleibt stehen und schaut über die Dinge, die sich während der letzten Jahrzehnte ihres gemeinsamen Lebens in der weitläufigen Wohnung eingefunden haben: Joels Klavier, das er nie benutzte. Nachdem er es tagelang misstrauisch gemustert hatte, tauchte er seine Finger in die Tasten, erzeugte einen fürchterlichen Missklang, worauf er den Deckel zuklappte und das Instrument nie wieder anrührte. Sie lässt ihre Blicke über die in der Wohnung verteilten Bücher schweifen, die Pauline in die Regale zurückgestellt hatte, und Selma, die sich im Chaos, aber nicht in der Ordnung zurechtfand, musste sich auf die Suche machen. Sie starrt die farbigen Teppiche an. Jagdbeute von Paulines und Selmas Reisen.

Auf dem runden Esstisch stapeln sich frisch gewaschene, akkurat zusammengelegte Kleidungsstücke, Stoffe von hervorragender Qualität und Farben von einer dämmerungsgleichen Diskretion – Selma berührt die Stücke und presst ihre Nase hinein –, Pauline hat, so lange Selmas Erinnerungen zurückreichen, nur diese braunen, beigen und eierschalenweissen Woll-, Baumwoll- oder Seidenstoffe getragen, Kleider, die geschützt, geschmeichelt und gewärmt und dennoch der Trägerin eine kühle und abweisende Eleganz verliehen haben. Streicheln, ich hätte sie streicheln wollen, und doch, es war schwer, Pauline hat eine verhornte Haut, eine schuppige Seele gehabt, ein Herz wie eine Peitsche … Selma öffnet Schränke und Schubladen, wühlt unentschlossen zwischen den Dingen, und die Aufregung weicht dem Gefühl der Überforderung, sie setzt sich auf den kalten Küchenfussboden. Was soll ich machen? Wer will denn alle diese Sachen behalten? Wo soll ich sie unterbringen? Wohin soll ich gehen … Und von Selbstmitleid gelähmt verkriecht sie sich im Sofa, wickelt sich in die weiche Wolldecke und flüchtet sich in Tagträumen dorthin, wo ihre Mutter lebt: Valparaiso, die Hafenstadt an der chilenischen Küste.

Und wenn alles erledigt ist, wird sie über den Atlantik fliegen und das tun, was zu Paulines Lebzeiten ein Ding der Unmöglichkeit gewesen ist. Es hätte sie zu sehr gekränkt.

Als gäbe es nicht schon genug Schwierigkeiten zu bewältigen, hat Joel, einen Tag nach Paulines Beerdigung, den Entschluss gefasst, nach sechzehn Jahren Zusammenleben mit Urgrossmutter Pauline und Mutter Selma zu seinem Vater zu ziehen: Diogo Pintor Eloy. Selmas Freund aus Kindertagen und Chefredakteur der Gewerkschaftszeitung, in der Selma seit Jahren als Reporterin für Alltagsgeschichten und Lebenshilfe angestellt ist. Joels Flucht erstaunt und kränkt sie gleichermassen, obwohl sie seine Angst angesichts des Kummers und der drohenden Einsamkeit wie auch der Veränderungen, die Paulines Tod unweigerlich mit sich bringen, verstehen kann. Es ist seine Art, zu trauern … Er sucht beim Vater Sicherheit und Schutz …

Selma spürt Neid. Neid auf ihr eigenes Kind. Das einen Vater hat. Einen Vaterort. Einen Ausweichort. Und sie macht sich Vorwürfe wegen ihrer Unzulänglichkeit. Weil sie nicht in der Lage ist, ihr Kind zu halten. Und zu trösten. Doch niemals würde sie ihm den Weg versperren, da sie die Liebe zu Joel der Liebe zu sich selbst gleichstellt und eine Verletzung seiner Gefühle sich anfühlte, als würde sie sich selbst etwas antun. Sie lässt ihn also gehen, ohne darüber zu sprechen, und er gibt mit feindseliger Miene zu verstehen, dass ihm jegliche Diskussion, dieses Ihn-Miteinbeziehen und Sich-Sorgen-Machen, dieses unnötige Wir-sind-ja-so-interessiert-an-deiner-Meinung schrecklich auf die Nerven geht. Und so wagt sie auch nicht, Joel von ihrem Vorhaben, bei Diogo sich zu entschuldigen und ihm vorzuschlagen, es nochmals mit der Familie zu versuchen, in Kenntnis zu setzen: Sie würde nach Paulines Tod bei Diogo einziehen. Endlich hätten sie es geschafft, eine Familie zu sein.

Sie packt mit dem Jungen seine Sachen zusammen. Richtet mit leichten Pfoten und melancholischer Zerstreutheit ein Durcheinander an, verliert und vergisst, und er läuft unwillig hinter ihr her, sammelt bedächtig auf und sorgt für Ordnung, schimpft lethargisch vor sich hin. Sie graben Erinnerungen aus und erzählen einander Anekdoten, Joel spielt mit, er, der immer wieder betont, er könne seiner Mutter niemals verzeihen, dass sie ihn durch ihren Lebenswandel dazu zwinge, ihren Namen zu tragen: «Joel Einzig, what the fuck, wie viel cooler ist doch Joel Pintor Eloy.» Was wiederum Diogo scherzhaft zu korrigieren pflegt: «Joel Pintor Einzig – Vater zuerst und dann die Mutter.» Worauf Selma nörgelt: «Joel Einzig Pintor.» Und Joel mault: «Wer fragt eigentlich mich?» Diogo boxt ihn in die Seite, fährt ihm durchs blonde Haar und pustet in seine blauen Augen: «Deine Mutter. Alles die Schuld deiner Mutter!»

Und so witzeln sie und lachen, bis Joel die Nerven verliert, seine Kleider aus dem Schrank zerrt und zornig in die Taschen stopft, was für eine Zeitverschwendung, was für eine Zeitverschwendung!

Nur fertig werden und endlich raus hier!

Nachdem Joel aus der ehemals gemeinsamen Wohnung ausgezogen und bei seinem Vater angekommen ist, arbeitet Selma sich hektisch von vorne nach hinten und von rechts nach links durch alle Zimmer, verstaut Stück für Stück Paulines Habseligkeiten in hellblau gemusterten Abfallsäcken, um auf die Strasse zu stürzen, die Säcke aufzureissen und das eine oder andere Ding zu retten. Joel! Er wird später den Wunsch verspüren, sich an seine Urgrossmutter Pauline, Gefährtin und Hüterin seiner Jugend, und an seine Grossmutter Marielouise, die in Chile lebt, zu erinnern.

Joel und seine Rechte gehen vor.

Marielouise Einzig hatte, den bruchstückhaften Erzählungen Paulines zufolge, den Kontakt zu Mutter und Tochter vollständig abgebrochen und beschlossen, ihr zweites und besseres Leben in der mythenumwobenen Wüste Atacama und der sagenhaften Stadt Valparaiso zu verbringen.

Mit fünfzehn Jahren wollte Selma das Schweigen um das Verschwinden ihrer Mutter nicht weiter hinnehmen und hat lauthals Pauline ihren Hang zum Rätselhaften, zum Drama und dieses unerträgliche Pathos vorgeworfen. Pauline setzte geräuschlos die Teetasse ab, nahm einen Zug von der Zigarette und blies den Rauch entschieden wieder aus: «Ich hab deine Mutter vergessen, in meinem Kopf existieren keine Erinnerungen, in meinem Herzen sind keine Gefühle, es ist, wie wenn es meine Tochter nie gegeben hätte.» Was in ihrer Sprache jedoch bedeutete: «Ich vermisse mein Mädchen, ich muss immerzu an es denken, vom Augenblick des Aufstehens bis zum Moment des Einschlafens, und ich bete um ein Zeichen des Verzeihens – was auch immer ich ihm angetan hab.»

Selma starrte ihre Grossmutter an und versuchte, das Gesagte zu ergründen, Pauline sprach in der Regel nur, um etwas Bestimmtes zu erreichen. Vermutlich ist sie traurig … Sie will getröstet werden, ohne darum bitten zu müssen … Sie strich der alten Frau eine Haarsträhne aus dem Gesicht, liebkoste ihre Hand und stiess kampflustig aus: «Du hast sie tatsächlich vergessen? Und ich? Bin ich etwa vom Himmel gefallen?»

Pauline schwieg. Schaute ihre Enkelin prüfend an.

Und zerlegt vermutlich mein Inneres in seine Einzelteile, um zu verstehen, warum ich sage, was ich gerade nicht hätte sagen sollen … Selma runzelte die Stirn und fügte an: «Ich bin ihr Kind gewesen. Und ich bin es immer noch.»

«Geschichten gehen allein diejenigen etwas an, die sie erlebt haben. Sind sie tot, haben sie nicht mehr die Möglichkeit, sich dazu zu äussern», erwiderte Pauline barsch. «Wer tot ist, nimmt seine Geschichte mit. Weg ist sie. Und das ist gut so.»

Selma schluckte leer: «Tot? Meine Mutter ist in Chile. Aber doch nicht tot!»

Pauline ging mit weit ausholenden Schritten durchs Wohnzimmer, die Küchentür fest im Blick, es schien, als deutete sie in leichter Schräglage einen unbeholfenen Tanz an – und brüllte plötzlich los: «Dass du so undiszipliniert bist! Verwöhnt und undankbar! Ja illoyal! Illoyal! Du weisst nicht, wer wir sind.» Doch so schnell, wie sie in Wut geraten war, so schnell beruhigte sie sich, ihre Mundwinkel schnellten hoch, sie verschwand in die Küche und rief: «Siehst du die Bäume? Riechst du die Blüten? Hörst du die Kuhglocken? Und weisst du, mein Mädchen, um deine schönen Beine?»

An einem blauen Abend mitten im Winter in einer dicht befahrenen Stadt.

Und doch fiel hin und wieder, wie unbeabsichtigt, das Wort Valparaiso. Es wurde Selma zum Fluchtort, zum Stern am Himmel. Ein pochendes Geheimnis, das allein ihr gehörte und ein magisches Gefühl der Unverwundbarkeit hinterliess. Und sie dachte sich in allen Variationen aus, wie sie eines Tages mit entschiedenen Schritten die Bühne ihrer Mutter betreten würde, in der Hand ein aufgeregtes, verzeihendes Herz.

Die Tatsache, dass die Stadt Valparaiso weit entfernt von der Wüste Atacama liegt, hatte für Selma keine Bedeutung. Sie erklärte sich die geografische Ungenauigkeit mit Paulines Wunsch, Marielouise, ihre missratene Tochter, in die Wüste, wo die Hippies, die Kiffer und die Mystiker lebten, zu verbannen – verlorene Glückssucher. In diesem Bild fand sich Pauline wieder. Ja sie liebte es in ihrer selbstgerechten Art.

Atacama, was «ans Bett gefesselt» heissen könnte, so jedenfalls stand es im Wörterbuch geschrieben, Atacama, Name für eine langgezogene Wüste, die auf der Landkarte schmal erschien, und Selma fürchtete, Marielouise müsste über den Rand stürzen, in die kalten Fluten des Pazifik oder über die unwirtlichen Klippen der Anden, deren Pfade ins benachbarte Bolivien führen.

Selma streckt sich auf dem Sofa aus und zieht die Wolldecke hoch, sie streicht mit der Fingerspitze über die Fotografie und versenkt sich in den Anblick ihrer Mutter: das glatte dunkle Haar über dem Kopf hochtoupiert, am Hinterkopf kunstvoll zu einem Knoten geschlungen, künstliche Locken fallen über die schmalen Schultern. Die dünnen Arme um die Brust geklammert und den Kopf nach vorne geneigt sucht sie Schutz vor den Wüstenwinden, die erbarmungslos die farbigen Stoffe ihrer luftigen Kleider, die präzis gesteckte Frisur wie auch die helle Haut zerstören. Die trockene Haut, das trockene Haar, ja das ganze trockene Wesen ihrer Mutter muss in diesen rauen Gegenden vollständig papieren und brüchig, schlussendlich zerrissen und in alle Himmelsrichtungen zerstreut worden sein.

Obwohl sie das schmale Gesicht ihrer Mutter seit frühester Kindheit nie wieder angefasst, nie die Hand auf die hohe Stirn gelegt hat, erkennt sie auf diesem Bild in traumhafter Sicherheit Marielouises Trockenheit, auch weil sie selber genauso spröde ist, hat sie doch die Herbe ihrer stolzen Grossmutter und die Trockenheit ihrer unerreichbaren Mutter geerbt.

Und so verteilt sie seit ihren frühen Kindertagen täglich Unmengen von Öl und Fett auf Haut und Haaren. Und denkt darüber nach, warum sie ohne Vater, ohne Mutter, allein mit ihrer exzentrischen Grossmutter aufwachsen musste, und fragt sich, ob dieses Alleinsein ein allgemein menschliches Schicksal ist, was aber sofort die nächste Frage aufwirft, warum denn andere Kinder in Familien lebten, und ob sie, aus ihr unerklärlichen Gründen, auserwählt sei, die Wahrheit über das menschliche Dasein früher als andere zu erkennen.

Heute jedoch, als erwachsene Frau und neuerdings als Erbin der verstorbenen Pauline Einzig, stösst sie angesichts der stillen Wohnung nur ein lapidares «Scheisse» aus und fühlt sich verärgert, weil dieses Alleinsein keine Frühreife, sondern lediglich ein Mangel und nichts als zusätzliche Arbeit ist.

Schränke öffnen? Schubladen herausziehen? Sachen in die Hand nehmen? Behalten? Weitergeben? Wegwerfen? Immerhin handelt es sich um ein vollständig gelebtes Leben. Selma sieht sich im Spiegel, der aus dem dunklen Korridor hervorblitzt, kleingewachsen, aufrecht, Kopf etwas nach vorne gereckt, leicht ausgedrehte Füsse, grosse Brust, den Bauch, der sich seit Joels Geburt aus ihr herauswölbt. Ich sehe aus wie ein ratloses Schaf. Nein, ich sehe nicht aus wie ein ratloses Schaf, ich bin ein ratloses Schaf, und es ist nicht gut, wenn ich jetzt auf dem Absatz kehrtmache, das Notwendigste in einen Koffer packe, die Wohnung abschliesse, den Schlüssel in den nächsten Gully werfe und so tue, als habe es dies alles nie gegeben …

Schön gearbeitetes, rötliches Holz, Blumenranken und mittendrin drei goldene Elefanten. Der Deckel der Kiste, die Selma unter dem Bett ihrer Grossmutter findet, lässt sich ohne Mühe aufklappen.

In einer Sommernacht studiert sie die Dokumente, Papiere und handgeschriebenen Aufzeichnungen. Manchmal dringen Musik, Gelächter, Stimmen und aufheulende Automotoren durch die offene Balkontür zu ihr hoch.

Pauline hatte zeitlebens ein Geheimnis um ihre Vergangenheit gemacht. Vernichtete in regelmässigen Abständen Fotos und Dokumente. War im Erfinden und Etablieren von Legenden und Mythen eine Meisterin und zwang der Welt stets ihre eigene Version der Ereignisse auf. Doch hatte sie, wie nun Selma zu entdecken meint, die letzten Jahre ihres Lebens genutzt, um das Durcheinander, das sie in ihrer Geschichte angerichtet hatte, zu entwirren. Tohuwabohu nannte sie es. Tohuwabohu! Was für ein wunderbares Wort für den Lärm in der Wüste, den niemand je gehört hat, der jedoch die Menschen verstört und das Bewusstsein und die Geisteskräfte vernichtet, wie die Engel es tun, wenn man sie aufsucht, bevor die Zeit reif ist …

Neben Schriften über die Kabbala in hebräischer Sprache findet Selma in der hölzernen Kiste Festschriften der historischen Gesellschaft der Ostschweiz über das hundertjährige Jubiläum der Schweizer Nudelindustrie wie auch Auszüge aus den kantonalen, polizeilichen Archiven des Kantons Thurgau über den Aufenthalt von jüdischen Reisenden aus Osteuropa in den Gemeinden Sulgen, Kradolf und Schönenberg. Sie entziffert Paulines schöne Handschrift: Notizen über Geschichten, die von galizischen Nudelbäckern handeln, von papier- und mittellosen Vagabunden, die im schweizerischen Thurgau herumzogen, im Weiler Donzhausen schliesslich damit begannen, Nudeln zu machen, und dafür im deutschen Ravensburg erste Maschinen kauften, auf den Bauernhöfen Trockentürme hochzogen und Tag und Nacht schufteten. Die Kunde über das moderne Handwerk und das neue Produkt verbreitete sich. Georg Kuhn, der Sohn des Müllers Kuhn aus der Gemeinde Kradolf, liess sich im Weiler Donzhausen bei den Vagabunden als Nudelmacher ausbilden und gründete in der Folge in ebendiesem thurgauischen Kradolf eine Nudelfabrik.

Es kam zu einem Krieg zwischen den aufstrebenden Fabriken des rotgesichtigen, schwitzenden Georg Kuhn und den kleinen Faktoreien der galizischen Nudelbäcker, sie stritten wegen Kleinigkeiten, kämpften um das Vorrecht, das Logo mit den goldenen Ähren auf den Verpackungen abzudrucken, oder um das Besitzrecht der Namen für die Formen der getrockneten Nudelspezialitäten. Nach Jahren verbissener Kämpfe kaufte Paulines Onkel Otto, Sohn des galizischen Vagabunden und Nudelbäckers Jankel Yuter und Enkel der tüchtigen schwarzen Hannah, für wenig Geld die in die Krise geratene Kuhn Teigwaren-Fabrik und veräusserte sie gewinnbringend an die mächtigste Konservenfabrik des Landes.

Und Selma findet in der Festschrift zur Begründung der Thurgauer Teigwarenindustrie einen Satz, den Pauline mehrmals unterstrichen und mit mehreren Frage- und Ausrufezeichen versehen hat: «Wo aus uralter Bauernschlauheit kaufmännischer Geschäftssinn entstanden war, wurden anscheinend mit Absicht Unklarheiten und Lücken belassen.» Und Pauline setzte mit der Spitze ihres roten Stifts ein fettes Kreuz auf diese Lücke und schrieb an den Rand des Papiers: «Da kommen wir her. Das sind wir.»

In ihren Notaten berichtet Pauline von Flüssen und Hochwassern, beschreibt den Dnjestr, der in der Nähe des galizischen Sambir aus der Quelle gesprungen ist, und die Thur, die in der Ostschweiz jährlich Menschen, Tiere und kostbaren Hafer verschlungen hat. Und sie erwähnt den wilden Fluss Sambatjon, den bisher noch keiner zu überqueren gewagt hat.

Selma faltet eine brüchige Landkarte auf und findet rote Kreise um den litauischen Ort Marjiampolé, das polnische Städtchen Zamość und das ukrainische Sambir, und eine gestrichelte Linie führt von Sambir über Oswjecim, Wien, Salzburg, Innsbruck bis ins thurgauische Donzhausen. Doch das Ausmass des Erbes, das ihr die Grossmutter in dieser Kiste hinterlassen hat, zeigt sich Selma erst, als sie unter all den Papieren auf einen Plastikbehälter stösst, eine hübsche rosafarbene Tupperwaredose. Sie wiegt den überraschend schweren Behälter in der Hand, mindestens zwei Kilo, und entziffert das Etikett: einen Namen, ein Datum und einen Ort. Sie hebt sorgfältig den Deckel an: feinste braun-graue Asche. Und ein dickes, vergilbtes Büttenpapier. Hebräische Schriftzeichen.

Selma läuft ins Bad und übergibt sich. Sie spürt ätzende Säure im Hals, riecht den scharfen Geruch, Kühle steigt an den weissen Porzellanwänden der Kloschüssel hoch, in der braunen Flüssigkeit schwimmen rote Schlieren. Was hab ich gegessen, ich weiss nicht mehr, was ich gegessen hab … Eine Zikade ruft, eine Frauenstimme lacht, eine Tür fällt ins Schloss. Selma hört ihren eigenen Atem.

In den Müll. Nichts und niemanden behelligen!

Erstickende Enge.

Übelkeit.

Ein heisser Tag kündet sich an. Selma lädt Paulines Kiste in ihr Auto und fährt zur Wohnung von Janika Weissbrod, bei der sie im Gästezimmer Unterschlupf gefunden hat und bei der sie die nächsten Monate verbringen wird. Bei Janika, der Freundin, der Schwester, der Schwesterfreundin oder der Freundinschwester, bei Janika, die sie auch ihren bernsteinfarbenen Cowboy oder ihren Amy Winehouse-Engel nennt, bei Janika, die ebenfalls einen Brief bekommen hat, der ihr das Ende ihrer Aufenthaltsbewilligung ankündigt – und dass sie innerhalb dreier Monate Zürich und die Schweiz zu verlassen hat.

Janika will nicht. Der Gedanke, nach Israel zurückzukehren, ist ihr verhasst. Und so verbringen Selma und Janika ihre Nächte mit dem Formulieren von Rekursen und Einsprachen, zerlegen Janikas Leben in Einzelteile und setzen es neu zusammen – und zum ersten Mal ist Selma dankbar für das, was sie von ihrer Grossmutter gelernt, ja von ihr instinktiv übernommen hat, und über das ihre Freunde – vor allem auch Diogo und Joel – spotten und lachen: das Erfinden von Mythen und Geschichten. Ja, wer nimmt schon das Geschichtenerzählen, das Dramatisieren und Verdichten ernst, wer liebt schon die Lüge und die berechnende Manipulation?

Und so weben sie am Stoff von Janikas Biografie, erfinden unzählige Motive, Varianten von den Motiven und von diesen wiederum neue Versionen, wobei am Ende die Wahl nicht auf diejenige Version fällt, die ein wunschgerechtes Leben ermöglicht, sondern auf diejenige, die am ehesten den Erfordernissen der Einwanderungsbehörde entspricht.

«Wenn du die Schweiz verlassen musst, komme ich mit. Wir suchen uns in Tel Aviv eine Wohnung. Wir amüsieren uns, tun, was uns gefällt, für immer, für drei Tage oder nur für eine Nacht», beschwichtigt Selma. Doch Janika flitzt durch die enge Küche, setzt Teewasser auf und berichtigt mit ihrer kräftigen Stimme: «NOCH bin ich hier!»

«Gut, dann fahre ich nach Valparaiso oder in die Atacama-Wüste zu meiner Mutter», gibt Selma zurück. «Oder ich ziehe endgültig zu Diogo und Joel.»

Was Janika in kehliges Lachen ausbrechen lässt: «Ohne zu fragen, ob die Mutter überhaupt in diesem paradiesischen Tal oder dieser Man-ist-ans-Bett-gefesselt-Wüste lebt, ohne zu fragen, ob Diogo und Joel dich überhaupt noch wollen», sie richtet ihren rotblonden Haarturm und zieht gleichzeitig an einem Joint, wirft sich in den Rattansessel und streckt alle Glieder von sich. «Und was ist mit Sami? Was wirst du mit deinem Sami Berri tun? Lässt er dich gehen? Einfach so?»

Sami.

Sami und Selma.

Die Umgebung weicht vor ihr zurück und ein unbestimmter Raum tut sich auf. Sie starrt auf Paulines Kiste, das hölzerne Unding, das auf Janikas grob geknüpftem Wohnzimmerteppich steht, mitten in der Leerstelle, die Marielouise, Pauline, Joel – und bald auch Janika – hinterlassen. Sie starrt auf den Deckel. Drei goldene Elefanten. Zwei Augen, eine Nase.

Das Gesicht von Pauline, scharf gezeichnet, durch den Lichteinfall gerahmt, die knochigen Schultern in ein selbstgestricktes Tuch gehüllt, das Kinn vorgereckt, die Zigarette in der Hand, brüchig und verwundbar.

Sie schaute aus dem Fenster und sagte mit diesem herrschsüchtigen Ton in der Stimme: «Ich bin vom Stamm der Rosa Luxemburg.»

Selma wühlte ihre Finger in das krause, immer noch pechschwarze Haar und drückte ihre Lippen flüchtig auf den Kopf der alten Frau: «Das ist eine deiner Geschichten. Warum lügst du?»

«Ich bin vom Stamm der Rosa Luxemburg!»

«Was willst du? Was soll ich tun?» Selma setzte sich vor Pauline auf einen Schemel, rollte ihr die Strümpfe von den Füssen, drückte Salbe aus der Tube, legte die Hände um die Fussknöchel ihrer Grossmutter und strich mit kräftigen und kreisenden Bewegungen die Haut auseinander, massierte die von der Arthrose verkrümmten Füsse und spöttelte freundlich: «Du bist von einem jüdischen Stamm?»

«Das habe ich nicht gesagt! Das hast du gesagt!» Paulines grüne Augen, schmale Frühlingsblätter im alten Gesicht. Die schweren Brüste hatten sich in ihrem Schoss hingelegt. Sie drückte die Zigarette aus und zupfte das gestrickte Tuch zurecht: «Wer will denn ein Paria sein? Willst du ein schwarzer Paria sein?»

«Bin ich schwarz? Und Joel? Sieht aus wie Leonardo DiCaprio.»

«Und du? Wie Kate Winslet? Das ist ja zum Lachen! Heirate einen anständigen, erfolgreichen Mann. Joel braucht einen Vater.»

«Das sagst ausgerechnet du.»

«Einen anständigen Vater.»

«Joel hat einen Vater.»

«Ich spreche von einem richtigen Vater.»

«Und wo ist mein Vater?»

Pauline warf ihr einen verächtlichen Blick zu und kehrte zum Thema zurück: «Mein ganzes Leben wurde ich Neger genannt. Willst du ein Neger sein?»

«Wann hat es dich jemals interessiert, was ich sein will?»

«Du tust mir weh!»

Selma hielt inne, stellte die Füsse ihrer Grossmutter sorgfältig auf die Fussablage des Rollstuhls und strich mit dem Zeigefinger zärtlich über den hohen Rist: «Tee?»

«Weisst du, was schlimmer ist als die Angst vor verderblichem Einfluss und Umweltverschmutzung? Weisst du das? Zieh mir die Strümpfe über! Ich will die grauen Seidenstrümpfe. Hol sie. In der Kommode!»

«Hier. Graue Seidenstrümpfe.» Selma hob die Strümpfe hoch, die sie ihrer Grossmutter ausgezogen hatte. Pauline packte den einen Strumpf, beugte sich vor und versuchte den Fuss anzuheben, sie arbeitete Stück für Stück an der Annäherung von Hand und Fuss, ihr Atem ging heftig: «Schlimmer ist die Angst vor Auflösung und Verschwinden.»

Selma hatte sich auf ihre Hände gesetzt, um der Versuchung, Hilfe zu leisten, widerstehen zu können, denn das Eingeständnis der Schwäche und Hilflosigkeit hätte ihr Pauline nicht verziehen. Doch die alte Frau musste schliesslich erschöpft aufgeben, lehnte sich zurück und legte den Strumpf verärgert in ihren Schoss.

Das seidene Stück über Kopf und Gesicht gezogen murmelte Selma mit dumpfer Stimme: «So. Und aus der Asche des Verschwindens steigt Rosa Luxemburg als Phönix auf und kündet von der Wiederkehr des ewigen Juden.»

Pauline beobachtete ihre Enkelin, wie man es mit einem fremden Wesen tut, dessen Verhalten man zwar verurteilt, aber nicht ändern kann, beim besten Willen nicht, und nach einer Weile sagte sie mit Blick zum Fenster: «Die Farben verändern sich, bald ist der Himmel lila, ja, der Himmel ist lila, es tut gut, das Eindunkeln zu beobachten, dann weiss man, alles wird gut …» Und brach ab und schwieg.

Selma zog den Strumpf vom Kopf und wartete. Sie kannte Paulines Schweigen. Und sie fragte sich in solchen Momenten, ob Pauline wohl an Marielouise dachte, ob sie ihr Kind vermisste, und begann erneut, kraftvoll und konzentriert zu massieren. Weich, sie ist weich wie ein Baby, weich und schön … Sie spürte den bohrenden Blick auf ihrem Scheitel … Wir sind eine Horde beziehungsloser Individualisten … Wir sind verletzt … Ja, wir haben den Hang, uns stetig zu verletzen, denn im Grunde sind wir von unserer Minderwertigkeit überzeugt …

Und als hätte Pauline ihre Gedanken gelesen, entzog sie ihrer Enkelin das eingefettete Bein und sagte klar und deutlich, sie wolle nun die Strümpfe, und fügte an: «Du bist der letzte Neger in der Familie. Du bist der letzte Neger! Mein letzter Selma-Neger! Aber du hast vergessen, was ein gutes Leben ist. Wer zeigt der Welt, wenn ich tot bin, was ein gutes Leben ist? Sag es mir! Wer?»

Selma sitzt auf dem grob geknüpften Wohnzimmerteppich in Janikas Wohnzimmer, dreht die rosafarbene Tupperwaredose in den Händen, prüft das Gewicht und studiert das dicke, schmutzige Büttenpapier, das sie darin gefunden hat.

Mit den Augen tastet sie die hebräischen Schriftzeichen ab. Sie wird Janika um die Übersetzung bitten müssen.

Die auf der Landkarte rot eingekreisten Ortschaften notiert sie in einem schwarzen Notizbuch: Kupiškis, Zamość, Sambir.

Und: Oswjecim, Wien, Salzburg, Innsbruck. Donzhausen.

Sie packt ihren roten Koffer. Bücher. Viele Bücher.

Und Paulines Dokumente.

20. Juli. Zürich – Wien

Sami, mon cher

Der Weizen steht. Ein blendend heller Morgen. Enge Täler, obwohl wir durch das Mittelland fahren. Dazwischen Ausblick auf die kleinräumige Landschaft.

Du hast auf die Bahnhofsuhr geschaut und den Zug schnell verlassen. Nachdem du mir, ohne die anderen Fahrgäste zu beachten oder zu grüssen, einen Platz gesucht hast. Er ist nicht besser als andere, es geht dir nur darum, ihn auszusuchen. Eine Art letzte Liebestat, Fürsorge statt Worte, die äussern könnten, was du fühlst. Ich sage auch nicht, was ich fühle. Du hast mir beigebracht, über Gefühle nicht zu sprechen, nein, es hat sich mir von selbst beigebracht, da du damit nicht zu erreichen bist. Du würdest nichts fühlen, hast du gesagt, du wüsstest nicht, wie das geht.

Sex. Und Einsamkeit verhindern. Nur darum geht es. Ich wundere mich über die Selbstverständlichkeit, mit der du das sagst.

Du hast den Zug schnell verlassen. Nachdem du leise, aber fordernd gesagt hast: «Du sagst mir, wo du bist! Jeden Tag! Vergisst du es nicht?»

Deine Bewegungen waren hektisch. Unbeholfen.

Dabei bist du sonst so gelassen. Ich liebe deinen lockeren Gang, deinen schmalen Körper. Wenn du läufst, erinnerst du mich an einen jungen Hund, der sich durch frisch gefallenen Schnee kugelt – alles an dir springt.

Bist du deshalb so unsicher, weil man dir die Liebe, die du für mich empfindest, ansehen kann?

Du liebst mich. Du denkst unentwegt an mich, an dich, an uns. Und obwohl es dir nicht gefällt, kannst du es nicht ändern. Ich weiss um deine Furcht, ich könnte dich betrügen und verlassen, ich weiss um deine Hoffnung auf mein Einlenken: Ich will dich. Will dich um jeden Preis. Ich akzeptiere deine Bedingungen.

Ein Stück von mir bleibt im Bahnhof, geht mit dir die Südtreppe hinunter in die Passage, in der die Geschäfte gerade öffnen, die Pendler hastig frühstücken und gehetzt aufbrechen, die Nordtreppe hinauf in das blendende Sonnenlicht, am Restaurant mit dem vergilbten Schweizerkreuz über dem Eingang vorbei – hier unser erster gemeinsamer Kaffee –, du gehst, den Blick vorwärtsgerichtet, um rechtzeitig ausweichen zu können – keine Zeit, keine Energie verschwenden –, du erreichst das braune Gebäude mit den unordentlichen Büros, das der weltweit grössten Rückversicherung gehört – wie du mit stolzer Verachtung zu betonen pflegst. Den Badge bereits in der Hand lächelst du dem Portier freundlich zu, ist er doch ein Mensch, läufst in die Kantine, um ein Rosinenbrötchen zu kaufen, so jedenfalls hast du es erzählt, so jedenfalls geh ich mit dir in Gedanken den Weg.

Warum ein Rosinenbrötchen? Du wüsstest nicht einmal, ob es dir schmeckt, hast du gesagt.

Aber du bist kein herzloser Mensch. Dein Herz schlägt für den Portier, für die Putzfrau, für die Bauarbeiter. Für all diejenigen, die immer noch sind, was du gewesen bist. So jedenfalls stell ich mir das vor. Und doch bist du bereit, jedem, der in deiner Versicherung die Karriereleiter erklommen hat, in den Arsch zu kriechen. Du würdest alles tun, um so zu sein wie sie oder um zu bekommen, was sie bereits besitzen. Wenn ich dir das an den Kopf werfe, dich mit solchen Bemerkungen kränken will, bist du glücklich. Du fühlst dich erkannt. Das erstaunt mich.

Nun bist du an deinem Platz am Fenster angekommen. Im Grossraumbüro, das durch die vielen Trennwände eng und wegen der gestapelten elektronischen Geräte und des Durcheinanders von Kabeln verwahrlost wirkt. Du setzt dich hin. Und lässt die anderen deine Gleichgültigkeit spüren. Wenn dir Menschen oder eine Sache etwas bedeuten, trägst du Verachtung zur Schau. Machst dich unsichtbar, ziehst den Kopf ein und lässt die Ereignisse scheinbar unberührt über dir zusammenschlagen und bist dann doch beleidigt, ja regelrecht empört, wenn man dich übersieht und vergisst.

Oder verstehe ich nicht, was dir etwas bedeutet?

Es ist schwerer für diejenigen, die zurückbleiben. Du verbringst mit diesem Unbehagen deinen gewohnten Alltag. Es gibt kein aufregendes Erlebnis, keinen tröstenden Ausblick auf eine nette Überraschung, für dich ist alles wie bisher, nur: Ich bin nicht mehr da!

Und du verstehst nicht, warum ich diese Reise mache. Du verstehst nicht, warum ich in die Ukraine fahre, an den Ort, von dem die schwarze Hannah und der Jankel Yuter aufgebrochen sind. Du verstehst nicht, warum ich meine Mutter in Chile nicht mehr aufsuchen will, warum ich dem Inhalt in Paulines Kiste auf den Grund gehen muss.

Und du weisst nicht, was ich in der rosafarbenen Tupperwaredose gefunden hab. Nein. Das kannst du dir nicht einmal vorstellen.

Und du verstehst nicht, warum ich Pauline gehorchen würde, aber niemals dir. Dabei träumst du davon, in den Libanon zurückzukehren, um deine Mutter glücklich zu machen. Ja, du solltest verstehen, dass unser beider Leben von den Wünschen alter Frauen bestimmt sind – alter Frauen, die weit weg sind.

Und du verstehst nicht, warum ich in meinem Alter mit einer Freundin zusammenwohne. Du bist nicht mehr zwanzig – benimmst dich jedoch wie ein Kind, hast du gesagt.

Du verstehst nicht, warum ich als Redakteurin einer anstrengenden und zeitraubenden Arbeit nachgehe, die wenig Geld einbringt und eine ungewisse Zukunft verspricht.

Und du verstehst nicht, warum ich es zulasse, dass Joel zu Diogo zieht. Du verstehst nicht, warum ich die Freundschaft mit Diogo aufrechterhalte, ja sogar für ihn arbeite, du lässt keine Gelegenheit aus, ihn schlecht zu machen, parodierst einen Hahn, hüpfst durch deine Wohnung und krähst seinen Namen: Diogo Pintor Eloy. Was für ein schöner Name! Diogo Pintor Eloy.

Ich hab NUR Freunde. Und du hast NUR Familie. Du wüsstest nicht, wie man das macht mit der Freundschaft, hast du gesagt, deine Geschwister hingegen sind Teil deines Körpers, deine Familie ist alles, hast du gesagt.

Du kannst nicht verstehen, warum der Ort Valparaiso – vielleicht ist es ja nur das Wort – eine solch magische Wirkung auf mich ausübt. Gibt es dort Wohlstand? Arbeit? Sicherheit? Frieden? Ein angenehmes Klima? Hast du wütend gefragt.

Du bist im Lauf deines Lebens ein hervorragender und kluger Beobachter geworden, weil du in allem mit möglichst wenig Aufwand höchste Wirkung erzeugen willst. Und doch verstehst du mich nicht. Stellst dich vor mich hin und hältst mir in endlosen Monologen wahre Strafpredigten und erwartest meine Zustimmung: Ja! Ich werde zur Vernunft kommen.

Meine Reise macht dir Sorgen. Ich werde nicht frieren, Durst oder Hunger leiden. Ich muss keinen Dreck aushalten, keine Insekten, Mäuse und Ratten, mich nicht vor der Gendarmerie verstecken, Schwarzarbeit suchen, stehlen, es drohen weder Erschöpfung, Angst vor Prügel, Vergewaltigung noch Gefängnis und Tod.

Allenfalls eine Flugplanänderung, ein verspäteter Zug, eine Baustelle beim Hotel, ein gestohlener Koffer oder ein Unfall oder eine Krankheit, ja, das kann es geben.

Aber ich hab Angst, dich zu verlieren. Hab Angst, uns zu verlieren.

Ich möchte dich in den Arm nehmen. Und trösten. Deine Haut, die schmeckt wie dunkles Brot. Dein rundes Gesicht. Dein stachliges Haar. Deine kraftvollen und doch so sparsamen Bewegungen.

Unter der Dusche. Haare waschen. Heisses Wasser auf der vor Müdigkeit schmerzenden Haut. Auf den verkrampften Schultern. Weil ich vorhin den Fisch, den du gekauft hast, aufgeschnitten und in seine Einzelteile zerlegt hab. Diese Kleinstbewegungen lösen in den Muskeln einen Krampf aus. Als wollten sie die Unmöglichkeit zeigen, ein Lebewesen in seine Einzelteile zu zerlegen, um es den eigenen Wünschen gemäss neu zusammenzufügen.

Ich unter der Dusche und du auf dem Klo. Du liest Donald Duck und zwischendurch fragst du nach einem Wort: «Was heisst Glückstaler? Was heisst aufsässig?» Das ist aber bereits aus einem Buch über Rosa Luxemburg – die eigentlich Rozalia Luksenburg geheissen und die sich in Zürich aufgehalten hat –, ein Buch, das du durch deine Wohnung trägst, bevor du dich an den Tisch setzt, Kaffee trinkst und mit konzentrierten, aber dennoch weichen Bewegungen meinen Rücken eincremst, meine trockene Haut, die Öle und Cremes aufsaugt wie ein trockener Schwamm das Wasser, die roten Flecken, die jucken, auf denen du deine Finger zärtlich liegen lässt, wie du auch eifrig meine Hände nimmst, aufnimmst, sorgfältig, wie wenn es liegengebliebener Dreck wär, und langsam die knotigen Fingergelenke zu lutschen beginnst. Deine Faszination für meine Mängel. Meine Hässlichkeit. Meinen Makel. Diese Schamlosigkeit angesichts meiner Ausscheidungen. Meiner Gerüche und Geräusche.

Als ich dich nach deinen ersten Erinnerungen gefragt hab, hast du starr geschaut und abgehackt erzählt, eher aufgezählt: festgestampfte Erde, braune Schaumstoffmatratze, Mutters rosafarbenes Kleid mit grünen Blumen, was dich erstaunt hat, weil draussen im Garten die Gräser und Büsche, aber nicht die Blumen grün waren, roter Plastikbecher mit weisser Milch, scharfe Schafsmilch, Glut auf Steinen, blau, violett, orange, und die Flammen, die am geschwärzten Holz lecken, langsam lecken und zucken, waren gelb, wie meine Zunge in dir, hast du gesagt, wie meine Zunge auf dir. An dir. Ich leck dich, bis du verkohlst.

Wir liegen auf der schmalen Couch, eng umschlungen. Ich schaff es nicht abzutauchen. Muss neue Positionen suchen. Noch enger. Noch inniger. Und dann ist es zu heiss. Zu wenig Luft. Mein Körper aufgelöst in deinem. Der Kopf hellwach, aufgeladen, angespannt.

Und du sagst: «Sorge dich nicht. Alles kommt gut.» Ich bekomme einen Lachanfall. Es passiert einfach, und danach meinen Schluckauf. Jedes Mal diesen lästigen Schluckauf.

Unterhalb der Eisenbahntrasse, in der Schlucht, ein schwarzer Fluss. Der Zug hält in einem kleinen Dorf, von dem ich noch nie etwas gehört hab. Bruggen in St. Gallen. Blutfarbene Schindelhäuser. Wein und Kerbel. Überall Pflanzen. Es ist alles so unglaublich verpflanzt.

Früher sind sie gewandert oder auf dem Pferdewagen gefahren. Sie hatten das Wetter auf der Haut und die Gerüche in der Nase. Geräusche haben sich genähert und wieder entfernt. Ich jedoch sitze im klimatisierten Zug. In einer geschlossenen Metallkapsel dringen wir in die Landschaft ein, die Lüftung neutralisiert die Gerüche und die Temperaturen, übernächtigt schaue ich auf den Landschaftsfilm, der vor meinen Augen vorbeiläuft, unberührt, was eine Sehnsucht auslöst, aber nur schwach, mir schiesst der Gedanke durch den Kopf: Fehlende Sinneswahrnehmungen bedeuten den Verlust von Gefühlen und Erinnerungen.

Aber es ist schön. Unzweifelhaft schön. Es würde dir gefallen.

Du liebst die Erinnerung an die Mandelbäume und die Schafe. Und die Blüten. Überall Blüten. Du bräuchtest einen Traktor, um die Felder am Fuss des Bergs Hermon umpflügen zu können. Obwohl ich mittlerweile herausgefunden hab, dass dein Dorf nicht am Fuss des Bergs Hermon, sondern viel weiter im Süden liegt. Du lügst. Und manipulierst. Wie Pauline. Sie hat das dauernd getan. Sagt auch Joel.

Joel. Mein Joel.

Weisst du noch, wie wir uns eine Kinderschar ausgedacht haben? Unsere Kinder. Die du nicht willst. Unsere Kinder, die du aufziehen würdest, wie Pauline es getan hat: Fleissig und erfolgreich müssten sie sein und gut angepasst und dennoch stolz auf ihre Herkunft und Traditionen, all das, was die Umgebung ablehnt und verachtet, hegen und pflegen, AUFRECHTERHALTEN, genau so. Du und Pauline. Ja, es ist dieses Herdfeuer, die langsam leckende und zuckende Flamme, die scharfe Milch im roten Plastikbecher, an die du dich erinnerst. Ich mich jedoch nicht! Und so bist DU aus meiner verlorenen Vergangenheit herausgetreten, so bist DU all das, woran ich mich laut Pauline erinnern soll.

Wir überqueren den Rhein. Bald erreichen wir Bregenz.

Am Horizont, im Dunst, Silhouetten hoher Berge. Davor flaches, fruchtbares Land. Kleine Einfamilienhäuschen. Putzig. Sauber. Geordnet.

Mein Handy meldet, ich sei nun in Österreich. Keine Grenzkontrollen.

Vier junge Frauen vertilgen Berge von Croissants – ihr Vorrat und die Krümel sind unermesslich – und lesen Gratiszeitungen. Wie du. Langsam kauen und Gratiszeitungen lesen. Akribisch. Zeile um Zeile.

Wie du mir fehlst.

Meine Hände sind unruhig. Du magst es nicht. Und bittest mich, damit aufzuhören, an mir selbst herumzufummeln. Warum?

Mein Körper ist dein Körper.

Vergiss. Vergiss mich. Vergiss mich nicht.

Deine Selma

Lieber Diogo

Das Gepäck: Schokolade (Geschenke). Bücher. Ordner. Papiere. Kabel für Elektrogeräte. Laptoptasche. Laptop. Fotokamera. Videokamera. Sonnenbrille. Lesebrille. Agenda. Ausweise. Geldbeutel. Kulturbeutel. Kleider.

Schattenlose Strassen in Hohenems. Auf der Suche nach einem Restaurant: Bin ans Gepäck gebunden – der Koffer rollt schwer und kippt vom Bürgersteig, hängt an einem herausragenden Stein, einer Rille oder steckt in einem Loch –, der Rucksack wie ein klammerndes Affenbaby.

Wie oft trug ich Joel auf dem Rücken.

Nacken und Schultern hart, Hitze auf dem Gesicht, auf der Brust, am Rücken, am Bauch und in der Hose dieses klebrige Gefühl – wie Bettnässen. Vergeblich versuche ich, den Gedanken an frischen Wind, kaltes Bier oder den klimatisierten Zug wegzuschieben.

Und an unsere kühle, dämmrige Wohnung: Pauline hörte Radio und flickte mit ihrer Singer-Maschine alte Küchentücher, alles geflickt, immerzu hat sie alles gestopft und zugenäht und Zigaretten geraucht. Joel trug auch im Wohnzimmer seine Kopfhörer und besetzte während Stunden das Bad.

Ach! Joel!

Ich weiss, du fühlst dich schuldig, weil Joel bei dir ist, was dich glücklich macht, so wahnsinnig glücklich. Aber du hast Angst gehabt – schreist mich wegen Nichtigkeiten an, hörst nicht zu, legst grusslos auf oder läufst weg, ohne zu wissen wohin, läufst einfach weg –, deine Angst, ich rieche sie, ich fühle sie wie meine eigene – du hast Angst gehabt, ich könnte mich umentscheiden, die Reise absagen, die dir so überspannt erscheint, wie dir meine Familie schon immer ein Ärgernis gewesen ist – das kann ich verstehen –, du hast Angst gehabt, ich könnte alles abblasen und sagen: Joel! Bleibt bei mir!

Durst. Mir ist übel. Es fühlt sich unangenehm an. Wie zu laute Musik. Und doch rede ich mir ein, wie schön alles ist, wie aufregend: ein Abenteuer. Ein neues Leben. In Freiheit. Und vollständig auf mich gestellt.

Du und ich. Wir waren Freunde. Erwarteten ein Kind. Und ich hatte nicht den Mut, Pauline zu enttäuschen. Und den Gedanken an ein gemeinsames Leben – du und Pauline unter einem Dach – sprachen wir nicht aus. So undenkbar! So UNMÖGLICH! Ihr hättet euch umgebracht.

Du hattest in meinem Bauch ein Geschenk hinterlassen. Und ich kehrte zu Pauline zurück.

Was für mich das flimmernde Phantom einer alten, verbitterten Frau, ist für dich gelebte Realität einer grossen Familie: essen, trinken, schlafen, reden, lachen, streiten, schreien, seinen Platz kennen, seine Rolle spielen, nicht allein sein, ja, nicht allein sein, das ist wichtig, nicht allein sein, und deine Mutter trägt den Ziegenbraten (Cabrito Assado no Forno) vom Hof deines Cousins, mit Olivenöl (Azeite) aus dem Hain deines Grossonkels und dem Rosmarin (Alecrim) vom Balkon deiner Tante in der Kasserolle, die dein Vater in der Autowerkstatt deines Onkels zusammengeschweisst hat, ins Wohnzimmer, stellt ihn schwer atmend auf den Tisch, auch den mit Pinienkernen (Pinhões) von der Cousine bestückten Reis (Arroz), und keinem der Männer fällt der Schweiss auf, der ihr ins aufgesteckte Haar rinnt. Sie ist die Einzige, die an diesem verfluchten Sonntag etwas tut.

Da ist Paulines offene Marielouise-Wunde ein Dreck dagegen.

Sie zog Marielouise und später mich und Joel allein auf. Nun ist sie tot.

Und Joel bei dir.

Nicht weil wir oder die Umstände es erzwingen. Nein. Weil er es will.

Ich sehe dich vor mir, wie du die Schultern hochziehst, dich innerlich zur Faust ballst, versuchst, dich zu beherrschen, um Joel