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Der tschechisch-kanadische Wissenschaftler Vaclav Smil ist einer der weltweit führenden Experten für Energiefragen. In diesem Buch unterzieht er die Hoffnung auf eine schnelle Umstellung auf erneuerbare Energien einem Realitätscheck und konfrontiert die politiischen Ziele mit der wissenschaftlichen Realität. Dabei erinnert er daran, auf welchen materiellen Grundlagen unser modernes Leben beruht und wie abhängig wir bei ihrer Produktion bis auf Weiteres von fossilen Brennstoffen bleiben werden. Denn nicht Datenflüsse sind der harte Kern unserer Zivilisation, sondern so unaufregende Dinge wie Stahl, Zement, Ammoniak und Plastik. Wer die Welt verändern will, sollte erst verstehen, wie sie wirklich funktioniert. Die Menschheit hat so viel Wissen angehäuft wie noch nie in ihrer Geschichte. Doch für den Einzelnen werden immer mehr Geräte und Produkte unseres alltäglichen Lebens zu einer Art Blackbox. Wir können damit umgehen, aber verstehen nicht mehr, wie sie wirklichfunktionieren. Immer mehr Menschen haben zudem nur noch oberflächliche Vorstellungen davon, wie wir die Nahrungsmittel, Rohstoffe und Güter herstellen, auf denen unsere Gesellschaft materiell beruht. Dies führt zu Fehleinschätzungen, etwa der, wir könnten unsere Zivilisation in kurzer Zeit von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energien umstellen. Denn es geht nicht nur um eine nachhaltige Stromproduktion, sondern etwa auch um alternative Verfahren bei der Herstellung von Zement, Stahl, Plastik und Dünger. Technische Innovationen allein reichen nicht, sie müssen auch kommerziell funktionieren und weltweit implementiert werden – in hunderttausenden Fabriken und Produktionsstätten. Wer sich über die Zukunft unseres Planeten Gedanken macht, der sollte die Fakten kennen, die Vaclav Smil in diesem Buch liefert.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Vaclav Smil
Wie die Welt wirklich funktioniert
Die fossilen Grundlagen unserer Zivilisation und die Zukunft der Menschheit
Aus dem Englischen übersetzt von Karl Heinz Siber
C.H.Beck
Der tschechisch-kanadische Wissenschaftler Vaclav Smil ist einer der weltweit führenden Experten für Energiefragen. In diesem Buch unterzieht er die Hoffnung auf eine schnelle Umstellung auf erneuerbare Energien einem Realitätscheck und konfrontiert die politischen Ziele mit der wissenschaftlichen Realität. Dabei erinnert er daran, auf welchen materiellen Grundlagen unser modernes Leben beruht und wie abhängig wir bei ihrer Produktion bis auf Weiteres von fossilen Brennstoffen bleiben werden. Denn nicht Datenflüsse sind der harte Kern unserer Zivilisation, sondern so unaufregende Dinge wie Stahl, Zement, Ammoniak und Plastik. Und technische Innovationen allein reichen nicht, sie müssen auch kommerziell funktionieren und weltweit implementiert werden – in hunderttausenden Fabriken und Produktionsstätten. Wer sich über die Zukunft unseres Planeten Gedanken macht, der sollte die Fakten kennen, die Vaclav Smil in diesem Buch liefert. Denn wer die Welt verändern will, sollte erst verstehen, wie sie wirklich funktioniert.
«Ein neues Meisterwerk von einem meiner Lieblingsautoren. … Pflichtlektüre für jeden, der sich informiert über den Klimawandel äußern will.»
Bill Gates
«Dieses Buch bietet etwas, das sogar wertvoller ist als eine magische Formel zur Lösung unserer Probleme: Sie werden verstehen, warum es eine solche nicht gibt.»
Paul Collier
«Sie können Smil zustimmen oder ihm widersprechen … aber Sie können ihn nicht ignorieren.»
The Washington Post
Vaclav Smil ist Professor Emeritus für Umweltwissenschaften an der University of Manitoba. Er ist Autor von über 40 Büchern über Energie- und Umweltfragen, darunter das Grundlagenwerk Energy and Civilization. Von keinem anderen lebenden Wissenschaftler wurden mehr Bücher in Nature besprochen. Smil gilt als Bill Gates Lieblingswissenschaftler und wurde 2010 von Foreign Policy unter die Top 100 Global Thinkers gezählt.
Einleitung: Wozu dieses Buch?
1: Energie verstehen: Brennstoffe und Elektrizität
Fundamentale Entwicklungssprünge
Moderne Energienutzungen
Was ist Energie?
Aufstieg und relativer Rückfall des Rohöls
Die vielen Vorzüge der Elektrizität
Bevor Sie einen Schalter betätigen
Entkarbonisierung: Tempo und Umfang
2: Die Nahrungsmittelproduktion verstehen: Wie wir fossile Brennstoffe essen
Drei Täler, zwischen denen zwei Jahrhunderte liegen
Was hineingeht
Die Energiekosten von Brot, Hühnerfleisch und Tomaten
Meeresfrüchte mit Dieselöl im Gepäck
Brennstoff und Nahrung
Gibt es ein Zurück?
Mit weniger auskommen – und ganz verzichten
3: Unsere materielle Welt verstehen: Die vier Säulen der modernen Zivilisation
Ammoniak: das Gas, dass die Welt ernährt
Kunststoffe: divers, nützlich, problematisch
Stahl: allgegenwärtig und wiederverwertbar
Beton: eine aus Zement erschaffene Welt
Die materielle Perspektive: alte und neue Inputs
4: Die Globalisierung verstehen: Maschinen, Mikrochips und mehr
Frühgeschichtliche Anfänge der Globalisierung
Globalisierung mit Windeshilfe
Dampfmaschine und Telegraf
Erste Dieselmotoren, Motorflug, Funktechnik
Große Dieselaggregate, Turbinen, Container und Mikrochips
Auftritt China, Russland, Indien
Die Mehrfachen der Globalisierung
Der lange Arm von Moores Gesetz
Unausweichlichkeit, Rückschläge und Überdehnung
5: Risiken verstehen: Von Viren über Ernährungsweisen zu Magnetstürmen
Essen wie in Kyoto – oder wie in Barcelona
Risikowahrnehmungen und Toleranzen
Die Quantifizierung von Alltagsrisiken
Freiwillige und unfreiwillige Risiken
Naturkatastrophen: weniger lebensgefährlich, als sie auf dem Fernsehbildschirm aussehen
Untergang unserer Zivilisation
Vermeintliche Gewissheiten
6: Die Umwelt verstehen: Die einzige Biosphäre, die wir haben
Sauerstoff nicht in Gefahr
Werden wir genug Wasser und Nahrung haben?
Warum die Erde keinen permanenten Eispanzer hat
Wer hat die globale Erwärmung entdeckt?
Sauerstoff, Wasser und Nahrung in einer wärmeren Welt
Ungewissheiten, Verheißungen und Realitäten
Wunschdenken
Modelle, Zweifel und Realitäten
7: Die Zukunft verstehen: Zwischen Apokalypse und Singularität
Verfehlte Vorhersagen
Trägheit, Größenordnung und Masse
Ignoranz, Trägheit und Demut
Beispiellose Selbstverpflichtungen, verzögerte Belohnungen
Anhang
Zahlen verstehen: Größenordnungen
Dank
Anmerkungen
1. Energie verstehen: Brennstoffe und Elektrizität
2. Die Nahrungsmittelproduktion verstehen: Wie wir fossile Brennstoffe essen
3. Unsere materielle Welt verstehen: Die vier Säulen der modernen Zivilisation
4. Die Globalisierung verstehen: Maschinen, Mikrochips und mehr
5. Risiken verstehen: Von Viren über Ernährungsweisen zu Magnetstürmen
6. Die Umwelt verstehen: Die einzige Biosphäre, die wir haben
7. Die Zukunft verstehen: Zwischen Apokalypse und Singularität
Zahlen verstehen: Größenordnungen
Register
Jede Epoche darf von sich behaupten, einzigartig zu sein. Doch obgleich die Erfahrungen der letzten drei Generationen – also der Jahrzehnte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs – vielleicht nicht von so grundstürzenden Umwälzungen geprägt waren wie die der drei Generationen vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, mangelte es auch ihnen nicht an ungeahnten und unerhörten Geschehnissen und Fortschritten. Beeindruckender als alles andere ist, dass sich heute mehr Menschen eines höheren Lebensstandards erfreuen können – und das bei höherer Lebenserwartung und besserer Gesundheit – als das jemals zuvor in der Geschichte der Fall war. In den Genuss dieses Fortschritts kommt allerdings nur eine Minderheit (etwa ein Fünftel) der Weltbevölkerung, deren Zahl die Acht-Milliarden-Marke mittlerweile schon überschritten hat.
Ein zweiter Fortschritt, der Bewunderung verdient, ist die beispiellose Ausweitung unseres Wissens sowohl über die anorganische Welt als auch über alle Formen des Lebens. Unser Wissen erstreckt sich von umfassenden Theorien über komplexe Systeme auf kosmischer (Galaxien, Sterne) und planetarischer Ebene (Atmosphäre, Hydrosphäre, Biosphäre) bis zu Erkenntnissen im Bereich der Atome und Gene: Die in die Oberfläche der leistungsstärksten Mikroprozessoren geätzten Leiterbahnen haben nur noch ungefähr den doppelten Durchmesser eines menschlichen DNA-Strangs. Wir haben dieses Wissen in Ideen und Baupläne für ein immer weiter wachsendes Sortiment von Maschinen, Geräten, Verfahrensweisen, Protokollen und Interventionen übersetzt, die unsere Zivilisation am Laufen halten. Unser kollektives Wissen und die daraus hervorgegangenen technischen Anwendungen, die wir uns zunutze machen können, haben ein so enormes Ausmaß erreicht, dass kein einzelnes menschliches Gehirn in der Lage ist, mehr als einen kleinen Bruchteil davon zu überblicken.
Einem Universalgelehrten, wie die Renaissance ihn sich idealerweise vorstellte, konnte man auf der Piazza Signoria in Florenz im Jahr 1500 vielleicht noch begegnen, aber danach wohl nicht mehr lange. Mitte des 18. Jahrhunderts sahen sich zwei französische Gelehrte, Denis Diderot und Jean le Rond d’Alembert, noch in der Lage, unter Mitarbeit einer ausgewählten Gruppe kenntnisreicher Mitautoren das gesammelte Wissen ihres Zeitalters in ziemlich detailgenauen Artikeln zusammenzufassen und in einem vielbändigen Lexikon – Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers – zu publizieren. Nur wenige Generationen später hatten sich Umfang und Spezialisierungsgrad unseres Wissens bereits potenziert, nicht zuletzt dank grundlegender neuer Erkenntnisse und Entdeckungen in Bereichen wie der magnetischen Induktion (Michael Faraday 1831, Grundlage für die Erzeugung elektrischen Stroms), dem pflanzlichen Stoffwechsel (Justus von Liebig 1840, Grundlage für die Nutzpflanzendüngung) oder dem Elektromagnetismus (James Clerk Maxwell 1861, Grundlage sämtlicher Techniken der drahtlosen Kommunikation).
1872, ein Jahrhundert nach Erscheinen des letzten Bandes der Encyclopédie, waren Anthologien des menschlichen Wissens nur noch als provisorische Überblicke über ein sich in rascher Expansion befindliches Spektrum von Gegenständen denkbar, und heute, weitere eineinhalb Jahrhunderte später, ist es unmöglich geworden, den Stand unseres Wissens selbst innerhalb eng umschriebener Spezialdisziplinen zusammenzufassen – Rubriken wie «Physik» oder «Biologie» sind zu eher bedeutungslosen Etiketten geworden, sodass etwa ein Fachexperte für Teilchenphysik sich sehr schwer damit täte, auch nur die erste Seite eines neuen Forschungsberichts aus dem Bereich der viralen Immunologie zu verstehen. Dass diese Atomisierung unseres Wissens gesellschaftliche Entscheidungsprozesse zunehmend erschwert, liegt auf der Hand. Viele hochspezialisierte Teildisziplinen heutiger Naturwissenschaft sind so «exklusiv» geworden, dass viele, die sich ihnen verschreiben, zehn oder mehr Studienjahre benötigen, um sich den aktuellen Wissensstand zu erarbeiten und mit Anfang oder Mitte 30 die Aufnahme in den neuen Hohepriesterorden zu schaffen.
Auch wenn ihnen allen die lange Lehrzeit gemein ist, kommt es oft genug vor, dass sie sich nicht auf die beste Vorgehensweise einigen können. Wie im Verlauf der COVID-19-Pandemie deutlich wurde, können sich Meinungsverschiedenheiten zwischen Experten sogar auf scheinbar simple Fragen wie die nach dem Nutzen von Gesichtsmasken erstrecken. Ende März 2020, drei Monate nach Ausbruch der Pandemie, empfahl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Tragen einer Maske ausdrücklich nur infizierten Personen; die Kehrtwende hin zu einer allgemeinen Maskenempfehlung kam schon Anfang Juni 2020. Wie können Leute ohne einschlägiges Fachwissen aus solchen wissenschaftlichen Wendemanövern schlau werden, die heute oft damit enden, dass eine bis vor kurzem vorherrschende Lehrmeinung verworfen oder für überholt erklärt wird?
Dennoch, solche immer wieder auftretenden Ungewissheiten und Dispute dürfen nicht als Entschuldigung für das hochgradige Unverständnis der meisten Menschen für die grundlegende Funktionsweise der modernen Welt dienen. Eine zumindest ungefähre Ahnung davon, wie Weizen angebaut wird (Kapitel 2 dieses Buches) oder wie Stahl hergestellt wird (Kapitel 3), oder ein Wissen darum, dass die Globalisierung weder neu noch unvermeidlich ist (Kapitel 4), ist schließlich nicht dasselbe wie die Forderung, der Normalbürger müsse etwas von Femtochemie (der Lehre von chemischen Reaktionen in der zeitlichen Größenordnung von 10−15 Sekunden, Ahmed Zewail, Nobelpreis 1999) oder von Polymerase-Kettenreaktionen verstehen (dem schnellen Kopieren von DNA-Sequenzen, Kary Mullis, Nobelpreis 1993).
Warum haben die meisten Angehörigen moderner Gesellschaften aber dennoch so oberflächliche Kenntnis davon, wie die Welt wirklich funktioniert? Die Komplexität der modernen Welt bietet sich als Erklärung an: Menschen von heute interagieren ständig mit Artefakten vom Typ «Blackbox», Gerätschaften, die sich relativ leicht bedienen lassen und einen gewünschten Output liefern, ohne dass der Bediener versteht oder verstehen muss, was im Inneren des Geräts vor sich geht. Das gilt für so allgegenwärtige Geräte wie Handys oder Laptops (die uns nicht mehr abverlangen als das Eingeben einer einfachen Frage) ebenso wie für großangelegte Maßnahmen wie Imfpungen (für die das Jahr 2021 mit Sicherheit das beste Beispiel auf dem Planeten geliefert hat und wobei typischerweise das Hochkrempeln des Ärmels der einzige für jeden verständliche Teil war). Doch bei der Suche nach Erklärungen für dieses Verständnisdefizit sollten wir über den Gemeinplatz hinausgehen, dass die schiere Menge unseres Wissens uns zu einer Spezialisierung nötigt, deren Kehrseite eine zunehmende Verflachung unseres Verständnisses grundlegender Dinge ist.
Zwei wichtige Ursachen für dieses auf Ignoranz zustrebende Verständnisdefizit heißen Verstädterung und Mechanisierung. Seit 2007 lebt die Weltbevölkerung zu mehr als der Hälfte in Städten (in den reichen Ländern sogar mehr als 80 Prozent), wobei sich die Erwerbsarbeit in den modernen Großstädten, anders als in den großen Industrierevieren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, überwiegend im Dienstleistungssektor abspielt. Das führt dazu, dass die meisten heutigen Stadtbewohner jeden persönlichen Bezug nicht nur zur Erzeugung unserer Nahrungsmittel verloren haben, sondern auch zu der Art und Weise, wie wir unsere Maschinen und Geräte bauen. Die zunehmende Mechanisierung der industriellen Produktion hat zur Folge, dass heute nur noch ein sehr kleiner Teil der Weltbevölkerung mit der Bereitstellung der Rohstoffe, Treibstoffe und Gebrauchsgüter beschäftigt ist, aus denen sich unsere moderne Welt materiell zusammensetzt.
In den Vereinigten Staaten sind heute nur noch rund drei Millionen Männer und Frauen (als selbstständige Landwirte und Lohnarbeiter) unmittelbar in der Nahrungsmittelerzeugung tätig; sie sind es, die den Ackerboden umpflügen, Saat und Düngemittel ausbringen, Unkraut ausmerzen, die Ernte einbringen (wobei das Ernten von Obst, Beeren und Gemüse die arbeitsintensivsten Teilprozesse sind) und sich um das Vieh kümmern. Diese drei Millionen entsprechen weniger als einem Prozent der US-Bevölkerung, und somit ist es kein Wunder, dass die meisten Amerikaner keine – oder nur eine sehr ungefähre – Ahnung davon haben, wie die Brotschnitten und Wurstscheiben, die auf ihrem Teller landen, entstanden sind. Mähdrescher ernten Weizenkörner – aber ernten sie auch Sojabohnen oder Linsen? Wie lange dauert es, bis aus einem winzigen Ferkel ein Schweineschnitzel wird? Wochen oder Jahre? Die große Mehrzahl aller US-Amerikaner weiß das einfach nicht und steht damit bei weitem nicht allein da. In China wird mehr Stahl produziert als in irgendeinem anderen Land – fast eine Milliarde Tonnen wird dort pro Jahr erschmolzen, gegossen und gewalzt –, aber nicht einmal 0,25 Prozent der 1,4 Milliarden Chinesen sind daran beteiligt. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Bewohner Chinas wird sich jemals in der Nähe eines Hochofens aufhalten oder mit eigenen Augen das glutrote Band des heißen Stahls dahinfließen sehen. Und diese Abgehobenheit finden wir überall auf der Welt.
Der zweite Hauptgrund für das schwache und weiter nachlassende Verständnis der grundlegenden Prozesse, mit denen wir Energie (in Form von Nahrungsmitteln oder Brennstoffen) und Baumaterialien (Metalle, nichtmetallische Mineralien oder Beton) erzeugen, liegt darin, dass sie das Image bekommen haben, unmodern, wenn nicht sogar obsolet geworden zu sein, jedenfalls ausgesprochen uncool im Vergleich zur Welt der Medien, Informationen, Daten und Bilder. Die sprichwörtlichen «besten Köpfe» widmen sich heutzutage nicht der Bodenkunde und entwickeln nicht den Ehrgeiz, bessere Zementsorten zu entwickeln; sie fühlen sich stattdessen zur Beschäftigung mit körperloser Information hingezogen, die heute durch elektronische Stromflüsse in Myriaden von kleinformatigen Endgeräten verarbeitet werden. Von Anwälten und Ökonomen zu Programmierern und Finanzmanagern, sie alle verdienen unverhältnismäßig viel Geld mit Tätigkeiten, die meilenweit von den materiellen Realitäten des Lebens auf der Erde entfernt sind.
Damit nicht genug, sind viele dieser Datenjünger zu der Überzeugung gelangt, die besagten Elektronenströme könnten an die Stelle jener verschrobenen alten materiellen Notwendigkeiten treten und sie obsolet machen, Ackerflächen könnten durch «hängende Gärten» an den Fassaden städtischer Hochhaustürme ersetzt werden, und synthetische Produkte könnten irgendwann den Anbau von Nahrungsmitteln überflüssig machen. Könnte nicht eine Entmaterialisierung, vorangetrieben durch künstliche Intelligenz, unsere Abhängigkeit von geformten Metallstrukturen und verarbeiteten Mineralien beenden, und könnten wir schlussendlich vielleicht sogar ohne unsere irdische Umwelt auskommen – wer bräuchte sie noch, wenn es uns gelänge, den Mars bewohnbar zu machen? All das sind natürlich vollkommen anachronistische Utopien, Phatasmagorien aus dem Schoß einer Gesellschaft, in der Fake News alltäglich geworden sind und in der Realität und Fiktion sich so eng ineinander verschlingen, dass leichtgläubige Geister, anfällig für kultische visionäre Ausgeburten, Dingen Glauben schenken, die klarsichtigere Beobachter in früheren Zeiten gnadenlos als grenzwertig oder gar als Wahnvorstellungen gebrandmarkt hätten.
Kein Leser dieses Buches wird seinen Wohnsitz auf den Mars verlegen; wir alle werden uns weiterhin von «Mehlspeisen» ernähren, deren Rohstoffe auf landwirtschaftlichen Flächen angebaut werden, und nicht an den Fassaden von Wolkenkratzern, wie sich das die Propheten der sogenannten urbanen Landwirtschaft vorstellen; keiner von uns wird in einer entmaterialisierten Welt leben, die keinen Bedarf mehr hätte an so unersetzlichen Dienstleistungen der Natur wie verdunstendem Wasser oder Pollen verbreitenden Pflanzen. Diese existenziellen Notwendigkeiten bereitzustellen, wird sich jedoch als zunehmend schwieriger erweisen, weil ein großer Teil der Menschheit nach wie vor in Verhältnissen lebt, die die wohlhabende Minderheit schon vor Generationen hinter sich gelassen hat, und weil die wachsende Nachfrage nach Energie und Rohstoffen die Biosphäre so stark und beschleunigt belastet, dass wir ihre Fähigkeit, ihre Vorräte und ihren Stoffwechsel in einem mit ihrer langfristigen Funktionsfähigkeit zu vereinbarenden Gleichgewicht zu halten, bis an die Grenze austesten.
Um das mit einem einzigen aussagekräftigen Vergleich zu illustrieren: Im Jahr 2020 lag der Pro-Kopf-Energieverbrauch bei rund zwei Fünfteln der Weltbevölkerung (3,1 Milliarden Menschen, darunter fast alle Bewohner des südlich der Sahara gelegenen Afrika) in derselben Größenordnung wie in Deutschland und Frankreich im Jahr 1860! Wenn diese 3,1 Milliarden Menschen zu einem menschenwürdigen Lebensstandard aufschließen sollen, werden sie ihren Pro-Kopf-Energieverbrauch mindestens verdoppeln, besser jedoch verdreifachen müssen, was einhergehen würde mit einer Vervielfachung ihres Stromverbrauchs, einer Steigerung ihrer Nahrungsmittelproduktion und mit der Errichtung grundlegender städtischer, industrieller und dem Transport dienender Infrastrukturen. Die Umsetzung dieser Vorgaben würde jedoch weiter steigende Belastungen der Biosphäre nach sich ziehen.
Und wie werden wir mit dem im Gang befindlichen Klimawandel umgehen? Es besteht mittlerweile ein breiter Konsens darüber, dass wir irgendetwas tun müssen, um viele höchst unerträgliche Konsequenzen abzufangen, doch welche Maßnahmen, welche Verhaltensänderungen wären die zweckmäßigsten? Diejenigen, die die energetischen und materiellen Imperative unserer Welt ignorieren, die lieber das Mantra ihrer grünen Lösungen verkünden, als zu erforschen, wie wir an diesen Punkt gekommen sind, tun sich leicht mit der Antwort: Einfach CO2-Neutralität herstellen – vom Verbrennen fossilen Kohlenstoffs umschalten auf die Nutzung unerschöpflicher Ressourcen an erneuerbarer Energie. Der große Haken dabei: Wir sind eine von fossilen Brennstoffen angetriebene Zivilisation, deren wissenschaftlicher und technischer Fortschritt, deren Lebensqualität und deren Wohlstand auf der Verbrennung riesiger Mengen fossilen Kohlenstoffs basieren, und wir können uns von dieser entscheidenden Determinante unserer Laufbahn auf Erden nicht einfach binnen weniger Jahrzehnte, geschweige denn Jahre, verabschieden.
Eine vollständige Entkarbonisierung der Weltwirtschaft bis 2050 ist aus heutiger Sicht nur vorstellbar um den Preis einer globalen wirtschaftlichen Schrumpfung in einer unvorstellbaren Größenordnung oder als Resultat außerordentlich rapider Transformationen auf der Basis fast märchenhafter technischer Fortschritte. Wer aber würde vorsätzlich das Erstere einleiten, solange es uns an einer überzeugenden, praktikablen, bezahlbaren globalen Strategie und an den technischen Mitteln fehlt, Letzteres zu bewerkstelligen? Mit welcher Entwicklung ist zu rechnen? Die Kluft zwischen Wunschdenken und Realität ist sehr weit, aber in einer demokratischen Gesellschaft kann kein Wettstreit der Ideen und Konzepte in rationaler Weise ablaufen, ohne dass alle Seiten ein Mindestmaß relevanter Informationen über die reale Weltlage miteinander teilen, anstatt nur ihre jeweils eigenen Dogmen vor sich her zu tragen und Forderungen zu stellen, die jeder physikalischen Machbarkeit entrückt sind.
Ich unternehme mit diesem Buch den Versuch, das Verständnisdefizit zu reduzieren, indem ich einige der grundlegenden Realitäten, die über unser Überleben und unseren Wohlstand entscheiden, erkläre. Dabei geht es mir nicht darum, Voraussagen zu machen oder irgendwelche sensationellen oder bedrückenden Szenarien dessen, was auf uns zukommt, zu skizzieren. Es besteht keine Notwendigkeit, dieses populäre, aber ständig Fehlschläge produzierende Genre zu bedienen. Auf lange Sicht kommen einfach zu viele unerwartete Entwicklungen und zu viele komplexe Interaktionen ins Spiel, die kein Einzelner und keine Arbeitsgruppe zu antizipieren vermag. Ich werde auch keine spezifischen (voreingenommenen) Interpretationen der Realität anbieten, weder solche, die Verzweiflung, noch solche, die grenzenlose Erwartungen wecken. Ich bin weder Pessimist noch Optimist; ich bin Naturwissenschaftler und bemüht, zu erklären, wie die Welt wirklich funktioniert. Ich hoffe, dass ich auf diese Weise Einsichten vermitteln kann, die einen Beitrag zu einer realistischeren Einschätzung unserer künftigen Grenzen und Möglichkeiten leisten können.
Zwangsläufig muss bei dieser Art der Erkenntnisvermittlung eine Auswahl getroffen werden; die sieben Schlüsselthemen, die ich in diesem Buch eingehend behandle, gehören in die Kategorie der existenziellen Unabdingbarkeit – kein Thema ist nur «aus Lust und Laune» aufgenommen worden. Im ersten Kapitel zeige ich auf, wie unsere energieintensiven Gesellschaften im Lauf der Zeit ihre Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen im Allgemeinen und von elektrischem Strom, unserer flexibelsten Energieform, im Besonderen stetig erhöht haben. Die Einsicht in diese Realitäten fungiert als dringend benötigtes Korrektiv zu der mittlerweile weit verbreiteten (auf einem unzureichenden Verständnis komplexer Realitäten basierenden) Überzeugung, wir könnten die weltweite Energieversorgung in Windeseile entkarbonisieren und würden nur zwei oder drei Jahrzehnte brauchen, um den Übergang zu einer vollständig aus erneuerbaren Quellen schöpfenden Energieversorgung zu schaffen. Während wir einen zunehmenden Teil unserer Stromerzeugung den «neuen Erneuerbaren» (Fotovoltaik und Wind in Ergänzung zur seit langem etablierten Wasserkraft) anvertrauen und mehr Elektroautos auf die Straße bringen, wird sich die Dekarbonisierung des Straßengüter-, des Luft- und des Seefrachtverkehrs als die sehr viel größere Herausforderung entpuppen. Dasselbe gilt für das Vorhaben, unverzichtbare Materialien ohne Rückgriff auf fossile Brennstoffe zu erzeugen.
Das zweite Kapitel handelt von der fundamentalen Voraussetzung für unser Überleben: von der Erzeugung unserer Nahrungsmittel. Es geht dabei vor allem darum, darzulegen, wie viel wir wovon zum Überleben brauchen, sei es von Weizen, Tomaten oder Krabben. Der gemeinsame Nenner ist dabei ein substantieller, direkter und indirekter Bedarf an fossilen Treibstoffen. Die Einsicht in unsere fundamentale Abhängigkeit von fossilen Treibstoffen führt zu einem realistischen Verständnis unseres fortgesetzten Bedarfs an fossilem Kohlenstoff: Es ist relativ leicht möglich, elektrischen Strom mit Windturbinen oder Solarzellen anstatt durch Verbrennung von Kohle oder Erdgas zu erzeugen, aber sehr viel schwieriger, sämtliche landwirtschaftlichen Fahrzeuge und Maschinen ohne fossilen Flüssigtreibstoff zu betreiben oder sämtliche Düngemittel und andere Agrochemikalien ohne Rückgriff auf Erdgas und Erdöl zu erzeugen. Kurz: Es wird auf Jahrzehnte hinaus nicht möglich sein, ohne Einsatz fossiler Energieträger und Rohstoffe die Bevölkerung unseres Planeten zu ernähren.
Das dritte Kapitel erklärt, wie und weshalb der Fortbestand unserer Gesellschaft auf Materialien beruht, die wir dem menschlichen Erfindergeist verdanken. Das Schwergewicht liegt dabei auf dem, was ich als die vier tragenden Säulen der modernen Zivilisation bezeichne: Ammoniak, Stahl, Beton und Kunststoff. Wer diese Realitäten zur Kenntnis nimmt, wird sich nicht mehr so leicht von den neuerdings in Mode gekommenen Behauptungen über eine Entmaterialisierung moderner Volkswirtschaften durch die zunehmende Dominanz von Dienstleistungen und Mikroelektronik in die Irre führen lassen. Die Entwicklung hin zu einem relativ geringeren Materialbedarf pro Stück bei vielen Endprodukten ist eines der kennzeichnenden Merkmale der im Gang befindlichen industriellen Modernisierung. Doch in absoluten Zahlen steigt der Materialverbrauch selbst in den reichsten Überflussgesellschaften weiter an, und das gilt erst recht in den vielen noch weit von einem Überfluss entfernten Ländern, in denen der Besitz einer solide gebauten Wohnung, komfortabler Küchengeräte oder einer Klimaanlage (gar nicht zu reden von einem Auto) für Milliarden Menschen nach wie vor ein unerfüllter Traum ist.
Das vierte Kapitel erzählt die Geschichte der Globalisierung – wie die Menschheit es bewerkstelligt hat, die Erde mit einem dichten Netz an Verkehrswegen und Kommunikationskanälen zu überziehen. In der historischen Rückschau zeigt sich, wie viele Jahrhunderte (oder gar Jahrtausende) die Anfänge dieses Prozesses zurückreichen und vor wie kurzer Zeit er seine höchste – und zu guter letzt wahrhaft globale – Ausdehnung erreicht hat. Und wie bei näherem Hinsehen deutlich wird, ist nichts an dem zukünftigen Verlauf dieses zwiespältig beäugten (hochgelobten, oft in Frage gestellten, stark kritisierten) Phänomens unvermeidlich. In jüngster Zeit waren weltweit einige eindeutige Rückzugsbewegungen und ein genereller Trend in Richtung Populismus und Nationalismus zu beobachten, wobei aber nicht klar ist, wie weit das führen wird oder in welchem Ausmaß diese Entwicklungen durch die kombinierte Einwirkung wirtschaftlicher, sicherheitspolitischer und staatspolitischer Erwägungen revidiert werden könnten.
Das fünfte Kapitel liefert einen realistischen Bezugsrahmen für die Beurteilung der Risiken, vor denen wir stehen: Moderne Gesellschaften haben es geschafft, viele ehemals lebensbedrohende oder krankmachende Risiken – zum Beispiel die Kinderlähmung oder das Kindbettfieber – zu beseitigen oder abzumildern, doch viele Gefährdungen werden uns für immer erhalten bleiben, und es unterlaufen uns immer wieder falsche Risikoabschätzungen, indem wir drohende Gefahren entweder unter- oder überschätzen. Nach der Lektüre dieses Kapitels werden Sie in der Lage sein, die relativen Risiken vieler alltäglicher unfreiwilliger Gefährdungen und selbstgewählter Gefahrensituationen vernünftig einzuschätzen – vom Unfall im eigenen Haus bis zur interkontinentalen Flugreise, vom Leben in einer taifunbedrohten Stadt bis zum Fallschirmspringen. Und nachdem wir den von der Diätbranche verbreiteten Unsinn offengelegt haben, werden wir eine Reihe von Optionen für eine Ernährungsweise erkennen, die uns helfen können, länger zu leben.
Das sechste Kapitel wirft zunächst einen Blick darauf, wie einige in Gang gekommene Veränderungen unserer Umwelt unsere drei existenziellen Lebensgrundlagen beeinflussen könnten: Sauerstoff, Wasser und Ernährung. Im weiteren Verlauf des Kapitels werden wir uns der globalen Erwärmung widmen, also der Entwicklung, die im Zentrum der derzeitigen umweltpolitischen Besorgnisse steht und zwei gegensätzliche Denkschulen befeuert: einen neuen, fast apokalyptisch auftretenden Katastrophismus auf der einen und eine Art Trotzreaktion auf der anderen Seite, die bestreitet, dass es eine Erderwärmung gibt. Anstatt diese kontroversen Positionen zu beschreiben und zu beurteilen (was schon in zu vielen Büchern gemacht worden ist), werde ich herausarbeiten, dass dies anders, als weithin geglaubt wird, kein neu entdecktes Phänomen ist: Wir kennen die Grundparameter dieses Prozesses schon seit mehr als 150 Jahren.
Um wieviel Grad sich die Erdatmosphäre erwärmt, wenn sich der CO2-Anteil in der Luft verdoppelt, wissen wir seit mehr als 100 Jahren, und die ersten Warnungen vor den Folgen dieses beispiellosen (und unwiederholbaren) planetarischen Experiments sind vor mehr als einem halben Jahrhundert ertönt. (Kontinuierliche und präzise Messungen des CO2-Gehalts begannen 1958.) Wir entschieden uns jedoch dafür, diese Erklärungen, Warnungen und Messergebnisse zu ignorieren. Stattdessen haben wir die Nutzung fossiler Treibstoffe vervielfacht und sind in eine Abhängigkeit von ihnen hineingeschlittert, aus der es keinen leichten oder preiswerten Ausstieg gibt. Wie schnell wir das Ruder herumreißen können, bleibt unklar. Denkt man sich all die anderen umweltbezogenen Probleme hinzu, kommt man unweigerlich zu dem Schluss, dass es auf die existenzielle Schlüsselfrage – kann die Menschheit ihre Bestrebungen verwirklichen, ohne die Leistungsfähigkeit unserer Biosphäre überzustrapazieren? – keine leichten Antworten gibt. Es ist jedoch dringend notwendig, dass wir uns auf dem Boden wohlverstandener Tatsachen bewegen. Nur dann können wir das Problem mit Aussicht auf Erfolg in Angriff nehmen.
Im Schlusskapitel werde ich einen Blick in die Zukunft werfen, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der gegenwärtig aufeinanderprallenden Trends: des Hanges zum Katastrophismus, verkörpert von denen, die behaupten, es blieben uns nur noch ein paar Jahre, bis sich der letzte Vorhang über die moderne Zivilisation senkt, und der Werbung für einen Techno-Optimismus, verbreitet von denen, die überzeugt sind, dass die Zauberkräfte der technischen Innovation grenzenlose Horizonte (auch jenseits des Erdkreises) erschließen werden, wodurch alle unsere irdischen Probleme und Herausforderungen zu unbedeutenden Kapiteln einer fortdauernden Erfolgsgeschichte würden. Wie kaum anders zu erwarten, weiß ich mit keiner dieser Positionen viel anzufangen, und ich vermute, dass meine Sichtweise bei den Anhängern beider Doktrinen auf wenig Gegenliebe stoßen wird. Ich kann nicht erkennen, dass uns ein dramatischer Umbruch in die eine oder andere Richtung unmittelbar bevorsteht; ich sehe keine bereits feststehenden Ergebnisse, sondern viel eher einen kurven- und hindernisreichen Parcours mit einem von unseren – ganz und gar nicht alternativlosen – Entscheidungen abhängigen Verlauf.
Dieses Buch basiert auf zwei Grundfesten: zahllosen naturwissenschaftlichen Befunden und einem halben Jahrhundert eigener wissenschaftlicher und publizistischer Tätigkeit. Zu Ersterem gehören klassische wissenschaftliche Beiträge wie die Pionierarbeiten des 19. Jahrhunderts über Energieumwandlungen und Treibhausgase bis hin zu den neuesten Erkenntnissen über globale Herausforderungen und Risikowahrscheinlichkeiten. Ich hätte dieses einen weiten Bogen schlagende Buch nicht schreiben können ohne die Jahrzehnte meines interdisziplinären Lernens, dessen Destillate sich in meinen vielen anderen Büchern niedergeschlagen haben. Anstatt auf den antiken Vergleich zwischen Fuchs und Igel zu rekurrieren – ein Fuchs hat viele Fertigkeiten, dagegen versteht sich der Igel auf eine einzige große Sache –, stelle ich mir moderne Naturwissenschaftler entweder als Leute vor, die immer tiefere Löcher bohren (heute der bevorzugte Weg zum Ruhm), oder als Denker, die weite Horizonte absuchen (eine heute stark dezimierte Gruppe).
Das denkbar tiefste Loch zu bohren und der unübertroffen beste Kenner eines winzigen Stücks Himmel zu sein, das vom Grund dieses Lochs aus sichtbar ist, hat mich nie gereizt. Ich habe es immer vorgezogen, meinen Blick so weit schweifen zu lassen, wie meine begrenzten Fähigkeiten es mir gestattet haben. Mein Hauptinteresse hat mein ganzes Leben lang der Beschäftigung mit Energie gegolten, nicht zuletzt weil man, wenn man zu einer befriedigenden Durchdringung dieses breiten Wissensgebiets gelangen will, physikalische, chemische, biologische, geologische und technische Kenntnisse besitzen und miteinander kombinieren muss und in Ergänzung dazu auch etwas über Geschichte und über gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Faktoren wissen sollte.
Fast die Hälfte meiner inzwischen mehr als 40 (in der Mehrzahl akademisch ausgerichteten) Bücher befasst sich mit diversen Aspekten von Energie – angefangen von breit gefächerten Übersichten über wichtige Kapitel in der Geschichte der Energieforschung über Arbeiten, die sich mit einzelnen Brennstofftypen (Öl, Erdgas, Biomasse) befassten, bis hin zu Studien über spezielle energetische Qualitäten und Prozesse (Energiedichte, Energieumwandlungen). Meine übrigen Veröffentlichungen verraten mein großes Interesse an interdisziplinären Fragestellungen: Ich habe über fundamentale Phänomene wie Wachstum – in allen seinen natürlichen und anthropogenen Gestaltungen – und Risiko geschrieben, über die globale Umwelt (die Biosphäre, biogeochemische Zyklen, globale Ökologie, photosynthetische Produktivität und Techniken des Erntens), über Nahrungsmittel und Landwirtschaft, Materialien (vor allem Stahl und Düngemittel), den technischen Fortschritt, den Siegeszug und Rückgang des Fabrikwesens, nicht zu vergessen meine Schriften über altrömische und moderne amerikanische Geschichte sowie über die japanische Küche.
Zwangsläufig ist dieses Buch – die Summe meiner Lebensarbeit und ausdrücklich für eine allgemeine Leserschaft bestimmt – die Fortsetzung meines jahrzehntelangen Strebens nach einem profunden Verständnis der grundlegenden Realitäten unserer Biosphäre, unserer Geschichte und der Welt, die wir geschaffen haben. Und es hat denselben Impetus, von dem ich mich in all diesen Jahrzehnten habe leiten lassen: Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, extreme Anschauungen hinter sich zu lassen. Jüngere (und zunehmend schrillere oder zunehmend frivolere) Befürworter extremer Positionen werden enttäuscht sein: Sie werden in diesem Buch weder Lamentos über den einsetzenden Untergang unserer Welt im Jahr 2030 finden noch schwärmerische Beschwörungen der wundersamen transformativen Kraft künstlicher Intelligenz, die früher zur Reife kommen wird, als wir denken. Was dieses Buch vielmehr versucht, ist die Bereitstellung einer Wissensgrundlage, von der aus wir mit mehr Augenmaß, wenn auch notwendigerweise ohne Gewissheiten, nach vorne schauen können. Ich hoffe, meine rationale, faktenbasierte Herangehensweise wird den Lesern helfen, zu verstehen, wie die Welt wirklich funktioniert und wie unsere Chancen stehen zu erleben, dass sie den nach uns kommenden Generationen bessere Aussichten bietet.
Bevor Sie in die Kapitel mit ihren jeweiligen Themenschwerpunkten eintauchen, möchte ich ihnen eine Warnung mitgeben, die gleichzeitig auch eine Bitte ist. Es wimmelt in diesem Buch von Zahlen, weil die Realitäten der modernen Welt sich mit qualitativen Beschreibungen allein nicht erfassen lassen. Viele in diesem Buch vorkommende Zahlen sind zwangsläufig entweder sehr groß oder sehr klein, und solche Realitäten lassen sich am besten anhand von unterschiedlichen Größenordnungen beschreiben, ausgedrückt in Zehnerpotenzen bzw. den mit ihnen korrespondierenden, global gültigen Präfixen (z.B. Kilo-, Mega- oder Giga-). Sollten Sie mit diesen numerischen Konventionen nicht vertraut sein, können Sie den «Anhang zum Verständnis großer und kleiner Zahlen» zu Rate ziehen – für manche Leser könnte es, so gesehen, nützlich sein, mit der Lektüre dieses Buches hinten zu beginnen. Ansonsten treffen wir uns in Kapitel 1, um uns einen profunden, auf Zahlen beruhenden Einblick in die Welt der Energie zu verschaffen. Es ist dies eine Herangehensweise, die tunlichst nie aus der Mode kommen sollte.
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Stellen Sie sich ein harmloses Science-Fiction-Szenario vor: keine kosmische Reise zu fernen Planeten auf der Suche nach Leben, sondern eine Geschichte, in der die Erde und ihre Bewohner von einer außerirdischen, technisch überlegenen Zivilisation, die nahegelegene Galaxien erkundet, fernüberwacht wird. Warum tun die das? Einfach nur aus wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse, vielleicht aber auch, um potenziell gefährliche Überraschungen zu antizipieren, falls der in drittnächster Bahn um einen nicht weiter bemerkenswerten Stern in einer Spiralgalaxie umlaufende Planet zu einer Gefahrenquelle wird, oder vielleicht auch für den Fall, dass sie einmal ein zweites Habitat brauchen. Die Bewohner des fernen Planeten machen sich also periodische Protokollnotizen über die Erde.
Stellen wir uns vor, dass eine von ihnen ausgesandte Sonde alle 100 Jahre einmal unseren Planeten in Augenschein nimmt und dass diese Sonde so programmiert ist, dass sie einen zweiten Vorbeiflug (um genauer hinzuschauen) nur dann macht, wenn sie eine bis dahin nicht registrierte Energieumwandlung – von einer Energieform in eine andere – oder ein neues, auf einer solchen Umwandlung basierendes physikalisches Phänomen feststellt. In grundlegenden physikalischen Begriffen lässt sich jeder Prozess – Regen, ein Vulkanausbruch, Pflanzenwachstum, das Beuteschlagen eines Tieres, die Evolution der menschlichen Intelligenz – als eine Abfolge von Energieumwandlungen definieren, doch in den ersten paarhundert Millionen Jahren nach Entstehung der Erde hätten die Sonden immer nur dasselbe, letzten Endes monotone Wechselspiel von Vulkanausbrüchen, Erdbeben und atmosphärischen Wirbeln beobachtet.
Die ersten Mikroorganismen erscheinen auf der Erde vor knapp 4 Milliarden Jahren, werden aber von vorbeifliegenden Sonden nicht detektiert, da sie Ausnahmeerscheinungen sind und verborgen bleiben, treten sie doch zunächst nur in der Umgebung alkalischer hydrothermischer Schlote am Meeresboden auf. Der erste Anlass für eine nähere Inspektion ergibt sich immerhin schon vor 3,5 Milliarden Jahren, als eine vorbeifliegende Sonde die ersten einfachen, einzelligen photosynthetisch aktiven Mikroben in seichtem Meerwasser entdeckt: Sie absorbieren Lichtstrahlen im Bereich unmittelbar vor dem Infrarot-Spektrum – direkt anschließend an das fürs menschliche Auge sichtbare Spektrum – und produzieren keinen Sauerstoff.[1] Weitere Hunderte Millionen Jahre vergehen ohne sichtbare Veränderungen, bis Cyanobakterien auftauchen, die die Energie des sichtbaren Sonnenlichts nutzen, um CO2 und Wasser in neue organische Baustoffe zu verwandeln, und dabei Sauerstoff freisetzen.[2]
Das ist ein radikaler Entwicklungsschritt, der zur Entstehung der sauerstoffhaltigen Erdatmosphäre führen wird, doch vergeht eine lange Zeit, ehe rund 1,2 Milliarden Jahre vor unserer Zeit neue, komplexere aquatische Organismen entstehen und die Sonden die Ausbreitung intensiv rot leuchtender Algen, die ihre Farbe dem photosynthetischen Pigment Phycoerythrin verdanken, und einer sehr viel größeren, braunen Algenart registrieren. Grüne Algen erscheinen erst eine knappe halbe Milliarde Jahre später, und als Reaktion auf das neuartige Wuchern von Meerespflanzen werden die Sonden mit besseren Sensoren ausgerüstet, die auch den Meeresboden absuchen können. Das zahlt sich insofern aus, als die Sonden mehr als 600 Millionen Jahre vor unserer Zeit eine weitere epochale Entdeckung machen: Sie registrieren die Existenz der ersten aus unterschiedlich gearteten Zellen zusammengesetzten Organismen. Diese flachen, weichen, bodenlebenden Geschöpfe (heute bekannt als Ediacara-Fauna, benannt nach ihrem australischen Lebensraum) sind die ersten primitiven Tiere, die für ihren Stoffwechsel Sauerstoff benötigen; im Gegensatz zu Algen, die von Wellen und Wasserströmungen bewegt werden, können sie sich aus eigener Kraft fortbewegen.[3]
Im weiteren Verlauf beginnen die Sonden Entwicklungsschritte zu dokumentieren, die vergleichsweise schnell aufeinander folgen: anstatt über leblose Kontinente zu fliegen und hunderte Millionen Jahre zu warten, bis ein weiterer epochaler Umbruch sichtbar wird, beginnen sie die anschwellenden, brechenden und auslaufenden Wellen der Entstehung, Verbreitung und des Aussterbens einer Vielzahl unterschiedlichster Arten zu protokollieren. Dieses Kapitel der Erdgeschichte beginnt mit der kambrischen Artenexplosion kleiner Meeresgrundbewohner (vor 541 Millionen Jahren, mit den Trilobiten als anfänglich dominierender Gattung) und setzt sich fort mit dem Erscheinen der ersten Fische, Amphibien, landlebenden Pflanzen und vierbeinigen (und deshalb ausnehmend beweglichen) Tiere. Immer wieder sterben Arten aus, was die Vielfalt der Lebensformen reduziert, manchmal fast auf null, und noch vor gerade einmal sechs Millionen Jahren finden die Sonden keinen eindeutig den Planeten dominierenden Organismus.[4] Nicht lange danach hätten die Sonden beinahe die Bedeutung einer mechanischen Weichenstellung mit enormen energetischen Implikationen übersehen: Viele vierbeinige Tierarten gehen dazu über, sich aufzurichten und kurz auf den Hinterbeinen zu stehen oder unbeholfen auf zwei Beinen zu laufen; vor mehr als vier Millionen Jahren wird diese Fortbewegungsweise zur Norm für kleine affenartige Kreaturen, die beginnen, mehr Zeit am Boden als auf Bäumen zu verbringen.[5]
Die zeitlichen Abstände zwischen der Entdeckung berichtenswerter Veränderungen, die die Sonden an ihren Heimatplaneten melden, sind inzwischen von Hunderten Jahrmillionen auf bloß noch hunderttausende Jahre geschrumpft. Schließlich gelingt den Nachfahren dieser frühen Zweibeiner (wir klassifizieren sie als Hominini, also der Gattung Homo angehörend, Glieder einer langen Kette unserer Vorfahren) etwas, das ihren Aufstieg zur planetarischen Dominanz vorantreibt: Vor etlichen hunderttausend Jahren beobachten die Sonden der Außerirdischen die erste extrasomatische – nicht körpereigene – Nutzung von Energie: Einige dieser aufrecht Gehenden lernen den Umgang mit Feuer und beginnen, es planvoll zu nutzen, um Nahrung zu kochen, Wärme zu erzeugen und sich vor Feinden zu schützen.[6] Bei dieser kontrollierten Verbrennung wird die chemische Energie von Pflanzen in Wärme und Licht umgewandelt. Die Hominini erwerben auf diese Weise die Fähigkeit, zuvor schwerverdauliche Nahrung zu verwerten, in kalten Nächten ihre Unterkunft warm zu halten und gefährliche Tiere fernzuhalten.[7] Das sind die ersten Schritte auf dem Weg, der zu einem nie gekannten Grad an Gestaltungs- und Steuerungsmacht führen wird.
Dieser Trend beschleunigt sich mit der nächsten epochalen Weichenstellung, dem Übergang zum Ackerbau. Vor rund 10.000 Jahren registrieren die Sonden erstmals Flächen, auf denen planvoll kultivierte Pflanzen wachsen: Ein kleiner Teil der auf der Erde stattfindenden Photosynthese wird nunmehr von Menschen gesteuert und manipuliert, die Nutzpflanzen domestizieren – auswählen, pflanzen, versorgen und ernten –, um einen zeitversetzten Nutzen aus ihnen zu ziehen.[8] Die erste Domestizierung von Tieren lässt danach nicht lange auf sich warten. Bis dahin waren menschliche Muskeln die einzigen primären Kraftüberträger, das heißt Umwandler chemischer (in Nahrung gespeicherter) Energie in kinetische (mechanische), Arbeit leistende Energie. Die Domestizierung arbeitsfähiger Tiere, beginnend vor rund 9000 Jahren mit der Zähmung von Rindern, ermöglicht erstmals die Nutzung nicht-menschlicher Muskelkraft – die Tiere werden bei der Feldarbeit eingesetzt, für das Wasserschöpfen aus Brunnen, als Zugtiere beim Lastentransport und als persönliche Transportvehikel.[9] Erst viel später kommen die ersten nicht-biologischen Kraftüberträger: Segel vor über 5000 Jahren, Wasserräder vor über 2000 Jahren, Windmühlen vor über 1000 Jahren.[10]
Eine Zeit lang gibt es für die Sonden nicht mehr viel zu registrieren, denn es schließt sich eine weitere Periode einer (relativ) trägen Entwicklung an: Jahrhundert um Jahrhundert stehen im Zeichen von Wiederholung, Stagnation oder bestenfalls einer schleppenden Weiterentwicklung und Verbreitung dieser mittlerweile altbewährten Energie-Konversionen. In Amerika und Australien wird, da man dort weder Zugtiere noch andere einfache mechanische Kraftüberträger kennt, vor der Ankunft der Europäer Arbeit einzig und allein von menschlichen Muskeln geleistet. Dagegen leisten in einigen vorindustriellen Regionen der Alten Welt eingespannte Tiere, der Wind und fließendes oder fallendes Wasser einen bedeutenden Beitrag zum Mahlen von Getreide, zum Pressen von Ölen und zur Schmiedearbeit. Zugtiere werden zu einem unersetzlichen Werkzeug für schwere Feldarbeiten wie vor allem das Pflügen, für den Warentransport und für den Krieg.
Doch selbst in Gesellschaften, die domestizierte Tiere und mechanische Kraftüberträger nutzen, wird zu diesem Zeitpunkt noch ein Großteil aller Arbeit von Menschen geleistet. Nach meiner Schätzung – ich lege dabei geschichtliche Summenwerte von Arbeit leistenden Tieren und Menschen sowie typische tägliche Arbeitspensen zugrunde – wurden zwischen dem 11. und dem Ende des 15. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, also bis zum Beginn der Neuzeit, mehr als 90 Prozent aller produktiven mechanischen Energie durch Muskelkraft umgesetzt, etwa zu gleichen Teilen durch Mensch und Tier, während thermische Energie zur Gänze aus der Verbrennung pflanzlichen Materials (überwiegend Holz und Holzkohle, aber auch Stroh und getrockneter Dung) stammt.
Dann, um das Jahr 1600, bekommen die außerirdischen Sonden richtig zu tun, erblicken sie doch etwas nie vorher Dagewesenes. Eine Gesellschaft von Inselbewohnern geht zunehmend dazu über, Kohle zu verbrennen, einen Hunderte Millionen Jahre zuvor durch Photosynthese entstandenen und während seiner langen unterirdischen Lagerzeit durch Wärme und Druck fossilierten Brennstoff. Wie die besten Rekonstruktionen zeigen, überholt die Kohle als Wärmequelle in England um das Jahr 1620 (vielleicht sogar schon früher) die Biomasse-Brennstoffe; und schon 1650 entfallen zwei Drittel der Wärmeerzeugung auf die Verbrennung fossilen Kohlenstoffs, ein Anteil, der bis zum Jahr 1700 auf 75 Prozent steigt.[11] England legt in dieser Beziehung einen exzeptionellen Frühstart hin: Alle Kohlereviere, die das Vereinigte Königreich zur weltweit führenden Wirtschaftsnation des 19. Jahrhunderts machen werden, sind schon vor 1640 erschlossen und fördern Kohle.[12] Und dann, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, beginnt in einigen englischen Bergwerken der Einsatz von Dampfmaschinen, den ersten durch die Verbrennung fossiler Treibstoffe angetriebenen Kraftüberträgern.
Diese frühen Maschinen sind so ineffizient, dass sie nur in Bergwerken eingesetzt werden können, wo der Treibstoff ganz unmittelbar zur Verfügung steht und nicht über große Distanzen transportiert werden muss.[13] Über mehrere Generationen hinweg bleibt das Vereinigte Königreich für die außerirdischen Sonden das interessanteste Land, weil es allen anderen so weit voraus ist. Selbst noch im Jahr 1800 erreicht die Kohleförderung in einigen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten zusammengenommen nur einen kleinen Bruchteil der britischen Förderung.
Um die Wende zum 19. Jahrhundert wird eine vorbeifliegende außerirdische Sonde registrieren, dass auf der gesamten Erde noch mehr als 98 Prozent aller von den dominanten Zweibeinern genutzten Wärme- und Lichtstrahlung aus der Verbrennung pflanzlicher Brennstoffe resultieren und dass menschliche und tierische Muskeln noch immer mehr als 90 Prozent aller in der Landwirtschaft, im Bauwesen und in der Gütererzeugung verbrauchten mechanischen Energie liefern. Im Vereinigten Königreich, wo James Watt in den 1770er Jahren eine verbesserte Dampfmaschine erfindet, beginnt die Firma Boulton & Watt Maschinen zu bauen, deren Durchschnittsleistung der von 25 kräftigen Pferden entspricht, sie verkauft jedoch bis zum Jahr 1800 weniger als 500 dieser Maschinen, allenfalls ein Klacks gegenüber der von Zugtieren und menschlichen Schwerarbeitern erbrachten Arbeitsleistung.[14]
Selbst noch 1850 liefert die Kohle trotz steigender Fördermengen in Europa und Nordamerika nicht mehr als 7 Prozent aller Antriebsenergie; knapp die Hälfte aller zweckgerichtet eingesetzten kinetischen Energie liefern Zugtiere, 40 Prozent entfallen auf menschliche Muskelkraft und nur 15 Prozent auf die drei nicht-biologischen Kraftüberträger: Wasserräder, Windmühlen und die sich allmählich verbreitende Dampfmaschine. Die Welt des Jahres 1850 hat sehr viel mehr Ähnlichkeit mit der des Jahres 1700 (oder sogar der des Jahres 1600) als mit der Welt des Jahres 2000.
Ein deutlich anderes Bild bietet sich im Jahr 1900: Weltweit hat sich der Anteil sowohl fossiler als auch erneuerbarer Kraftstoffe und Kraftüberträger erheblich erhöht: Neu erschlossene Energieträger (Kohle und auch schon etwas Erdöl) liefern jetzt bereits die Hälfte aller Primärenergie, auf traditionelle Brennstoffe (Holz, Holzkohle, Stroh) entfällt die andere Hälfte. In den 1880er Jahren erzeugen erstmals Wasserkraftwerke Primärstrom; später kommen die geothermische Stromgewinnung sowie, nach dem Zweiten Weltkrieg, Strom aus Kern-, Sonnen- und Windkraftanlagen dazu. Dennoch wird auch noch im Jahr 2020 mehr als die Hälfte des weltweit verbrauchten Stroms durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe, hauptsächlich Kohle und Erdgas, erzeugt.
Nicht-biologische Kraftüberträger liefern an der Wende zum 20. Jahrhundert ungefähr die Hälfte aller mechanischen Energie: Kohlebefeuerte Dampfmaschinen leisten den größten Beitrag, gefolgt von verbesserten Wasserrädern und weiterentwickelten (erstmals in den 1830er Jahren in Betrieb genommenen) Wasserturbinen, Windmühlen und zwei Innovationen, die ihr Debüt in den 1880er Jahren geben: die Dampfturbine und der mit Benzin betriebene Verbrennungsmotor.[15]
Im Jahre 1950 liefern fossile Brennstoffe fast drei Viertel der gesamten Primärenergie (wobei der größte Anteil nach wie vor auf die Kohle entfällt), und nicht-biologische Kraftüberträger (bei denen jetzt Benzin- und Dieselmotoren an der Spitze stehen) mehr als 80 Prozent aller mechanischen Energie. Bei Anbruch des 21. Jahrhunderts greifen nur noch arme Leute in Niedriglohnländern auf Brennstoffe aus Biomasse zurück – Holz und Stroh liefern nur noch rund 12 Prozent der weltweit genutzten Primärenergie. Biologische Kraftüberträger steuern weltweit nur noch 5 Prozent aller mechanischen Energie bei – von Verbrennungsmotoren (oder auch Elektromotoren) angetriebene Maschinen haben die Nutzung der menschlichen und tierischen Muskelkraft fast vollständig abgelöst.
Die außerirdischen Sonden haben im Verlauf der letzten zwei Jahrhunderte eine sich rapide beschleunigende Substitution im Bereich der primären Energiequellen registriert, begleitet von einer Ausweitung und Diversifizierung fossiler Energieträger und der nicht weniger schnellen Einführung, Adaptierung und Kapazitätserweiterung neuer nicht-biologischer Kraftüberträger – erst die kohlebefeuerte Dampfmaschine, dann Verbrennungskraftmaschinen (Kolben und Turbinen). Auf ihrem jüngsten Vorbeiflug würde sich den Sonden das Bild einer wahrhaft global gewordenen Gesellschaft bieten, aufgebaut auf und definiert durch massenproduzierte stationäre und mobile Anwendungen der Konversion fossilen Kohlenstoffs, eingesetzt überall auf dem Globus mit Ausnahme einiger seiner unbewohnten Regionen.
Welche Folgewirkungen hat diese Mobilisierung extrasomatischer Energien gezeitigt? Wenn vom weltweiten Aufkommen an Primärenergie die Rede ist, versteht man darunter gewöhnlich das Bruttovolumen der erzeugten Energie; interessanter ist es jedoch, sich mit der Energie zu befassen, die tatsächlich für Umwandlungen in eine technisch nutzbare Form zur Verfügung steht. Wir müssen zu diesem Zweck vom Bruttovolumen einiges abziehen: Aufbereitungsverluste (beim Sortieren und Reinigen von Kohle, bei der Raffinierung von Erdöl und bei der Aufbereitung von Erdgas), nicht energetisch genutzte Mengen (etwa Erdöl und Erdgas, das als Rohstoff für die chemische Industrie, als Schmiermittel für Maschinen wie Pumpen oder Flugzeugturbinen dient oder zu Straßenbelag verarbeitet wird), Verluste beim Stromtransport. Unter Berücksichtigung dieser Korrekturen – und mit großzügigen Auf- und Abrundungen, um den irreführenden Eindruck einer präzisen Datengrundlage zu vermeiden – gelange ich zu dem Ergebnis, dass die Nutzung fossiler Brennstoffe im Verlauf des 19. Jahrhunderts um das 60fache, im Verlauf des 20. Jahrhunderts um das 16fache und im Verlauf der letzten 220 Jahre insgesamt um rund den Faktor 1500 zugenommen hat.[16]
Diese wachsende Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen ist wohl der wichtigste ursächliche Faktor für die Entwicklung unserer modernen Zivilisation – aber auch für unsere unterschwelligen Befürchtungen, was die Krisenanfälligkeit der Energieversorgung und die Auswirkungen der Energienutzung auf unsere Umwelt betrifft. In Wirklichkeit ist der Energieverbrauch wesentlich stärker gewachsen als um den von mir genannten Faktor 1500, denn wir müssen auch die gleichzeitig verbuchten Effizienzgewinne bei der Energieumwandlung in die Rechnung einbeziehen.[17] Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lag die Energieeffizienz bei der Verbrennung von Kohle in Öfen und Feuerungsanlagen für Heißwasserkessel bei höchstens 25 bis 30 Prozent, und beim Betrieb von Dampfmaschinen wurden sogar nur 2 Prozent des Energiegehalts der verbrannten Kohle in nutzbare mechanische Arbeit umgesetzt, mit dem Ergebnis einer durchschnittlichen Umwandlungseffizienz von maximal 15 Prozent. Verbesserte Feuerungsanlagen, Kessel und Kraftmaschinen erhöhten die durchschnittliche Effizienz ein Jahrhundert später auf knapp 20 Prozent, und weitere 100 Jahre später, an der Wende zum 21. Jahrhundert, lag die mittlere Umwandlungsrate bei rund 50 Prozent. Das bedeutet, dass das 20. Jahrhundert eine fast 40fache Steigerung der nutzbaren Energie gebracht hat; bezogen auf die Zeit seit 1800, können wir von einer Steigerung um rund den Faktor 3500 ausgehen.
Um uns ein noch klareres Bild von der Größenordnung dieser Veränderungen zu verschaffen, empfiehlt es sich, sie ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl zu setzen. Die Weltbevölkerung ist von 1 Milliarde im Jahr 1800 auf 1,6 Milliarden im Jahr 1900 und auf 6,1 Milliarden im Jahr 2000 gewachsen. Somit ergibt sich für die Menge technisch verfügbarer Energie (jeweils ausgedrückt in Gigajoule pro Kopf der Bevölkerung) ein Anstieg von 0,05 im Jahr 1800 auf 2,7 im Jahr 1900 und auf rund 28 im Jahr 2000. Der Aufstieg Chinas als Wirtschaftsmacht nach dem Jahr 2000 war der Hauptgrund für einen weiteren Anstieg auf rund 34 GJ pro Kopf im Jahr 2020. Der durchschnittliche Erdbewohner hat heute rund 700 mal so viel nutzbare Energie zur Verfügung wie seine Vorfahren zu Beginn des 19. Jahrhunderts.
Innerhalb der Lebenszeit der kurz nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen hat sich diese Quote mehr als verdreifacht, von rund 10 auf 34 GJ pro Kopf zwischen 1950 und 2020. Auf ein anschauliches Beispiel übertragen ist das so, als hätte jeder Erdenbürger pro Jahr rund 800 kg Erdöl oder rund 1,5 t hochwertiger bitumenhaltiger Kohle zur Verfügung. In physische Arbeit umgerechnet, ist es so, als ob jeder von uns 60 erwachsene Personen hätte, die rund um die Uhr für ihn arbeiten; nähme man als Bezugsgruppe nur die Bewohner der reichen Länder, ergäbe sich für die virtuelle Zahl der pausenlos für jeden von uns arbeitende Personen, je nach dem Wohlstandsniveau des betreffenden Landes, eine Zahl zwischen 200 und 240. Im Schnitt verfügt jeder heute lebende Mensch über nie dagewesene Energieressourcen.
Welche Folgen dies im Hinblick auf die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, auf den zeitlichen Umfang körperlicher Arbeit, die Zunahme arbeitsfreier Zeiten und den Lebensstandard insgesamt hat, liegt auf der Hand. Der Überfluss an verwertbarer Energie liefert die Basis und Erklärung für alle diese Fortschritte – von der besseren Ernährung zum massenhaften Reisen, von der Mechanisierung der Produktion und des Transportwesens bis zur sekundenschnellen persönlichen elektronischen Kommunikation –, die in allen reichen Ländern von der Ausnahme zur Regel geworden sind. Betrachtet man nur die Veränderungen, die sich in jüngster Vergangenheit vollzogen haben, so zeigt sich eine starke Spreizung nach Ländern: wie nicht anders zu erwarten, liegen die Werte bei einkommensstarken Ländern, die schon vor 100 Jahren einen relativ hohen Energieverbrauch pro Kopf hatten, niedriger als bei den Ländern, denen nach 1950 eine besonders schnelle Modernisierung ihrer Wirtschaft gelungen ist, allen voran Japan, Südkorea und China. Die Vereinigten Staaten konnten zwischen 1950 und 2020 ihr Pro-Kopf-Aufkommen an technisch nutzbarer Energie (aus fossilen Quellen und CO2-frei erzeugtem Strom) zwischen 1950 und 2020 ungefähr verdoppeln (auf rund 150 GJ pro Kopf); Japan schaffte während desselben Zeitraums eine Steigerung um mehr als den Faktor 5 (auf knapp 80) und China eine erstaunliche Vervielfachung um mehr als den Faktor 120 (auf knapp 50 GJ pro Kopf).[18]
Die Beschäftigung mit den Mengen nutzbarer Energie ist auch deshalb so aufschlussreich, weil Energie nicht bloß eine von mehreren Komponenten unserer komplex strukturierten Biosphäre, unserer Nationen und Gesellschaften und unserer Volkswirtschaften ist, und auch nicht bloß eine von mehreren Variablen in den komplexen Gleichungen, mit denen sich die Evolution dieser interagierenden Systeme beschreiben lässt. Energieumwandlungen sind nicht weniger als die Grundlage des Lebens und der Evolution. Wir können die Geschichte seit Beginn der Neuzeit als außergewöhnlich schnelle Abfolge von Übergängen auf neue Energiequellen betrachten und die moderne Welt als kumulatives Ergebnis der durch sie ermöglichten Umwandlungen.
Physiker waren die ersten, die die grundlegende Bedeutung von Energie für die menschliche Existenz erkannten. Ludwig Boltzmann, einer der Begründer der Thermodynamik, bezeichnete 1886 freie Energie – also für Umwandlungen zur Verfügung stehende Energie – als «Kampfobjekt für die Tierwelt» und konstatierte die Abhängigkeit allen Lebens von der auf der Erde eintreffenden Sonnenstrahlung.[19] Der 1933 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnete Erwin Schrödinger lieferte die Formel für die Grundlage allen Lebens: «Das, wovon ein Organismus sich ernährt, ist negative Entropie» – also freie Energie.[20] Anknüpfend an diese fundamentale Einsicht der Physiker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, stellte der amerikanische Mathematiker und Statistiker Alfred Lotka in den 1920er Jahren die These auf, dass diejenigen Organismen, die die verfügbare Energie am effektivsten nutzten, evolutionär im Vorteil seien.[21]
In den frühen 1970er Jahren erklärte der US-amerikanische Ökologe Howard Odum: «Aller Fortschritt verdankt sich jeweils besonderen Energie-Subventionen, und jeder Fortschritt verflüchtigt sich, wann immer und wo immer sie eingestellt werden.»[22] In der Folgezeit betonte der Physiker Robert Ayres in seinen Schriften wiederholt die zentrale Rolle der Energie in allen Volkswirtschaften: «Das System Wirtschaft ist im Wesentlichen ein System für die Erschließung, Verarbeitung von Energie als Ressource und ihre Umwandlung in sich in Produkten und Dienstleistungen verkörpernde Energie.»[23] Vereinfacht gesagt, ist Energie die einzige wahrhaft universelle Währung, und nichts (von der Rotation einer Galaxie bis zum Lebenszyklus einer Eintagsfliege) kann ohne Energieumwandlungen stattfinden.[24]
Angesichts aller dieser leicht verifizierbaren Realitäten fällt es schwer zu verstehen, warum die moderne Volkswirtschaftslehre, jene Ansammlung von Erklärungen und Prinzipien, deren Praktiker größeren Einfluss auf die Politik haben als alle anderen Experten, den Energieaspekt weitgehend ignoriert. Der Volkswirtschaftslehre fehlt es nach Ansicht von Ayres nicht nur an jeglicher systematischen Einsicht in die große Bedeutung von Energie für die physische Seite der Produktion, sondern sie geht auch davon aus, «dass Energie nicht besonders wichtig ist, weil der Kostenanteil der Energie an der wirtschaftliche Wertschöpfung so klein ist, dass man ihn vernachlässigen kann […]. Als ließen sich Güter durch Arbeit und Kapital alleine produzieren – oder als sei Energie lediglich eine Erscheinungsform menschengemachten Kapitals, die sich durch Einsatz von Arbeit und Kapital erzeugen (im Unterschied zu gewinnen) lässt.»[25]
Moderne Ökonomen ernten ihre Belohnungen und Auszeichnungen nicht für ihre Beschäftigung mit Energie, und moderne Gesellschaften wenden ihr Augenmerk erst dann der Energie zu, wenn die Versorgung mit einem der wichtigen handelbaren Energieträger bedroht ist und die Preise dafür in die Höhe schießen. Das von Google angebotene Werkzeug Ngram Viewer, mit dem man die Vorkommenshäufigkeit von Wörtern in gedruckten Texten aus den Jahren 1500 bis 2019 erfragen kann, liefert aufschlussreiche einschlägige Ergebnisse: Im Verlauf des 20. Jahrhunderts bewegte sich das Vorkommen des Begriffes «Energiekosten» lange Zeit auf einem vernachlässigbaren Niveau, um in den frühen 1970er Jahren einen plötzlichen Höhenflug zu erleben (nachdem die OPEC den Rohölpreis um den Faktor fünf vervielfacht hatte – mehr dazu später in diesem Kapitel), und erreichte in den frühen 1980er Jahren einen Gipfelpunkt. Als der Erdölpreis zu sinken begann, fiel die Kurve stark ab, und 2019 sank die Vorkommenshäufigkeit des Begriffes «Energiekosten» wieder auf das niedrige Niveau von 1972.
Ein Verständnis dafür, wie die Welt wirklich funktioniert, lässt sich nicht ohne ein Mindestmaß an Grundwissen über Energie gewinnen. In diesem Kapitel werde ich als erstes erklären, dass es zwar nicht unbedingt leicht ist, Energie zu definieren, aber dafür umso leichter, einen bestimmten Fehler zu vermeiden, dem man häufig begegnet: Energie mit Leistung zu verwechseln. Wir werden sehen, wie unterschiedliche Arten von Energie (mit ihren jeweils spezifischen Vorzügen und Nachteilen) und unterschiedliche Energiedichten (definiert als Energiegehalt pro Masse- oder Volumeneinheit, ein wichtiger Parameter für Speicherung und Transportfähigkeit von Energie) unterschiedliche Phasen der wirtschaftlichen Entwicklung beeinflusst haben; ich werde einige realistische Einschätzungen der Herausforderungen anbieten, die sich im Zuge des Übergangs moderner Gesellschaften auf eine immer weniger auf fossilem Kohlenstoff beruhende Energieversorgung ergeben. Wie wir dabei sehen werden, ist die Angebundenheit unserer Zivilisation an fossile Brennstoffe so tiefgreifend, dass der Übergang zur nächsten Stufe erheblich länger dauern wird, als die meisten Menschen glauben.
Wie definieren wir diese fundamentale Entität? Die etymologische Herkunft ist unstrittig. Aristoteles verband in seiner Metaphysik die Wörter εὖ («in») und έργον («Arbeit») und stellte die These auf, jedes Objekt werde von ἐνέργεια zusammengehalten.[26] Er sprach damit allen Objekten die latente Fähigkeit zu Betätigung, Bewegung und Veränderung zu – keine schlechte Charakterisierung eines Wesens mit dem Potenzial zur Umwandlung in andere Formen, sei es durch Hochheben, Werfen oder Anzünden.
Im Verlauf der nachfolgenden zwei Jahrtausende tat sich nicht viel Neues. Schließlich formulierte Isaac Newton (1643–1727) grundlegende physikalische Gesetzmäßigkeiten unter Einbeziehung von Masse, Kraft und Drehmoment, und sein zweites Bewegungsgesetz eröffnete die Möglichkeit zur Ableitung der grundlegenden Energieeinheiten. Um es in modernen naturwissenschaftlichen Maßeinheiten zu formulieren: 1 Joule ist die Kraft von 1 Newton – die Masse eines Kilogramms, beschleunigt um 1m/s2 über eine Distanz von 1 Meter.[27] Diese Definition bezieht sich freilich nur auf kinetische (mechanische) Energie und liefert kein intuitives Verständnis der Energie in allen ihren Formen.
Unser praktisches Verständnis von Energie machte im Verlauf des 19. Jahrhunderts große Fortschritte dank der zu der Zeit sich häufenden Experimente mit Verbrennung, Wärme, Strahlung und Bewegung.[28] Daraus erwuchs die bis heute gebräuchlichste Definition von Energie als «Fähigkeit, Arbeit zu leisten» – eine Definition, die nur dann zutrifft, wenn «Arbeit» nicht nur im engen Sinn als verausgabte Arbeit verstanden wird, sondern, wie es einer der führenden Physiker jener Ära formulierte, als genereller physischer «Akt der Hervorbringung einer Veränderung in der Konfiguration eines Systems entgegen einer Kraft, welche dieser Veränderung widerstrebt».[29] Das ist aber immer noch zu sehr Newton’scher Sprachduktus, als dass es intuitives Verständnis ermöglichen würde.
Es gibt keine bessere Möglichkeit, die Frage «Was ist Energie?» zu beantworten, als auf einen der scharfsinnigsten Physiker des 20. Jahrhunderts zurückzugreifen – auf den Geistesriesen Richard Feynman, der in seinen berühmten Vorlesungen über Physik die Herausforderung in seiner zupackenden Art annahm und erklärte: «Energie nimmt eine Vielzahl verschiedener Formen an, und für jede gibt es eine eigene Formel. Es handelt sich um folgende: Gravitationsenergie, kinetische Energie, Wärmeenergie, elastische Energie, elektrische Energie, chemische Energie, Strahlungsenergie, Kernenergie und Massenenergie.» Und dann folgt diese entwaffnende, aber unangreifbare Schlussfolgerung:
Es ist wichtig, einzusehen, dass wir in der heutigen Physik nicht wissen, was Energie ist. Wir haben kein Bild davon, dass Energie in kleinen Klumpen definierter Größe vorkommt. So ist es nicht. Jedoch gibt es Formeln zur Berechnung einer numerischen Größe, und wenn wir alles zusammenaddieren, ergibt es […] immer die gleiche Zahl. Es ist eine abstrakte Sache insofern, als es uns nichts über den Mechanismus oder die Gründe für die verschiedenen Formeln mitteilt.[30]
Das war der Stand der Dinge. Wir haben Formeln, mit denen wir sehr präzise die kinetische Energie eines fliegenden Pfeils oder eines im Reiseflug befindlichen Passagierjets berechnen können, ebenso auch die potentielle Energie eines großen Felsbrockens, der sich anschickt, eine Bergflanke hinabzurollen, oder die durch eine chemische Reaktion freigesetzte Wärmeenergie oder die Lichtstärke (Strahlungsenergie) einer flackernden Kerze oder eines Laserpointers – was wir aber nicht können, ist diese Energien gedanklich auf eine einzige, einfach beschreibbare Größe zu reduzieren.
Die «Glitschigkeit» des Konzepts Energie hat Heerscharen vom Himmel gefallener Experten nicht gestört: Seit in den frühen 1970er Jahren Energie zu einem großen Thema der öffentlichen Debatte geworden ist, haben sie ohne Unterlass, aber dafür mit Ignoranz und missionarischem Eifer, ihre Meinung zu Energiefragen kundgetan. Energie ist einer der am wenigsten fassbaren und am meisten missverstandenen Begriffe, und ein mangelndes Verständnis für grundlegende Realitäten hat bei diesem Thema zu vielen Illusionen und Fehlschlüssen geführt. Energie existiert, wie gesehen, in unterschiedlichen Formen; um sie für uns nutzbar zu machen, müssen wir eine Form in eine andere überführen. Es ist jedoch zur Norm geworden, diese facettenreiche abstrakte Größe als Monolithen zu betrachten, so als wäre diese Überführung bei allen Formen von Energie mühelos möglich.
Tatsächlich gibt es einige Fälle, in denen dies sowohl relativ leicht gelingt als auch Nutzen bringt. Während beim Kerzenlicht die chemische Energie des Kerzenwachses in Strahlungsenergie umgesetzt wird, entsteht elektrisches Licht dadurch, dass zunächst die chemische Energie eines Brennstoffs zur Erzeugung von Wärme (Dampf) genutzt, diese dann in elektrische Energie und diese wiederum in Strahlungsenergie umgewandelt wird, eine Entwicklung mit vielen offenkundigen Vorzügen: Elektrisches Licht ist sicherer, heller, billiger und zuverlässiger als Kerzenlicht. Die Ersetzung von Dampf- und Diesellokomotiven durch Elektroloks hat den Schienenverkehr preisgünstiger, sauberer und schneller gemacht – alle modernen Hochgeschwindigkeitszüge fahren mit Elektroantrieb. Aber viele wünschbare Alternativen bleiben teuer oder sie sind möglich, aber realistischerweise noch für einige Zeit unerschwinglich, oder sie sind gar in der erforderlichen Größenordnung überhaupt nicht zu realisieren, ganz gleich wie lautstark ihre Befürworter ihre Vorzüge preisen.
Das Elektroauto ist ein Paradebeispiel für die erste Kategorie: In genügender Auswahl erhältlich, sind die besten Varianten einigermaßen zuverlässig, aber nach wie vor teurer als Autos mit Verbrennungsmotor. Als Beispiel für die zweite Kategorie werde ich im nächsten Kapitel ausführlich auf die Ammoniak-Synthese eingehen, die für die Herstellung von Stickstoffdünger notwendig und bis heute in hohem Maß auf Erdgas als Wasserstoffquelle angewiesen ist. Wasserstoff lässt sich auch durch chemische Aufspaltung von Wasser mittels Elektrolyse gewinnen, was aber fünfmal so teuer ist wie die Gewinnung aus dem reichlich zur Verfügung stehenden und kostengünstigen Methan – und die erforderliche massentaugliche Wasserstoff-Industrie müssen wir erst aufbauen. Das schlagkräftigste Beispiel für die dritte Kategorie ist ein Langstreckenflug eines elektrisch angetriebenen Passagierflugzeugs (als Äquivalent etwa zur Reise einer mit Kerosin betriebenen Boeing 787 von New York nach Tokio): eine solche Energieumwandlung wird, wie wir sehen werden, noch für sehr lange Zeit ein unrealistischer Traum bleiben.
Der erste Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass bei keiner Energieumwandlung jemals Energie verloren geht; das gilt für die Konversion chemischer in chemische Energie bei der Nahrungsverdauung ebenso wie für die Umwandlung chemischer in mechanische Energie beim Einsatz von Muskelkraft, von chemischer in Wärmeenergie bei der Verbrennung von Erdgas, von Wärme- in mechanische Energie beim Betrieb einer Dampfturbine, von mechanischer in elektrische Energie in einem Stromgenerator oder von elektrischer in elektromagnetische Energie, wenn das Licht einer Glühbirne oder eines LED-Strahlers auf die Buchseite fällt, die Sie gerade lesen. Andererseits gilt, dass alle Energieumwandlungen letzten Endes zur Freisetzung und Verteilung niedrig temperierter Abwärme führen: keine Energie ist verloren gegangen, aber ihre Nutzbarkeit, ihre Fähigkeit, nützliche Arbeit zu verrichten, hat sich verflüchtigt (zweiter Hauptsatz der Thermodynamik).[31]
Für alle Energiearten lassen sich dieselben Maßeinheiten verwenden – das Joule ist die wissenschaftliche Maßeinheit; die Kalorie wird oft in Ernährungsstudien verwendet. Im nachfolgenden Kapitel, in dem ich mich eingehend mit den massiven Energie-Subventionen befasse, die in die moderne Nahrungsmittelproduktion einfließen, werden wir der wahrhaft existenziellen Realität der unterschiedlichen Energiequalitäten begegnen. Die Aufzucht von Hühnchen verschlingt eine Menge an Energie, die in der Summe den Energiegehalt des essbaren Hühnerfleischs um das Mehrfache übersteigt. Auch wenn wir den Subventionsfaktor als Verhältnis der Energiemengen (Joule-Input/Joule-Ausbeute) berechnen können, besteht offensichtlich ein grundlegender Unterschied zwischen den Bestandteilen des Inputs und denen der Ausbeute: Von Dieselöl oder elektrischem Strom können wir uns nicht ernähren, wogegen mageres Hühnerfleisch ein fast vollständig verdauliches Nahrungsmittel mit einem hohen Anteil an hochwertigem Eiweiß ist, einem unverzichtbaren Ernährungsbaustein, der sich energetisch nicht durch die Aufnahme gleich großer Mengen Fett oder Kohlenhydrate ersetzen ließe.
Es stehen viele Alternativen zur Auswahl, wenn es um Energieumwandlungen geht, und manche sind anderen um Längen vorzuziehen. Die hohe chemische Energiedichte von Kerosin und Dieselöl ist ideal für die interkontinentale Luftfahrt und das Transportwesen; will man hingegen ein U-Boot, ohne dass es jemals auftauchen muss, über den Pazifik schicken, besteht die beste Option darin, in einem kleinen Reaktor angereichertes Uran zu spalten und mit der freigesetzten Energie elektrischen Strom zu erzeugen.[32] An Land sind große Atomreaktoren die zuverlässigsten Erzeuger elektrischen Stroms: manche von ihnen liefern Strom in Höhe ihrer Nennleistung während 90–95 Prozent ihrer Betriebszeit, wogegen die besten Offshore-Windturbinen ihr Potenzial nur zu rund 45 und Photovoltaikzellen selbst an sonnenreichsten Standorten zu höchstens 25 Prozent ausnutzen. Die in Deutschland installierten Solarpaneele erzeugen sogar nur 12 Prozent des Stroms, den sie produzieren könnten, wenn sie rund um die Uhr ihre Nennleistung erreichten.[33]
Leider ist selbst in technischen Veröffentlichungen oft davon die Rede, dass ein «Kraftwerk 1000 Megawatt (MW) Strom erzeugt», doch das ist unmöglich. Ein Kraftwerk mag eine installierte Leistung von 1000 MW haben – also in der Lage sein, elektrischen Strom in dieser Rate zu erzeugen –, aber wenn es auf voller Leistung läuft, erzeugt es 1000 Megawattstunden (MWh) bzw. (umgerechnet auf die wissenschaftliche Ur-Maßeinheit) 3,6 Billionen Joule (J) in einer Stunde (1 Milliarde Watt mal 3600 Sekunden). Analog dazu: Die grundlegende Stoffwechselrate (die Energie, die ein menschlicher Körper in vollkommener Ruhestellung allein für die grundlegenden Lebensfunktionen aufwenden muss) liegt bei einem erwachsenen Mann bei rund 80 W oder 80 J/
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