Wie ein Schaf unter Wölfen - Cristian Nani - E-Book

Wie ein Schaf unter Wölfen E-Book

Cristian Nani

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Beschreibung

Cristian Nani erzählt in dieser Biografie die Geschichte von Nasiry, die sich wie ein Abenteuerroman liest. Der Hirtenjunge ist Sohn einer Witwe und gehört im ländlichen Afghanistan damit zur untersten Schicht der Gesellschaft. Einen Angriff auf seine Herde überlebt er nur knapp. Beim Tritt auf eine Mine verliert er ein Bein. Nasiry verdingt sich als Dolmetscher in einer Klinik. Dort erlebt er, wie Ärzte aus dem Westen selbstlos helfen und sich selbst dabei in Gefahr begeben. Sein Glaube an Allah ist erschüttert, deshalb interessiert er sich für "das Buch der Christen". Was er dort liest, stellt sein Leben auf den Kopf. Er wird Christ und erzählt offen von seinem neuen Glauben. Das bringt ihn ins Gefängnis, wo er sogar den Taliban von Jesus erzählt und zum Missionar hinter Gittern wird. Ein packender, authentischer Bericht über Christenverfolgung in Afghanistan.

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Seitenzahl: 227

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Cristian Nani

Wie ein Schaf unter Wölfen

Vom Hirtenjungen zum Gefängnisprediger in Afghanistan

Cristian Nani (geb. 1973) arbeitet seit 2008 bei Open Doors und ist seit 2015 Leiter des italienischen Zweiges. Als ehemaliger Journalist ist er Schriftsteller und Podcaster. Er unternahm mehrere Reisen in Länder, in denen Christen verfolgt werden, in Afrika, dem Nahen Osten, Asien und Südamerika. Er lebt mit seiner Frau in Vicenza, im Nordosten Italiens.

Die zitierten Bibelstellen sind folgenden Übersetzungen entnommen: Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart Hoffnung für alle®, © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis.

Die Zitate aus dem Koran sind folgender Übersetzung entnommen: Khoury A. T., Der Koran; Übersetzung: Adel-Theodor Khoury; © 2007, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Die Namen aller Personen in diesem Buch wurden aus Sicherheitsgründen verändert.

© 2024 Brunnen Verlag GmbH, Gießen

Übersetzung: Christian Loß

Umschlagfoto: Akela - from alp to alp / stocksy.com

Tracy Ben / adobestock.com (U4)

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

ISBN Buch: 978-3-7655-3608-3

ISBN E-Book: 978-3-7655-7845-8

www.brunnen-verlag.de

Gewidmet den verfolgten Christen Afghanistans

Mein Herz dichtet ein feines Lied,

einem König will ich es singen;

meine Zunge ist ein Griffel eines guten Schreibers.

Psalm 45,2 (LÜ)

Inhalt

Prolog

Der Sohn einer Dienerin

Der Hirte der Schafe

Mein Land steht in Flammen

Du gibst und du nimmst

Botschafter eines unbekannten Gottes

Vom Sohn einer Dienerin zum Kind eines Königs

Die Hauskirche

Nur Gott weiß

Gerechtigkeit?

Ein guter Heide

Gottes Werk

Freiheit

Epilog

Danksagung

Der Dienst von Open Doors

Prolog

Herat, Afghanistan, Anfang der 1980er-Jahre

Der Geruch des Weinbergs wehte durch die Luft wie ein Atemzug aus den Lungen der Erde; das Aroma der Trauben wurde von einem warmen Wind begleitet, der den steifen Gliedern der Soldaten Linderung verschaffte. Der Helm kratzte und reizte die harte Haut auf seiner Stirn. Trotz der sechsmonatigen Ausbildung fühlte sich Nasiry nicht wie ein echter Soldat. Ein Hazara auf paschtunischem Boden, ein Hirte, der Sohn einer Dienerin, aber auch ein denkendes Wesen, ein lebhafter Kopf voller Fragen nach dem Sinn des Lebens und den Nuancen des Himmels. Nein, Nasiry war kein Soldat. Er vermisste die geregelte Einfachheit des Hirtenlebens, die blökende Symphonie der Schafe, die sanfte Nähe seines namenlosen Hundes und dieses tiefe Gefühl der Freiheit, das sein ganzes Dasein umgab. Er war nicht für das Soldatenleben geboren. Aber der Krieg ist ein grausamer Herrscher, kaltherzig zu seinen Untertanen. Sie werden dahingeschlachtet, sinnlos, würdelos, entbehrliche Verfügungsmasse im Dienst der reinen Machtausübung oder der willkürlichen Zerstreuung.

Sein Kopf juckte, der Schweiß rann ihm in der Spätsommerhitze den Rücken hinunter. Er wartete auf die Befehle eines bärtigen Feldwebels, dessen Augen eingefallen waren vom Hass auf das Leben, das ihm das Schicksal beschert hatte. Die Front war genau hier, nur ein kurzes Stück entfernt. Der Feind war genau hier, nur ein kurzes Stück entfernt, irgendwo versteckt, getarnt in der Landschaft; ein unersättlicher Dämon, der sich diesem Land bis zum Tod verschrieben hatte. Soldaten wie Nasiry hatten Angst vor den Mudschahedin.

Jeder, der dieses Gebiet kannte, wusste, dass sie niemals auch nur einen Quadratzentimeter staubigen Bodens aufgeben würden, ohne ihn vorher mit Blut zu tränken. Ihrem eigenen oder dem der sowjetischen Eindringlinge und ihrer Unterstützer in der Regierung.

Er vermisste seine Schafe!

„Wir schlagen unser Lager in der Mitte dieses Weinbergs auf. Wir können die übrigen Reben und die Gräben als Deckung nutzen. Der Kommandant erwartet uns um acht Uhr morgen früh einsatzbereit. Ich will, dass heute um vierzehn Uhr zweihundertfünfzig Quadratmeter des Ackers dort vorne vollständig geräumt und leer sind, damit wir dort unsere Zelte aufschlagen können. Ihr habt schon genaue Anweisungen erhalten, wie ihr das Gelände räumen sollt, also an die Arbeit!“, rief der afghanische Feldwebel, ohne zu zögern, während eine Gruppe sowjetischer Offiziere an einem russischen UAZ-Geländewagen lehnten und aus der Ferne zuschauten.

Herat, die antike afghanische Stadt, deren Zitadelle von Alexander dem Großen erbaut wurde, war nur wenige Kilometer entfernt. Der Krieg zerstörte das ganze Land.

Die Sowjets regierten einen Teil der Demokratischen Republik Afghanistan seit der siegreichen Eroberung Kabuls durch die Rote Armee im Dezember 1979 und der zögerlichen Reaktion der verschiedenen Mudschahedin-Gruppen. Die mit den Russen verbündete afghanische Armee hatte beinahe aufgehört zu existieren.

Überläufer, Flüchtende und Desertierende waren an der Tagesordnung. Ein unaufhaltsamer Prozess, den die Sowjets auf alle möglichen Arten zu bremsen versuchten, indem sie der Bevölkerung mehr und mehr Verachtung entgegenbrachten und die Afghanen als Kanonenfutter einsetzten. Als menschliche Versuchskaninchen für die riskantesten Operationen gegen ihre Brüder in den Mudschahedin-Gruppen.

Es war alles falsch: der Afghanistan-Konflikt, der Kalte Krieg, die sowjetische Invasion, die instabile Regierung, die Verwüstung, die Korruption und die lange Liste der großen und kleinen Grausamkeiten, zu denen auf diesem Planeten nur der Mensch fähig ist.

Es war alles falsch. Nasiry wusste es, während er in der Gruppe der Soldaten stand, die den Weinberg räumen sollten, und ein ersticktes „Ja, Sir“ murmelte.

Was für eine Verschwendung, diese Reben auszureißen, dachte er.

Der Feldwebel musste seine Gedanken gelesen haben, denn er brüllte ihm ein „Los jetzt!“ zu, das kein Zögern duldete und Nasiry an die Spitze der Truppe eilen ließ. Er schwang sich eine Spitzhacke über die Schulter und lief Richtung Straßenrand, um das Feld zu betreten. Er schaute hoch zum Himmel, dem wundervollen afghanischen Himmel, den er so gut kannte, der Begleiter seiner Tagträume auf der Weide. Eine Wolke fiel ihm auf. Sie hatte die Form eines Schafes, keine Frage. Er lächelte still.

„Nasiry, für uns gibt’s heute kein Mittagessen, das ist wohl sicher!“, zischte der Soldat neben ihm, ein weiterer Hazara mit kindlichem Gesicht, der ihm überallhin folgte.

Er betrat das Feld über einen ebenen Pfad, der an der Straße in der Nähe eines gepanzerten Truppentransporters begann, und lief in Richtung der ersten Pflanzenreihe, während sich die nachfolgenden Soldaten hinter ihm verteilten. Für einen Moment war er eingehüllt in den Duft der reifen Fakhri-Trauben, bereit, gepflückt und zu Abjosh-Rosinen verarbeitet zu werden. Er sog die Luft ein und verspürte das Gefühl, in diesem Ackerboden versinken zu können. Als er weiterlief, ließ ihn das metallische „Klack“ neben seinem linken Stiefel in einer Mischung aus Verblüffen und Entsetzen gefrieren. Für ein paar Tausendstel Sekunden, die ihm wie Minuten vorkamen, starrte er ins Leere, während in ihm der Verdacht aufkeimte, dass er gerade auf eine Mine getreten war.

Er sah, wie sich der Boden neben seinem linken Fuß wölbte, als ob eine unterirdische Kreatur gewaltsam aus den Eingeweiden der Erde hervorkroch, um ihn zu zerfleischen und mit sich fortzuschleifen.

Die Explosion war brutal.

Er fühlte, wie er hochgehoben und unkontrolliert durch die Luft geschleudert wurde. Dann kam der Staub, der beißende Geruch in seiner Nase, die markerschütternden Schreie. Diese Schreie würde er niemals vergessen. Sie würden ihn bis in seine Albträume verfolgen, die schrillen Schreie eines Tieres, das kaltblütig verstümmelt wird.

Fürchterliche, flehende Schreie.

Unmenschliche Schreie.

Seine Schreie.

Sein Blut.

Seine Beine.

Der Sohn einer Dienerin

Die frühen 1960er-Jahre, Provinz Kandahar, Afghanistan.

Der Klaps landete zielgenau auf Nasirys Hinterkopf.

„Du bist zu nichts zu gebrauchen“, zischte sein Onkel. Warum? Es gab keinen bestimmten Grund. Er war eben der Sohn der Dienerin.

Nasirys Familie war klein und Teil des Barakzai-Zweigs vom Stamm der Durrani, die weit über die Provinz Kandahar verstreut lebten. Genau die Gegend, die innerhalb weniger Jahrzehnte das Epizentrum der Taliban werden sollte. Die Barakzai brachten viele Emire, Königinnen und Könige hervor und machten den Stamm damit zu einem der bedeutendsten unter den Paschtunen. Aber wie die meisten aus seiner Familie war auch Nasiry kein richtiger Paschtune. Er war ein Hazara, eine weitere ethnische Gruppe, deren Mitglieder sich im Aussehen von den Paschtunen unterschieden und einst einen Großteil der Bevölkerung in Afghanistan ausmachten. Dann aber wurden die Hazara unterdrückt und verfolgt, bis sie zur Minderheit geworden waren – ausgegrenzt wegen ihrer Religion. Die Paschtunen waren sunnitische Muslime, die Hazara-Schiiten.

Nasiry unterschied sich sehr von seinen übrigen Familienmitgliedern, angefangen bei den typischen Hazara-Gesichtszügen bis hin zu seinem sanftmütigen und heiteren Gemüt.

Er hatte zwei Mütter, von denen er nur eine liebte: Hasti, die Frau, die ihn unter ihrem Herzen getragen hatte – seine wahre Mutter. Die andere war nur die erste Frau seines Vaters, der ein angesehener Mann gewesen war, bevor er starb. Nasiry war damals zwei Jahre alt gewesen. Seine einzige Erinnerung an ihn war ein ausgeblichenes Schwarz-Weiß-Foto, das im Wohnzimmer des Haupthauses einen Ehrenplatz einnahm. Er hatte dieses Foto nur ein paar Mal gesehen, als er ausnahmsweise ins Haupthaus gelassen wurde. Eigentlich lebte er in einer Hütte, in der Nähe der Tiere.

Sein Alltag war geprägt von der Arbeit mit den Tieren. Obwohl er erst 11 Jahre alt war, musste er sich um die Schafe kümmern und dabei auch die schwersten Aufgaben erledigen. Kontrolliert wurde das von seinem mürrischen Onkel, der genauso hart war wie das Leder seiner Peitsche, mit der er mal die Schafe, mal Nasiry schlug.

Vielleicht liegen die Wurzeln für Nasirys Leidenschaft, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, genau in diesen Jahren.

Auf der einen Seite gab es seinen Onkel und seine restlichen Verwandten der erweiterten Familie: cholerisch, angriffslustig und radikal in ihrem Verständnis des Islam – allerdings nur in bestimmten Lebensbereichen.

Auf der anderen Seite war seine liebevolle Mutter mit ihrer sanften und anziehenden Stimme. Zu Hause war für ihn kein Ort, sondern es waren die Lieder auf den Lippen seiner Mutter.

Er hatte acht Brüder und Schwestern, sieben von der ersten Frau seines Vaters und nur eine, seine ältere Schwester, die auch ein Kind seiner Mutter Hasti war. „Universum“ – das bedeutete der Name seiner Mutter. Und wenn er sie bei ihrer mühsamen Hausarbeit singen hörte, in diesen wenigen Momenten, in denen kein anderes Familienmitglied in der Nähe war, dann schloss er die Augen und sah vor sich ein ganzes Universum voller Bilder, Geschichten, Farben und bunter Drachen, die am Himmel flatterten. Aber niemand in der Familie nannte sie Hasti. Für alle anderen war sie nur „die Dienerin“. Für Ehemänner war es nicht unüblich, über ihre Frauen wie über Gegenstände zu sprechen, so wie man über eine Ziege oder ein Messer redete. Aber die Verachtung, mit der sie seine Mutter ansprachen, machte Nasirys kleines Herz rasend vor Wut.

Dienerin, Sklavin, Niemand, Hündin … – die neue Frau seines Vaters benutzte viele Namen für sie, wenn sie ihr im Haus oder auf dem Feld Befehle zubellte. Und wenn sie in Reichweite war, spuckte sie ihr auf den Rücken. Nasiry war den rauen Umgangston dieser ländlichen Gegend gewohnt, aber diese Gemeinheiten ließen ihn trotzdem immer wieder innerlich erbeben.

Er war wegen seiner aufgewühlten Gefühle manchmal sehr dankbar für die Gelegenheit, die Herde zusammen mit seinem schweigsamen Bruder zum Grasen auf die Weide zu bringen. Es verschaffte ihm Abstand von diesem hasserfüllten Theater. Außerdem konnte er auf dem Weg zur Weide die Affen sehen. Ja, Affen! An einem der Wege, den sie oft nahmen, lag eine große grüne Oase. Dort wohnte eine Truppe lärmender und schlitzohriger Rhesusaffen. Vor allem ein weiblicher Affe, er hatte sie „Racker“ genannt, war seine Freundin und eindeutig die Anführerin. Während er bei ihren seltsamen Spielen zuschaute oder beobachtete, wie sie sich gegenseitig entlausten, bemerkte Nasiry, dass die Affenherde unter weiblicher Leitung stand. Wenn sie ihn auf seinem Esel heranreiten sah, präsentierte „Racker“ ihm eine immer neue Abfolge von Saltos und Drehungen in ihrem Bemühen, ihn zu überraschen und von neuen Aussichtspunkten aus zu überrumpeln.

Sie war seine Vertraute: die Einzige, mit der er reden konnte. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn zu Hause durfte er nicht sprechen. Er war schließlich der Sohn der Dienerin.

Aber ehrlich gesagt war Racker nicht Nasirys einzige Vertraute: Es gab da auch noch „Hund“. Hund war … na ja, eben der Hütehund der Familie. Er hatte keinen Namen, alle nannten ihn nur „Hund“, genauso wie die Schafe „Schafe“ waren, ein Stock ein „Stock“ und Nasiry eben der „Sohn der Dienerin“. Er hatte unzählige Male versucht, dem Hund einen Namen zu geben, aber die graue, verwahrloste Kreatur hörte nur auf „Hund“. Wenn er überhaupt hörte. Er war ein Streuner, ein Freigeist, vielleicht der einzige überhaupt in der Familie. Er konnte tagelang verschwinden, nur um dann mit blutverkrustetem Fell unter der Schnauze wieder aufzutauchen. „Pirat“ hätte gut gepasst, vor allem wegen seines blinden Auges, das er sich vermutlich bei einem Kampf während eines seiner Ausflüge geholt hatte.

Aber „Hund“ schien Nasiry zu mögen. Das zeigte sich darin, dass er nicht erst mit einem Stock dazu gebracht werden musste, seinen Job zu erledigen, wenn Nasiry mit der Herde loszog. Sobald er sah, dass Nasiry sich auf den Esel schwang, war er schon auf den Beinen und den Schafen auf den Fersen. Er war bereit, seine Aufgabe zu erfüllen – was er übrigens ziemlich gut machte. Eines Abends, als die Dämmerung über einem friedlichen Frühlingstag hereinbrach, sollte „Hund“ Nasirys Leben retten. In einem Kampf mit dem berüchtigtsten wilden Tier dieser Gegend, dem Erzfeind aller Schafe: dem Wolf. Aber das geschah einige Jahre später, als Nasiry längst nicht mehr Teil der Familie war.

„Du wirst von dieser Familie keinen Cent bekommen, Sklavenjunge!“, zischte sein Onkel und versuchte, nach ihm zu treten. Aber Nasiry war flink. Und nachdem der erste Schlag ihn überrascht hatte, flitzte er jetzt schnell zur Seite. Auf Händen und Füßen, so wie er es bei „Racker“ gesehen hatte. Die Gedanken seines Onkels drehten sich ständig um Geld und um das Erbe. Hasti, seine Mutter, die Hazara-Dienerin, würde auf keinen Fall etwas davon abbekommen. Sie sollte dankbar sein, ein Dach über dem Kopf und einen Schlafplatz zu haben. Der Hass, den die beiden und manchmal auch ihre Kinder über sie ausschütteten, war außer Kontrolle geraten. Er glich einem Vulkan voller Wut, der jederzeit ausbrechen konnte.

Es war Nasiry ein Rätsel, wie diese Leute ein solches Verhalten mit ihrem frommen Leben als Muslime vereinbaren konnten. Sie lasen den Koran, verpassten kein rituelles Gebet und gingen regelmäßig in die Moschee. Andererseits war für ihn die ganze muslimische Welt ein seltsames Wirrwarr aus Widersprüchen. Viel mehr noch: eine unehrliche Religion. Als Jugendlicher wagte er es natürlich nicht, diesen Gedanken auszusprechen. Aber es sollte ein Zeitpunkt kommen, an dem der Damm dieser sozialen Konventionen nicht mehr halten würde. Der Riss würde größer werden, ein Sturzbach losbrechen, der jeden Winkel seines Lebens überfluten und ihn mitreißen würde, an die gefährlichsten Orte dieser Welt.

Und dann kam der Tag. Er hatte seinen Onkel und alle anderen männlichen Mitglieder seiner Familie den ganzen Tag auf Abstand gehalten. Es lag Ärger in der Luft, er tat also gut daran, in Deckung zu gehen. Am Abend fand er seine Mutter, wie sie weinend in einer Ecke am Feuer kauerte. Nicht, dass es das erste Mal gewesen wäre, aber der traurige Schleier, der sie umhüllte, war heute dichter als sonst.

„Wir müssen weg, mein Kleiner“, sagte sie, nachdem sie Augen und Nase am Ärmel ihres Kleides trocken getupft hatte. „Wir müssen weg“, wiederholte sie flüsternd, nahm ihn fest in den Arm und sog seinen Geruch auf. Und eines Tages gingen sie tatsächlich.

Wenige Wochen später nahm Hasti Nasiry und seine Schwester zur Seite und erklärte ihnen, dass die Familie sie nicht wollte, sie hasste, weil sie Hazara waren, und es für sie hier keine Zukunft gäbe. Sie mussten weg, bevor irgendetwas Schlimmes passierte. Es war eine schlaflose Nacht, in der sie – gequält von dunkler Vorahnung – ihre wenigen Habseligkeiten und ein paar Vorräte einpackten. Sie verließen das kleine Haus aus Holz und Stein noch vor der Morgendämmerung. Die Dunkelheit war feucht und kalt. Sie kroch ihnen in die Knochen und vermischte sich mit der Angst, entdeckt zu werden, was auch immer das bedeuten würde. Sie bewegten sich lautlos und zu Fuß: Keine Chance, einen Esel mitzunehmen, sie wären des Diebstahls bezichtigt worden. Als zweite Witwe gehörte Hasti zumindest ein kleiner Teil des Besitzes, aber keiner der örtlichen Richter hätte ihr diesen Anspruch auch eingeräumt. „Und hackt dem Dieb und der Diebin die Hände ab zur Vergeltung für das, was sie erworben haben, dies als abschreckende Strafe vonseiten Gottes. Und Gott ist mächtig und weise.“ Eine Passage aus dem Koran, die selbst Nasiry auswendig konnte. Einige Jahre zuvor war er auf einen kleinen Platz geschleppt worden, auf dem einem jungen Mann mit einem sauberen Hieb eine Hand abgetrennt wurde, während die Menge „Allahu akbar!“ brüllte – Gott ist größer. Sein Onkel wiederholte wie im Rausch die Verse immer wieder und fuchtelte dabei mit seinem Zeigefinger drohend vor Nasirys Gesicht herum.

Beim Gehen schauten sie sich immer wieder um wie Diebe. Aber keiner bemerkte sie. Außer einem: „Hund“. Etwas verwirrt beobachtete er sie in der Dunkelheit, als würde er abwägen, was er tun sollte. Dann richtete er sich auf und trottete lautlos hinter ihnen her. In seinem typischen, wogenden Gang, der eher zu einem Wolf passte als zu einem Hütehund.

Das Ziel ihrer Flucht kannte Nasiry nicht.

„Ich bringe euch an einen Ort, an dem es sicherer ist“, hatte seine Mutter gesagt. Das war alles, was sie wissen mussten.

Der Hirte der Schafe

Die frühen 1970er-Jahre, Provinz Bamyan, Afghanistan

An ihre Flucht hat Nasiry nicht viele Erinnerungen. Nur die ständige Anspannung und das bedrückende Gefühl, gejagt zu werden, haben sich ihm eingeprägt. Das gleiche Gefühl würde er viel später noch einmal erleben, als er sich wieder nach Verfolgern umsehen musste.

Ihre Reise endete in einer größeren Stadt weiter nördlich bei einer Verwandten seiner Mutter. In einer Gegend, die überwiegend von Hazara bewohnt war. Innerhalb weniger Monate machte sie die traditionelle Gastfreundschaft zu einer Art Großfamilie. Seine Mutter bekam einen Heiratsantrag von einem örtlichen Witwer, einem Bauern, der nach einer sanftmütigen und geschickten Ehefrau suchte. Die Heirat wurde kurzfristig und ohne viel Aufhebens arrangiert, aber nicht ohne eine kleine Feier. Hier wurden Nasiry und seine Schwester in die Gemeinschaft eingeführt und dem Mullah des Ortes vorgestellt. Für Jungs war es obligatorisch, in die Moschee zu gehen und an den Zeremonien teilzunehmen. Also vertiefte auch Nasiry sich in den Koran, dieses Mal aber unter den Fittichen seiner eigenen Glaubensrichtung, der Hazara-Schiiten.

Und endlich konnte er die Fragen stellen, die ihn bewegten:

„Warum ist es nur dem Mann erlaubt, eine Ehe aufzulösen, wenn er es doch ist, der seiner Frau das Leben zur Hölle macht?“

„Warum unterstützt Allah der Gnädige so viel Grausamkeit und Tod unter den Muslimen?“

„Wie kann ich sicher sein, dass Allah mich liebt?“

„Ist der Heilige Krieg die einzige Möglichkeit, in den Himmel zu kommen?“

Das waren nur einige der Fragen, die sich der jugendliche Nasiry dem Mullah zu stellen traute. Die Antworten variierten von „so steht es geschrieben“ über „du verdienst keine Antworten“ bis hin zu flinken Schlägen auf seinen Kopf oder die Arme. Dazu wurde eine Art Fliegenklatsche aus flexiblem Holz benutzt, die mit Stoff überzogen war und für blaue Flecken sorgte, die tagelang blieben. Er lernte schnell, seine Zweifel herunterzuschlucken. Aber je mehr er das tat, desto unruhiger wurde er.

Mittlerweile hatte seine Schwester geheiratet und war weggezogen. An dem Tag, als sie ging, weinte er heimlich. Sie war immer sanft zu ihm gewesen und hatte ihn mindestens genauso umsorgt und geliebt wie seine Mutter. Ein Jahr später lud sie ihn ein, zu ihr zu ziehen und bei ihr zu leben: „Komm und lebe bei uns, kleiner Bruder. Du kannst hier zur Schule gehen und uns mit den Schafen und dem Haus helfen, es ist nett hier, du wirst schon sehen.“ Nasiry zögerte kurz, sagte dann aber zu.

Seine Mutter zu verlassen fiel ihm schwer. Aber sie hatte nun einen neuen Mann und ein eigenes Leben. Anders als er. Er fühlte sich wie ein Paket, das je nach den Bedürfnissen der anderen hin und her geschoben wurde. Er hatte weder irgendwelchen Besitz noch eine eigene Identität. Nasiry war ein schmaler Kerl, ein Überlebenskünstler mit einem Herz voller Zweifel, Fragen und Träumen. Er war gefangen in einem Schicksal, das bisher nicht in seinen Händen lag. Die Einladung seiner Schwester zu akzeptieren war vielleicht die erste eigenständige Entscheidung, die er jemals getroffen hatte.

Und sie sollte sich für ihn als ein Wendepunkt erweisen – vor allem wegen der Schule.

Sein Schwager hieß ihn willkommen, wie man neue Rekruten in einer Armee begrüßen würde. Nasiry war eine günstige Arbeitskraft, für die man nicht viel bezahlen musste: Unterkunft, Verpflegung, medizinische Versorgung, falls nötig, und natürlich Schule. Bald wurde er zum Onkel, und sich um das Kind seiner Schwester zu kümmern wurde zu einer seiner Aufgaben.

Der Morgen war für die Schule da, der Nachmittag für die Schafe, deren Hauptaufseher er bald wurde. Nasiry entdeckte, dass er es liebte zu lernen. Er war ein guter, wissbegieriger Schüler, was ihn sehr von seinen Klassenkameraden unterschied. Dabei war er alles andere als ein Außenseiter: Ständig lachte und spielte er mit den anderen, vor allem Cricket, und war in keinster Weise schüchtern oder introvertiert, sondern eigentlich immer gut gelaunt. Manchmal gingen sie gemeinsam zu einem nahe gelegenen Feld, um sich ein Buzkashi-Spiel anzuschauen. Bei dem brutalen afghanischen Volkssport ist es das Ziel, einen toten Ziegenbock zu fangen. Um besser sehen zu können, kletterten sie auf Bäume, die auf einem Hügel unweit des Spielfeldes standen. Beim Buzkashi gibt es kaum Regeln, deshalb geht es meist sehr chaotisch zu. Reiter aus den umliegenden Dörfern wetteiferten um den kopflosen Ziegenkörper. Ihre Anzahl änderte sich manchmal, aber es waren nie mehr als 30 Spieler. Es gab keine Teams. Allianzen wurden je nach Bedarf zwischen den Reitern geschmiedet und genauso schnell wieder aufgelöst. Es galt: jeder gegen jeden!

Manche sagen, Buzkashi sei eine perfekte Metapher für die Geschichte Afghanistans. Immer, wenn sich das Getümmel der Reiter zu einer Woge der Gewalt auftürmte und sich die Pferde zwischen Peitschenhieben, Schlägen und Stößen schweißgetränkt aufbäumten oder stürzten, brachen die Zuschauer in johlendes Gelächter aus. Nasiry und die anderen feuerten die Reiter aus vollem Halse an. Und wenn der Ziegenkadaver dann im Zielkreis landete, waren Schlägereien nichts Ungewöhnliches. Auch die belohnten die Kinder mit lautem Gelächter. Verletzungen und Knochenbrüche gehörten zum Spiel. Es war üblich, dass sowohl die Reiter als auch die Pferde beeindruckende Narben von den Spielen davontrugen. Doch das war nicht die Welt, in die Nasiry gehörte. Da war er sich sicher. Er konnte Gewalt nicht ausstehen und manchmal verfolgten ihn die Wettkämpfe bis in seine Albträume.

Er hatte oft das Bedürfnis nach Stille und Einsamkeit. Es gab viele Momente, in denen er seinen Geist auf Reisen schicken wollte. In seinen Tagträumen ließ er sich wie mit einem Segelboot von seiner Fantasie und dem Wind seiner Träume in fantastische Abenteuer treiben. Lesen zu lernen war für ihn, wie verborgene Schätze von unvorstellbarem Wert zu entdecken; es gab so viel Wissen! Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass seine Rastlosigkeit, die ihn ständig begleitete, ein Ventil gefunden und einen Sinn bekommen hatte.

Er lernte, den Koran zu lesen, um das, was ihm beigebracht wurde, überprüfen zu können. Mittlerweile hatte er verstanden, dass es klüger war, dem Mullah keine Fragen zu stellen. Dessen Leben und auch das vieler anderer Menschen in seiner Umgebung steckten so voller Widersprüche. Das machte Nasiry zu schaffen. Es trieb ihn um, wie sehr Beziehungen in dieser Gesellschaft von Scham und Ehre bestimmt wurden. Er konnte den Schleier der Heuchelei, der über den Erwachsenen um ihn herum lag, fast sehen. Obwohl er es nicht wollte, schnappte er die Gerüchte und Anschuldigungen gegen den Mullah auf, die sich die Leute nach dem Freitagsgebet beim Verlassen der Moschee zuflüsterten. Es war wie eine andere Form von Buzkashi, aber anstelle von Fäusten wurde mit Wörtern gekämpft und statt eines Ziegenkadavers wurde sein junges Herz mal hierhin und mal dorthin gezerrt.

Die Hilfsbereitschaft gegenüber den muslimischen Brüdern war das Hauptthema in den Predigten des Mullahs. Allerdings erweiterte er seine Vorträge um lange Exkurse über die Dringlichkeit, sich von den ungläubigen Götzendienern fernzuhalten, die unrein seien und verlogen bis auf die Knochen. Daraufhin brach er in Schimpftiraden gegen diese Ungläubigen aus und beschwor einen Heiligen Krieg gegen sie herauf, wobei die genaue Form und die Ziele dieses Krieges meist vage blieben.

Von Rauch und Blut war in diesem Glaubensbekenntnis die Rede. Beides wirkte seltsam fremd und abstoßend auf Nasiry.

Hatte das Schicksal ihm diesen Glauben zugelost?

Als ein paar Jahre später die Revolution1 das Land auf den Kopf stellte, kamen die Kommunisten an die Macht. Das dadurch ausgelöste Chaos gipfelte in der russischen Invasion, die wiederum den Aufstieg der Mudschahedin und ihrer Erzählung vom „Märtyrer-Tod für das Vaterland“ zur Folge hatte. In dieser Zeit wurde das Bild von Allah als Gott des Krieges und des Feuers vor allem für die Bevölkerung in den ländlichen Gegenden zur Lebens- und Glaubensgrundlage. Und für Nasiry kam die Zeit, sich seiner Unruhe und seinen Zweifeln zu stellen.

Es war ein ganz normaler Tag. Nasiry hütete die Schafe. „Hund“ lag faul neben ihm, seine Augen zusammengekniffen, aber nicht ganz geschlossen, und atmete wie immer schwer und gleichmäßig. Manchmal schnarchte er oder winselte leise. Wahrscheinlich träumte er davon, wie er ein Huhn jagte oder eine kleine Eidechse. Aber die Tatsache, dass er seine Augen nie ganz schloss, brachte Nasiry immer wieder zum Lächeln.

Es war nicht das erste Mal, dass er über mehrere Tage hinweg auf die Tiere aufpasste, aber er hatte es bisher nur wenige Male alleine gemacht. Manchmal war es eben nötig, die unmittelbare Umgebung zu verlassen und andere Erledigungen in weiter entfernten Dörfern zu machen. In diesen Fällen verbrachte er meist mehrere Nächte unter freiem Himmel. Für Nasiry war das kein Problem, er liebte den afghanischen Himmel bei Tag und bei Nacht. Außerdem nahm er seine Bücher mit. Einige Jahre waren vergangen, seit König Mohammed Zahir Shah abgesetzt und Afghanistan zur Republik erklärt worden war. Die Führung hatte Mohammed Daoud Khan übernommen, der erste Präsident Afghanistans. Als Folge einer Phase der Öffnung und des Fortschritts, die der ehemalige König noch selbst initiiert hatte, war der Standard der Schulen besser geworden. Immerhin gab es keinen Mangel an Büchern. Aber die Hauptstadt Kabul strotzte nur so von Verschwörungen gegen die Regierung. In diesen Tagen brütete die politische und militärische Elite eine Rebellion aus.

Nasiry wurde aus dem Schlaf gerissen. Er hatte seinen Rücken an einen Stein gelehnt, den er sich als Bett ausgesucht hatte. Seine Decke und sein Buch lagen auf seinen Knien, während der hartnäckige Wind der Nacht an dem Vorhang zerrte, der sein kleines Lager schützte. Aber etwas anderes musste ihn geweckt haben. Irgendetwas stimmte nicht. „Hund“ war nicht da. Er stand einige Meter entfernt. Eine kleine Gruppe Schafe stand eng und blökend beieinander, andere liefen hektisch im Kreis.

Nasiry brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, was los war. Zu lange, um schnell genug zu reagieren.

Er stand auf, immer noch schlaftrunken und zerzaust, und griff nach dem langen Stock, den er zum Wandern und zur Verteidigung benutzte. Er schnalzte mit der Zunge und tastete mit der freien Hand nach dem langen Messer, das er an der Hüfte trug. Das Schnalzen war ein Kommando an „Hund“, aber der warf ihm nur einen kurzen Blick zu und rührte sich nicht vom Fleck.

Woher kam die Gefahr? Wie lange war sie schon da? Wie hatte er einschlafen können, ohne etwas zu bemerken?