Wie ein Schmetterling im Käfig - Frauke Bielefeldt - E-Book

Wie ein Schmetterling im Käfig E-Book

Frauke Bielefeldt

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Beschreibung

Wie fühlen sich Menschen, die unter einer chronischen Krankheit leiden? "Wie ein Schmetterling im Käfig" – so jedenfalls erlebt sich Frauke Bielefeldt und fasst das in Worte, was viele Betroffene bewegt. Sie selbst leidet seit Jahren an ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom). Mit diesem sehr persönlich geschriebenen Ratgeber gibt sie Einblicke in ihr Leben und berichtet über alltagsrelevante Themen und Schwierigkeiten, vor denen chronisch kranke Menschen stehen. Und sie geht intensiv auf psychologische Aspekte wie Selbstwertgefühl und Menschenwürde ein. Durch praktische Ratschläge und Kontaktadressen erhalten die Betroffenen konkrete Hilfestellungen. "Die Kombination von Biografie, Authentizität, Weitsicht, Kreativität, Gottvertrauen und schriftstellerischer Begabung macht dieses sehr persönlich geschriebene Buch in jeder Hinsicht lesenswert. Dieses gut durchdachte und klar strukturierte Buch hilft in vielerlei Weise, eigene Fragen und Erfahrungen besser einordnen zu können und Zugang zum komplexen Erleben in chronischer Krankheit zu finden. Besonders die Anstöße zur persönlichen Reflexion sind hilfreich für Kranke genauso wie für ihre Begleitenden." Dr. med. Georg Schiffner, Vorsitzender Christen im Gesundheitswesen gem. e.V.

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Frauke Bielefeldt

Wie einSchmetterlingim Käfig

Perspektiven für ein Lebenmit chronischer Krankheit

Bildnachweis:

Cartoon Kap. 7: Text und Zeichnung Hans-Michael Sobetzko, 2001.

Cartoon Kap. 11: Text: Frauke Bielefeldt, Zeichnungen: Matthias Richter, 2005.

Bibelzitate folgen derLutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe,© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, sonst derHoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®.Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis.

3. Auflage © 2020 Brunnen Verlag GmbH, Gießen,

Edition Pulsmedien

2. Auflage 2013 pulsmedien, Worms

1. Auflage 2005 bei Gerth Medien GmbH, Asslar

Umschlagfoto: shutterstock

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul

Satz: DTP Brunnen

Druck: CPI Books GmbH

Gedruckt in Deutschland

ISBN Buch 978-3-7655-2101-0

ISBN E-Book 978-3-7655-7581-5

www.brunnen-verlag.de

Inhalt

Vorwort zur Neuauflage 2020

Zum Einstieg: Eine Idee gewinnt Gestalt

Teil 1:

Medizin & Gesundheitswesen

Kapitel 1: Im Käfig der Krankheit

Kapitel 2: Überleben im Ärztezirkus

Kapitel 3: Wo kommen die Brötchen her?

Kapitel 4: Mit einem kranken Körper leben

Teil 2:

Identität & Gefühle

Kapitel 5: „Hilfe, wer bin ich (noch)?“

Kapitel 6: Gefühlshygiene

Kapitel 7: Neue Lebensqualität

Kapitel 8: Probleme in der Psychosomatik

Teil 3:

Beziehungen & Kontakte

Kapitel 9: Konflikte vorprogrammiert

Kapitel 10: Wir brauchen Unterstützung

Kapitel 11: Die Kunst der Kommunikation

Kapitel 12: Meinen Platz finden

Teil 4:

Glaube & Heilung

Kapitel 13: Ein Gott (auch) für Kranke

Kapitel 14: Mein Freund Hiob

Kapitel 15: Heilung in Sicht?!

Kapitel 16: Gute Aussichten!

Schlusswort zur Neuauflage 2020

Nachwort eines Arztes

Von Dr. med. Georg Schiffner zur Neuauflage 2020

Anhang 1: Resilienz bei chronischer Krankheit

Anhang 2: Erkenntnisse der Glücksforschung

Anhang 3: Informationen zu ME/CFS

Anmerkungen

Vorwortzur Neuauflage 2020

Nach 2005 und 2013 macht sich der Schmetterling nun zum dritten Mal auf die Reise. Leben mit chronischer Erkrankung – das Thema hat leider nichts an seiner Aktualität eingebüßt, wie steigende Zahlen für viele Krankheitsbilder zeigen. Trotzdem finden sich nicht allzu viele Hilfen zum persönlichen Umgang mit solch einer Lebenssituation. Leserstimmen zum Buch folgen daher oft dem Tenor: „Endlich fühle ich mich einmal verstanden!“ Medizinische Fakten sind im Internetzeitalter ungleich verfügbarer geworden, aber ebenso wichtig ist es, die „Innenseite“ eines Lebens mit Krankheit aufzuzeigen.

Je genauer ich in die Version von 2013 schaute, desto mehr Passagen fand ich, die nicht mehr aktuell waren oder mit denen ich mich so nicht mehr wohlfühlte. Nicht nur die Medizin und Gesundheitspolitik haben sich weiterentwickelt, sondern auch mein eigenes Erleben. Das Schlagwort vom „ganzen Leben“ (vgl. Einstieg) ist für mich in den Hintergrund getreten; inzwischen überwiegt der Eindruck eines „Rumpflebens“: Grundfunktionen sind vorhanden, aber Aktivitäten und Gestaltungsmöglichkeiten sind oft so beschnitten, als ob mir Arme und Beine fehlten. Das Glas ist nicht voll, sondern nur halb voll oder eben halb leer. Manchmal überwiegt die Wahrnehmung von dem vielen, was fehlt, und manchmal kann ich mich an dem freuen, was alles noch da ist. Und manchmal kann ich mich entscheiden, welche Perspektive ich einnehmen möchte. Trotzdem war es wichtig, die Jahre mit dem Gedicht „Ein ganzes Leben“ zu leben, und ich wollte es nicht aus dieser Ausgabe streichen. So sind auch an anderen Stellen ältere Beschreibungen geblieben und ergänzt durch den Blick aus dem Jahr 2020. Auf diese Weise lässt sich auch ein Weg erkennen, den man als chronisch kranker Mensch mit den Jahren beschreitet – jeder anders, aber in manchen Stationen doch auch ähnlich.

So erscheint der Schmetterling nun also „runderneuert“ – über ein Viertel ist neu formuliert und einige neue Erkenntnisse und Erfahrungen sind eingeflossen. Auch Georg Schiffner (Vorsitzender von Christen im Gesundheitswesen) hat die Neuauflage zum Anlass genommen, sein Vorwort von 2005 zu überarbeiten und vieles neu darzustellen, was sich seitdem im Bereich Gesundheitswesen und Spiritualität getan hat. Vielen Dank dafür!

Dazu sind drei Anhänge gekommen: einer über das Thema der Resilienz, einmal speziell auf Leben mit chronischer Krankheit bezogen (Artikel von 2019), einer über Erkenntnisse aus der Glücksforschung bezüglich chronischer Krankheit (Buchbeitrag von 2012) und eine aktuelle Zusammenstellung von wesentlichen Informationen und Quellen zum Krankheitsbild ME/CFS, das mich selbst betrifft und das ich im Buch häufiger erwähne.

Die Herausforderung bleibt die gleiche wie 2005 und 2013: Wie gestaltet man Leben mit schwerer Krankheit? Wie erduldet man es nicht nur; wie findet man sich so hinein, dass man den vielen Zumutungen aktiv begegnet, seinen inneren Menschen lebendig hält und sich etwas von der Schönheit des Lebens bewahrt? Es bleibt eine Aufgabe, diesem seltsam fremden, ungebetenen Gast seinen Platz so einzuräumen, dass er nicht das ganze Leben bestimmt.

Ich wünsche mir, dass wir uns austauschen darüber, wie es gelingen kann. Wie wir uns über jede andere Aufgabe kundig machen, vor der wir stehen. Ich wünsche mir, dass Sie durch dieses Buch ein paar Anregungen dazu finden – und eine dicke Portion Mut. Mut dazu, die eigenen Abgründe auszudrücken, und Mut dazu, die Hoffnung nicht aufzugeben. Mut zum Klagen und Mut zur Gestaltung. Mut, um Hilfe zu bitten, und Mut, um neue Wege zu gehen und kreativ zu werden im Umgang mit dem, was sich nicht wegschieben lässt. Mut zur Auseinandersetzung mit der Krankheit und zum Konflikt mit anderen, die den Berg nicht sehen wollen oder können. Und Mut, in dem Ganzen Gott zu vertrauen und seinen Segen zu finden.

Der Wolken, Luft und Winden

gibt Wege, Lauf und Bahn,

der wird auch Wege finden,

da dein Fuß gehen kann.

(Paul Gerhardt)

Schmetterling, flieg!

Langenhagen/Hannover, im März 2020

Zum Einstieg:

Eine Idee gewinnt Gestalt

Als ich im Herbst 2003 an einem Wochenende für Kranke und Angehörige von der Organisation Christen im Gesundheitswesen teilnahm, fiel mir sofort auf, wie herrlich entspannt man hier mit dem Thema „chronische Krankheit“ umging. Keine bedrückende Stille, keine Patentlösungen oder Appelle – es lag eine Ruhe im Raum, in der jeder seinen Platz finden konnte. Behutsam beleuchteten die Mitarbeiter verschiedene Aspekte des Lebens mit chronisch eingeschränkter Gesundheit. Ich spürte, dass es die ganze Zeit wirklich um uns ging. Obwohl unsere Krankheitsbilder recht unterschiedlich waren, gab es da einen gemeinsamen Boden, der sich in Worte fassen ließ, die kommunizierbar waren. Manches an Fragen hatte ich ähnlich gelöst, manche vergleichbare Strategie gefunden.

Gestärkt kam ich nach Hause und schrieb in den nächsten Tagen das Gedicht „Ein ganzes Leben“. Als ich es anschließend einigen Freunden schickte, war ich von den Reaktionen überrascht. Was ich als kleine Selbstmitteilung gedacht hatte, berührte sie sehr. Ich hatte in den letzten Jahren als Redakteurin teilzeitlich für verschiedene Zeitschriften arbeiten können und so reifte in mir nun der Wunsch, einmal meine Gedanken zum Umgang mit Krankheit aufzuschreiben.

Meine eigene Krankheitsgeschichte zog sich nun schon über dreizehn Jahre hin mit allen ihren Höhen und Tiefen (mehr Tiefen), Erfahrungen und Beobachtungen. Während des Seminars war mir daher vieles vertraut gewesen. Und doch hatte es so unsagbar gutgetan, dies alles einmal von außen gesagt zu bekommen! Angesichts der enormen Zahlen über chronisch Kranke in Deutschland ist es erstaunlich, wie wenig zu diesem Thema zu lesen ist. Krankheiten scheinen mit recht exotischen Symptomen aufwarten zu müssen, um einen Platz im öffentlichen Bewusstsein ergattern zu können. Wenn es nicht gerade eine ins Auge springende Behinderung ist oder die Dramatik der Todesnähe mitschwingt (wie bei Krebs), führen viele Kranke ein wahres Nischendasein. Auch Aids ist wohl vor allem deswegen so beachtet, weil es ansteckend ist, nicht weil man sich so sehr dafür interessieren würde, wie Menschen mit dieser Krankheit zurechtkommen. Viele erkrankte Menschen haben es schwer, Verständnis für ihre Situation zu erlangen und die Unterstützung zu bekommen, die sie brauchen, um am beruflichen und gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können.

Es hätte mich also eigentlich nicht wundern sollen, dass der erste Verlagslektor, den ich auf meine Buchidee ansprach, mein Thema äußerst speziell fand und mich skeptisch auf die „sehr kleine Zielgruppe“ hinwies. Sein nächster Einwand lautete, dass ich „nicht vom Fach“ sei – vielleicht eine Erklärung dafür, weshalb oft so wenig über das Leben mit Krankheit zu lesen ist? (2020 hat sich dies ein wenig verändert; so erschienen etwa 2013 das Buch Eigentlich kerngesund – Mit Hindernissen mutig leben von der an MS erkrankten Andrea Schneider und Alles außer Mikado – Leben trotz Parkinson von Jürgen Mette, 2017 dann das Buch Chronisch hoffnungsvoll von Kerstin Wendel.) Selbst die deutsche Bundesregierung hatte es verpasst, eine Definition von chronischer Krankheit zu erarbeiten, als sie Anfang 2004 die Zuzahlungen im Gesundheitswesen einführte und den Chronikern eine Ausnahmeregelung gewährte. Monatelang wusste niemand, wer eigentlich in diese Rubrik gehörte, und es stellte sich heraus, dass wohl doch sehr viel mehr Menschen davon betroffen waren, als man vermutet hatte.

So wuchs in mir der Wunsch, meine Idee in die Tat umzusetzen. Nicht dass ich meine Erlebnisse besonders außergewöhnlich gefunden hätte. Aber vielleicht sind es gerade diese ganz banalen Alltagsszenen, die anderen Kranken helfen können, ihre eigene Last zu tragen, und anderen Lesern, sie besser zu verstehen. Als Theologin hatte ich mich auch auf einer sehr grundlegenden Ebene mit den Fragen nach Leid und Sinn beschäftigt.

Irgendwann kam in meinem Kopf der Schmetterling dazu. Das Bild von dem leichten, quirligen Wesen, das eigentlich auf eine Blumenwiese gehört und nun in einen Käfig eingesperrt ist, wird uns das ganze Buch hindurch begleiten. Es vereint für mich beides: den Blick auf die „artfremde“, unangenehme Realität des Käfigs, aber auch die Perspektive für eine bewusste Lebensgestaltung, die auch diesem Käfig mit seinen Beschränkungen ein lebenswertes Dasein abringen kann.

Unser Schmetterling wird uns mitnehmen auf die Reise durch seinen Käfig. Denn je eingehender wir seine Gegebenheiten erkunden, desto besser können wir unsere verbleibenden Spielräume entdecken und unser Krankheitsmanagement aktiv gestalten. Als Erstes wird er uns die unmittelbaren praktischen Folgen aufzeigen, wie sie in Gestalt unseres kranken Körpers, der Medizin und des Gesundheitswesens auf uns zukommen (Teil 1). In einem zweiten Schritt wird er uns tief in seine Schmetterlingsseele blicken lassen und Fragen der Identität und der Gefühle beleuchten (Teil 2). Als Drittes wird er uns auf die Ebene der Kontakte und Beziehungen führen und uns aufzeigen, welche besonderen Konflikte durch Krankheit entstehen können und welche Lösungsansätze es gibt (Teil 3). In einem vierten Schritt leitet er uns zu Fragen des Glaubens und der Spiritualität, die mit Krankheit einhergehen (Teil 4).

Machen wir uns also auf den Weg! Er wird gesäumt sein von einigen Gedichten, die während der letzten Jahre entstanden sind. Jedes Kapitel wird mit einem oder mehreren Anstößen enden, die dazu anregen wollen, mit einem ganz konkreten Schritt tatsächlich zu beginnen. Sie richten sich – wie das ganze Buch – nicht nur an kranke Menschen, sondern auch an Angehörige, Freunde und Bekannte, Ärzte und Psychologen, Seelsorger und Gemeindeleiter. Krankheit betrifft nie nur den Patienten, sondern auch sein Umfeld.

Dass ich durchweg nur die männlichen Formen verwende, hat rein praktische Gründe. Wer sich daran stößt, möge sich an den vielen Beispielen im Buch erfreuen, die von Frauen handeln. Kranke nenne ich „Kranke“, „kranke Menschen“ oder „Patienten“ – der Begriff „Betroffene“ drückt für mich eine künstliche Distanz aus, die mir im Umgang mit kranken Menschen manchmal negativ auffällt. Mein Wunsch ist, dass die folgenden Seiten helfen mögen, diese Distanz ein wenig kleiner werden zu lassen.

Teil 1

Medizin & Gesundheitswesen

Kapitel 1

Im Käfig der Krankheit

Warum bin ich hier?

Wer hat mich hierher gebracht?

Werde ich je wieder

In die Freiheit hinausfliegen können?

Es ist eng im Käfig

Wenn ich stillhalte, geht es

Aber wenn ich mich bewegen will

Stoße ich schnell an die Gitterstäbe

Der Käfig sperrt ein

Und er schließt aus

Von dem Leben da draußen

Ich kann mich beschäftigen

Oder rausschauen und beobachten

Das ist immerhin besser

Als mir ständig den Kopf anzuschlagen

An den Gitterstäben

Die zu fest sind

Um auszubrechen

Warum bin ich hier?

Normalerweise bedeutet Krankheit eine Unterbrechung vom normalen Lebensrhythmus. Für ein paar Tage fesselt einen die Grippe ans Bett, nach einer Knieoperation können es auch schon einmal ein paar Monate werden. Aber der Charakter des Ausnahmezustandes bleibt.

Ganz anders nun, wenn die Symptome chronisch werden oder die Diagnose einer chronischen Krankheit im Raum steht: Multiple Sklerose (MS), Fibromyalgie, chronische Bronchitis, Niereninsuffizienz, Rheuma oder Diabetes. Dann kommen wir nicht darum herum, das Unangenehme als Normalzustand anzuerkennen und einen Weg zu suchen, mit ihm zu leben. Das passiert gar nicht so selten und nimmt leider immer weiter zu.

Ein paar Zahlen

Nach vorsichtigen Schätzungen ist in Deutschland etwa jeder Siebte chronisch krank.1 Neuere Umfragen von Statista ergeben sogar schon für die Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen einen Prozentsatz von 10 Prozent, der dann bei den älteren Lebensjahrzehnten kontinuierlich ansteigt (zum Beispiel 30- bis 39-Jährige: 20 Prozent, 60- bis 69-Jährige: 38 Prozent).2 Genauere Zahlen liegen vor für Diabetes (2005: ca. 6,3 Mio., 2020: über 7 Mio.),3 Niereninsuffizienz (2011: 80 000)4, Multiple Sklerose (2005: 120 000 bis 140 000, 2020: 220 000 bis 250 000),5 und Krebs. Alleine Brustkrebs zählt jährlich fast 70 000 Neuerkrankungen (2005: 50 000).6 Unter dem Stichwort „Rheuma“ werden verschiedene schmerzhafte Erkrankungen des Bewegungsapparates zusammengefasst (entzündlich oder nicht entzündlich); für die häufigste, die rheumatoide Arthritis (chronische Polyarthritis) geht man von rund 800 000 Erkrankten aus7 – das ist allein für diese Erkrankung fast ein Prozent der Bevölkerung. Für ME/CFS (s. u.) sind die Zahlen schwierig zu erheben, weil die Diagnose oft nicht offiziell gestellt wird, aber Experten und Patientenverbände gehen von 240 000 bzw. 300 000 Erkrankten in Deutschland aus.8 Die Zahlen zeigen nicht nur, dass sehr viele Menschen betroffen sind, sondern auch, wie stark manche Erkrankungen in nur 15 Jahren zugenommen haben.

Andere häufige Krankheiten sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bleibende Schädigungen nach Unfallverletzungen und Schlaganfällen, chronischer Kopfschmerz, chronische Erkrankungen der Atemwege, Krankheiten des Magen-Darm-Traktes, Tinnitus, Aids, Leberzirrhose und Epilepsie. Verantwortlich dafür gemacht werden steigende Umweltbelastungen, ungesunder Lebenswandel, höhere Lebenserwartung und der medizinische Fortschritt. Da die Lebenserwartung allgemein weiter ansteigt, geht man davon aus, dass dieser Trend in den nächsten Jahrzehnten anhalten wird.9

Meine eigene Geschichte

Bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr war ich ein ganz normaler Schmetterling; ich flog durch meine Kinder- und Jugendwiese, kleine Verschnaufpausen wegen Bauchweh oder Erkältung inbegriffen, wie bei jedem Kind.

Dann kam der Ostersonntag 1990. Auf einer Jugendfreizeit bekam ich eine heftige Grippe, von der ich mich nie wieder erholen sollte. Wochenlang ging es auf und ab; immer wenn ich meinte, bald auskuriert zu sein, kam eine neue Welle von leichtem Fieber, geschwollenen Lymphknoten, Halsschmerzen und bleierner Erschöpfung. Verschiedene Verdachte wurden nicht bestätigt und so blieb nur die vage Aussage, dass mit meinem Immunsystem etwas nicht in Ordnung sei. Die verbleibenden anderthalb Schuljahre überstand ich, indem ich nachmittags und am Wochenende komplett im Bett (oder auf dem Sofa) lag. So konnte ich meine Fehlzeiten an den Vormittagen gerade so in Grenzen halten, dass ich mein Abitur machen durfte. Schon hier erlebte ich wahre Wunder, wenn ich rechtzeitig vor den Klausuren den Stoff noch so aufholen konnte, dass sich meine Ausfälle nicht in den Zensuren niederschlugen.

So lernte ich, mit meinem eingeschränkten Rhythmus halbwegs zurechtzukommen, und begann ein Studium. Doch am Ende des ersten Studienjahres passierte die zweite Katastrophe: Während eines Urlaubs in der Tschechei holte ich mir Insektenstiche, die sich böse entzündeten. Zwei Wochen war ich richtig krank und meine Beine mit den geschwollenen Entzündungsherden übersät. Es sah ganz nach einer Borreliose aus. Doch weil der Arzt die entsprechenden Werte im Blut damals nicht nachweisen konnte, bekam ich keine Behandlung.

In den Wochen danach wurde meine Erschöpfung wieder deutlich schlimmer, außerdem stellten sich im nächsten Jahr (1993) schlimme Muskelschmerzen ein, die über die bleierne Abgeschlagenheit weit hinausgingen. Als ich mich vor Schwachheit kaum noch auf dem Stuhl halten konnte, war ich endlich bereit, bundesweit nach Ärzten zu suchen, die mir weiterhelfen konnten. Ich hatte schon einmal von dem Chronischen Fatigue-Syndrom (CFS, vgl. Anhang 3) gelesen. In der Beschreibung hatte ich mich vollkommen wiederfinden können, sodass ich mich an einen spezialisierten Arzt in Düsseldorf wandte.

Nach Blutuntersuchungen im Wert von 8 000 DM waren wir einen echten Schritt weiter: Mein Immunsystem bestand aus einem Durcheinander von zu hohen und zu niedrigen Werten, ich hatte doch eine Borreliose (es gab inzwischen ein neues Testverfahren) und man fand in meinem Blut eine Chemikalie, die mich vergiftet hatte (PCP10, früherer Inhaltsstoff von hoch wirksamen Holzschutzmitteln). Sofort war mir alles klar: Wir hatten 1987 im Haus umgebaut und in meiner neuen Wintergartenecke für die Fußbodenhölzer ein Mittel verwendet, das eigentlich nur für den Außenbereich vorgesehen war. Es hatte monatelang gestunken, aber wir hatten uns nichts weiter dabei gedacht; erst in den Jahren darauf sollten Berichte über durch Holzschutzmittel verseuchte Kindergärten und Schulen in die Medien kommen.

Nun erinnerte ich mich, dass ich schon ein Jahr vor dem besagten Ostersonntag sehr viel häufiger krank gewesen war als zuvor und in der Schule oft meinen Kopf auf dem Tisch abgelegt hatte. Ich hatte das alles nicht weiter beachtet und mir gedacht: Nun werde ich halt älter! Auf einmal schien das Puzzle zusammengesetzt und ich bekam über Monate hinweg verschiedene Infusionen und Medikamente verabreicht, um die Gifte aus dem Körper zu holen, die Borreliose zu bekämpfen und das Immunsystem wieder aufzubauen. Mir wurde gesagt, dass es mir in einem halben Jahr wieder gut gehen würde, und so stellte ich meine Urlaubs- und Studienpläne darauf ein.

Seitdem sind viele Jahre vergangen. Es geht mir kein bisschen besser, stattdessen sind verschiedene Folgeprobleme dazugekommen. Ich habe zig verschiedene Untersuchungen und Behandlungsversuche mitgemacht, bin operiert worden und habe auch die psychosomatische und die alternativmedizinische Schiene probiert. Ich kann nur ein paar Stunden in der Woche arbeiten, jeden Tag brauche ich sehr viel mehr Schlaf als andere und dazu weitere Ruhephasen. Ich muss einen Rollstuhl benutzen, um länger als ein paar Minuten auf den Beinen sein zu können, zum Beispiel um eine Stadt zu besichtigen oder im Wald zu spazieren. Stehen in einer Warteschlange ist unmöglich, deswegen hole ich mir einen Stuhl (inzwischen habe ich für solche Gelegenheiten einen Fischerstuhl, den man praktisch als Rucksack auf dem Rücken mitnehmen kann) oder bitte jemanden, meinen Platz zu halten.

Jede Veranstaltung oder Feier wird zur Tortur, wenn fast alles im Stehen stattfindet, die Luft schlecht ist oder ich keine Möglichkeit finde, mich zwischendurch hinzulegen. Außerdem bin ich extrem erkältungsanfällig und habe unzählige grippale Infekte im Jahr. In manchen Zeiten kommen heftige Einschlafstörungen oder orthopädische Probleme dazu. Es vergeht kaum eine Woche ohne ein Zusatzproblem zur eigentlichen Erschöpfungsproblematik.

Ich fühle mich oft wie in einem Käfig. Der Käfig heißt ME/CFS. („ME“ ist eine andere Bezeichnung für das nach der WHO unter G93.3 definierte Chronische Fatigue-Syndrom und bedeutet „Myalgische Enzephalomyelitis; vgl. Anhang 3). Doch selbst diese Bezeichnung ist umstritten, besonders in Deutschland. Diese Krankheit hat vor vielen Jahren mein Leben so zerschossen, dass es seitdem keine Normalität mehr gegeben hat. Trotzdem halten mich viele Ärzte für quasi gesund – wie so oft bei ME/CFS-Patienten, die häufig durchs Raster schulmedizinischer Diagnostik fallen, weil die spezifischen Biomarker (noch!) fehlen, die unwiderlegbar beweisen würden, dass wir uns unsere Beschwerden nicht einbilden. Auf den ersten Blick machen die meisten auch einen völlig normalen Eindruck und wirken nicht schwer krank, sodass es dann schwer zu glauben ist, dass man kaum vom Parkplatz bis zum Haus laufen kann geschweige denn in der Lage ist, Stunden am Stück zu arbeiten.

Alle Anstrengung führt zu Erschöpfung, ob ich gehe, stricke oder denke. Aber das sieht man erst hinterher. Selbst ich spüre es so richtig erst einige Stunden später, sodass ich ständig in der Versuchung stehe, mich zu überfordern und hinterher wieder die viel zu hoch verzinste Rechnung zahlen zu müssen. Auch das ist Teil meines Käfigs: mich ständig überwachen zu müssen, um mich nicht in Katastrophen hineinzureiten. Zudem ist mein Käfig für viele unsichtbar – eine Krankheit, von der man in Deutschland noch nicht genügend gehört hat (vgl. Anhang 3), und eine Patientin, die auf den ersten Blick nicht krank wirkt. Wie viele andere habe ich nicht nur mit meinem Käfig zu kämpfen, sondern auch damit, dass andere diesen Käfig nicht wahrnehmen und Dinge von mir verlangen, die für mich einfach unmöglich sind.

Wer ist „schwerwiegend chronisch krank“?

(Richtlinie vom 22.1.2004 zur Gesundheitsreform vom 1.1.2004, im Sinne des § 62 des SGB V, zuletzt geändert am 17.11.2017)

Schwerwiegend chronisch krank sind Patienten, die sich

in einer Dauerbehandlung befinden, die seit mindestens einem Jahr mindestens einen Arzttermin pro Quartal erforderlich macht,

und außerdem

pflegebedürftig sind und Pflegegrad 3–5 erhalten haben (Sozialgesetzbuch/SGB XI, Kap. 2),

oder

einen Schwerbehinderungsgrad (GdB) bzw. eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 60 % nachweisen können (wobei GdB oder MdE zumindest mitbegründet sein muss durch die Krankheit, die die Dauerbehandlung erfordert)

oder

nach ärztlicher Bestätigung einer kontinuierlichen medizinischen Versorgung bedürfen, ohne die eine lebensbedrohliche Verschlimmerung entstehen würde oder zumindest die Lebenserwartung vermindert oder eine dauerhafte Beeinträchtigung der Lebensqualität eintreten würde.

Jeder Käfig ist anders

Andere Krankheiten bringen andere Probleme und Belastungen mit sich. Vielleicht sind Sie nierenkrank und müssen jeden zweiten Tag auf der Dialysestation verbringen. Oder Sie leiden an Rheuma oder Migräne und müssen mit unerträglichen Schmerzen zurechtkommen. Wer lang anhaltende Schmerzen nicht kennt, kann kaum ermessen, wie viel Kraft das raubt und wie sehr andere Gefühle dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden.

Besonders belastend ist die Situation, wenn nicht herausgefunden wird, worunter man leidet. Ein Mann erzählte einmal in einer Talkshow, dass er schon lange unter seltsamen Zuckungen gelitten hatte (Tics). Es war erlösend für ihn, als endlich jemand die Diagnose stellen konnte: Tourette-Syndrom. „Jetzt hat das Kind einen Namen!“11 Auch für mich war es eine ungeheure Erleichterung, als ich Ärzte fand, die mit der Diagnose „ME/CFS“ arbeiteten. Es macht die Sache noch einmal doppelt so schwer, wenn man schwer krank ist, aber die Krankheit noch nicht einmal benennen kann. Oder wenn es eine Diagnose gibt, aber diese unter den Ärzten nicht anerkannt oder umstritten ist. Das kommt häufiger vor, als man meinen würde. Hier gerät der Patient in die seltsame Rolle, seine eigene Krankheit noch verteidigen zu müssen – als ob er sie irgendwie behalten wollte.

Ein grundlegender Unterschied im Krankheitserleben besteht darin, ob die Krankheit nach außen hin sichtbar ist oder nicht. Menschen, die mit einer Gehbehinderung leben müssen, im Rollstuhl sitzen oder Gliedmaßen amputiert haben, sind mit völlig anderen Problemen konfrontiert als Menschen mit inneren Krankheiten: Viele Orte sind für sie unerreichbar, viele Positionen erst recht, und sie müssen ständig ihren Mitmenschen beweisen, dass sie neben ihrer Behinderung doch eigentlich ganz normale Menschen sind. Das Mitgefühl, das ihnen hierzulande oft prompt entgegenschlägt, ist natürlich besser als offene Ablehnung, wird aber oft als abwertend statt hilfreich empfunden. Man traut ihnen einfach nichts zu!

Eine weitere Gruppe häufiger chronischer Erkrankungen sind psychische Krankheitsbilder. Diese Gruppe hatte ich zunächst gar nicht im Blick, als ich 2005 dieses Buch schrieb, doch es zeigte sich, dass auch Menschen, die von Depressionen, Posttraumatischen Belastungsstörungen oder ähnlichen langwierigen (und oft lebenslangen) Leiden betroffen sind, sich in vielem im Buch wiederfanden. Leben mit vorwiegend psychischer Krankheit bringt seine ganz eigenen Herausforderungen mit sich, da der „Käfig“ noch näher an den Kern des Menschen heranrückt als beim Leben mit einem kranken Körper und die Lasten nach außen hin noch unsichtbarer und daher für andere oft noch weniger nachvollziehbar sind als bei körperlichen Gebrechen.

Auch die Verläufe der Krankheiten können sehr unterschiedlich sein. Während einer mit einer konstant schlechten Situation lebt, werden andere von Schüben heimgesucht (rezidivierend – wiederkehrend) oder müssen zusehen, wie es immer weiter bergab geht (progredient – fortschreitend). Und natürlich der Schweregrad der Einschränkungen und Beschwerden – manche werden sich beim Lesen dieses Buches wiederfinden, während es einigen zu krass dargestellt erscheinen wird und anderen wiederum als zu harmlos.

Besonders erschütternd ist chronische Krankheit bei Kindern. Manche müssen sich mit Neurodermitis oder Heuschnupfen herumschlagen, andere bekommen schon früh schwere Krankheiten wie Diabetes. ME/CFS-kranke Kinder können oft nicht einmal am normalen Schulunterricht teilnehmen. Wer schon als Kind mit Krankheit aufwächst, hat einen ganz anderen Start ins Leben. Andererseits lernt er schon früh, mit seinen Rahmenbedingungen umzugehen.

In Gesprächen mit Körperbehinderten, die seit ihrer Geburt eingeschränkt waren, fiel mir auf, dass sie ein ganz anderes Lebensgefühl beschreiben. Sie kannten ihren Körper und ihr Leben gar nicht anders, während ich siebzehn Jahre lang ein ganz normales gesundes Leben geführt habe, das ich lange noch irgendwie als Ausgangsstandard verinnerlicht hatte. Beides hat seine Tücken: Sie hadern nicht so sehr mit ihrem Zustand, kennen nicht diese tiefe innere Rebellion und Auflehnung gegen den eigenen Leib. Dafür haben sie eher das Gefühl, in einer Schublade zu stecken und vieles, was zum Leben Gesunder dazugehört, gar nicht zu kennen. Wie ein Blinder, der gar nicht weiß, was Sehen ist – oder der es einmal gekannt hat und nun umso schmerzhafter vermisst.

Ein letztes Merkmal, das den ganz persönlichen Krankheitskäfig entscheidend mitbestimmt, liegt darin, ob die Krankheit lebensbedrohlich ist oder nicht. Wenn der Tod droht, ist der kranke Mensch mit ganz neuen Herausforderungen an seine Existenz konfrontiert. Auch wenn es ihm zwischendurch gut geht, ist sein Leben doch völlig auf den Kopf gestellt und von dem drohenden Ende überschattet.

Ein Angriff auf das Leben

Alle Krankheiten haben eines gemeinsam: Sie setzen uns engere Grenzen. Eine ME/CFS-kranke Frau sagte zu mir: „Das Schlimmste am Kranksein ist, vom Leben abgeschnitten zu sein. Mein Aktionsradius ist so begrenzt!“

Das ist bei Rollstuhlfahrern am offensichtlichsten, für sie gibt es unüberwindbare Schwellen, Treppen und Absätze. Ich fragte eine Freundin, die wegen einer neuromuskulären Blockade seit ihrer frühen Kindheit einen Rollstuhl braucht, welches ihre größten Schwierigkeiten im Alltag seien. Sie schrieb mir: „Für Rollstühle unzugängliche Gebäude wie Kinos, Läden, Cafés, Arztpraxen, Wohnungen, Schulen, Ämter … das macht mindestens 80 Prozent aller Schwierigkeiten aus. Wenn man überhaupt mal überall reinkäme, wäre schon vieles gewonnen!“

Für mich ist es die Wegstrecke von 300–500 m, die ich an den meisten Tagen nicht überschreiten kann, die Erschöpfung, die mir nach einem Treffen mit Freunden einen Ruhetag einbrockt, oder die zehn Stunden Schlaf pro Nacht, ohne die bei mir gar nichts geht. Unser Körper kann zum Gefängnis werden, von dem es keinen Ausgang oder Urlaub gibt. Wir nehmen ihn immer mit.

Das verbaut nach und nach viele Lebensmöglichkeiten, unter denen die Erkrankten oft mehr leiden als unter der eigentlichen Krankheit. Eine Freundin, die schon sehr lange schwer krank ist, erlebt fast täglich große Schwäche, Krämpfe und unerträgliche Schmerzen. Trotzdem sagt sie mir immer wieder, dass für sie das Schlimmste am Kranksein das Alleinsein ist. Sie ist eigentlich ein geselliger Mensch, aber ihre Schwachheit erlaubt es ihr kaum, mit anderen Menschen zusammen zu sein, selbst Telefonieren ist oft nicht möglich. Krankheit sperrt ein und schließt aus. Damit zerstört sie auf Dauer die Lebensperspektive. Ein ME/CFS-Kranker nannte einmal die Perspektivlosigkeit als den für ihn schlimmsten Punkt am Kranksein.

Egal wo für die kranke Person der subjektive Schwerpunkt liegen mag, die Krankheit greift ihr Leben an, sei es buchstäblich biologisch oder im sozialen, beruflichen oder psychischen Bereich. Krankheit zerstört die körperlichen Funktionen und damit verbunden unsere Lebensmöglichkeiten. Sie entfremdet uns von unserem eigenen Körper. Sie zerbricht die Einheit zwischen unserer Person und unserem Leib und verletzt damit nicht nur unseren Organismus, sondern uns selbst.

Ein Spruch besagt: „Der Gesunde hat viele Wünsche, der Kranke nur einen einzigen.“12 Wenn wir krank werden, wird unser ganzes Leben infrage gestellt: Werden wir je wieder glücklich sein können? Was fangen wir jetzt noch an mit unserem Leben? Wir fühlen uns zutiefst verunsichert, unser Körper sendet ständig unangenehme und alarmierende Signale aus und Ängste steigen in uns auf: Werden wir je wieder wie vorher leben können? Wie wird sich unser Leben verändern? „Hauptsache, gesund“?

Anstoßfür Kranke

Ich will mir darüber klar werden, wie mein ganz persönlicher Krankheitskäfig aussieht.

Was macht ihn aus, womit komme ich zurecht, worunter leide ich besonders?

In welchen Punkten brauche ich neue Lösungen? Wie und wo könnte ich danach suchen?

Kapitel 2

Überleben im Ärztezirkus

Zirkus Medizin

Das Ärztekarussell dreht sich

Tablettenregen in allen Farben

Messwerte hangeln sich

In schwindelerregender Höhe

Von einem Plateau zum nächsten

Der Dompteur schwingt seine Peitsche

Die Clowns lachen schrill

Ein Lama spuckt verächtlich auf

Das Versuchskaninchen in der Manege

– Als Sie aus diesem Albtraum erwachen, stellen Sie fest, dass Sie immer noch im Wartezimmer sitzen. Ihr Termin verschiebt sich weiter nach hinten und die Luft ist von den vielen wartenden Leuten inzwischen so schlecht, dass Sie ein wenig eingenickt waren. Nun ist wieder alles da: die kalten Flure, die (meist uralten) Illustrierten, Ihr schales Beklommenheitsgefühl in der Magengegend.

So kann es Ihnen gehen, wenn Sie selbst zur betroffenen Person geworden sind. Der Ärztezirkus hält eine Fülle von Szenarien bereit, von denen ich Ihnen hier einige vorstellen möchte.

Als Sie zum ersten Mal in die Arztpraxis kamen, war alles noch ganz anders. Sie hatten sich entschieden, der Sache auf den Grund zu gehen und herauszufinden, was mit Ihrem Körper los ist. Der Doktor würde Ihnen sagen können, was Sie haben und was zu tun sei. So war es doch immer gewesen: Man hatte einen gebrochenen Arm oder eine Entzündung am Auge, ging zum Arzt, bekam einen Verband oder etwas verschrieben, und dann war wieder alles in Ordnung. Wenn es ganz schlimm kam, wurde man vielleicht noch an einen Facharzt überwiesen oder musste sich am Ende gar einer Operation unterziehen.

Doch dann passiert das Schockierende: Ihr Arzt findet nichts Eindeutiges und schickt Sie zu einer Reihe von Fachärzten. Die ersten beiden finden nichts Ungewöhnliches. Der dritte stellt etwas fest, aber er weiß keine Hilfe dagegen. Der vierte schlägt Ihnen eine Therapie vor, aber der fünfte sieht Ihren Fall wieder ganz anders und von dieser Behandlungsform rät er erst recht ab.

Dann findet man eine echte Spur. Seitdem nehmen Sie regelmäßig Medikamente, bekommen häufig Blut abgenommen, verfolgen verschiedene Behandlungsmethoden. Seitdem haben Wartezimmer und Sprechstundenhilfen einen festen Sitz in Ihrem Leben. Aber nichts hat Ihnen bis jetzt so recht helfen können. Immer wieder gibt es Rückschläge, mit denen niemand gerechnet hatte.

Das ist noch lange nicht die einzige schockierende Erfahrung, die auf Sie zukommen kann. Szenario 2 könnte folgendermaßen aussehen:

Es wird tatsächlich ein eindeutiger Befund festgestellt. Doch die Diagnose trifft Sie wie ein Hammer. Alzheimer – Sie werden nie wieder gesund werden. Oder Niereninsuffizienz – Sie werden fortan jeden zweiten Tag Ihres Lebens auf der Dialysestation verbringen. Von einem Tag auf den anderen ist Ihr Leben auf den Kopf gestellt und Sie müssen bitter erkennen, dass es viele Krankheiten gibt, für die man noch keine hilfreichen Therapien gefunden hat oder die noch gar nicht richtig bekannt und erforscht sind.

Vielleicht hatten wir in unserem Hinterkopf die Vorstellung eines Halbgottes in Weiß, der für alles eine Lösung hat und alles wieder in Ordnung bringen wird. Vielleicht haben Ärzte dieses Bild auch nach Kräften unterstützt und nicht die nötige Transparenz gezeigt, die ein realistischeres Bild der Medizin vermittelt hätte. Es verunsichert uns zutiefst, wenn wir feststellen müssen, dass die Fachleute, auf die wir vertraut haben, uns nicht so helfen können, wie wir es erwartet hatten. Auf die harte Tour lernen wir, dass der menschliche Körper ein unendlich komplexer Organismus ist und keine Maschine, die sich mit den richtigen Handgriffen und Ersatzteilen problemlos reparieren lässt.

Maschine Medizin

2003 traf Dietrich Grönemeyer den Nerv der Zeit, als er mit seinem Buch Mensch bleiben: High Tech und Herz – eine liebevolle Medizin ist keine Utopie einen Bestseller landete. Er schrieb: „Wir müssen wieder dazu kommen, Dinge zusammenzusehen, die man nicht auseinanderreißen darf: Mensch – Mitmensch – Gesundheit – Medizin – Kultur und globale Welt.“

Leidenschaftlich prangert er an, wie Apparate den menschlichen Kontakt zum Arzt ersetzen, und fordert dazu auf, Hightech mit emotionaler Wärme zu verbinden. Menschen fühlen sich allein gelassen und der Apparatemedizin ausgeliefert. Tatsächlich kommt die herkömmliche Schulmedizin oft mit Untersuchungen, Befunden und Blutanalysen aus. Die Person des Patienten, seine Geschichte und seine Selbstwahrnehmung spielen selten eine ernsthafte Rolle, stattdessen wird sein „Fall“ nach Zahlen und Techniken behandelt.

Man kann sich schon wie ein rohes Stück Fleisch fühlen, wenn man durch all diese Geräte geschleust wird. Wilhelm Doerr hat dazu schon 1972 formuliert: „An der Wirklichkeit des kranken Menschen gemessen ist die streng kausal-naturwissenschaftliche Medizin … nicht ein Bild dessen, was wirklich ist. Dies bedeutet, dass die naturwissenschaftlichen Daten alle richtig sind, das ausschließlich hierauf begründete Bild des Menschen aber doch falsch ist.“13

Georg Schiffner, selbst Internist, drückte es bei seinem Vortrag während des besagten Wochenendes für Kranke und Angehörige so aus: „In einer rein auf den körperlichen Horizont begrenzten Sicht der Medizin droht der Kranke als Person hinter Untersuchungsbefunden, Laborwerten, medizinischen Daten und so weiter verloren zu gehen.“

Die Journalistin Karin Spaink attestiert dem Medizinbetrieb „Sprachlosigkeit“ und „Gefühlsanalphabetismus“, und beschreibt diese Maschinerie als „zweite Enteignung des Körpers“.14

Der Psychologe Horst-Eberhard Richter schrieb schon in den Siebzigerjahren: „Das Klinikleben wird durch Prozesse bestimmt, die vorrangig dafür sorgen, dass die Patienten für die Verarbeitung und Auswertung durch eine Fülle von Geräten zubereitet und diesen fließbandartig überstellt werden.“15 Für die Patienten bedeutet das: „Natürlich ist den Menschen in den Krankenhausbetten auch irgendwie zumute. Sie grübeln, was aus ihnen, ihrer Arbeit, ihren Familien wird … Sie sehnen sich nach Ermutigung, um ihren Willen zum Gesundwerden und zur eigenständigen Lösung ihrer Probleme zu stärken. Aber zunächst geht es ihnen einfach darum, dass sie überhaupt in der Armseligkeit ihres Krankseins menschliche Nähe und Teilnahme spüren können. Sie möchten merken, dass sie hier auch eine Person sind, für die man sich interessiert und die man achtet … Es ist für sie kränkend, nur in einer möglichst handlichen und reibungslosen Weise mitfunktionieren zu sollen. Aber in der Regel wird ihnen die Einsicht nicht erspart, dass im Klinikbetrieb nur ihre ‚Maschine Organismus‘ wichtig ist.“16

Ungemütliche Einsichten

Eine große Zahl von Krankheiten ist noch unzureichend erforscht.

Gegen viele Krankheiten gibt es noch keine wirksame Therapie.

Es entstehen immer neue Krankheiten.

Manche Krankheiten sind schwierig zu diagnostizieren.

Ärzte wissen nicht alles, haben unterschiedliche Ansichten und machen Fehler (= sind Menschen).

Ärzte kennen sich mit Menschen manchmal nicht so gut aus.

Manche Medikamente haben heftige Nebenwirkungen.

Manche Untersuchungen sind sehr unangenehm.

Viele Therapien haben keine Erfolgsgarantie.

Ärzte haben wenig Zeit und müssen rechnen.

Krankenkassen müssen rechnen.

Medikamentenherstellung ist ein Wirtschaftszweig.

Manche Entscheidungen über spezielle Behandlungen nimmt Ihnen niemand ab.

Ignoranz in Weiß

Szenario 3 sieht folgendermaßen aus:

Ihr Arzt meint, genau zu wissen, was mit Ihnen los ist, und behandelt Sie entsprechend. Die Blutwerte, die ihn interessieren, verändern sich tatsächlich nach seinen Vorstellungen, doch Ihr Zustand ändert sich überhaupt nicht. Jedes Mal, wenn Sie ihn darauf aufmerksam machen, verweist er auf die Befunde und besteht darauf, auf dem richtigen Weg zu sein. Irgendwann wirft er Ihnen vor, dass Sie eigentlich gar nicht gesund werden wollen. Denn die Alternative, dass er anscheinend doch nicht am Kern des Problems angesetzt hat, kommt für ihn nicht infrage.

Das ist auch meine eigene Erfahrung. Im Laufe meiner Krankheitsgeschichte bin ich schon auf ein gutes Dutzend Nebenschauplätze hin therapiert worden, darunter Immundefekt (Immunglobuline), Schilddrüse (Hashimoto), Quecksilbervergiftung, Darmpilzinfektion (Candida), chronische Entzündungen (Streptokokken und Mycoplasmen) und Nervensystem (Polyneuropathie). Alle Erscheinungen waren nachweisbar vorhanden.

Doch es wurde eben nicht alles besser, als man diese Übeltäter anging. Strahlende Ärzte präsentierten mir verbesserte Laborbefunde, während meine Symptomatik unverändert blieb. Es war fast unmöglich, mit der Information durchzudringen, dass mein Befinden nicht ihrer Interpretation entsprach. Jeder dachte wohl insgeheim, die Auswirkungen würden zeitverzögert einsetzen. Wenn ich nicht jeweils nach ein paar Jahren von mir aus die Therapieversuche abgebrochen hätte, würde ich vielleicht heute noch auf dieselbe Weise weiterbehandelt.

Das Phänomen, dass Informationen des Patienten nicht ernst genommen oder gar nicht erst registriert werden, ist auch auf praktischeren Ebenen zu beobachten. Hier ein paar Anekdoten aus meiner eigenen Patientenlaufbahn. Das Schlimme ist nicht, dass mir diese Dinge passiert sind, sondern dass sie in unserem Medizinbetrieb gang und gäbe sind.

Da war zum Beispiel der Ärger mit meinen Venen. Sie waren in den ersten Jahren etwas schreckhaft, was für Blutabnahmen und Infusionen recht unpraktisch wurde. Als ich eine Zeit lang dreimal in der Woche an den Tropf kam, waren irgendwann alle üblichen Zugänge so vernarbt, dass es manchmal zwölf Anläufe brauchte, bis endlich ein Weg zur Blutbahn gefunden wurde. Ein fremder Krankenhausarzt hatte mir einmal inzwischen so lange und fest den Arm abgebunden, dass mir schwarz vor Augen wurde. Ich bat ihn, mich hinlegen zu dürfen, doch er bestand darauf, dass es kein Problem gebe. Ich seufzte gerade noch: „Ich bin gleich weg …“, dann sank ich in Ohnmacht. Als ich wieder zu mir kam, war ich umringt von Schwestern. Der Arzt war noch im Praktikum; vielleicht wird er beim nächsten Mal anders damit umgehen.

Während eines anderen Krankenhausaufenthalts lief es nicht besser. Es dauerte wieder länger als erwartet, eine Vene zu finden. Das Blut staute sich immer mehr und mir wurde schummerig, also bat ich die Ärztin, den Druck zu lockern.

„So ’n Quatsch, so könnten Sie hier zwei Stunden sitzen!“, war ihre Antwort. Als die Kanüle für die Infusion endlich gelegt war, schaffte ich es gerade noch aus dem Stationszimmer nach draußen. Auf dem Flur fiel ich dann ohnmächtig zu Boden, mit angelegter Infusion am Arm, den Infusionsständer in der Hand. Niemand hat es gesehen.

Wirklich widersinnig erscheint es mir, wenn Informationen über die Krankengeschichte (Anamnese) nicht einbezogen werden. In der Theorie spielt dies eine große Rolle, aber in der Praxis sieht es oft anders aus. Ein eigentlich sehr renommierter Arzt (immerhin Chefarzt einer Uniklinik) sah in meiner geschädigten Schilddrüse die Ursache für alles, dabei zeigte ich ihm anhand meiner Befunde, dass die Schilddrüsenwerte in den ersten Jahren in Ordnung gewesen waren.

Besonders eindrücklich erlebte ich dies auch bei meinem Krankenhausaufenthalt in der Diagnostik. Die Stationsärztin zeigte anfangs echte Anteilnahme. Dann hieß es, meine Beschreibungen würden sich ja wirklich ganz nach CFS anhören, ob ich etwa vorher die Seiten im Internet gelesen hätte? (Hatte ich nicht, meine Beschreibungen hörten sich deshalb so ähnlich an, weil meine Symptome so ähnlich waren